6 Resümee - Südtiroler Gesellschaft für Politikwissenschaft

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6.1 Die Grünen als postmoderne Partei
Gibt es ein grünes Milieu in Südtirol? Die Frage muss letztlich unbeantwortet
bleiben, obwohl manches für diese These spricht. In den 70er-Jahren zur Zeit der
Entstehung der Neuen Linken/Nuova Sinistra waren es bestimmte Gruppen und
Initiativen, die aus dem Dissens zu SVP, DC und dem Quasi-Medienmonopol
des Athesia-Verlags (für die deutsche Sprachgruppe) heraus ein alternatives
Beziehungsnetz bildeten, das sich wohl am besten mit dem Milieubegriff
beschreiben lässt.265 Der inzwischen erfolgte Umbau der politischen Gruppierung
zu den Grünen-Verdi-Vërc verleugnet diese Wurzeln zwar nicht, doch sind die
ökologischen Themen deutlich in den Vordergrund gerückt. Mit dieser
Schwerpunktverschiebung war auch ein Wandel der Kernwählerschichten
verbunden, der am einfachsten anhand des Vordringens des ursprünglich auf die
Städte beschränkten Wählerpotenzials in die ländlichen Gebiete Südtirols
nachvollziehbar ist. (Siehe Kapitel 2.3.)
Soweit es sich aus den Prioritäten ablesen lässt, die Befragte auf der politischen
Agenda Südtirols setzen möchten, gehen diese bei Anhänger/innen der Grünen
tatsächlich in Richtung jenes Sets von politischen Forderungen, die als Ausdruck
postmaterialistischer
Werteorientierung
betrachtet
wird:
Umweltschutz,
alternative Lebensstile, sexuelle Freiheit, Minderheitenrechte und politische
Partizipation.266
Zusammenleben
Tatsächliche
der
und
potenzielle
Sprachgruppen,
Umwelt
Grünwähler/innen
und
Verkehr
nennen
als
die
vordringlichsten Probleme in Südtirol. Aus den Kompetenzzuschreibungen wird
klar, dass Grünwähler/innen auch Wert auf den Einsatz ihrer Partei für die
Chancengleichheit der Frauen, die Mitbestimmung der Bürger und die
265
Vgl. Reiterer 1998. Zum Milieubegriff vgl. etwa Schulze 1992.
266
Vgl. Bürklin / Klein 1998, 96.
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Integration von Einwanderern und Nomaden legen (siehe Kapitel 4.3). Allerdings
trifft dies auf das erweiterte Grünpotenzial nicht im selben Ausmaß zu.
Der Einstufung der Anhängerschaft als neue Mittelschicht mit einem an
Selbstentfaltung und Eigenverantwortung orientierten Wertesystem entspricht
auch ihre sozialstrukturelle Zusammensetzung: Eine multivariate Analyse der
Individualdaten ergibt, dass die Wahrscheinlichkeit Grünwähler/in zu sein steigt,
wenn das Geschlecht weiblich, die Person jünger und der Bildungsgrad hoch ist
und wenn die Tätigkeit im öffentlichen Dienst - im weiten Sinn, also
einschließlich Schule, Gesundheitswesen usw. – liegt (siehe Kapitel 4.2). Diese
Tendenzen sind vor allem in der deutschen und ladinischen Sprachgruppe sehr
ausgeprägt, während für die italienischsprachigen Anhänger/innen der Grünen,
abgesehen vom Alters- und Geschlechtseffekt keine sozialstrukturellen
Besonderheiten nachgewiesen werden konnten.
Die Aggregatdatenanalyse bestätigt die gefundenen Zusammenhänge und
unterstreicht vor allem den Bildungseffekt. Zusätzlich beleuchtet sie die
Einflüsse der sozialer Umwelt: Sowohl die ethnische Struktur als auch die
sozioökonomische Zusammensetzung der Bevölkerung in einer Gemeinde tragen
signifikant zur Vorhersage bei, ob die Erfolgschancen der Verdi-Grünen-Vërc
bei Landtagswahlen in dieser Gemeinde hoch oder niedrig liegen. Im
sozioökonomischen Bereich fällt ein negativer Zusammenhang zwischen
Beschäftigungsquote im Agrar- bzw. Tourismussektor und Grünwähleranteil
einer Gemeinde auf, die sich zusammen mit dem positiven Einfluss des
Bildungsniveaus wohl am besten als Modernisierungsindikatoren deuten lassen
und damit ebenfalls auf die postmaterialistische Orientierung der grünen
Wählerschaft hinweisen. (Siehe Kapitel 5.4.)
Damit ordnen sich die Grünen Südtirols in die entsprechende nationale und
europäische Parteienfamilie ein und tragen ihre Bezeichnung zu Recht. Ähnlich
wie die Grünen in Deutschland mehr Tradition und politisches Gewicht haben
wie die „Verdi“ in Italien, scheint die postmaterialistische Orientierung auch in
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Südtirol stärker auf deutsch- und ladinischsprachige Wähler/innen der Grünen
zuzutreffen als auf italienischsprachige. Es stellt sich daher die Frage, welche
Bedeutung der interethnische Charakter der Südtiroler Grünen hat und ob er nach
wie vor den Kitt dieses Bündnisses zwischen Angehörigen verschiedener
Sprachgruppen bildet.
6.2 Wie existenziell ist die interethnische Ausrichtung der
Grünen: Zentrale Botschaft oder selbstverständliche
Voraussetzung einer (post-) modernen Partei in Südtirol?
Von ihrer Entstehung her sind die heutigen Grünen hauptsächlich als Reaktion
auf die ethnische Segmentierung des politischen und gesellschaftlichen Systems
in Südtirol zu verstehen. Sie vertreten von Anfang an eine Gegenthese zum
dominierenden ethnischen Cleavage, der alle anderen Interessenskonflikte der
Logik der Sprachgruppentrennung unterordnet. Diese Unterordnung die zur
Herausbildung von deutschen (bzw. deutsch-ladinischen) und italienischen
Gewerkschaften, deutschen und italienischen Berufsverbänden, deutschen und
italienischen Freiwilligenvereinen, Freizeitinitiativen, Sportgruppen, Sozialeinrichtungen, Wohnbaugenossenschaften usw. geführt hat, soll grundsätzlich in
Frage gestellt werden. Durch die Überwindung dieser Spaltung soll es möglich
werden, andere Konfliktlinien und Problembereiche wieder klarer wahrzunehmen und über die Sprachgruppen hinweg gemeinsame Interessenstandpunkte zu formulieren. Die ökologische Frage ist ein Paradebeispiel für
diesen Anspruch: wenn es um den Schutz von Natur und Gesundheit und die
Bewahrung einer intakten Umwelt für künftige Generationen geht, dann darf die
ethnische Zugehörigkeit nicht im Vordergrund stehen.
Tatsächlich ist die Relevanz der ökologischen Probleme in den Augen der
Bevölkerung nach wie vor sehr hoch, während die Konflikte zwischen den
Sprachgruppen in Südtirol ebenso wie der sozioökonomische Gegensatz
zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern nur mehr als von einer Minderheit als
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stark eingestuft werden. Als konfliktreicher nehmen Befragte die - medial
aufgebauschten - Probleme der Einwanderung und die Auseinandersetzung
zwischen linken und rechten politischen Parteien wahr; sogar das Verhältnis
zwischen Südtirol und der Regierung in Rom wird als stärker antagonistisch
bewertet wie jenes zwischen den Sprachgruppen im Land.267 Auffällig und
erfreulich ist vor allem der Wandel in der Problemwahrnehmung ethnischer
Konflikte, die sich innerhalb eines Jahrzehntes deutlich verringert hat (siehe
Kapitel 4.3.2).
Weniger rosig erscheint die Lage jedoch, wenn das Ergebnis nach Sprachgruppen
aufgeschlüsselt wird: Die Frage des Zusammenlebens ist fast ausschließlich ein
Thema der italienischen Sprachgruppe; die These vom "Disagio" (Unbehagen)
der italienischen Sprachgruppe in Südtirol wird offenbar von einem hohen Anteil
der Betroffenen immer noch geteilt.268 Damit ist die oben festgestellte
Entspannung der interethnischen Beziehungen zu relativieren. Als weniger
problematisch wird dieses Verhältnis nur von deutsch- und ladinischsprachigen
Personen
empfunden,
während
italienischsprachige
Südtiroler/innen
das
Zusammenleben nach wie vor, oder sogar verstärkt als Problem einstufen.
Grünwähler/innen unterscheiden sich in dieser Beziehung nicht wesentlich von
anderen Wählergruppen.
Somit stellt sich der interethnische Ansatz der Grünen innerhalb der eigenen
Anhängerschaft unterschiedlich dar, je nachdem von welcher Sprachgruppe aus
er gesehen wird:
•
Aus deutsch-ladinischer Sicht gilt die ethnische Konfliktstellung als
weitgehend überwunden; sie wird nur von jenen künstlich wachgehalten,
die von der Trennungspolitik profitieren (das entspricht der für die SVP
267
Vgl. Haller 2000, 74ff.
268
Vgl. CENSIS 1997, 66ff; Atz 1992, 90ff.
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diagnostizierten Politik der ethnischen Spannung269); damit ist der Weg
offen sich anderen Problemen, insbesondere Fragen des Umweltschutzes
und der politischen Mitbestimmung zuzuwenden.
•
Aus italienischer Sicht stellt das Zusammenleben der Sprachgruppen nach
wie vor ein gravierendes Problem dar; die Aufgabe der Grünen liegt vor
allem darin, die Gruppen zu versöhnen und gegen Härten und
Benachteiligungen, die das System der ethnischen Trennung bewirkt,
anzukämpfen.
Im Sinne des Cleavage-Ansatzes lassen sich die Verdi-Grünen-Vërc deshalb
vielleicht am besten als Bündnis deutsch- und ladinischsprachiger postmaterialistisch orientierter Grüner im engeren Sinn mit linksorientierten Kreisen
in der italienischen Sprachgruppe beschreiben, denen in erster Linie die
interethnischen Themen am Herzen liegen. Dieses Bündnis hat sich für die
Kernschichten der grünen Wählerschaft als tragfähig erwiesen. Wenn es aber
darum geht, den weiteren Kreis grüner Sympathisant/innen zu mobilisieren,
deuten sich Zielkonflikte an. Viele in diesem Wählerpotenzial scheinen auf
deutscher Seite keine grundsätzlichen Schwierigkeiten mit der Trennungspolitik
zu haben: ihre Sympathie für die Grünen dürfte mehr von der Sorge um die
Umwelt und von einer Ablehnung des Hegemonieanspruchs der SVP bestimmt
sein. Auf italienischer Seite stellt die Vormachtstellung der SVP kein so
gravierendes Problem dar; man möchte eher mit ihr kooperieren um auf dem
Verhandlungsweg auf einen Abbau von trennenden, als für die eigene
Sprachgruppe nachteilig empfundenen oder die sozioökonomische Entwicklung
hemmenden Bestimmungen des Minderheitenschutzes hinwirken zu können
(siehe Kapitel 4.5).
Umgekehrt liefert die Analyse auch Hinweise darauf, dass der Weg der
Integration tatsächlich zielführend ist. So jedenfalls lässt sich der positive
269
Vgl. Pallaver 2001b, 325ff.
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Zusammenhang deuten, der zwischen dem zahlenmäßigen Verhältnis der
ethnischen Gruppen und dem Stimmenanteil der Grünen auf Gemeindeebene
besteht. Wo nicht nur eine Sprachgruppe unter sich ist, sondern mehrere
ethnische Gemeinschaften an einem Ort eng zusammen leben, entsteht eine
andere soziale Dynamik und gegenseitige Wahrnehmung, die Einwohner/innen
dieser
Orte
vermutlich
aufgeschlossener
gegenüber
interethnischem
Gedankengut macht und ihr Verständnis für eine rigorose Abgrenzung der
ethnischen Einflusszonen schmälert (siehe Kapitel 5.4.2).
6.3 Sind die Grünen für neue Wählerschichten attraktiv?
Eine Verbreiterung der Wählerbasis der Verdi-Grünen-Vërc erscheint auf dem
Hintergrund der breiten Sympathien, die sie genießen, durchaus möglich. Auch
die Sozialstruktur der Wählerschaft ist so gelagert, dass sie durch den
gesellschaftlichen Wandel gestärkt wird. Andererseits lässt vor allem die
Untersuchung der Wählerströme darauf schließen, dass Anhängerschaft und
Potenzial der Grünen sich aus besonders mobilen und kritischen Wähler/innen
zusammensetzen, die nach gängigen Kriterien in ihren politischen Einstellungen
ziemlich heterogen sind. Sie liegen nicht nur quer zum ethnischen Cleavage, was
ja dem Selbstverständnis der Grünen entspricht, sondern weisen auch in Bezug
auf andere politische Trennungslinien, nicht zuletzt das Rechts-Links-Schema
und die Unterscheidung Regierung-Opposition einen transversalen Charakter auf.
Andererseits hat die Untersuchung ergeben, dass sich die Verdi-Grünen-Vërc für
die Wähler/innen im Wesentlichen als One-Issue-Bewegung um die ökologische
Frage herum darstellen. Beim zweiten historischen Programmschwerpunkt, der
Förderung des Zusammenlebens ist die Themenführerschaft sogar in der eigenen
Basis teilweise verloren gegangen, obwohl – oder weil – die Position der Grünen
ziemlich konträr zur Linie der SVP und ihrer Koalitionspartner liegt (vgl. Kapitel
2.3). Von jenen Themen, wo den Grünen ebenfalls gewisse Kompetenzen
eingeräumt werden, erscheint neben der Chancengleichheit vor allem die Frage
der Demokratisierung entwicklungsfähig, stellt sie doch so etwas wie die
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Achilles-Ferse der sonst so überzeugenden SVP dar. Allerdings ist das wirkliche
oder angebliche Demokratiedefizit ein Thema, das auch andere Oppositionsparteien zu besetzen versuchen.
Was heißt diese inhaltliche Positionierung nun auf dem Hintergrund der
Bedeutung,
welche
die
Wähler/innen
den
einzelnen
Problembereichen
zumessen? Ökologische Fragen rangieren – zumindest für die deutsche (und vermutlich die ladinische) Sprachgruppe - auf den vordersten Plätzen der aktuellen
Themen. Somit haben die Grünen einen starken Trumpf im politischen
Wettbewerb.270 Den gesamten wirtschaftlichen Bereich, die für sprachliche
Minderheiten (das sind in Südtirol de facto alle drei Sprachgruppen, da sich
regional auch Italienisch Sprechende in einer Minderheitensituation befinden) so
wichtigen Fragen von Bildung und Kultur, aber auch die offenbar drängenden
sozialen Themen (einschließlich Gesundheitswesen) müssen sie dagegen der
Konkurrenz, in erster Linie der SVP überlassen. Diese profitiert offenbar gerade
bei
den
sachpolitischen
Issues
von
ihrer
politischen
Stärke,
vom
Regierungsbonus und von ihrer Funktion als Verteilungsagentur der reichlich
vorhandenen öffentlichen Mittel.271
Vergleicht
man
dieses
Kompetenzprofil
mit
den
Schwerpunkten
der
Wahlprogramme der Liste Verdi-Grünen-Vërc und ihrer politischen Arbeit im
Landtag, so findet sich eine Parallele in der starken Gewichtung von Fragen der
Umwelt und der Lebensqualität. Während der Einsatz für das ethnische
Zusammenleben und für bestimmte nichtdemografische Gruppen (Frauen,
Jugend, Randgruppen, Einwanderer) noch eine gewisse Anerkennung findet,
scheinen weder die Stellungnahmen für soziale Gerechtigkeit und andere
sozialen Themen, noch die verstärkten Wortmeldungen der Grünen in bildungs-
270
Damit sind sie in ihrem Profil den österreichischen Grünen durchaus ähnlich, wo der
Umweltschutz Ende der 90er-Jahre das einzige wirkliche Stärkefeld dieser Partei darstellt
(vgl. Palme 2000, 253).
271
Vgl. Pallaver 2001a, 333ff.
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und wirtschaftspolitischen Angelegenheiten bisher auf Resonanz bei den
Bürger/innen gestoßen zu sein.272
Die Abwerbung von bisherigen Wähler/innen der SVP erscheint - angesichts des
beeindruckend breiten Kompetenzprofils der dominierenden Partei - für die
Grünen zur Zeit nur dann möglich, wenn diese ein ausgeprägtes Umweltbewusstsein aufweisen und die angebliche Radikalität der Verdi-Grünen-Vërc
akzeptieren. Gegenüber anderen Parteien in Südtirol zeichnen sich die Grünen
immerhin durch ihre unbestrittene Themenführerschaft in diesem einem Bereich
aus. Das allein reicht aber offenbar nicht aus, um neue Wählergruppen
anzusprechen. Dafür wäre wohl auch ein stärkeres Image in Bezug auf die
Vertretung und Durchsetzung von Interessen wirtschaftlicher oder sozialer Art
nötig, wie sie aus Sicht der „Rational-Choice-Ansätze“ in der Wahlforschung für
das Wahlverhalten ausschlaggebend sind.273
Die thematischen Stärken einer Partei lassen sich nie ganz von ihren
Führungspersönlichkeiten trennen. Langer repräsentierte vor allem den kulturell
verbindenden, auf Versöhnung ausgerichteten interethnischen Auftrag der
Grünen. Er war es jedoch auch, der vehement für mehr Demokratie, für ein
Mitspracherecht der politischen Minderheiten und für die ökologischen Anliegen
eintrat. Seine Nachfolger/innen beerben ihn mit verschieden persönlichen
Akzenten in dieser Hinsicht. Was sie jedoch – schon allein aufgrund ihrer
beruflichen Herkunft – nicht repräsentieren, sind gerade jene Problembereiche, in
denen die Grünen den größten Aufholbedarf hätten: wirtschaftliche und soziale
Themen. Somit trägt auch das jetzige Führungsteam dazu bei, dass der OneIssue-Charakter der Partei eher bestärkt als überwunden wird. (Siehe Kapitel
4.4).
272
Vgl. Reiterer 1998, 122ff.; siehe auch Kapitel 2.3.3.
273
Vgl. Bürklin / Klein 1998, 107ff.
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Eine entscheidender Stimmenzuwachs für die Grünen ist deshalb nur zu
erwarten, wenn es ihnen entweder gelingt, sich in anderen, eventuell neuen
Themenbereichen als kompetent zu profilieren oder aber von einer Veränderung
der
Parteienstruktur
Südtirols
zu
profitieren,
die
ihnen
ein
echtes
Koalitionspotenzial verschafft. Diese ist vorerst jedoch nicht absehbar.
6.4 Die Positionierung der Grünen im Parteienwettbewerb
Typisch für die Nach-Paket-Ära, also die Zeit seit 1992, ist es, dass die im
Autonomiestatut festgeschriebene Trennungspolitik immer breitere Akzeptanz
findet. Die Versuche eine deutsche Ökologie- und Demokratiebewegung als neue
Partei zu etablieren weisen z.B. in diese Richtung. Auch unter den GrünAnhänger/innen
selbst
scheint
die
Frage
des
Zusammenlebens
der
Sprachgruppen an Stellenwert zu verlieren. Außerdem sind viele ursprünglich
grüne Forderungen nach mehr Kulturaustausch, besserem Sprachunterricht,
Entschärfung der Proporzbestimmungen usw. vor allem von italienischen
Parteien (Alleanza Nazionale, das postkommunistische Mitte-Links-Bündnis)
übernommen worden, die zu diesen Themen allerdings einen anderen Zugang
haben.
Ähnlich wie in ganz Europa ist die Forderung nach wirkungsvollem
Umweltschutz, besserer Lebensqualität und nachhaltiger Wirtschaftsweise keine
Besonderheit der Grünen geblieben, sondern sie wurde von fast allen anderen
Parteien zumindest rhetorisch übernommen. Mit den rein deutschsprachigen
Bürger- und Umweltlisten ist den Verdi-Grünen-Vërc ab den 90er-Jahren jedoch
eine direkte parteipolitische Konkurrenz in ihrem Kernthema erwachsen, wie sie
die deutschen, österreichischen oder gesamtstaatlichen italienischen Grünen nur
in ihren Anfangsjahren verspürt haben.
Wenn der Stellenwert einer politischen Partei innerhalb des jeweiligen
Parteiensystems vor allem von ihrem Koalitions- oder Erpressungspotenzial
abhängt, wie dies Sartori seiner Typologie zugrunde legt, so kann auf eine
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gewachsene Bedeutung der Grünen Südtirols geschlossen werden. Von einer
reinen
Oppositionsgruppe,
die
abgesehen
von
ihrer
parlamentarischen
Kontrollfunktion nur durch Formen des außerparlamentarischen Bürgerprotestes
Einfluss auf die Politik nehmen konnte, ist sie zu einer Partei geworden, die
zumindest in bestimmten Konstellationen über ein bescheidenes Koalitionspotenzial verfügt.
Gerade dieses Koalitionspotenzial könnte aber nur dadurch vergrößert werden,
dass die Partei einerseits auf Fundamentalopposition verzichtet, was weitgehend
schon der Fall ist, andererseits aber auch ihren interethnischen Charakter aufgibt
oder zumindest hintanstellt, denn nur als „italienische“ Partei mit italienischsprachigen Mandatar/innen ist sie für die SVP als Koalitionspartnerin attraktiv.
Wie schon in den Städten Bozen und Meran, wo die Regierungsbeteiligung der
Verdi-Grünen-Vërc sich auf Abgeordnete aus der italienischen Sprachgruppe
beschränkt, würde sich die SVP vehement gegen ein deutschsprachiges
Regierungsmitglied aussprechen, das nicht aus ihren Reihen kommt. Diese
Bedingung der SVP zu akzeptieren, führt aber unweigerlich zu einer inneren
Zerreißprobe
der
Grünen
mit
realer
Spaltungsgefahr.
Sollte
die
Regierungsbeteiligung gar im Rahmen eines größeren Bündnisses, ähnlich dem
„Ulivo“ (der in der bisherigen Form allen Anzeichen nach ausgedient hat)
erfolgen, so brächte das die deutsche Seite der Grünen in eine innere
Minderheitensituation, wo grundsätzliche Kritik an einer Politik, an der eigene
Vertreter/innen der italienischen Sprachgruppe mitwirken, kaum möglich
erscheint. An dieser paradoxen Situation wird sichtbar, wie schwer es für eine
Partei in Südtirol heute ist, sich der Logik der ethnisch getrennten politischen
Arenen zu entziehen.
Das „Modell Südtirol“ des friedlichen Zusammenlebens ethnischer Gruppen ist
nicht zuletzt eine Frucht des wirtschaftlichen Wohlstandes und „außenpolitisch“
(soll heißen: im Verhältnis zu Rom) günstiger Umstände. Wenn sich diese
Rahmenbedingungen ändern, könnte es zu einer neuerlichen Zuspitzung des
ethnischen Konfliktes kommen. Was aber würde das für die Verdi-Grünen-Vërc
6
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bedeuten? Könnten sie in diesem Fall die Rolle der Vermittler übernehmen und
zu einem neuen Friedenspakt zwischen den Angehörigen der verschiedenen
Sprachgruppen beitragen? Oder würden sie eher zwischen den Fronten
aufgerieben? Die Antwort ist schwierig. Wahrscheinlich hängt es davon ab, wie
stark die Partei in der Gesellschaft verankert bleibt und wie gut es ihr gelingt, die
an Verständigung und überethnischen Zielen interessierten sozialen Gruppen an
sich zu binden.
6.5 Welche Funktion haben die Grünen im Modell Südtirol?
Die Autonomie Südtirols, verstanden als weitgehende Selbstverwaltung auf der
Basis einer konkordanzdemokratischen Teilung der Macht zwischen den
Vertretern aller ethnischen Gruppen, kann zweifellos wegweisend sein, wenn es
um die Befriedung in spannungsgeladenen Regionen geht. Es darf allerdings
nicht vergessen werden, dass der nachhaltige Erfolg dieses Modells auch auf der
wirtschaftlichen Prosperität dieses Landes beruht, die durch großzügige
finanzielle Transfers des Staates wesentlich gestützt wurde und wird.
Die Rolle der Verdi-Grünen-Vërc innerhalb des segmentierten politischen
Systems, das diese Autonomie erzeugt oder verfestigt hat, lässt sich auf zweierlei
Weise sehen:
•
In einer systemkonservativen Sicht besteht ihre Funktion darin, die
Interessen eines kleinen mit der Trennungspolitik nicht einverstandenen
Teils der Bevölkerung zu kanalisieren und damit letztlich zur Stabilität
dieses Systems beizutragen.
•
In einer entwicklungsorientierten Sicht, können die Grünen auch als
Avantgarde einer allmählichen Aufweichung der gesellschaftlichen
Spaltung gesehen werden. Die zunehmende Sympathie, die der SVP von
Seiten italienischsprachiger Südtiroler/innen entgegengebracht wird, weist
darauf hin, dass die Entspannungsbemühungen Früchte tragen und zum
Abbau ethnozentrischer Trennmauern beitragen. Allerdings würde eine
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derartige Entwicklung die Sonderrolle der Grünen aufheben und sie in
ethnischer Hinsicht zu einer Partei wie alle anderen machen. Ihre Existenzberechtigung müsste sie in diesem Fall aus anderen politischen Themenfeldern beziehen, wie normale ökologische Parteien in Europa auch.
Da eine vollständige Aufhebung der ethnischen Trennung im politischen System
Südtirols weder von den gesetzlichen Regelungen her vorgesehen ist, noch den
Machterhaltungsbestrebungen der SVP und ihrer Koalitionspartner entsprechen
würde, ist in absehbarer Zeit nicht damit zu rechnen. Wahrscheinlich liegt der
Wert der Verdi-Grünen-Vërc für das System irgendwo zwischen den oben
beschriebenen Extrempositionen: Sie artikuliert Unzufriedenheit und politische
Minderheitenpositionen und sie trägt dazu bei, dass die Auswüchse der
Trennungspolitik zurückgenommen werden. Damit stellt sie für dieses System,
unabhängig von ihrem Einsatz für Umwelt und Demokratie, eine Bereicherung
dar, die auch anderen Regionen zu wünschen wäre.
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