Ziele und Werte 1 Die Ökonomik ist eine Sozialwissenschaft, d. h., sie beschäftigt sich mit den Aktivitäten des seinen Lebensraum gestaltenden Menschen. Im Gegensatz zur Medizin, die heute überwiegend naturwissenschaftlich ausgerichtet ist, existieren in der Ökonomik deshalb keine unumstößlichen Naturgesetze. Vielmehr analysiert sie die Regelhaftigkeit im Verhalten der Menschen, die in ihrer Zeit und Kultur Knappheiten überwinden. Diese Menschen sind geprägt durch ihre Kultur, durch die „mentale Programmierung“, die sie von Klein auf erlebt haben. Sie haben Werte, die ihre täglichen Handlungen bestimmen, selbst wenn sie sich dessen nicht immer bewusst sind. Das Wertemuster einer Bevölkerung determiniert die Art und Weise der Knappheitsüberwindung. Auch in Deutschland gibt es Werte und Normen, die dem wirtschaftlichen Handeln zu Grunde liegen. Die Diskussionen um genmanipulierte Agrarprodukte und um die Forschung an Stammzellen zeigen, dass nicht jedes Instrument der Überwindung der Knappheit genutzt wird, selbst wenn die Problemlösung effizient wäre. Vielmehr entscheidet die betroffene Bevölkerung (direkt durch Kaufentscheidung oder indirekt durch ihre gewählten Politiker), dass sie auf eine bestimmte Technologie verzichten möchte. Eine gesundheitsökonomische Theorie muss deshalb immer mit den Werten einer Bevölkerung beginnen. Aus den allgemeinen Werten einer Sozialgruppe leitet sich der normative Rahmen ab, innerhalb dessen die Knappheitsüberwinder, z. B. ein Krankenhaus, arbeiten können. Dabei ist es nicht entscheidend, ob diese Normen gesetzlich niedergeschrieben sind oder ob sie als ungeschriebene Gesetze allgemeingültig sind. Innerhalb des normativen Rahmens kann der Knappheitsüberwinder seine eigenen Ziele setzen. Hierbei sind zahlreiche Nebenbedingungen (z. B. Finanzierbarkeit, Personalkapazität etc.) zu beachten. Tugenden und Werte Tugenden und Werte sind Begriffe der Ethik. Diese Wissenschaft untersucht die Richtigkeit von Aussagen über Handlungsnormen und Werte bzw. analysiert, wie diese Aussagen zustande kommen. Eine wichtige, und gerade in Deutschland bis ins 19. Jahrhundert stark betonte Tradition der Ethik gab vor, was als „gut“ zu gelten hatte. Es wurden Tugenden beschrieben, denen man nacheifern sollte. Dabei geht die Tugend über die Einzelhandlung hinaus. Ziel ist es nicht nur, gut zu handeln, sondern selbst „gut zu werden“, ein gutes Leben zu führen. Das Gegenteil der Tugend ist das Laster. Um den Menschen diese „Tugendhaftigkeit“ zu erleichtern, wurden immer wieder Tugendkataloge aufgestellt. Platon unterschied als erster die Kardinaltugenden Weisheit, Tapferkeit, Mäßigung und Gerechtigkeit. Der christliche Glaube verband sich relativ leicht mit den Kardinaltugenden der Antike, so dass Thomas von Aquin diese nur noch um die so genannten „theologischen Tugenden“ Glaube, Hoffnung und Liebe zu ergänzen brauchte. Entscheidend für die Tugenden ist, dass sie nicht auf ein Ergebnis für andere ausgerichtet sind, sondern vielmehr ihre Erfüllung in sich selbst finden. Ziel der Tugendhaftigkeit ist das „glückliche Leben“ (Aristoteles), nicht eine Leistungserfüllung. Eine der wichtigsten Tugenden für den Ritter des Mittelalters war beispielsweise die Tapferkeit. Das Ziel der Tapferkeit war nicht der Sieg im Kampf, denn den hätte man durch Feigheit, Heimtücke und Verrat leichter haben können. Ziel war es vielmehr, in einem fairen (gerechten!) Kampf Auge in Auge dem Feind entgegenzutreten. Lieber den heldenhaften Tod im Kampf finden als ein Überleben in der Schande der Feigheit oder gar der Heimtücke. Tugend betrachtet nicht das Ergebnis, sondern die Intention. In der bürgerlich-konservativen Engführung des 19. Jahrhunderts verschwand der Tugendbegriff aus der Diskussion. Immer häufiger wurde der Ausdruck „Wert“ stattdessen verwendet. Aufbauend auf dem Humanismus propagierte die französische Revolution die Werte der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Diese drei Worte wären ein Jahrhundert vorher als Tugenden interpretiert worden, die einen persönlichen Anspruch an das Verhalten des Einzelnen gestellt hätten. Nun wurden sie zu einem politischen Programm, dessen Erreichung einen Nutzen per se darstellt. Nicht mehr die Absicht zählt, sondern die Konsequenz, das Ergebnis. Diese konsequentionistische Sicht prägt bis heute unser Wertesystem, so wie es beispielsweise in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in der deutschen Verfassung niedergelegt ist. Das Grundgesetz (GG) der Bundesrepublik Deutschland basiert auf den Werten Freiheit, Gleichheit bzw. Gerechtigkeit, Sicherheit und Solidarität, durch die sich die Menschenwürde verwirklichen soll. Art. 2 GG 1 Fleßa, Steffen (2005): Gesundheitsökonomik. Eine Einführung in das wirtschaftliche Denken für Mediziner. Springer, Berlin et al. 2 begründet die Freiheit der Person. Sie ist von grundlegender Bedeutung für das wirtschaftliche Handeln des Menschen. Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland gesteht dem Menschen das Recht zu, Knappheit in vollkommener Freiheit zu überwinden, so wie er es für richtig hält. Die Freiheit zur Knappheitsüberwindung ist damit nicht nur ein schöner Usus, sondern das unveräußerbare Grundrecht, ein Wert per se in unserem Staat. Wer dieses Recht aufheben will (z. B. durch die Einführung eines kommunistischen politischen und sozialistischen ökonomischen Systems), muss das Grundgesetz abschaffen. Weitere Grundwerte unserer Verfassung konkretisieren Art. 2 für bestimmte Lebensbereiche. Hierzu gehören die Glaubensfreiheit (Art. 4), die Meinungsfreiheit (Art. 5) und die Versammlungsfreiheit (Art. 8). Von großer wirtschaftlicher Bedeutung sind die Vereinigungsfreiheit (Art. 9), die Berufsfreiheit (Art. 12) und die Eigentumsfreiheit (Art. 14). Art. 9 Abs. 3 GG schützt das Recht der Arbeitnehmer, sich zu Gewerkschaften zusammenzuschließen, und das Recht der Arbeitgeber, Berufsverbände zu bilden. Das Recht wird hierbei immer aktiv und passiv verstanden, d. h., niemand darf vom Staat gehindert werden, einen Verband zu bilden, es darf aber auch niemand vom Staat gezwungen werden, in einen Verband einzutreten. Die Berufsfreiheit (Art. 12) gibt jedermann das Recht, seinen von ihm gewünschten Beruf auszuüben. An der Berufsfreiheit lässt sich jedoch auch gut darlegen, dass das Freiheitsrecht des Einzelnen dort eingeschränkt werden muss, wo im Zusammenleben (auch in der Knappheitsüberwindung!) die Grundrechte eines anderen gefährdet oder eingeschränkt werden. So greift der Staat in das Grundrecht der Berufsfreiheit ein und erlässt eine Approbationsordnung, um die körperliche Unversehrtheit seiner Bürger zu gewährleisten. Die Ausübung des Berufes eines Arztes ohne medizinische Kenntnisse würde zwar dem Freiheitswert entsprechen, jedoch sehr wahrscheinlich das Leben und die Würde des Patienten einschränken, die in Art. 1 geschützt sind. Der Staat hat deshalb das Recht, die Freiheit des Einzelnen zum Wohl Einzelner oder der Gemeinschaft einzuschränken. Dies ist immer dann der Fall, wo die Freiheitsrechts mit den Werten Gerechigkeit, Sicherheit und Solidarität kollidieren. Ziele der Gesundheitspolitik Wirksamkeit und Qualität Oberstes Ziel der Gesundheitspolitik ist die Aufrechterhaltung und Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung. Jede gesundheitspolitische Maßnahme muss deshalb daraufhin bewertet werden, ob sie die Gesundheit verbessert, eine Verschlechterung abwendet oder zumindest Leiden reduziert. Dies impliziert, dass das Ziel der Gesundheitspolitik nicht zuerst die Aufrechterhaltung von Arbeitsplätzen für Pflegekräfte, die Förderung strukturschwacher Räume oder die Erhöhung der Wehrbereitschaft ist. Diese Einschränkung ist nötig, da in der Vergangenheit die Gesundheitspolitik immer wieder als Instrument der Zonenrandförderung (Kurbäder in Ostbayern), der Arbeitsmarktpolitik (verzögerte Schließung von Kleinstkrankenhäusern in ländlichen Räumen) und der Verteidigungspolitik (Heilung Verletzter für die Front) gekidnappt wurde. Gesundheit ist ein Menschenrecht und damit ein Wert per se. Gesundheitspolitik ist damit auf oberster politischer Entscheidungsebene anzusiedeln und nicht ein Instrument anderer Sektoren. Effizienz Effizienz definiert sich als das Verhältnis zwischen der Summe aller möglichen Outputs und der Summe aller möglichen Inputs. Eine Einheit bzw. eine Situation gilt als effizient, wenn es keine andere Einheit oder keine andere Situation gibt, in der dieser Quotient verbessert werden kann. Effizienz ist der originäre Forschungsgegenstand der Wirtschaftswissenschaften, weil nur durch Effizienzverbesserung eine bessere Versorgung der Bevölkerung und damit eine erfolgreiche Umsetzung der gesellschaftlichen Grundwerte möglich ist. Es gibt zwei Ursachen von Ineffizienz: Erstens können Ressourcen dadurch vergeudet werden, dass beim Produktionsprozess nicht optimal gearbeitet wird. Patienten müssen warten, Operationssäle sind nicht ausge- 3 lastet, Medikamente fehlen etc. Zweitens kann es sein, dass das Verhältnis der Inputfaktoren nicht optimal gestaltet ist, weil man die Auswirkungen der Preise der Inputfaktoren nicht ausreichend berücksichtigt. Eine effiziente Einheit erfüllt beide Voraussetzungen optimal. Wenn Gesundheitspolitiker den Term „Effizienz“ in den Mund nehmen, so werden diese Aspekte nicht immer ausreichend unterschieden. Für die weitere Analyse ist dies jedoch notwendig. Gesundheitspolitische Maßnahmen können nur dann eine maximal mögliche Auswirkung auf die Gesundheit der Bevölkerung haben, wenn sie gut aufeinander abgestimmt sind (allokative Effizienz) und sauber durchgeführt werden (technische Effizienz). Dazu ist betriebs- und volkswirtschaftliches Know-how notwendig. Nachhaltigkeit und Überlebensfähigkeit Qualitativ hochwertige, wirkungsvolle und effiziente Gesundheitssysteme sollten ihre Dienstleistungen nicht nur heute, sondern auch in Zukunft anbieten können. Auch zukünftigen Generationen müssen adäquate Gesundheitsdienstleistungen angeboten werden. Die Gesundheitspolitik muss ihre Ressourcen deshalb so einsetzen, dass die Einrichtungen und Programme des Gesundheitswesens fortbestehen und nicht ihre kompletten Ressourcen in wenigen Jahren verbrauchen. Diese Überlebensfähigkeit wird heute oftmals als Nachhaltigkeit bezeichnet. Partizipation und Wahlfreiheit Wie oben beschrieben, ist Freiheit ein grundlegender Wert unserer Gesellschaft. Freiheit impliziert aktive und passive Freiheit, Freiheit der Handlung und der Nichthandlung. Freiheit fordert deshalb immer die Wahlfreiheit zwischen Alternativen. Ein Gesundheitssystem sollte deshalb so gestaltet sein, dass das Individuum Wahlmöglichkeiten hat. Die wichtigste Wahlmöglichkeit in unserem Gesundheitssystem ist die freie Wahl des Arztes. Ein Patient kann sich aussuchen, zu welchem Arzt bzw. in welches Krankenhaus er gehen möchte. Er hat Alternativen und empfindet dies als Freiheit. Einschränkungen dieser Freiheit werden als schmerzliche Einschnitte in das Persönlichkeitsrecht wahrgenommen. Sicherheit und sozialer Friede Es wurde bereits mehrfach angesprochen, dass Freiheit und Gerechtigkeit sich nicht nur auf das Heute beschränken dürfen. Menschen erhoffen sich diese Güter auch in der Zukunft. Jeder Mensch möchte, dass sein Alter gesichert ist, dass er auch im Falle einer schweren Krankheit versorgt wird und dass sein Erworbenes nicht plötzlich durch Kriege, Naturkatastrophen oder Verbrechen verloren geht. Sicherheit ist folglich ein Grundwert allen menschlichen Handelns. Diesem Grundwert kann im Gesundheitswesen vor allem dadurch Folge geleistet werden, dass eine Minimalversorgung für jeden Bürger erschwinglich ist. In vielen Ländern haben Armutsgruppen keinen Zugang zu modernen Gesundheitsdienstleistungen, so dass die Morbidität und die Mortalität dieser Subpopulationen überdurchschnittlich hoch sind. Die unzureichende medizinische Versorgung der armen Bevölkerung kann zwei Ursachen haben: einerseits mangelnde Zahlungsbereitschaft („willingness to pay“, WTP), andererseits fehlende Zahlungsfähigkeit („ability to pay“, ATP). Instrumente Der Staat kann selbst als Anbieter von Leistungen auftreten (z. B. staatliche Krankenhäuser), Abrechnungsregeln festlegen, die Preise für Gesundheitsdienstleistungen fixieren, die nicht-staatlichen Anbieter subventionieren, die Kunden subventionieren, Qualitätsstandards festlegen, Krankenversicherungen gründen, fördern oder beschränken.