Dr. Andreas Knoll 1. - Die Methoden der Sozialarbeit DAS METHODENDILEMMA IN DER SOZIALEN ARBEIT Der Methodenbegriff ist in der Sozialarbeit seit je her unklar und vieldeutig. Während man noch in den frühen fünfziger und sechziger Jahren hoffte, ein klar umgrenztes Methodenkonzept entwerfen zu können, hat die spätere Entwicklung gezeigt, daß eine zunehmende Verwissenschaftlichung der Disziplin zu theoretischen Ausdifferenzierungen führte, denen die praktische Umsetzung kaum noch Rechnung tragen konnte. Es entstand eine Kluft zwischen Theorie und Praxis, die bis heute spürbar geblieben ist. 1.1 Historische Entwicklung vor dem Krieg Der Begriff Sozialarbeit entstand um die Jahrhundertwende als "Social Work" in Amerika. In Deutschland waren Begriffe wie "Fürsorge" und "Wohlfahrtspflege" bis in die fünfziger Jahre gängige Bezeichnungen. Obwohl in Deutschland bereits vor den zwanziger Jahren Ausbildungsstätten für Fürsorgerinnen und Wohlfahrtspflegerinnen bestanden, war lange Zeit das Feld der "helfenden Tätigkeiten" von Menschen besetzt, die keine dieser Schulen besucht hatten. Hunderttausende von Menschen, die keine Ausbildung hatten, waren in kirchlichen Institutionen im Dienste des christlichen Liebeswerkes tätig und machten "irgendwie" die gleiche Arbeit wie diejenigen, die in den Schulen dafür ausgebildet worden waren. Die ersten dieser Schulen wurden schon um die Jahrhundertwende gegründet. Bereits 1901 begann in Frankfurt die drei Jahre zuvor gegründete Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften mit dem Lehrbetrieb. Diese Akademie wurde 1914 in die Universität Frankfurt/Main integriert, wo seit 1912 der erste Lehrstuhl für das Fürsorgewesen bestand. Zwischen 1912 und 1923 gab es in Köln eine Frauenhochschule für soziale Berufe, an der ein viersemestriges Studium auf akademischen Niveau ermöglicht wurde. Dennoch kann man von einer Entwicklung einer Fürsorge-Wissenschaft zu dieser Zeit noch nicht sprechen, da sich zu wenig Studierende für diesen Bereich interessierten.(4) "In die Zeit der Weimarer Republik fallen daher auch die Ansätze einer Professionalisierung der Sozialarbeit; die Versuche, Berufsbild und Berufsbildung mit den Mitteln der beruflichen Organisation zu kontrollieren und zu stabilisieren."(5) Die "Sozialen Frauenschulen" formulierten in der Zeit zwischen 1921 und 1933 Alternativen zur "naiven christlichen Liebestätigkeit"(6) derer, die Fürsorge nur auf der Grundlage ihrer karitativen Gesinnung ohne wissenschaftliche Reflexion betrieben. Einen erste Blüte erlebten die Ausbildungsstätten für Sozialfürsorgerinnen und Wohlfahrtspflegerinnen in den zwanziger Jahren, und die von Alice Salomon geforderte Verwissenschaftlichung rückte auch mehr und mehr sozialpolitische Aspekte der Armut in den Mittelpunkt der Betrachtung. Alice Salomon kann man als die Repräsentantin einer bürgerlichen Frauenbewegung verstehen, die ihr Ideal von der weiblichen Emanzipation mit Reformansätzen im Bereich von Fürsorge und Wohlfahrtspflege verband. Diese Bewegung ging davon aus, daß die Verfachlichung der Fürsorge zur besonderen Kulturaufgabe der bürgerlichen Frau gehört, da ihr mütterliches Wesen sie besonders qualifiziere, an der Heilung sozialer Schäden mitzuarbeiten. "Die bürgerliche Frauenbewegung setzte sich von dem >gefährlichen Dilletantismus< ab, den sie bei jenen >Wohlfahrtsdamen< anprangerte, die >durch das Taschentuch den Armeleutegeruch fernhalten wollten<."(7) "Alice Salomon war in Deutschland eine Pionierin der sozialen Arbeit und Repräsentantin der Frauenbewegung. Sie hatte ganz wesentlich die Ausbildung zur Wohlfahrtspflegerin mitgestaltet, besonders auch dadurch, daß sie einige weitverbreitete Lehrbücher für diese Ausbildung verfaßt hat; schließlich handelte es sich dabei um die ersten Bücher, mit denen die Methode des amerikanischen >social work< in Deutschland bekannt wurde und woran schließlich die deutsche Berufsbezeichnung >Sozialarbeit< orientiert ist."(8) Sie erhoffte, mit der von ihr 1908 gegründeten "Sozialen Frauenschule", von der "Partnerin Wissenschaft" nicht nur zu erfahren, was zu tun sei, um die Randständigsten der Gesellschaft zu pflegen und zu fördern, sondern sie wollte auch wissen warum, wozu und wie am besten. "Aber sogar in dieser Hinsicht war Alice Salomon skeptisch: Die deutschen Universitäten >dienen der reinen Wissenschaft: der Vermittlung intellektueller Inhalte und Methoden der Forschung<, konstatierte Alice Salomon; >nicht unmittelbar der Vorbereitung zum Handeln ... Die Soziale Arbeit braucht (aber) eine (4) (5) (6) (7) (8) vergl. Fehlker, 1989 Sachße, 1986 Maor, 1975 Helene Lange, zit. in: Fehlker 1989 Simmel, 1981 Die von Simmel erwähnten Bücher sind: Soziale Diagnose, Berlin 1926, Die Ausbildung zum sozialen Beruf, Berlin 1927 Soziale Therapie, Berlin 1926 1 auf das praktische Handeln bezügliche Theorie, und zwar auf ein Handeln, das sich um das Wohl des Menschen in seiner Totalität bemüht. Das können die deutschen Universitäten nicht geben.(9) Alice Salomon war eine Methodikerin der ersten Stunde, die dennoch davon überzeugt war, daß es reflektierte, erfahrungswissenschaftlich untermauerte Handlungsprinzipien im Umgang mit sozialen Problemen bedurfte.(10) "Die Universitäten zielten auf systematisches, differenziertes Wissen und nicht - wie die soziale Arbeit - auf ganzheitliches soziales Handeln."(11) Die Sozialarbeit während der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft stand ganz im Dienste der NS-"Rassen- und Volkspflege" und wird derzeit vielerorts diskutiert. 1933 löste sich die "Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit, die bereits seit 1925 eine eigene Forschungsabteilung betrieb, selbst auf, um der nationalsozialistischen Gleichschaltung zuvorzukommen (vergl. Fehlker). Nach der Machtergreifung wurden dann sämtliche Verbände der freien Wohlfahrt unterdrückt, verboten oder in der >Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt< (NSV) gleichgeschaltet."(12) Während die Fürsorge in Deutschland vor 1933 vorwiegend von jungen mittelständischen Frauen, die über das soziale Elend empört waren, getragen wurde, und die Auseinandersetzungen damit auch mehr und mehr sozialpolitische Fragestellungen aufwarf, war die amerikanische Social Work in erster Linie vom Optimismus der Gründerjahre der USA geprägt, dem selbst die Weltwirtschaftskrise nur vorübergehend Abbruch tat. Während in Deutschland der Nationalsozialismus wütete, entwickelte sich in den Vereinigten Staaten eine "Social Work", die sich stark am Optimismus und den Idealen dieser Nation orientierte und die jetzt noch zusätzliche Impulse von deutschen Emigranten bekam. Diese Sozialarbeit kam nach Kriegsende nach Deutschland zurück. 1.2 Die klassischen amerikanischen Methoden In den amerikanischen Methodendefinitionen ist später kaum noch von den Ausgangsbedingungen sozialer Arbeit die Rede; wie Not, Leiden, entwürdigende Arbeits-, Wohn- und Bildungsbedingungen und dem Widerspruch zwischen Arm und Reich. Es erscheinen vielmehr Aussagen, "wie die vermutlich professionell-neutral gemeinte blasse Formulierung, daß es um die >Anpassung zwischen Mensch und Umwelt< geht."(13) So ist es zu verstehen, daß die sozialpolitischen Themen in den 50-ger und 60-ger Jahren in Deutschland zugunsten der Hoffnung aufgegeben wurden, >Demokratie und Wirtschaftswunder< würden soziale Defizite binden. "Der Gedanke der Fürsorge im Sinne der Armenfürsorge gilt als überholt. So gesehen kann Fürsorge wissenschaftlich kaum Bedeutung erlangen."(14) Kulturell gestützt wurde die amerikanische Sozialarbeit durch drei große Wertströme: der Deklaration und der Menschenrechte, einem liberal-demokratischen Gesellschaftsbild und dem christlich-jüdischen Erbe.(15) Die amerikanischen Methoden, die wir als Einzelhilfe (Casework), soziale Gruppenarbeit (social Groupwork) und Gemeinwesenarbeit kennen, formulieren einen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, den sie wie folgt begründen: 1. Gliederung der Interventionen nach einem Phasenkonzept von Handlungssequenzen, die es pragmatisch und wissenschaftlich auszuwerten gilt. Dieses Phasenkonzept besteht aus Diagnoseund Behandlungsschritten wie Zielbestimmung, Vertrag, Intervention, Prozeßbegleitung, Stabilisierung und systematische Auswertung. 2. Anstatt normativ zu verurteilen, suchen die Methoden der Sozialarbeit, wie die Wissenschaften auch, nach den Ursachen und Hintergründen von sozialen Problemen. Hierzu wird vorzugsweise auf ein psychoanalytisches Paradigma zurückgegriffen. Aus heutiger Sicht betrachtet, im Anschluß an eine Phase intensiver und kritischer Auseinandersetzung mit den Methoden der Sozialarbeit, muß man feststellen, daß die Wissenschaftlichkeit der Methoden nicht auf die Rezeption von wissenschaftlich überprüften Theorien zur Begründung von Handlungsweisungen zurückzuführen ist, vielmehr handelt es sich hier im Wesentlichen um Bausteine verschiedener Theorien, die eklektizistisch in die Methodenliteratur Eingang fanden. Bei all diesen Konzepten bleibt stets der Hilfeprozeß im Mittelpunkt, wobei die Aufmerksamkeit auf eine Phasenkonzeption gelegt wird. Diese Phasenkonzeption beschreibt das zentrale methodische Anliegen des Caseworks. (9) (10) (11) (12) (13) (14) (15) 2 Geisel, Leschmann, 1984, S. 31 Staub-Bernasconi, 1986, S. 14 Goeschel, Sachße, 1986, S. 434 Bellardi, 1980, S. 64 Staub-Bernasconi, 1986, S. 15 Hege, 1984, S. 16 Maor, 1975 Dr. Andreas Knoll - Die Methoden der Sozialarbeit Unglücklicherweise wurden jedoch bei der Entwicklung des Caseworks zunehmend Werte, Maximen, Beschreibungen und Erklärungen vielfach in sehr undifferenzierter und unpräziser Weise vermengt und gehandhabt. Dadurch wurden die Methoden einerseits für den Wissenschaftler, der versuchen muß, möglichst präzise Begriffe zu finden, damit er denkerisch und real unterscheiden kann, außerordentlich anfechtbar. Andererseits jedoch wurde das Casework gerade dadurch für den Praktiker so brauchbar, weil die unpräzisen Begriffe alltagsnäher waren als exakte wissenschaftliche Abstraktionen. Die Unschärfe hatte weiterhin den Vorteil, daß all diese Konzepte multifunktional wurden. Sie dienten einmal der Beschreibung, einmal der Erklärung und Klärung, einmal der Beurteilung von Situationen und Personen und schließlich vor allem der Befähigung zu nichtrichtender oder verurteilender Hilfe, sowie zum Ausprobieren und Experimentieren mit neuen Verhaltensweisen. Die Jahre zwischen 1945 und 1968 waren durch ein besonders enges Verhältnis zwischen Deutschland und Amerika geprägt. Deutschlands Lehrkräften und Praktikern der Nachkriegszeit vermittelten die amerikanischen Methoden große Hoffnungen. Insbesondere die Handlungsprinzipien und die ihnen zugrundeliegende Werthaltung ermutigten die hiesigen Fürsorger und Fürsorgerinnen, zu hoffen, die im Nachkriegsdeutschland entstandenen sozialen und psychischen Probleme mitlösen zu können. Durch die im Casework angelegte Zielrichtung der Stärkung der Selbsthilfekräfte wünschte man, dem Kollektivzwang des Nationalsozialismus einen neuen Individualismus gegenüberstellen zu können. Darüber hinaus wurde ein partnerschaftlicher Umgang mit den Klienten postuliert, im Gegensatz zur administrativen Verfügung im Nazideutschland. Die Verbreitung der klassischen amerikanischen Modelle erfolgte im Rahmen der sogenannten Reeducationsprogramme. Hier ist besonders die "social groupwork" zu erwähnen, die im Zuge der Umerziehungsmaßnahmen der Besatzungsmacht einen Beitrag zur Demokratisierung Deutschlands leisten sollte. Grundsätzlich kann gesagt werden, daß die Handhabung der klassischen amerikanischen Methoden, und hier insbesondere die des Caseworks, tatsächlich eine große berufliche Errungenschaft war, gab sie doch der "tätigen Nächstenliebe" erstmals ein ausgearbeitetes Konzept zur professionellen Hilfeleistung an die Hand. Durch die Orientierung am amerikanischen Optimismus der Gründerjahre, die Individualisierung und die spezielle Werthaltung entsprachen diese Konzepte in ganz außerordentlicher Weise dem Zeitgeist im Deutschland der fünfziger Jahre. In späteren Jahren wird die Kritik an der Casework-Methode von Harry Maor folgendermaßen formuliert: "So gesehen ist die psychoanalytische Caseworkmethode (...) aus sich heraus völlig legitimiert. Sie verkennt aber die Richtung unseres >sozialen Vektors<, der auf die Gesellschaft als Hauptkriegsschauplatz verweist, während sie den Klienten auf die Nebenfronten abkommandiert. Dem Caseworker gelingt auch die Handhabung der psychoanalytischen Gegenübertragung, deren Spielregeln er kennt, es mißlingt ihm aber die Bewältigung seiner eigenen soziologischen Gegenübertragung, die er verkennt, indem er charakteristischer Weise dauernd >Gemeinschaft< gegen >Gesellschaft< ausspielt."(16) 2.3 Die Methodenkritik nach 68 Vor 1968 orientierte sich die deutsche Sozialarbeit vornehmlich an den amerikanischen Methoden, Casework, Groupwork und Gemeinwesenarbeit. In den Vereinigten Staaten selbst setzte eine kritische Reflexion der Methoden bereits zu Beginn der sechziger Jahre ein. Die inner-amerikanische Kritik ihrerseits setzte jedoch nie an der "gesellschaftlichen Machtstruktur, der Dynamik des ökonomischen Sektors, sondern bei der Diskrepanz zwischen den Normen und Werten an, welche sich diese Nation bei ihrer Gründung gegeben hatte und der sich bei Hochkonjunktur präsentierenden Wirklichkeit von individuellen- und Gruppenschicksalen."(17) (16) (17) Maor, a.a.O. - S. 900 Maor zeigt uns, wie in der Sozialarbeit der fünfziger Jahre die Begriffe >Gesellschaft< und >Gemeinschaft< austauschbar geworden sind und der Sozialarbeiter aus dieser Zeit die demokratische Gesellschaft des Nachkriegsdeutschland im Lichte der amerikanischen Methoden häufig ideologisch als Gemeinschaft definiert. Das Analogon der Sozialarbeit lautet jedoch, "Die heutige >Gesellschaft< ist krank; eine kranke Gesellschaft gefährdet ihre Mitglieder oder macht sie sogar krank; die gefährdeten oder kranken Mitglieder der Gesellschaft bilden ganz oder zum Teil die Klientel der Sozialarbeit. >Gemeinschaft< ist im Gegensatz zu >Gesellschaft< gesund oder verursacht doch weit weniger soziale und psychische Schädigungen ihrer Mitglieder und beugt sozial- und psychopathologischer Auffälligkeit vor. Aufgabe der Sozialarbeit ist es daher, mit den ihr zugänglichen, ganz spezifischen Methoden >Gemeinschaft< herzustellen, das heißt ihre Klienten zu befähigen, innerhalb der Gesellschaft wie in einer Gemeinschaft zu üben, überhaupt erst Gemeinschaftsfähigkeit zu erlangen und dann erfolgreich zu behaupten." Staub-Bernasconi, 1986, S. 19 3 Die Kritik in Deutschland schien zunächst weniger fachlich als vielmehr politisch motiviert zu sein. Man wollte zunächst das amerikanische Missionierungsgehabe überwinden, mit dem die Sozialarbeit nach dem Kriege zu uns gekommen war. Diese Entwicklung vollzog sich Mitte der sechziger Jahre, begünstigt durch den Glaubwürdigkeitsverlust der einstigen Vorbildnation USA, welcher hauptsächlich durch den Vietnamkrieg ausgelöst wurde. Dabei war der Ausgangspunkt der Kritik jedoch nicht in der Sozialarbeiterschaft selbst zu finden, sondern innerhalb eines wissenschaftlichen Systems, welches in Folge der 68-er Bewegung immer mehr Sozialwissenschaftler produzierte. Diese Sozialwissenschaftler entdeckten sehr bald die Sozialarbeit als geeignetes Analyse-, Lehr- und Berufsfeld. Darüber hinaus schien sich das Feld der sozialen Arbeit dazu anzubieten, gesellschaftliche Veränderungsprozesse zu erproben und einzuleiten. Entsprechend zielte die Kritik auf einer Ebene auf die fehlende Wissenschaftlichkeit der Methoden. Auf der nächsten Ebene ging es weniger darum, die (handlungsleitenden) Methoden wissenschaftlich besser zu begründen, als sie vielmehr durch kritische Analyse und kritische Gesellschaftstheorie zu ersetzen. Die damalige Methodenkritik bestand aus folgenden Kernpunkten: 1. Die Soziale Arbeit ist unwissenschaftlich. Die Sozialarbeitsmethoden sind eine Sammlung von Glaubenssätzen, diffusen Fallanalysen, Prinzipien mit Faustregelcharakter und vielen unüberprüfbaren Annahmen. 2. Die Soziale Arbeit ist durch ihre psychoanalytische Orientierung auf Mittelschichtsklientel ausgerichtet. 3.Soziale Arbeit ist ein Integrations- und Unterdrückungsmechanismus des privatkapitalistischen Systems. Sozialarbeit verhindert, daß die Klienten ihre Lage als Mitglieder der ausgebeuteten Arbeiterklasse erkennen können, sie verschleiert den Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit. Diese Thesen gehen unter anderem auf Hollstein und Meinhold zurück, die jedoch soweit gehen, die Sozialarbeiterschaft, die nicht ihrer Marxistischen Dogmatik folgen, als Agenten des privatkapitalistischen Ausbeutungssystem zu bezeichnen.(18) Diese sozialwissenschaftliche und ideologische Kritik an den Methoden der Sozialarbeit führte schließlich dazu, daß sich die damals lehrenden Methodikerinnen (es waren in der großen Mehrzahl Frauen) in die Defensive gedrängt fühlten und dauernd ihre Existenz rechtfertigen mußten. Hinsichtlich dieses Konfliktes wundert es uns heute nicht, daß die Methodikerinnen im Jahre 1971 bei der Errichtung der Fachhochschulen eklatante Statusverluste hinnehmen mußten; während andererseits die Mehrzahl der Sozialwissenschaftler, Pädagogen, Lehrer und anderer in der Ausbildung tätige Disziplinen relativ problemlos in den Professorenstatus übergeleitet wurden. Das zentrale Problem bis Mitte der siebziger Jahre entwickelte sich nun dergestalt, daß es den Sozialwissenschaften nicht gelang, für das Feld der Sozialarbeit praktische Methoden zu entwickeln.(19) (20) Stattdessen standen vorwiegend die handlungsleitenden Methoden im Brennpunkt der Kritik, ohne jedoch neue, eigene Ansätze zu entwickeln. Dies mündete in eine Phase von hilfloser Selbstkritik auf der einen Seite und zu einer relativ ergebnislosen Machtkritik am politischen System, der staatlichen Fürsorge und dem Wohlfahrtssystem, auf der anderen Seite. So ist beispielsweise für den Rezensenten Lothar Böhnisch, das oben erwähnte Buch von Holstein und Meinhold in seinem "Fazit: Eine wichtige Grundlage für die weitere Diskussion um Sozialarbeit, die allerdings in den praktischen Konsequenzen weit verbindlicher geführt werden müßte, als es in einigen Beiträgen dieses Buches geschieht."(21) Die Folgen der kritischen Phase, die von Ruth Brack 1981 als "pauschale Vermiesung der klassischen Methoden, insbesondere des Casework", beschrieben wurden, sind eine Handlungsunfähigkeit bei den Praktikern und ein zunehmender Legimitationsdruck aus der Fachöffentlichkeit. In der Folgezeit wurde die fachliche Diskussion über Sozialarbeit und deren Weiterentwicklung vornehmlich von anderen Disziplinen, nämlich von Psychologen, Psychiatern, Soziologen, Juristen und Erziehungswissenschaftlern geführt. Hollstein und Meinhold gaben 1977 den praxisnahen Band "Sozialpädagogische Modelle" heraus, in dem 19 Autoren über sozialpädagogische Praxisfelder referierten. Von diesen 19 Praxis-Artikeln sind lediglich 2 Beiträge von Sozialarbeitern/Sozialpädagogen verfaßt, von denen wiederum ein Beitrag aus der Schweiz kommt. Die anderen Autoren sind Pädagogen, Sozialpolitiker, Kriminologen, Philologen, Mediziner, Psychologinnen, Sozialmediziner, Studienrätin, Soziologen.(22) (18) (19) (20) (21) (23) (22) (24) 4 Hollstein, Meinhold, 1973 Staub-Bernasconi Eichhorn, 1977 Eichhorn legt eine sehr umfassende Bibliographie der Diskussionen um eine "Sozialarbeitswissenschaft" vor. Böhmisch, 1974, S 201 Brack, zit. in: Staub-Bernasconi 1986, S. 26 Hollstein u. Meinhold, 1977 Staub-Bernasconi, 1986, S. 26 Dr. Andreas Knoll - Die Methoden der Sozialarbeit Das führte dazu, daß der Gegenstand der Sozialarbeit aus der Sicht der jeweiligen Disziplin beschrieben wurde und eine Integration der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zu einem, für die Sozialarbeit handlungsleitenden Methodenkonzept, nicht zustande kam. Dadurch kam es mehr und mehr zu einem Methodeneklektiszismus, in dem die psychotherapeutischen Methoden im Zuge des allgemeinen "Psychobooms" die Oberhand gewannen. "Den Hang der Sozialarbeiter, sich das bestehende Angebot auf dem Therapiemarkt zunutze zu machen, kann man auch als gesunde Reaktion derer verstehen, die nicht gelebt hatten wohl aber überleben müssen, und sich darum dort eindecken, wo ihnen - auch Ihnen! Brauchbares versprochen wird."(23) Die Folge: Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen waren nicht mehr Architekten sondern Empfänger ihrer Ausbildung. "Oder: wer sich nicht selbst definiert wird fremddefiniert."(24) Aus heutiger Sicht muß klar erkannt werden, daß man im Rahmen der Sozialarbeit nicht zwischen theoretischer Analyse und Handeln aufgrund bestimmter Handlungsregeln wählen kann. Man kann sich nicht im Rahmen reiner Theorien und kritischer Gesellschaftsanalyse um die Frage nach konkreten Verfahren drücken. So gesehen werden in der Sozialarbeit die handlungsleitenden Methoden stets hinter der Theorieentwicklung zurücksein, nicht weil die Methoden nicht theoretisch ableitbar wären, sondern weil das Feld sozialer Arbeit eine bedeutend größere Reichweite und Komplexität aufweist, als beispielsweise der Gegenstand der Psychotherapie. Deshalb kommen wir nicht umhin zu sehen, daß die praktische Sozialarbeit einer Art "'Unschärferelation" bezüglich ihrer Begrifflichkeit ausgesetzt ist. Hintergrund für diese Unschärfe ist einerseits das Verwaschen der Begriffe durch die Alltagssprache, welche ihrerseits aber die Voraussetzung für klientenorientiertes sozialarbeiterisches Handeln ist. Andererseits, und das ist sicherlich zentraler, müssen die Begriffe unscharf werden, wenn sie durch unterschiedliche wissenschaftliche Paradigmen betrachtet werden. So werden beispielsweise soziologische Termini undeutlicher, wenn sie in ein psychologisches Paradigma gestellt werden und so weiter. Es ist somit kaum möglich, Begriff und Perspektive (Impuls und Ort) in der Sozialarbeit mit beliebiger Genauigkeit zu definieren. Ein wissenschaftliches Paradigma, welches die Entwicklung handlungsleitender Konzepte für ein so komplexes Feld wie das der Sozialen Arbeit ermöglicht, kann nicht monokausal Ursachen für soziales Elend festmachen. Soziales Elend hat multikausale Ursachen. Sie zu verstehen eignet sich weder ein reinpsychoanalytischer Zugang oder ein nur-gesellschaftstheoretischer Ansatz. Ein Ganzheitliches Paradigma wird gefordert. Dabei ist zu beachten, daß es keine "reine" Theorie geben kann; jede präzise Perspektive läßt gegenüberliegende Perspektiven unscharf erscheinen. 1.4 Der "Psychoboom" und seine Auswirkungen auf die Sozialarbeit Die Entstehung des Psychobooms geht in den USA bis in die vierziger Jahre zurück, als sich die Notwendigkeit ergab, ökonomisch und zeitlich rationelle Konfliktbewätligungstechniken auf psychosozialem Gebiet zu entwickeln. Es entwickelte sich schon nach relativ kurzer Zeit eine zunächst hauptsächlich gruppendynamisch orientierte Szene, die dann in den sechziger Jahren eine fast explosionsartige Entwicklung erlebte. Man kann kaum übertreiben, wenn man die bunte Exotik dieser "Psycho-Popkultur", die sich seit etwa 1970 auch in der Bundesrepublik Deutschland ausbreitete, beschreiben will. Das Spektrum reichte von seriösen Ansätzen zur Verbesserung der Beratung auf allen Gebieten des psychosozialen Lebens bis hin zu völlig bizarren Kulturen.(25) Die Phase der Methodenkritik führte in der Sozialarbeit und der Sozialpädagogik nicht zur Entwicklung neuer Handlungskonzepte. Es war zu beobachten, daß sich unter den Praktikern mehr und mehr ein Gefühl von Alleingelassensein breit machte. Während auf Seiten der sozialwissenschaftlichen Theoretiker die Forschungen und die Theoriearbeit zu immer komplexeren Sprachgebilden führte, die von den Praktikern kaum noch rezipiert wurden,(26) orientierten die Praktiker sich bei ihren Nachbardisziplinen und gingen in die Lehre von Psychiatern, Psychotherapeuten und Organisationsberatern. Dies führte zu einer wachsenden Spaltung von Theorie und Praxis der Sozialarbeit, bei der die Praktiker den Theoretikern "verdünnte sozial-wissenschaftliche Aufgüsse" (Staub-Bernasconi) vorwarfen, während andererseits die Theoretiker den Praktikern "unreflektierte Psychotherapieschwärmereien" unterstellten. In den Fachhochschulen hielten nun Methoden Einzug, denen man "Wissenschaftlichkeit" zugestehen konnte (wenn auch gelegentlich unter Schmerzen). Bei diesen Methoden handelte es sich beispielsweise um klientenzenterierte Gesprächsführung (Rodgers), Gruppendynamik, Sozialplanung und Sozialforschung. Man bediente sich also bei den anerkannten Nachbardisziplinen, insbesondere der Psychologie. Hierdurch entstand die Situation, daß die fachlichen Diskurse über Sozialarbeit und Sozialpädagogik zwar im verstärkten Maße von Psychologen, Soziologen, Juristen und Erziehungswissenschaftlern geführt wurde und auch die Handlungsmethoden aus diesen Wissenschaften entlehnt wurden, daß es den Sozialarbeitern aber andrerseits kaum möglich gemacht wurde, Grenzen zu diesen Nachbardisziplinen durchlässig zu gestalten. So ist es Sozialarbeitern eben nur sehr einschränkt möglich, rechtsberaterisch, psychotherapeutisch oder lehrend tätig zu werden. Rechtsberatungsgesetz, Heilpraktikergesetz und Lehramtsgenehmigungen regeln den Zugang zu diesen Tätigkeiten für Sozialarbeiter äußerst restriktiv. (25) vergl. Schülein, 1978, S. 931 5 Insbesondere der "Psychoboom" verführte die Sozialarbeit dazu, vielfältige Methodenelemente häufig kunterbunt durcheinander zu mischen, ganz im Sinne eines "Methoden-coctails". Dieser Methodencoctail war häufig aktuellen Modeströmungen unterworfen. Die Ausübung dieser Methoden war aber andererseits kaum einmal rechtlich und institutionell abgesichert. Auf diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, wenn viele Sozialarbeiter über den freien "Psychomarkt", wie er uns häufig in der alternativen Presse präsentiert wird, ihre Dienste in den verschiedensten therapeutischen Methoden anbieten. Dies scheint ein Zeichen dafür zu sein, daß es den Ausbildungsstätten nicht gelungen ist, das kreative Potential, welches sich in Gestalt dieses bunten Psychobooms zeigte, zu integrieren und es auf ein methodologisch-theoretisches Gesamtkonzept für Soziale Arbeit zuzuschneiden. "Nun hat sich quasi als Gegenbewegung zu einer stark kongnitiv orientierten Aus- und Fortbildung in den letzten 10 - 15 Jahren an den Fachhochschulen und Universitäten sowie an Fortbildungsinstituten ein selbsterfahrungs- und Therapieboom (...) entwickelt, dem viele Studenten und Professionelle - frustriert von Theorie und gebeutelt durch ihre Lebensgeschichte - ausgiebig huldigen. Da werden in pädagogischen und sozialarbeiterischen Studiengängen wahllos und beliebig Selbsterfahrungsgruppen jedweder Richtung angeboten, ... Die Effizienz und Sinnhaftigkeit intensiver Selbsterfahrungsprozesse für Professionelle im sozialen und pädagogischen Bereich sollen hier keinesfalls abgewertet werden. Diese Art der Selbsterfahrung verschenkt jedoch intensive Möglichkeiten zur beruflichen Qualifizierung, wenn sie nicht konsequent an das zukünftige oder gegenwärtige Berufsfeld angebunden ist. "(27) Stattdessen entwickelte sich die Problematik häufig dergestalt , daß die an den verschiedenen Methoden des "Psychobooms" orientierten Praktiker und Praktikerinnen sich ihr Klientel danach aussuchen mußten, ob es denn nun zu ihrer jeweiligen Methode paßte (Staub-Bernasconi). Aussagen wie die folgenden wurden in den Blütezeiten des Psychobooms, etwa zwischen 1977 und 1984, von vielen in der sozialen Arbeit Tätigen mit Erstaunen vernommen: "Man kann doch mit Unterschichtsklientel nicht non-direktiv arbeiten." "Was macht das mit Dir?" "Ich suche noch einen geeigneten Klienten für eine systematische Desensibilisierung". Oder: "Die Jugendlichen in unserem Jugendzentrum haben einfach nicht das richtige Grounding". Die hier karikierten Zitate wurden häufig von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern gehört, die zwar eine qualifizierte Methodenausbildung nach dem Studium absolviert haben, die aber durch mangelhafte Identifikation mit der Sozialarbeit während ihrem grundständigen Studium keine ausreichende berufliche Identität erlangen konnten. Dadurch erlitten sie oft während ihrer Weiterqualifikation einen völligen Schwund ihrer professionellen Identität, was dann mitunter dazu führte, daß die nun mühsam erworbene Methodenkompetenz nicht in ein Gesamtkonzept von Sozialer Arbeit integriert werden konnte. Silvia Staub-Bernasconi sagt zu diesem Methodenboom: "Wer keine Definitionsmacht hat, muß versuchen seinen unsicheren Status wenigstens durch Teilnahme an Methodenmoden und -wenden wettzumachen."(28) Eine Ursache dafür sieht Silvia Staub-Bernasconi darin, daß die von Sozialwissenschaftlern und Gesellschaftskritikern während der Zeit der "methodenkritischen Phase" erarbeiteten Theoriezugänge durch ihren wachsenden Abstraktionsgrad für die Praktiker und Praktikerinnen immer schwerer zu verstehen waren. Der Transfer zwischen wissenschaftlichen "Elfenbeinturm" und praktischem "Alltagshandeln" war aufgrund einer stetig wachsenden Kluft zwischen Theorie und Praxis immer schwieriger geworden. Es erscheint heute so, daß es notwendig geworden ist, zur Überwindung dieser Kluft, ein Paradigma zu entwickeln, in dem sich Theorie und Praxis aufeinanderzubewegen können. Hierzu scheint mir ein ganzheitliches Paradigma in der Lage zu sein, welches der Sozialen Arbeit ermöglichen sollte, ihr methodisches Handeln theoriegeleitet zu verstehen und dadurch die eigenständige Identität dieser Profession zu sichern. (26) (27) (28) 6 z.B. Schneider, 1976 Eine Einführung in die Konstitutionsanalyse sozialer Problemlagen und die Funktions- und Restriktionsanalyse staatlicher Interventionsformen Hinte, Springer, 1986, S. 23 Staub-Bernasconi, 1986, S. 23