Thomas Hobbes (1588-1654) 113. Über das Gute 113.1 Hierbei

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Thomas Hobbes (1588-1654)
113. Über das Gute
113.1 Hierbei haben wir zu beachten, daß die Glückseligkeit
dieses Lebens nicht in der zufriedenen Seelenruhe besteht.
Denn es gibt kein finis ultimus, das heißt letztes Ziel, oder
summum bonum, das heißt höchstes Gut, von welchen in den
Schriften der alten Moralphilosophen die Rede ist. Auch kann
ein Mensch, der keine Wünsche mehr hat, so wenig weiterleben
wie einer, dessen Empfindungen und Vorstellungen zum
Stillstand gekommen sind. Glückseligkeit ist ein ständiges
Fortschreiten des Verlangens von einem Gegenstand zu einem
anderen, wobei jedoch das Erlangen des einen Gegenstandes
nur der Weg ist, der zum nächsten Gegenstand führt. Der Grund
hierfür liegt darin, daß es Gegenstand menschlichen Verlangens
ist, nicht nur einmal und zu einem bestimmten Zeitpunkt zu
genießen, sondern sicherzustellen, daß seinem zukünftigen
Verlangen nichts im Wege steht. Und deshalb gehen die
willentlichen Handlungen und Neigungen aller Menschen nicht
nur darauf aus, sich ein zufriedenes Leben zu verschaffen,
sondern auch darauf, es zu sichern.
113.2 Alle Dinge, die erstrebt werden, bezeichnet man, sofern
sie erstrebt werden, mit einem gemeinsamen Namen als „Güter",
alle, die wir vermeiden, als „Übel". Daher hat Aristoteles richtig
definiert, ein Gut sei, was alle erstreben. Da aber
die verschiedenen Menschen verschiedene Dinge erstreben und
vermeiden, so muß es viele Dinge geben, die für einige Güter,
für andere Übel sind, wie für unsere Feinde das ein Übel ist,
was für uns ein Gut ist. Gut und Übel sind also relativ je nach
den Erstrebenden und Vermeidenden. Ein Gut kann allgemein
sein und man kann zutreffend von etwas sagen, es sei gemeinhin
ein Gut, das heißt für viele von Nutzen, oder für den Staat ein
Gut. Man kann auch bisweilen sagen „für alle ein Gut", zum
Beispiel von der Gesundheit. Aber auch diese Ausdrücke sind
relativ, daher darf man nicht von einem Gut schlechthin reden.
Denn jedes Gut ist gut für irgendwelche oder irgendeinen
Menschen. Gut war ursprünglich alles, was Gott schuf.
Warum? Weil ihm selbst alle seine Werke gefielen. Man sagt
auch, „gut" ist Gott für alle, die seinen Namen anrufen, nicht
aber für die, welche seinen Namen lästern. „Gut" also wird gesagt
relativ zu Person, Ort und Zeit. Diesem Menschen, hier, jetzt
gefällt etwas; jenem, dort, zu jener Zeit mißfällt es. Und ebenso
kommen die übrigen Umstände in Betracht. Denn die Natur des
Guten und Schlechten ist von den jeweilig zusammentreffenden
Bedingungen abhängig. [...]
Das erste Gut ist für jeden die Selbsterhaltung. Denn die
Natur hat es so eingerichtet, daß alle ihr eigenes Wohlergehen
wünschen. Um das erlangen zu können, müssen sie Leben und
Gesundheit wünschen und für beide, soweit es möglich ist,
Gewähr für die Zukunft. Auf der anderen Seite steht unter allen
Übeln an erster Stelle der Tod, besonders der Tod unter
Qualen; denn die Leiden des Lebens können so groß werden,
daß sie, wenn nicht ihr nahes Ende abzusehen ist, uns den Tod
als ein Gut erscheinen lassen.
114. Tugend und Laster
Wenn die Anlagen durch Gewöhnung so gefestigt sind, daß sie
leicht und ohne daß die Vernunft widerstrebt, sie betätigen, so
nennt man sie insgesamt „Charakter". Ist dieser gut, so spricht
Ulan von Tugenden, ist er schlecht, von Lastern; da nun aber
nicht für alle dasselbe gut und schlecht ist, so wird derselbe
^harakter von den einen gelobt, von den anderen getadelt, das
heilst von den einen als gut, von den anderen als schlecht belehnet, und es werden ihm von dem einen Tugenden, von
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dem anderen Laster zugeschrieben. Daher kann man, wie man
sagt, „soviel Köpfe, soviel Meinungen", auch sagen, „soviel
Menschen, soviel verschiedene Regeln für Tugend und Laster".
Dies ist indessen von den Menschen nur zu verstehen, insofern
sie Menschen sind, nicht auch insofern sie Bürger sind. Denn
der Mensch außerhalb des Staates ist nicht verpflichtet, einer
fremden Vorschrift zu folgen; innerhalb des Staates dagegen
sind die Menschen durch Verträge verpflichtet. Daraus ergibt
sich, daß für den Menschen an sich und gleichsam außerhalb
der bürgerlichen Gesellschaft eine Moralwissenschaft nicht
entwickelt werden kann, da es an einem sicheren Maßstabe
fehlt, nach dem Tugend und Laster zu messen und zu bestimmen wäre. Alle Wissenschaften beginnen aber mit Begriffsbestimmungen; sonst verdienen sie es nicht, Wissenschaften zu
heißen, sondern sind leeres Gerede.
Nur im staatlichen Leben gibt es daher einen allgemeinen
Maßstab für Tugenden und Laster; und eben darum kann dieser
nichts anderes sein als die Gesetze eines jeden Staates; selbst
die natürlichen Gesetze werden nach Errichtung des Staates ein
Teil der Staatsgesetze. Und daß es ihrer unzählige gibt und
ehemals die Staaten abweichende Gesetze hatten, steht dem
nicht im Wege. Denn wie immer die Gesetze sind, immer und
überall hat es als Tugend der Bürger gegolten, gegen diese
Gesetze nicht zu verstoßen, und als Laster, gegen sie zu
verstoßen. Mögen also auch gewissen Handlungen, die in dem
einen Staate gerecht sind, in einem anderen ungerecht sein, die
Gerechtigkeit, das heißt das Befolgen der Gesetze, ist überall
dieselbe und wird es sein. Die sittliche Tüchtigkeit nun, soweit
wir sie an den staatlichen Gesetzen, die in verschiedenen Staaten
verschieden sind, messen können, ist nur Gerechtigkeit und
Billigkeit; soweit wir sie aber an den rein natürlichen Gesetzen
messen, ist sie nur Liebe. Und in diesen beiden besteht jede
sittliche Tüchtigkeit. Was dagegen die drei übrigen sogenannten
Kardinaltugenden außer der Gerechtigkeit angeht, die
Tapferkeit, Besonnenheit und Mäßigkeit, so sind sie nicht
Tugenden der Bürger als Bürger, sondern als Menschen; denn
sie sind nicht so sehr dem Staate als den einzelnen Menschen
selbst, die sie besitzen, nützlich. Ein Staat nämlich wird zwar
erhalten nur durch Tapferkeit, Besonnenheit und Mäßigkeit der
guten Bürger, zerstört aber wird er wiederum nur durch
Tapferkeit, Besonnenheit und Mäßigkeit der Feinde.
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Tapferkeit und Besonnenheit sind überhaupt mehr eine Fähigkeit
des Geistes als ein Vorzug des Charakters, und Mäßigkeit
weniger eine Tugend als ein Nichtvorhandensein der Laster, die
einem begehrlichen Sinne entspringen und weniger den Staat
als vielmehr den einzelnen Menschen schädigen. Wie es für
jeden einzelnen Bürger ein persönliches Gut gibt, so gibt es auch
für den Staat ein allgemeines Gut. Man kann nun nicht
verlangen, daß Tapferkeit und Besonnenheit eines einzelnen
Menschen, wenn sie ihm allein nützlich sind, von den Staaten
oder von irgendwelchen anderen Menschen, denen dieselben
nicht nützlich sind, gelobt, das heißt als Tugend angesehen
werden.
Kurz zusammengefaßt besagt diese ganze Lehre vom Charakter und den Anlagen also folgendes: Gute Anlagen sind solche,
die geeignet sind, eine staatliche Gemeinschaft zu bilden; ein
guter Charakter, das heißt sittliche Tüchtigkeit, ist ein solcher,
durch den die Gemeinschaft, wenn sie gebildet ist, am besten
erhalten werden kann. Alle Tugenden aber sind enthalten in
Gerechtigkeit und Liebe. Damit ist gegeben, daß diesen
entgegengesetzte Anlagen schlecht sind und daß die entgegengesetzten Charaktereigenschaften und alle Laster in Ungerechtigkeit und Gefühllosigkeit fremden Leiden gegenüber, das
heißt in dem Mangel an Liebe, bestehen.
115. Der Krieg aller gegen alle
Die Natur hat jedem ein Recht auf alles gegeben; das heißt in
dem reinen Naturzustande oder ehe noch die Menschen durch
irgendwelche Verträge sich gegenseitig gebunden hatten, war
es jedem erlaubt zu tun, was er wollte und gegen wen er es
wollte, und alles in Besitz zu nehmen, zu gebrauchen und zu
genießen, was er wollte und konnte. Da nun alles, was jemand
will, ihm gut erscheint, weil er es will, und dies entweder
wirklich zu seiner Erhaltung dient oder ihm wenigstens so
scheint (denn nach dem Vorigen ist er selbst Richter hierüber;
deshalb muß das für notwendig gelten, was er selbst dafür hält),
und da [...] das mit dem Rechte der Natur geschieht und
besessen wird, was notwendig zum Schutz des Lebens und der
Glieder dient, so folgt, daß in dem Naturzustande jeder alles
haben und tun darf. Und das ist der Sinn des bekannten Satzes:
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Die Natur hat allen alles gegeben. Daraus ersieht man auch,
daß im Naturzustande der Nutzen der Maßstab des Rechtes
ist.
Es brachte aber den Menschen durchaus keinen Nutzen, in
dieser Weise ein gemeinsames Recht auf alles zu haben.
Denn die Wirkung eines solchen Rechts ist so ziemlich
dieselbe, als wenn überhaupt kein Recht bestände. Wenn auch
jeder von jeder Sache sagen konnte: diese ist mein, so konnte
er doch seines Nachbars wegen sie nicht genießen, da dieser
mit gleichem Rechte und mit gleicher Macht behauptete, daß
sie sein sei.
Nimmt man nun zu der natürlichen Neigung der Menschen,
sich gegenseitig Schaden zuzufügen, einer Neigung, die aus ihren Leidenschaften, hauptsächlich aber aus ihrer eitlen Selbstüberschätzung hervorgeht, dies Recht aller auf alles hinzu,
nach welchem der eine mit Recht angreift und der andere mit
Recht Widerstand leistet, und aus welchem stetes Mißtrauen
und Verdacht nach allen Seiten hin hervorgeht, und erwägt
man, wie schwer es ist, gegen Feinde, selbst von geringer
Zahl und Macht, die mit der Absicht, uns zu unterdrücken
und zu vernichten, uns angreifen, sich zu schützen: so kann
man nicht leugnen, daß der natürliche Zustand der Menschen,
bevor sie zur Gesellschaft zusammentraten, der Krieg
gewesen ist, und zwar nicht der Krieg schlechthin, sondern
der Krieg aller gegen alle. Denn was ist der Krieg anderes als
jene Zeit, wo der Wille, mit Gewalt seinen Streit
auszufechten, durch Worte oder Taten deutlich erklärt wird?
Die übrige Zeit nennt man Frieden.
Wie schädlich aber ein ewiger Krieg für die Erhaltung des
menschlichen Geschlechts oder des einzelnen Menschen ist,
kann man leicht ermessen. Nun ist aber dieser Krieg seiner
eigenen Natur nach ewig, da er bei der Gleichheit der
Streitenden durch keinen Sieg beendet werden kann. Denn
selbst der Sieger bleibt weiter bedroht, so daß es fast ein
Wunder scheint, wenn in diesem Zustand jemand, und sei er
auch noch so stark, eines natürlichen Todes im Alter stirbt.
Als ein Beispiel hierfür zeigt uns das jetzige Jahrhundert die
Amerikaner; frühere Zeiten zeigen andere Völker, die jetzt
zwar gebildet und blühend sind, aber damals gering an Zahl,
roh, von kurzer Lebensdauer, arm und unansehnlich waren
und alle Erleichterungen und allen Schmuck des Lebens
entbehrten, welche der Friede und die Gesellschaft
gewöhnlich gewähren. Wer also meint, daß man am besten m
dem Zustande geblieben wäre, wo allen alles er192
laubt war, der widerspricht sich selbst; denn jeder verlangt
aus natürlicher Notwendigkeit nach dem für ihn Guten, und
niemand wird einen solchen Krieg aller gegen alle, welcher
diesem Zustande natürlicherweise anhaftet, als etwas für ihn
Gutes ansehen. Dadurch kommt es, daß man infolge
gegenseitiger Furcht es für ratsam hält, aus einem solchen
Zustande herauszutreten und Genossen zu suchen, damit,
wenn Krieg sein muß, er doch nicht gegen alle und nicht ohne
Hilfe geführt werde.
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