Klinische Sozialarbeit als Basis der psychiatrischen

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Wolf Crefeld
Bochum, 6. April 2002
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Klinische Sozialarbeit als Basis der psychiatrischen
Sozialarbeit1
Das mir gesetzte Thema konfrontiert uns gleich mit zwei Begriffen, die der Klärung bedürfen.
Ich werde zunächst darstellen, woher der Begriff Klinische Sozialarbeit stammt und warum er
jetzt auch in Deutschland diskutiert wird. Danach werde ich skizzieren, in welche Richtung
zumindest meine Vorstellungen und meine Erwartungen an die psychiatrische Sozialarbeit gehen. Zum Schluss werde ich Ihnen dann einige Gedanken dazu ausbreiten, welche Rolle eine
sozialarbeitswissenschaftliche Subdisziplin Klinische Sozialarbeit bei der weiteren Entwicklungsarbeit an einer psychiatrischen Sozialarbeit spielen könnte.
Klinische Sozialarbeit als amerikanische Realität und deutsche Utopie
Seit Jahren engagiert sich die Deutsche Gesellschaft für Sozialarbeit (DGS) als wissenschaftliche Fachgesellschaft der Sozialen Arbeit für die Entstehung einer Klinischen Sozialarbeit als
einer Subdisziplin des Berufs und seiner Wissenschaft. Vorbild ist das in den U.S.A. seit mehr
als zwei Jahrzehnten erfolgreiche Clinical Social Work. Clinical Social Worker stellen dort heute den wichtigsten Beruf für psychosoziale Beratungen und Behandlungen dar. Voraussetzung
für eine Tätigkeit als DCSW (Diplomate in Clinical Social Work) ist ein Masterabschluss oder
eine Promotion in Social Work sowie eine daran anschließende mehrjährige Weiterbildung mit
Fallsupervisionen und Prüfungen, deren Umfang vergleichbar ist mit dem, was unser Psychotherapeutengesetz für die Approbation zum Psychotherapeuten vorgibt.
Manchen irritiert das Wort „klinisch“. Andere glauben, es handele sich um Sozialarbeit in Kliniken. Deshalb etwas zum sprachlichen Hintergrund des Wortes: Es kommt vom altgriechischen Wort Kline, was Bett oder Sofa bedeutet. Daraus wurde das spätlateinische Wort Clinicus, womit der Bettlägerige, aber auch einfach der Leidende bezeichnet wurde. Heute hat das
Wort „klinisch“ laut Duden-Wörterbuch unter anderem die Bedeutung „durch ärztliche Untersuchung festgestellt“, so in Ausdrücken wie „klinisch tot“ und „klinische Diagnose“. Hier wird
mit „klinisch“ mitgeteilt, dass die Feststellungen unmittelbar am Menschen erfolgten und
nicht durch Apparate oder Akten. Eine gleichartige Bedeutung finden wir für das englische
Wort „Clinical“. Nach dem Encarta Dictionary bedeutet “Clinical” u. a. “based on medical
treatment or observation”; ein “Clinician” sei “a medical professional who works directly with
patients”. Das Wort „klinisch“ zur Kennzeichnung von Tätigkeiten, die sich unmittelbar mit
einzelnen Person befassen, begegnet uns auch in etablierten Wissenschaftsbezeichnungen, so
1 erschienen in: Tagungsbericht der Fachtagung „Qualitätskonzept für die Sozialarbeit in den psychiatri-
schen Kliniken“ am 10. und 11. Mai 2001, herausgegeben von der DBSH-Landesfachgruppe NRW Psychiatrie und Sucht
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in der Klinischen Psychologie, die u. a. Lebens- und Erziehungsberatung und alle Formen von
Psychotherapie umfasst, und der Klinischen Pharmakologie, die sich der Untersuchung von
Arzneimittelwirkungen an einzelnen Personen widmet. Wenn wir Klinische Sozialarbeit als einen Begriff analog zur Klinischen Psychologie verstehen, liegen wir tendenziell sicher richtig.
Ein Blick in Hand- oder Lehrbücher der Klinischen Psychologie zeigt, dass Klinische Psychologen relativ selten an Krankenbetten tätig sind. Wir finden sie eher dort, wo sie als psychosoziale Berater und Psychotherapeuten für die unterschiedlichsten Lebensprobleme gebraucht
werden.
Das Handbuch von Jerrold R. Brandell (1997) zeigt uns eine Reihe Arbeitsfelder der Clinical
Social Worker. So finden wir dort Kapitel über:
o
Familien- und Erziehungsberatung,
o
psychosoziales Behandlungsmanagement,
o
psychosoziale Krisenintervention,
o
Behandlung Überlebender von traumatischen Ereignissen /Katastrophen,
o
die Arbeit bei Suchtprobleme,
o
psychiatrische Rehabilitation,
o
Sozialarbeit mit alten Menschen,
o
Unterstützung bei Trauerarbeit,
o
Beratung bei sexuellen Problemen,
o
Umgang mit Gewalt in Familien,
o
Schulsozialarbeit.
Im Doppelheft 9+10/1998 der Blätter der Wohlfahrtspflege finden Sie zahlreiche Beiträge zur
Klinischen Sozialarbeit. Dort sieht Wolf Rainer Wendt in ihr die Chance einer spezifische
Kompetenz der Sozialarbeit, an der Behandlung psychischer und somatischer Krankheiten
und Störungen mitzuwirken und in dieser Behandlung selbständig zu agieren. Sibylle Patriarca
berichtet dort über wesentliche Themen in der seit einem Vierteljahrhundert erscheinende
Zeitschrift „Clinical Social Work Journal“. Seitdem ist eine lebhafte Diskussion entstanden. 17
Professoren aus dem ganzen Bundesgebiet haben ein „Plädoyer für klinische Sozialarbeit als
Fachgebiet der Sozialen Arbeit“ in verschiedenen Publikationsorganen veröffentlich, und die
Berufsverbände DBSH und DVSK widmen ihr jeweils ein Schwerpunktheft. Von den vielen Publikationen seither erscheint mir berufspolitisch besonders bedeutsam der Beitrag der Leipziger Professorin für Methoden der Sozialarbeit Cornelia Kling-Kirchner (2000). Sie sieht in der
Etablierung eines Fachgebietes „Klinische Sozialarbeit“ die Chance für die Sozialarbeit, neue
theoretische Impulse aufzunehmen und bestehende Praxiskonzepte zu modifizieren.
Fachgebiete innerhalb der Sozialen Arbeit?
Andere fragen dagegen kritisch, wozu wir so etwas überhaupt in Deutschland brauchen. Ist
der Zug methodisch anspruchsvoller psychosozialer Beratungsaufgaben nicht längst mit dem
Psychotherapeutengesetz an der Sozialarbeit vorbeigefahren, und haben sich Psychologen und
Ärzte nicht inzwischen diesen Markt für sich gesichert? Manche wenden sich überhaupt gegen
die Entwicklung von Spezialdisziplinen der Sozialen Arbeit und meinen, Sozialarbeit sei auch
ohne Spezialisierungen schon gut genug (siehe Forum Sozial 2/2001). Dabei wird allerdings
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übersehen, dass es längst auch in der Sozialarbeit fortgeschrittene Bemühungen um Spezialisierungen gibt, so etwa als Suchttherapie, Supervision oder Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie.
Unsere Gesellschaft geht heute hinsichtlich der Qualität beruflicher Leistungen von Erwartungen aus, denen ohne Spezialisierungen in den Fachberufen nicht zu entsprechen ist. Insofern
kommt die Soziale Arbeit als Beruf und Wissenschaft an der Frage der Bildung von Spezialdisziplinen nicht vorbei. Sollte es z. B. nicht zur Entwicklung einer psychiatrischen Sozialarbeit
kommen, so werden diese Aufgaben über kurz oder lang an Fachpflegekräfte übergehen. Sozialarbeiterinnen und Studentinnen, die in der Psychiatrie arbeiten, berichten, dass Fachkrankenschwestern für Psychiatrie zu einer mächtigen Konkurrenz für Sozialarbeiterinnen in sozialpsychiatrischen Einrichtungen geworden sind. Immerhin ist ihr beruflicher Qualifikationsweg mit formal mindestens fünf Jahren länger als der eines Studiums der Sozialarbeit. Zudem
verfügen sie dank geregelter Weiterbildung verlässlich über spezifische Fach- und Feldkenntnisse für die Arbeit mit psychisch kranken Menschen. Diese Überlegenheit zeigt sich auch in
den aktuellen Verhandlungen um die Ausführungsbestimmungen zur psychiatrischen Soziotherapie im SGB V, wonach Fachpflegekräfte wohl auf jeden Fall leistungsberechtigt sein werden.
Wenn in Zukunft aus den mehr als zwei Dutzend Pflegestudiengängen in Deutschland auch
psychiatrische Fachpflegekräfte, die dann eine berufliche Ausbildungsdauer von neun Jahren
vorweisen können, in die Einrichtungen kommen, wird es bei der Besetzung von Leitungspositionen für den Sozialarbeiterberuf eng werden. Wir müssen klar erkennen, dass nur die Entwicklung von Fachgebieten in der Sozialarbeit Leistungsstandards auf einem fachlichen Niveau
ermöglichen, das sie konkurrenzfähig macht auf dem Markt der Gesundheitsberufe. Das gilt
ganz besonders für den Anspruch auf fachlich eigenverantwortliche Tätigkeiten. Denn in der
Gesundheitsversorgung bildet sich deutlich der Standard heraus, für fachlich eigenverantwortliche Tätigkeiten eine berufliche Qualifikationszeit von rund zehn Jahren zu fordern. Für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten wird eine solche Ausbildungsdauer bald die Regel
sein. Die Berufsverbände täten also gut daran, sich im Hinblick auf die künftigen Chancen des
Berufs in der Gesundheitsversorgung sehr sorgfältig mit der Frage nach der Bildung von Fachdisziplinen der Sozialarbeit auseinander zu setzen.
Psychiatrischen Sozialarbeit: Realität oder Utopie
Psychiatrische Sozialarbeit gibt es für manche schon sehr lange. Sie berufen sich darauf, dass
schon im 19. Jahrhundert der Begriff der psychiatrischen Fürsorge existierte (Blanke 1995).
Dieses Kriterium nach dem Ort der Tätigkeit läuft eigentlich darauf hinaus, dass jede Tätigkeit
von Sozialarbeitern in psychiatrischen Institutionen als psychiatrische Sozialarbeit anzusehen
sei, mag dieses Tun auch nur wenig von gemeinsamen Vorstellungen hinsichtlich Aufgabenverständnis und Handlungskonzepten geprägt sein. Psychiatrische Sozialarbeit würde danach
– anders als die psychiatrische Fachpflege oder der psychiatrische Facharzt - kein spezielles
Fachgebiet innerhalb der Sozialarbeit darstellen. Andere, denen die Psychiatrie als ein ausschließlich ärztliches Fachgebiet gilt, stellen der (ärztlichen) Psychiatrie die Soziale Arbeit antithetisch gegenüber und sprechen von einer „Sozialarbeit in der Psychiatrie“ (Bosshard et al
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2000) nicht von psychiatrischer Sozialarbeit. Ich denke, beide Auffassungen treffen nicht die
Gegebenheiten.
Zunächst: Psychiatrie war und ist nicht für alle Zeiten eine Veranstaltung des ärztlichen Berufs. Die ersten Anstalten für psychisch Kranke, die in England entstanden, wurden von Theologen geleitet, und die damals entwickelten Behandlungskonzepte wie das ‚moral treatment’
hatten in erster Linie einen sozialpädagogischen Charakter. Als man aber im 19. Jahrhundert
die Hoffung mehr in die Heilungspotentiale der modernen Medizin setzte, ließ man Ärzte die
Heil- und Pflegeanstalten leiten. Doch inzwischen geht die Entwicklung wieder in eine andere
Richtung: Psychiatrie wird international immer stärker als eine multiprofessionelle Aufgabe gesehen, an der verschiedene Berufe mit ihren unterschiedlichen fachlichen Sichtweisen mitzuwirken haben. Heute kommen psychiatrische Spezialisten aus unterschiedlichen Berufen. Wobei dann die Frage entsteht, ob Sozialarbeiterinnen nicht ebenfalls zu solchen psychiatrischen
Spezialisten werden können. Das erst wäre dann psychiatrische Sozialarbeit.
Umgekehrt lässt sich aus historischen Begriffen wie psychiatrische Fürsorge nichts hinsichtlich der Existenz einer psychiatrischen Sozialarbeit in früheren Zeiten ableiten. „Psychiatrische
Fürsorge“ gibt es schon seit 200 Jahren, nämlich seitdem Anstalten für psychisch kranke und
geistig behinderte Menschen errichtet wurden. Ihre Aufgabe war die „Irrenfürsorge“ bzw., wie
man auch sagte, die psychiatrische Fürsorge. Der maßgebende Beruf für die psychiatrische
Fürsorge war aber der „Irrenarzt“. Es gab damals auch schon ehrenamtliche Sozialarbeit, die
über die Hilfsvereine bei den Anstalten geleistet wurde. Sie hatte vor allem die Unterstützung
der zu entlassenden Anstaltsbewohner zum Ziel hatte, doch auch diese Vereine standen unter
dem Schirm der ärztlichen Anstaltsdirektoren. Selbst als sich in der Zeit der Weimarer Republik der Beruf der Wohlfahrtspflegerin entfaltete, hatten diese, wenn in den Kommunen eine
offene psychiatrische Fürsorge existierte, im wesentlichen nur Funktionen einer Sprechstundenhilfe für den Fürsorgearzt. Ich denke, Pionierinnen einer psychiatrischen Sozialarbeit sind
erst in den 60er-Jahren aufgetreten. Eindrucksvoll finde ich hier die Berichte von Waltraud Matern, die damals mit dem Anspruch in den Dienst eines Westfälischen Landeskrankenhauses
trat, dass es die besondere Aufgabe von Sozialarbeiterinnen sei, sich um die Entlassung der
Anstaltsbewohner zu kümmern (siehe auch Knoll 2000).
Ein wichtiger Impuls für die Entwicklung einer psychiatrischen Sozialarbeit hätte sich aus der
Psychiatrie-Enquete des Deutschen Bundestages 1975 ergeben können. Denn dort wurde erstmals die Forderung nach einer multiprofessionell agierenden Psychiatrie artikuliert. Damit
meinte man, dass die verschiedenen Fachberufe ihre jeweiligen berufsspezifischen Sichtweisen und Handlungskonzepte einbringen sollten. Orientiert an ausländischen Entwicklungen
sollte die Dominanz ärztlicher Denkweisen in der Psychiatrie relativiert werden und Psychiatrie künftig nicht mehr nur als eine Institution ärztlicher Sicht- und Handlungsweisen wirken.
Allerdings: Die Psychiatrie-Enquete verband mit dieser Forderung die kritische Feststellung,
dass keiner der genannten Berufe – die Ärzte ebenso wenig wie die Pflegekräfte, Sozialarbeiter, Psychologen und Ergotherapeuten – die für die Arbeit mit psychisch Kranken notwendigen
Kompetenzen mitbrächte. Da sei noch viel an der beruflichen Aus- und Weiterbildung zu arbeiten, sagte die Enquetekommission damals sinngemäß.
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Inzwischen haben die meisten der in der Enquete angesprochenen Berufe sich mit Erfolg um
mehr Qualifikation für ihre Arbeit mit psychisch kranken Menschen bemüht. So ist die psychiatrisch-psychotherapeutische Weiterbildung der Ärzte erheblich erweitert worden. In der
grundständigen Pflegeausbildung ist der Psychiatrie ein größeres Gewicht gegeben und darüber hinaus wurde die zweijährige Weiterbildung zur Fachpflegekraft für Psychiatrie geschaffen. Die Qualifikation psychologischer Psychotherapeuten ist inzwischen über das Psychotherapeutengesetz auf ein Niveau gebracht, das sie ärztlichen Psychotherapeuten gegenüber als
gleichwertig gelten lässt. Die Ausbildungsinhalte zum Ergotherapeuten sind inzwischen gesetzlich geregelt; darüber hinaus gibt es Bemühungen um eine spezifisch psychiatrische Ergotherapie.
Wenig hat dagegen die Soziale Arbeit im Sinne des Enquete-Auftrags zustande gebracht. Natürlich treffen wir in psychiatrischen Einrichtungen auf Sozialarbeiterinnen, die dank persönlich verfolgter Fort- und Weiterbildungen hoch qualifiziert arbeiten. Doch im Hinblick auf den
Berufsstand – darauf kommt es in der Gesundheitspolitik letztlich an – ist wenig geschehen.
Kosten- und Anstellungsträger müssen davon ausgehen, dass diplomierte Sozialarbeiterinnen
und Sozialpädagoginnen in ihrer Ausbildung teilweise gar nichts über die Arbeit mit psychisch
kranken Klienten erfahren haben. Dementsprechend niedrig sind die Erwartungen an Sozialarbeiter hinsichtlich ihrer mitgebrachten Fähigkeiten für die Arbeit mit psychiatrischen Patienten. Von den Weiterbildungen zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und zum
Suchttherapeuten abgesehen existieren keine standardisierten und überregional verbindlich
geltende sozialarbeitsspezifische Weiterbildungscurricula. Die Situation der Sozialarbeiter in
psychiatrischen Institutionen hat denn auch Gregor Terbuyken (1997) als „Chamäleonexistenz“ charakterisiert: Sie verstünden ihre Aufgaben jeweils entsprechend den Erwartungen,
die ihnen in den einzelnen Einrichtungen begegnen. Eine gemeinsame beruflich-fachliche Identität sei bei ihnen bisher nicht auszumachen. So bleibt die Feststellung, dass wir von einer
Fachdisziplin Psychiatrische Sozialarbeit noch ziemlich weit entfernt sind. Wir verfügen bisher
auch nur ansatzweise über eigenständige Fachliteratur zur Sozialarbeit im Berufsfeld Psychiatrie. Eigene Fachliteratur stellt aber nun einmal eine unabdingbare Voraussetzung dar für den
Anspruch fachlicher Eigenständigkeit. Schließlich muss die behauptete fachliche Eigenständigkeit ja irgendwo dargestellt, begründet und reflektierend weiterentwickelt werden.
Ein eigenständiges Fachgebiet psychiatrische Sozialarbeit schaffen
Es ist an der Zeit, dass endlich von Sozialarbeitern und Sozialpädagogen die Voraussetzungen
geschaffen werden, um den Anspruch auf fachliche Eigenständigkeit in Gestalt einer psychiatrischen Sozialarbeit einlösen zu können. Das geschieht nicht durch Proklamation der eigenen
Fähigkeiten, etwa in dem Sinne: Soziale Arbeit verfügt bereits heute über ausreichende psycho-soziale Kompetenzen... - wie dies kürzlich noch im Forum Sozial zu lesen war. Solche
Kompetenzen müssen belegt, begründet und laufend weiter entwickelt werden. Vor uns liegt
also eine Menge Arbeit. Es geht darum, auf empirischer Basis (also aus den Erfahrungen und
Beobachtungen in der Praxis) und theoretischen Grundlagen Sozialer Arbeit eine von den Berufskollegen und anderen Berufen allmählich anerkannte Darstellung zu erarbeiten, welche
Fähigkeiten und Handlungskonzepte, welche Handlungstheorien und Einstellungen die psychiatrische Sozialarbeit ihr eigen nennt. In den letzten fünf Jahren sind immerhin einige wich-
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tige Bücher erschienen, die als Bausteine für eine psychiatrische Sozialarbeit verstanden werden können.
Die Basis einer so verstandenen psychiatrischen Sozialarbeit dürfte klar sein: Es ist die so lange vernachlässigte Lehre von der Kunst, soziale Beratungs- und Unterstützungsprozesse mit
Erfolg durchzuführen. Deutschland, in dem einst Pionierinnen der Sozialarbeit wie Alice Salomon und Siddy Wronsky die methodischen Grundlagen der Einzelhilfe gelegt haben, ist im
Hinblick auf diese Methodenlehre im Vergleich zu den Schools of Social Work der amerikanischen Universitäten inzwischen eher ein Entwicklungsland geworden. Bei uns wurde seit den
70er-Jahren, wie insbesondere Manfred Neuffer (1990) und Peter Pantucek (1998) dargestellt
haben, die soziale Beratung als professionelle Praxis und praxeologische Wissenschaft vernachlässigt und darüber hinaus, wie Wolf Rainer Wendt einmal formuliert hat, „mies“ gemacht. Erst in den letzten Jahren wird an den Hochschulen das lange Vernachlässigte wieder
aufgegriffen. Immer mehr Menschen in der Sozialen Arbeit erkennen, dass die Kunst der Sozialen Beratung wieder zu dem werden muss, was sie war: Die „Kernkompetenz“ der Sozialen
Arbeit (Neuffer 2000), deren „Kristallisationskern“ (Marianne Schmidt-Grunert 1999) und die
„integrierende Chiffre“ (Pantucek 1998) des professionellen Selbstverständnisses von sozialer
Arbeit. Eben dieses methodische Regelwerk muss auch Basis für jede psychiatrische Sozialarbeit sein. Allerdings ist damit allein Menschen mit schweren psychischen Störungen und komplexen psychosozialen Problemlagen noch nicht wirksam zu helfen ist. Wir benötigen weitere
Fähigkeiten.
Wir brauchen darüber hinaus besondere Verständnis- und Handlungskonzepte, um den sozialen Beratungs- und Unterstützungsprozess gerade bei Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen erfolgreich gestalten zu können: Mit Suchtstoffabhängigkeit, affektiven Störungen,
Wahnerkrankungen und deren manchmal langfristigen Folgen usw. Dabei geht es ebenso um
Aufgaben der Krisenintervention wie der Unterstützung bei der Bewältigung von Krankheitserfahrungen; es geht um rehabilitative soziotherapeutische Hilfen, damit unsere Klienten ein
Leben in einem soweit wie möglich normalen sozialen Kontext führen können, und schließlich
auch um fachlich qualifizierte Unterstützung bei der Suche des Klienten nach den Hintergründen und Auslösern seiner Erkrankung. Eine hier besonders lesenswerte Neuerscheinung ist
das Büchlein von Helene und Hubert Beitler, das im Psychiatrie-Verlag unter dem Titel „Psychose und Partnerschaft“ erschienen ist. Helene Beitler, eine psychoseerfahrene Sozialarbeiterin, hat hier ganz konsequent sozialarbeiterische Perspektiven wie die Alltagsorientierung oder die Nutzung des sozialen Netzwerks als wichtige Ressource für die Bewältigung schwieriger Lebenslagen eingebracht.
So stelle ich mir psychiatrische Sozialarbeit vor, und ich bin sicher, dass inzwischen viele Sozialarbeiterinnen nach entsprechende Arbeitskonzepten handeln: Nicht die psychopathologischen Phänomene, deren Bedeutung für ein erfolgreiches psychiatrisches Handeln von der
traditionellen Psychiatrie manchmal überschätzt wird, stehen im Mittelpunkt der Betrachtung,
sondern die Frage, wie der Klient mit seinen Lebensproblemen klar kommt. Es gibt Stimmenhörer, die in ihrem beruflichen und privaten Alltag bestens zurecht kommen. Dann brauchen
sie auch keine psychiatrischen Hilfen. Andere dagegen leiden unter ihren Stimmen und brauchen deswegen kundige Unterstützung. Wir sehen daran: Psychopathologische Symptome stellen nur eine Perspektive neben vielen anderen dar. Erst aus einer solchen multiperspektivi-
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schen Falldefinition (= sozialarbeiterischen Diagnose), wie sie der Sozialarbeit besonders geläufig ist, ergeben sich die angemessenen Ziele und Schritte für den sozialen Unterstützungsprozess.
Psychiatrische Sozialarbeit braucht als Dach die Klinische Sozialarbeit
Es liegt also viel Arbeit vor uns, um der psychiatrischen Sozialarbeit ein eigenes Profil zu erarbeiten. Man muss sich dies – wie bei allen handlungsorientierten Berufen wie den Ärzten, der
Pflege, den Ingenieuren usw. – als eine Arbeit vorstellen, die in einem ständigen Dialog zwischen beruflicher Praxis und Sozialarbeitswissenschaft abläuft. Und hier stoßen wir an eine
Grenze: Es gibt in Deutschland in viel zu geringer Zahl sozialarbeitswissenschaftliche Institutionen. Und die Themen und Probleme der Sozialen Arbeit, die wissenschaftlicher Befassung
bedürfen, sind bekanntlich so vielfältig, dass hier psychiatrische Sozialarbeit allzu leicht untergeht. Was also tun?
Hier wäre eine Chance für eine sozialarbeitswissenschaftliche Subdisziplin Klinische Sozialarbeit. In ihr könnten neben psychiatrischer auch suchttherapeutische, kinder- und jugendlichenpsychotherapeutische sowie geriatrische Sozialarbeit, aber auch Sozialarbeit der rechtlichen Betreuung, des Case Managements bei chronischen Erkrankungen, der Familien-, Lebensund Erziehungsberatung und anderes mehr zusammen gefasst werden. Denn bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass alle diese Berufsfelder hinsichtlich Arbeitsweise und notwendiger
Handlungskonzepte viel mehr Gemeinsamkeiten aufweisen, als mancher zunächst annehmen
mag. Wer einmal in einem dieser Berufsfelder wirksame, methodisch gut reflektierte Fallarbeit
zu leisten gelernt hat, wird - diese Erfahrung habe ich gemacht - vieles davon auch in den anderen Berufsfeldern anzuwenden lernen.
Klinische Sozialarbeit wünsche ich mir in diesen Sinne als eine Subdisziplin der Sozialen Arbeit, deren Basis zunächst einmal die gleichen Handlungstheorien und Handlungskonzepte
sind, wie sie für die soziale Beratung und Unterstützung in allen Bereichen Sozialer Arbeit gelten. Das Besondere an ihr wäre, dass sie als praxeologische Sozialarbeitswissenschaft sich der
Weiterentwicklung fachlicher Standards gerade bei komplexen psychosozialen Problemstellungen und schwierigen psychischen Störungen widmen würde, die besonders hohe Anforderungen an die methodischen Fähigkeiten stellen. Absolventen von Masterstudiengängen, die in
Richtung einer solchen Klinischen Sozialarbeit konzipiert würden, wären zudem akademischformal den Ärzten und Diplom-Psychologen gleichgestellt. Solche Masterstudiengänge könnten dann auch eine gute Ausgangsbasis darstellen für darauf aufbauende Weiterbildungscurricula zur psychiatrischen, suchttherapeutischen usw. Sozialarbeit.
Literatur
Das Verzeichnis enthält einige zusätzliche Hinweise auf Bücher, die im Text nicht zitiert wurden.
Ansen H (2000) Klinische Sozialarbeit und methodisches Handeln. Sozialmagazin 25:16-26
Beitler H und H (2000) Psychose und Partnerschaft. Psychiatrie, Bonn
Blanke U (1995) (Hg) Der Weg entsteht beim Gehen – Sozialarbeit n der Psychiatrie. Psychiatrie,
Bonn
Bosshard M et al (1999) Sozialarbeit und Sozialpädagogik in der Psychiatrie. Psychiatrie, Bonn
Wolf Crefeld: Klinische Sozialarbeit
£dortm-&m707ksa dbsh - 06.04.2002 - 8
Brandell JR (1997) Theory and Practice in Clinical Social Work. The Free Press New York, ISBN 0684-82765-4)
Crefeld W (2000) Beratung in der Sozialpsychiatrie. Blätter Wohlfahrtspflege 5+6/2000:119-122
Deutsche Gesellschaft für Sozialarbeit – Arbeitskreis Sozialarbeit und Gesundheit (2001) Plädoyer
für klinische Sozialarbeit als Fachgebiet derSozialen Arbeit. Forum Sozial 2/2001:16-17
Kling-Kirchner C (2000) Klinische Sozialarbeit und soziale Beratung. Blätter Wohlfahrtspflege
5+6/2000:107-109
Knoll A (2000) Sozialarbeit in der Psychiatrie – von der Fürsorge zur Sozialtherapie. Leske +
Budrich, Opladen
Neuffer M (1990) Die Kunst des Helfens. Beltz, Weinheim Basel
Neuffer M (2000) Beratung als Kernkompetenz Sozialer Arbeit. Blätter Wohlfahrtspflege
5+6/2000:100-103
Obert K (2001) Alltags- und lebensweltorientierte Ansätze sozialpsychiatrischen Handelns. Psychiatrie, Bonn
Pantucek P (1998) Lebensweltorientierte Individualhilfe: eine Einführung für soziale Berufe. Lambertus, Freiburg iB
Patriarca S (1998) Methoden kombinieren, die Klienten helfen, ihre Probleme zu lösen – die Zeitschrift „Clinical Social Work Journal“... Blätter Wohlfahrtspflege 9+10/1998:176-179
Schmidt-Grunert M (1999) Methoden in der Sozialen Arbeit - zwischen Bevormunden und Aushandeln. standpunkt: sozial - hamburger forum für soziale arbeit 3/1999:5-14.
Terbuyken G (1997) Verstehen und Begleiten. Konzeptuelle Überlegungen zum Selbstverständnis
von Sozialarbeiter/-innen in der Psychiatrie. Soziale Arbeit 2/97:38-48
Wendt WR (1998) Behandeln können – klinische Kompetenzen in Praxisfeldern Sozialer Arbeit. Blätter Wohlfahrtspflege 9+10/98:173-175
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