Seite 208 6 Resümee 6.1 Die Grünen als postmoderne Partei Gibt es ein grünes Milieu in Südtirol? Die Frage muss letztlich unbeantwortet bleiben, obwohl manches für diese These spricht. In den 70er-Jahren zur Zeit der Entstehung der Neuen Linken/Nuova Sinistra waren es bestimmte Gruppen und Initiativen, die aus dem Dissens zu SVP, DC und dem Quasi-Medienmonopol des Athesia-Verlags (für die deutsche Sprachgruppe) heraus ein alternatives Beziehungsnetz bildeten, das sich wohl am besten mit dem Milieubegriff beschreiben lässt.265 Der inzwischen erfolgte Umbau der politischen Gruppierung zu den Grünen-Verdi-Vërc verleugnet diese Wurzeln zwar nicht, doch sind die ökologischen Themen deutlich in den Vordergrund gerückt. Mit dieser Schwerpunktverschiebung war auch ein Wandel der Kernwählerschichten verbunden, der am einfachsten anhand des Vordringens des ursprünglich auf die Städte beschränkten Wählerpotenzials in die ländlichen Gebiete Südtirols nachvollziehbar ist. (Siehe Kapitel 2.3.) Soweit es sich aus den Prioritäten ablesen lässt, die Befragte auf der politischen Agenda Südtirols setzen möchten, gehen diese bei Anhänger/innen der Grünen tatsächlich in Richtung jenes Sets von politischen Forderungen, die als Ausdruck postmaterialistischer Werteorientierung betrachtet wird: Umweltschutz, alternative Lebensstile, sexuelle Freiheit, Minderheitenrechte und politische Partizipation.266 Zusammenleben Tatsächliche der und potenzielle Sprachgruppen, Umwelt Grünwähler/innen und Verkehr nennen als die vordringlichsten Probleme in Südtirol. Aus den Kompetenzzuschreibungen wird klar, dass Grünwähler/innen auch Wert auf den Einsatz ihrer Partei für die Chancengleichheit der Frauen, die Mitbestimmung der Bürger und die 265 Vgl. Reiterer 1998. Zum Milieubegriff vgl. etwa Schulze 1992. 266 Vgl. Bürklin / Klein 1998, 96. 6 Resümee Seite 209 Integration von Einwanderern und Nomaden legen (siehe Kapitel 4.3). Allerdings trifft dies auf das erweiterte Grünpotenzial nicht im selben Ausmaß zu. Der Einstufung der Anhängerschaft als neue Mittelschicht mit einem an Selbstentfaltung und Eigenverantwortung orientierten Wertesystem entspricht auch ihre sozialstrukturelle Zusammensetzung: Eine multivariate Analyse der Individualdaten ergibt, dass die Wahrscheinlichkeit Grünwähler/in zu sein steigt, wenn das Geschlecht weiblich, die Person jünger und der Bildungsgrad hoch ist und wenn die Tätigkeit im öffentlichen Dienst - im weiten Sinn, also einschließlich Schule, Gesundheitswesen usw. – liegt (siehe Kapitel 4.2). Diese Tendenzen sind vor allem in der deutschen und ladinischen Sprachgruppe sehr ausgeprägt, während für die italienischsprachigen Anhänger/innen der Grünen, abgesehen vom Alters- und Geschlechtseffekt keine sozialstrukturellen Besonderheiten nachgewiesen werden konnten. Die Aggregatdatenanalyse bestätigt die gefundenen Zusammenhänge und unterstreicht vor allem den Bildungseffekt. Zusätzlich beleuchtet sie die Einflüsse der sozialer Umwelt: Sowohl die ethnische Struktur als auch die sozioökonomische Zusammensetzung der Bevölkerung in einer Gemeinde tragen signifikant zur Vorhersage bei, ob die Erfolgschancen der Verdi-Grünen-Vërc bei Landtagswahlen in dieser Gemeinde hoch oder niedrig liegen. Im sozioökonomischen Bereich fällt ein negativer Zusammenhang zwischen Beschäftigungsquote im Agrar- bzw. Tourismussektor und Grünwähleranteil einer Gemeinde auf, die sich zusammen mit dem positiven Einfluss des Bildungsniveaus wohl am besten als Modernisierungsindikatoren deuten lassen und damit ebenfalls auf die postmaterialistische Orientierung der grünen Wählerschaft hinweisen. (Siehe Kapitel 5.4.) Damit ordnen sich die Grünen Südtirols in die entsprechende nationale und europäische Parteienfamilie ein und tragen ihre Bezeichnung zu Recht. Ähnlich wie die Grünen in Deutschland mehr Tradition und politisches Gewicht haben wie die „Verdi“ in Italien, scheint die postmaterialistische Orientierung auch in 6 Resümee Seite 210 Südtirol stärker auf deutsch- und ladinischsprachige Wähler/innen der Grünen zuzutreffen als auf italienischsprachige. Es stellt sich daher die Frage, welche Bedeutung der interethnische Charakter der Südtiroler Grünen hat und ob er nach wie vor den Kitt dieses Bündnisses zwischen Angehörigen verschiedener Sprachgruppen bildet. 6.2 Wie existenziell ist die interethnische Ausrichtung der Grünen: Zentrale Botschaft oder selbstverständliche Voraussetzung einer (post-) modernen Partei in Südtirol? Von ihrer Entstehung her sind die heutigen Grünen hauptsächlich als Reaktion auf die ethnische Segmentierung des politischen und gesellschaftlichen Systems in Südtirol zu verstehen. Sie vertreten von Anfang an eine Gegenthese zum dominierenden ethnischen Cleavage, der alle anderen Interessenskonflikte der Logik der Sprachgruppentrennung unterordnet. Diese Unterordnung die zur Herausbildung von deutschen (bzw. deutsch-ladinischen) und italienischen Gewerkschaften, deutschen und italienischen Berufsverbänden, deutschen und italienischen Freiwilligenvereinen, Freizeitinitiativen, Sportgruppen, Sozialeinrichtungen, Wohnbaugenossenschaften usw. geführt hat, soll grundsätzlich in Frage gestellt werden. Durch die Überwindung dieser Spaltung soll es möglich werden, andere Konfliktlinien und Problembereiche wieder klarer wahrzunehmen und über die Sprachgruppen hinweg gemeinsame Interessenstandpunkte zu formulieren. Die ökologische Frage ist ein Paradebeispiel für diesen Anspruch: wenn es um den Schutz von Natur und Gesundheit und die Bewahrung einer intakten Umwelt für künftige Generationen geht, dann darf die ethnische Zugehörigkeit nicht im Vordergrund stehen. Tatsächlich ist die Relevanz der ökologischen Probleme in den Augen der Bevölkerung nach wie vor sehr hoch, während die Konflikte zwischen den Sprachgruppen in Südtirol ebenso wie der sozioökonomische Gegensatz zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern nur mehr als von einer Minderheit als 6 Resümee Seite 211 stark eingestuft werden. Als konfliktreicher nehmen Befragte die - medial aufgebauschten - Probleme der Einwanderung und die Auseinandersetzung zwischen linken und rechten politischen Parteien wahr; sogar das Verhältnis zwischen Südtirol und der Regierung in Rom wird als stärker antagonistisch bewertet wie jenes zwischen den Sprachgruppen im Land.267 Auffällig und erfreulich ist vor allem der Wandel in der Problemwahrnehmung ethnischer Konflikte, die sich innerhalb eines Jahrzehntes deutlich verringert hat (siehe Kapitel 4.3.2). Weniger rosig erscheint die Lage jedoch, wenn das Ergebnis nach Sprachgruppen aufgeschlüsselt wird: Die Frage des Zusammenlebens ist fast ausschließlich ein Thema der italienischen Sprachgruppe; die These vom "Disagio" (Unbehagen) der italienischen Sprachgruppe in Südtirol wird offenbar von einem hohen Anteil der Betroffenen immer noch geteilt.268 Damit ist die oben festgestellte Entspannung der interethnischen Beziehungen zu relativieren. Als weniger problematisch wird dieses Verhältnis nur von deutsch- und ladinischsprachigen Personen empfunden, während italienischsprachige Südtiroler/innen das Zusammenleben nach wie vor, oder sogar verstärkt als Problem einstufen. Grünwähler/innen unterscheiden sich in dieser Beziehung nicht wesentlich von anderen Wählergruppen. Somit stellt sich der interethnische Ansatz der Grünen innerhalb der eigenen Anhängerschaft unterschiedlich dar, je nachdem von welcher Sprachgruppe aus er gesehen wird: • Aus deutsch-ladinischer Sicht gilt die ethnische Konfliktstellung als weitgehend überwunden; sie wird nur von jenen künstlich wachgehalten, die von der Trennungspolitik profitieren (das entspricht der für die SVP 267 Vgl. Haller 2000, 74ff. 268 Vgl. CENSIS 1997, 66ff; Atz 1992, 90ff. 6 Resümee Seite 212 diagnostizierten Politik der ethnischen Spannung269); damit ist der Weg offen sich anderen Problemen, insbesondere Fragen des Umweltschutzes und der politischen Mitbestimmung zuzuwenden. • Aus italienischer Sicht stellt das Zusammenleben der Sprachgruppen nach wie vor ein gravierendes Problem dar; die Aufgabe der Grünen liegt vor allem darin, die Gruppen zu versöhnen und gegen Härten und Benachteiligungen, die das System der ethnischen Trennung bewirkt, anzukämpfen. Im Sinne des Cleavage-Ansatzes lassen sich die Verdi-Grünen-Vërc deshalb vielleicht am besten als Bündnis deutsch- und ladinischsprachiger postmaterialistisch orientierter Grüner im engeren Sinn mit linksorientierten Kreisen in der italienischen Sprachgruppe beschreiben, denen in erster Linie die interethnischen Themen am Herzen liegen. Dieses Bündnis hat sich für die Kernschichten der grünen Wählerschaft als tragfähig erwiesen. Wenn es aber darum geht, den weiteren Kreis grüner Sympathisant/innen zu mobilisieren, deuten sich Zielkonflikte an. Viele in diesem Wählerpotenzial scheinen auf deutscher Seite keine grundsätzlichen Schwierigkeiten mit der Trennungspolitik zu haben: ihre Sympathie für die Grünen dürfte mehr von der Sorge um die Umwelt und von einer Ablehnung des Hegemonieanspruchs der SVP bestimmt sein. Auf italienischer Seite stellt die Vormachtstellung der SVP kein so gravierendes Problem dar; man möchte eher mit ihr kooperieren um auf dem Verhandlungsweg auf einen Abbau von trennenden, als für die eigene Sprachgruppe nachteilig empfundenen oder die sozioökonomische Entwicklung hemmenden Bestimmungen des Minderheitenschutzes hinwirken zu können (siehe Kapitel 4.5). Umgekehrt liefert die Analyse auch Hinweise darauf, dass der Weg der Integration tatsächlich zielführend ist. So jedenfalls lässt sich der positive 269 Vgl. Pallaver 2001b, 325ff. 6 Resümee Seite 213 Zusammenhang deuten, der zwischen dem zahlenmäßigen Verhältnis der ethnischen Gruppen und dem Stimmenanteil der Grünen auf Gemeindeebene besteht. Wo nicht nur eine Sprachgruppe unter sich ist, sondern mehrere ethnische Gemeinschaften an einem Ort eng zusammen leben, entsteht eine andere soziale Dynamik und gegenseitige Wahrnehmung, die Einwohner/innen dieser Orte vermutlich aufgeschlossener gegenüber interethnischem Gedankengut macht und ihr Verständnis für eine rigorose Abgrenzung der ethnischen Einflusszonen schmälert (siehe Kapitel 5.4.2). 6.3 Sind die Grünen für neue Wählerschichten attraktiv? Eine Verbreiterung der Wählerbasis der Verdi-Grünen-Vërc erscheint auf dem Hintergrund der breiten Sympathien, die sie genießen, durchaus möglich. Auch die Sozialstruktur der Wählerschaft ist so gelagert, dass sie durch den gesellschaftlichen Wandel gestärkt wird. Andererseits lässt vor allem die Untersuchung der Wählerströme darauf schließen, dass Anhängerschaft und Potenzial der Grünen sich aus besonders mobilen und kritischen Wähler/innen zusammensetzen, die nach gängigen Kriterien in ihren politischen Einstellungen ziemlich heterogen sind. Sie liegen nicht nur quer zum ethnischen Cleavage, was ja dem Selbstverständnis der Grünen entspricht, sondern weisen auch in Bezug auf andere politische Trennungslinien, nicht zuletzt das Rechts-Links-Schema und die Unterscheidung Regierung-Opposition einen transversalen Charakter auf. Andererseits hat die Untersuchung ergeben, dass sich die Verdi-Grünen-Vërc für die Wähler/innen im Wesentlichen als One-Issue-Bewegung um die ökologische Frage herum darstellen. Beim zweiten historischen Programmschwerpunkt, der Förderung des Zusammenlebens ist die Themenführerschaft sogar in der eigenen Basis teilweise verloren gegangen, obwohl – oder weil – die Position der Grünen ziemlich konträr zur Linie der SVP und ihrer Koalitionspartner liegt (vgl. Kapitel 2.3). Von jenen Themen, wo den Grünen ebenfalls gewisse Kompetenzen eingeräumt werden, erscheint neben der Chancengleichheit vor allem die Frage der Demokratisierung entwicklungsfähig, stellt sie doch so etwas wie die 6 Resümee Seite 214 Achilles-Ferse der sonst so überzeugenden SVP dar. Allerdings ist das wirkliche oder angebliche Demokratiedefizit ein Thema, das auch andere Oppositionsparteien zu besetzen versuchen. Was heißt diese inhaltliche Positionierung nun auf dem Hintergrund der Bedeutung, welche die Wähler/innen den einzelnen Problembereichen zumessen? Ökologische Fragen rangieren – zumindest für die deutsche (und vermutlich die ladinische) Sprachgruppe - auf den vordersten Plätzen der aktuellen Themen. Somit haben die Grünen einen starken Trumpf im politischen Wettbewerb.270 Den gesamten wirtschaftlichen Bereich, die für sprachliche Minderheiten (das sind in Südtirol de facto alle drei Sprachgruppen, da sich regional auch Italienisch Sprechende in einer Minderheitensituation befinden) so wichtigen Fragen von Bildung und Kultur, aber auch die offenbar drängenden sozialen Themen (einschließlich Gesundheitswesen) müssen sie dagegen der Konkurrenz, in erster Linie der SVP überlassen. Diese profitiert offenbar gerade bei den sachpolitischen Issues von ihrer politischen Stärke, vom Regierungsbonus und von ihrer Funktion als Verteilungsagentur der reichlich vorhandenen öffentlichen Mittel.271 Vergleicht man dieses Kompetenzprofil mit den Schwerpunkten der Wahlprogramme der Liste Verdi-Grünen-Vërc und ihrer politischen Arbeit im Landtag, so findet sich eine Parallele in der starken Gewichtung von Fragen der Umwelt und der Lebensqualität. Während der Einsatz für das ethnische Zusammenleben und für bestimmte nichtdemografische Gruppen (Frauen, Jugend, Randgruppen, Einwanderer) noch eine gewisse Anerkennung findet, scheinen weder die Stellungnahmen für soziale Gerechtigkeit und andere sozialen Themen, noch die verstärkten Wortmeldungen der Grünen in bildungs- 270 Damit sind sie in ihrem Profil den österreichischen Grünen durchaus ähnlich, wo der Umweltschutz Ende der 90er-Jahre das einzige wirkliche Stärkefeld dieser Partei darstellt (vgl. Palme 2000, 253). 271 Vgl. Pallaver 2001a, 333ff. 6 Resümee Seite 215 und wirtschaftspolitischen Angelegenheiten bisher auf Resonanz bei den Bürger/innen gestoßen zu sein.272 Die Abwerbung von bisherigen Wähler/innen der SVP erscheint - angesichts des beeindruckend breiten Kompetenzprofils der dominierenden Partei - für die Grünen zur Zeit nur dann möglich, wenn diese ein ausgeprägtes Umweltbewusstsein aufweisen und die angebliche Radikalität der Verdi-Grünen-Vërc akzeptieren. Gegenüber anderen Parteien in Südtirol zeichnen sich die Grünen immerhin durch ihre unbestrittene Themenführerschaft in diesem einem Bereich aus. Das allein reicht aber offenbar nicht aus, um neue Wählergruppen anzusprechen. Dafür wäre wohl auch ein stärkeres Image in Bezug auf die Vertretung und Durchsetzung von Interessen wirtschaftlicher oder sozialer Art nötig, wie sie aus Sicht der „Rational-Choice-Ansätze“ in der Wahlforschung für das Wahlverhalten ausschlaggebend sind.273 Die thematischen Stärken einer Partei lassen sich nie ganz von ihren Führungspersönlichkeiten trennen. Langer repräsentierte vor allem den kulturell verbindenden, auf Versöhnung ausgerichteten interethnischen Auftrag der Grünen. Er war es jedoch auch, der vehement für mehr Demokratie, für ein Mitspracherecht der politischen Minderheiten und für die ökologischen Anliegen eintrat. Seine Nachfolger/innen beerben ihn mit verschieden persönlichen Akzenten in dieser Hinsicht. Was sie jedoch – schon allein aufgrund ihrer beruflichen Herkunft – nicht repräsentieren, sind gerade jene Problembereiche, in denen die Grünen den größten Aufholbedarf hätten: wirtschaftliche und soziale Themen. Somit trägt auch das jetzige Führungsteam dazu bei, dass der OneIssue-Charakter der Partei eher bestärkt als überwunden wird. (Siehe Kapitel 4.4). 272 Vgl. Reiterer 1998, 122ff.; siehe auch Kapitel 2.3.3. 273 Vgl. Bürklin / Klein 1998, 107ff. 6 Resümee Seite 216 Eine entscheidender Stimmenzuwachs für die Grünen ist deshalb nur zu erwarten, wenn es ihnen entweder gelingt, sich in anderen, eventuell neuen Themenbereichen als kompetent zu profilieren oder aber von einer Veränderung der Parteienstruktur Südtirols zu profitieren, die ihnen ein echtes Koalitionspotenzial verschafft. Diese ist vorerst jedoch nicht absehbar. 6.4 Die Positionierung der Grünen im Parteienwettbewerb Typisch für die Nach-Paket-Ära, also die Zeit seit 1992, ist es, dass die im Autonomiestatut festgeschriebene Trennungspolitik immer breitere Akzeptanz findet. Die Versuche eine deutsche Ökologie- und Demokratiebewegung als neue Partei zu etablieren weisen z.B. in diese Richtung. Auch unter den GrünAnhänger/innen selbst scheint die Frage des Zusammenlebens der Sprachgruppen an Stellenwert zu verlieren. Außerdem sind viele ursprünglich grüne Forderungen nach mehr Kulturaustausch, besserem Sprachunterricht, Entschärfung der Proporzbestimmungen usw. vor allem von italienischen Parteien (Alleanza Nazionale, das postkommunistische Mitte-Links-Bündnis) übernommen worden, die zu diesen Themen allerdings einen anderen Zugang haben. Ähnlich wie in ganz Europa ist die Forderung nach wirkungsvollem Umweltschutz, besserer Lebensqualität und nachhaltiger Wirtschaftsweise keine Besonderheit der Grünen geblieben, sondern sie wurde von fast allen anderen Parteien zumindest rhetorisch übernommen. Mit den rein deutschsprachigen Bürger- und Umweltlisten ist den Verdi-Grünen-Vërc ab den 90er-Jahren jedoch eine direkte parteipolitische Konkurrenz in ihrem Kernthema erwachsen, wie sie die deutschen, österreichischen oder gesamtstaatlichen italienischen Grünen nur in ihren Anfangsjahren verspürt haben. Wenn der Stellenwert einer politischen Partei innerhalb des jeweiligen Parteiensystems vor allem von ihrem Koalitions- oder Erpressungspotenzial abhängt, wie dies Sartori seiner Typologie zugrunde legt, so kann auf eine 6 Resümee Seite 217 gewachsene Bedeutung der Grünen Südtirols geschlossen werden. Von einer reinen Oppositionsgruppe, die abgesehen von ihrer parlamentarischen Kontrollfunktion nur durch Formen des außerparlamentarischen Bürgerprotestes Einfluss auf die Politik nehmen konnte, ist sie zu einer Partei geworden, die zumindest in bestimmten Konstellationen über ein bescheidenes Koalitionspotenzial verfügt. Gerade dieses Koalitionspotenzial könnte aber nur dadurch vergrößert werden, dass die Partei einerseits auf Fundamentalopposition verzichtet, was weitgehend schon der Fall ist, andererseits aber auch ihren interethnischen Charakter aufgibt oder zumindest hintanstellt, denn nur als „italienische“ Partei mit italienischsprachigen Mandatar/innen ist sie für die SVP als Koalitionspartnerin attraktiv. Wie schon in den Städten Bozen und Meran, wo die Regierungsbeteiligung der Verdi-Grünen-Vërc sich auf Abgeordnete aus der italienischen Sprachgruppe beschränkt, würde sich die SVP vehement gegen ein deutschsprachiges Regierungsmitglied aussprechen, das nicht aus ihren Reihen kommt. Diese Bedingung der SVP zu akzeptieren, führt aber unweigerlich zu einer inneren Zerreißprobe der Grünen mit realer Spaltungsgefahr. Sollte die Regierungsbeteiligung gar im Rahmen eines größeren Bündnisses, ähnlich dem „Ulivo“ (der in der bisherigen Form allen Anzeichen nach ausgedient hat) erfolgen, so brächte das die deutsche Seite der Grünen in eine innere Minderheitensituation, wo grundsätzliche Kritik an einer Politik, an der eigene Vertreter/innen der italienischen Sprachgruppe mitwirken, kaum möglich erscheint. An dieser paradoxen Situation wird sichtbar, wie schwer es für eine Partei in Südtirol heute ist, sich der Logik der ethnisch getrennten politischen Arenen zu entziehen. Das „Modell Südtirol“ des friedlichen Zusammenlebens ethnischer Gruppen ist nicht zuletzt eine Frucht des wirtschaftlichen Wohlstandes und „außenpolitisch“ (soll heißen: im Verhältnis zu Rom) günstiger Umstände. Wenn sich diese Rahmenbedingungen ändern, könnte es zu einer neuerlichen Zuspitzung des ethnischen Konfliktes kommen. Was aber würde das für die Verdi-Grünen-Vërc 6 Resümee Seite 218 bedeuten? Könnten sie in diesem Fall die Rolle der Vermittler übernehmen und zu einem neuen Friedenspakt zwischen den Angehörigen der verschiedenen Sprachgruppen beitragen? Oder würden sie eher zwischen den Fronten aufgerieben? Die Antwort ist schwierig. Wahrscheinlich hängt es davon ab, wie stark die Partei in der Gesellschaft verankert bleibt und wie gut es ihr gelingt, die an Verständigung und überethnischen Zielen interessierten sozialen Gruppen an sich zu binden. 6.5 Welche Funktion haben die Grünen im Modell Südtirol? Die Autonomie Südtirols, verstanden als weitgehende Selbstverwaltung auf der Basis einer konkordanzdemokratischen Teilung der Macht zwischen den Vertretern aller ethnischen Gruppen, kann zweifellos wegweisend sein, wenn es um die Befriedung in spannungsgeladenen Regionen geht. Es darf allerdings nicht vergessen werden, dass der nachhaltige Erfolg dieses Modells auch auf der wirtschaftlichen Prosperität dieses Landes beruht, die durch großzügige finanzielle Transfers des Staates wesentlich gestützt wurde und wird. Die Rolle der Verdi-Grünen-Vërc innerhalb des segmentierten politischen Systems, das diese Autonomie erzeugt oder verfestigt hat, lässt sich auf zweierlei Weise sehen: • In einer systemkonservativen Sicht besteht ihre Funktion darin, die Interessen eines kleinen mit der Trennungspolitik nicht einverstandenen Teils der Bevölkerung zu kanalisieren und damit letztlich zur Stabilität dieses Systems beizutragen. • In einer entwicklungsorientierten Sicht, können die Grünen auch als Avantgarde einer allmählichen Aufweichung der gesellschaftlichen Spaltung gesehen werden. Die zunehmende Sympathie, die der SVP von Seiten italienischsprachiger Südtiroler/innen entgegengebracht wird, weist darauf hin, dass die Entspannungsbemühungen Früchte tragen und zum Abbau ethnozentrischer Trennmauern beitragen. Allerdings würde eine 6 Resümee Seite 219 derartige Entwicklung die Sonderrolle der Grünen aufheben und sie in ethnischer Hinsicht zu einer Partei wie alle anderen machen. Ihre Existenzberechtigung müsste sie in diesem Fall aus anderen politischen Themenfeldern beziehen, wie normale ökologische Parteien in Europa auch. Da eine vollständige Aufhebung der ethnischen Trennung im politischen System Südtirols weder von den gesetzlichen Regelungen her vorgesehen ist, noch den Machterhaltungsbestrebungen der SVP und ihrer Koalitionspartner entsprechen würde, ist in absehbarer Zeit nicht damit zu rechnen. Wahrscheinlich liegt der Wert der Verdi-Grünen-Vërc für das System irgendwo zwischen den oben beschriebenen Extrempositionen: Sie artikuliert Unzufriedenheit und politische Minderheitenpositionen und sie trägt dazu bei, dass die Auswüchse der Trennungspolitik zurückgenommen werden. Damit stellt sie für dieses System, unabhängig von ihrem Einsatz für Umwelt und Demokratie, eine Bereicherung dar, die auch anderen Regionen zu wünschen wäre.