Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e.V. Prof. Hartmut Kress, Bonn Morphologische Beobachtung und Transfer eines Embryos aus Sicht der Ethik Vortrag zur Diskussionsveranstaltung „Kinderwunsch in der Krise“ am 28. Juni 2005 in Berlin Mein Statement erfolgt in der Perspektive der Ethik. Dabei beschränke ich mich auf einen einzelnen Aspekt der Reproduktionsmedizin, nämlich die Kultivierung und morphologische Beobachtung früher Embryonen mit nachfolgendem SingleEmbryo-Transfer. Den Gesetzesvorschlag, der hierzu erarbeitet worden ist, wird anschließend Herr Dr. Neidert vorstellen. Der Sachverhalt, um den es geht, ist in den vorangegangenen Statements bereits medizinisch angesprochen worden. Bei der Behandlung von Sterilitätsproblemen könnte auch in der Bundesrepublik Deutschland eine neue, verbesserte Methode nutzbar gemacht werden: Nach künstlicher Befruchtung lassen sich frühe Embryonen außerkörperlich kultivieren. Aufgrund bloßer Beobachtung, ohne sonstigen Eingriff – hierin besteht eine Differenz gegenüber der Präimplantationsdiagnostik – kann ein Embryo bestimmt werden, der sich voraussichtlich weiterentwickeln wird. Eine Auswahl nach anderen, gar nach ethisch ambivalenten Vorgaben findet nicht statt. Der Patientin wird dann dieser eine Embryo übertragen, der zur Weiterentwicklung in der Schwangerschaft tatsächlich geeignet erscheint. Eine solche Behandlung wird in anderen europäischen Ländern erfolgreich praktiziert. Wie ist sie ethisch zu bewerten? Vorab ist ein rechtsethischer Aspekt zu nennen. In der juristischen Literatur wird vereinzelt die Auffassung vertreten, die morphologische Embryonenbeobachtung und der Single-Embryo-Transfer seien schon jetzt mit dem Embryonenschutzgesetz vereinbar. Andere Juristen sind aber – meines Erachtens aus guten Gründen – der Meinung, dass der Wortlaut des Embryonenschutzgesetzes das neue reproduktionsmedizinische Verfahren nicht abdeckt. Jedenfalls herrscht zu diesem Thema rechtlicher Zweifel. Um die Verunsicherungen auszuräumen, sollte der Gesetzgeber selbst eine Klarstellung vornehmen. Sie kann durch knappe Veränderungen am Embryonenschutzgesetz erfolgen. Normenklarheit, Rechtssicherheit und Rechtsvertrauen sollten vor allem auch deshalb hergestellt werden, weil es – anders als theoretisch bei der PID, die ein gesondertes Thema darstellt – um eine große Anzahl von Patientinnen geht, die von dem Verfahren unmittelbar profitieren würden. Damit gelange ich zur medizinethischen Bewertung. 1. Arztethisch sprechen starke Gründe für das Verfahren, nach einer künstlichen Befruchtung Embryonen morphologisch zu beobachten, um dann einen Embryo zu übertragen, der sich voraussichtlich weiterentwickelt. Den Ausschlag geben die tradierten Normen der Medizinethik, denen Seite 2 zufolge der Arzt zum Wohl der Patienten handeln sowie Schaden vermeiden soll. Zur Zeit dürfen einer Patientin dem Embryonenschutzgesetz gemäß (dort § 1.1.3), also formal legal, maximal drei Embryonen transferiert werden. Diese Bestimmung des Gesetzes beruht auf dem Stand der medizinischen Wissenschaft in den 80er Jahren. Embryonen, die einer Frau bislang gleichsam „blind“, medizinisch ungeprüft übertragen werden, besitzen teilweise aber nur geringe Aussicht, überhaupt geboren zu werden. Ein günstiger Erfolg der medizinischen Therapie wird durch den ungeprüften Transfer von vornherein eingeschränkt. Als negative Begleiterscheinung kommt hinzu: Damit eine Schwangerschaft überhaupt einsetzt, werden der Patientin bis zu drei Embryonen übertragen (sog. Dreierregel). Dies kann zu Mehrlingsschwangerschaften führen. Solche Mehrlingsschwangerschaften stellen eine starke Belastung dar, und zwar für die Schwangere, für die Feten – unter Umständen muss die Tötung von Feten, der Fetozid in Kauf genommen werden – sowie für die Kinder, die gesundheitlich geschädigt geboren zu werden drohen. Diese Lasten sind ein iatrogenes Risiko: Sie werden durch die ärztliche Behandlung erzeugt und sind ungewollte Negativfolgen, welche die In-vitro-Fertilisation bisher mit sich brachte – erklärbar aus dem Verfahrensstand, der bis vor einigen Jahren bekannt war. Jetzt bieten die morphologische Beobachtung und der Ein-Embryo-Transfer einen Ansatz, solche ungewollten Nebenfolgen medizinisch assistierter Reproduktion zu korrigieren. Mehrlingsschwangerschaften mit ihren Krankheitslasten für die Schwangere und für die erhofften Kinder brauchen nicht mehr hingenommen zu werden. Das neue Verfahren steht daher im Einklang mit der ärztlichen Pflicht, dem aktu- ellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand gemäß zu behandeln, Schaden zu vermeiden und das Wohl der Patienten zu stützen. Korrespondierend aus der Perspektive von Patienten gesagt: Das Verfahren entspricht dem Grundrecht von Patientinnen und Patienten auf Gesundheitsschutz und auf qualitative Gesundheitsversorgung, das sich z.B. in der EU-Grundrechtscharta oder im Verfassungsvertragsentwurf der Europäischen Union findet. Dort ist in Artikel II-35 u.a. von der Pflicht zur Sicherstellung eines „hohen Gesundheitsschutzniveaus“ die Rede. Die ethische Begründung der Embryonenkultivierung mit SingleEmbryo-Transfer ergibt sich also a) aus dem Arztethos und b) aus den Patientengrundrechten. 2. Ein weiteres ethisches Argument kommt hinzu. Für die Reproduktionsmedizin sind die Normen des Embryonenschutzes maßgebend. Ihnen zufolge ist in der frühesten Phase des menschlichen Werdens dasjenige Leben, das entwicklungsfähig ist, zu achten. Diesen Gedanken nennt das Embryonenschutzgesetz in § 8, indem es „die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an“ als Embryo definiert. Den Hintergrund bietet eine ethische Theorie, die auf Aristoteles und Thomas von Aquin zurückgeht, der zufolge die Potentialität, sich zielgerichtet zu entfalten, für das Verständnis von Leben entscheidend sei. Nun ist diese Theorie zur Zeit Gegenstand vielfältiger Debatten, vor allem im Kontext der humanen embryonalen Stammzellforschung. Aus einer Reihe von Gründen ist es inzwischen zweifelhaft geworden, welche Aussagekraft und welchen Grad an Eindeutigkeit das Kriterium der Entwicklungsfähigkeit überhaupt besitzt. Diese Fragen, die speziell für die Stammzellforschung relevant sind, können hier aber beiseite gelassen werden. In unserem Zusammenhang ist zu unterstreichen: Das Seite 3 Anliegen der aristotelisch geprägten Ethik und des Embryonenschutzgesetzes § 8, die entwicklungsfähige befruchtete Eizelle zu schützen, wird bei dem Verfahren der morphologischen Beobachtung gewahrt. Denn genau darum geht es ja, einen Embryo zu bestimmen, der diese Potentialität besitzt, zum Menschen zu werden, und ihn der Mutter zu übertragen. 3. Hier entsteht jedoch eine ethische Rückfrage. Um den Transfer eines für die Schwangerschaft geeigneten, nämlich entwicklungsfähigen Embryos vornehmen zu können, ist es erforderlich, im Unterschied zur bisherigen Praxis mehr als max. drei Eizellen zu befruchten und sie eine kurze Zeit zu kultivieren. Unter ihnen dürfte dann der (Transfer-)Embryo sein, der sich der medizinischen Prognose gemäß weiterentwickeln wird. Im Einzelfall könnte es freilich sein, dass ein weiterer Embryo, der mit kultiviert wird, ebenfalls entwicklungsfähig erscheint. Hierdurch ergibt sich ein Zielkonflikt zwischen dem Lebensschutz dieses zweiten Embryos einerseits, dem angestrebten Ein-Embryo-Transfer andererseits. Wie ist dieser Zielkonflikt zu beurteilen? Es ist zu betonen, dass er sich ganz eingegrenzt halten lässt. Denn ein eventueller zweiter Embryo, der ebenfalls entwicklungsfähig wäre, würde kryokonserviert. Eine solche Kryokonservierung ist sogar sinnvoll. Für den Fall, dass der erste Versuch eines Single-Embryo-Transfers nicht erfolgreich war, wäre der kryokonservierte Embryo für einen zweiten Behandlungsversuch zu verwenden. So wird zur Zeit z.B. in Schweden verfahren. Zudem nimmt das Embryonenschutzgesetz es schon jetzt hin, dass umständebedingt Embryonen übrig bleiben. Eine gesetzliche Vorgabe kann es in der Tat nicht erzwingen, dass einer Frau ein Embryo ohne oder gar gegen ihren Willen übertragen wird. Daher sind in der Bundesrepublik bereits jetzt, wenngleich in begrenzter Zahl, solche pränidativen Embryonen überzählig vorhanden. Sie sind zwar eventuell entwicklungsfähig (manche von ihnen werden wohl gar keine Entwicklungsfähigkeit besitzen und stehen daher auch gar nicht unter dem Schutz des ESchG); andererseits sind sie – vor der Einnistung, vor der Ausbildung des Primitivstreifens und lange vor dem Beginn der Ausprägung neuronaler Strukturen – noch ganz unentwickelt. Von solchen grundsätzlichen Überlegungen abgesehen ist aber ausschlaggebend, dass es sich beim Übrigbleiben von Embryonen faktisch um keinen neuen Sachverhalt handelt. Sicherlich wird darauf zu achten sein, dass es wie bisher in Deutschland bei einer sehr geringen Zahl überzähliger Embryonen bleibt (z. Zt. eine Zahl in einer niedrigen dreistelligen Größenordnung). Bei dem medizinischen Verfahren, von dem die Rede ist, lässt sich dies gewährleisten. Denkbar ist, anders als im Ausland von vornherein nur eine kleine Anzahl von Eizellen, ca. sechs, zu befruchten und zu kultivieren. Hierdurch bleibt das Übrigbleiben von Embryonen vom Verfahren her beherrschbar. Davon abgesehen würde die neue Methode es ermöglichen, dass in Deutschland nicht mehr eine so hohe Zahl kryokonservierter Embryonen im Vorkernstadium anfiele, wie es derzeit der Fall ist. Nimmt man es ernst, dass sehr starke Argumente zugunsten der Embryonenkultivierung und des Ein-Embryo-Transfers sprechen, nämlich der Gesundheitsschutz – konkret die günstigere Aussicht auf einen Erfolg der Schwangerschaft als bisher sowie die Vermeidbarkeit von Mehrlingsschwangerschaften –, dann wird die Waagschale der Abwägung zugunsten dieses Verfahrens ausfallen. Seite 4 4. Das zuletzt genannte Anliegen, die Vermeidung von Mehrlingsschwangerschaften, besitzt besonderes Gewicht. Um dies zu unterstreichen und um die normative Kohärenz zu wahren, sollte gesetzlich zugleich geregelt werden, dass in Zukunft nur noch maximal zwei und nicht mehr wie bisher (gemäß Embryonenschutzgesetz § 1.1.5) maximal drei Embryonen in einem Zyklus übertragen werden dürfen. In dieser Hinsicht ist gegenüber dem gesetzlichen status quo also eine Restriktion sinnvoll. Der reproduktionsmedizinische Fortschritt, der die Option des Ein-Embryo-Transfers eröffnet, bedeutet so gesehen gleichzeitig einen ethischen Fortschritt; er schafft die Voraussetzung dafür, das Gesetz an dieser Stelle strikter zu fassen und Mehrlingsschwangerschaften sowie dem Fetozid auf hohem, nämlich auf gesetzlichem Niveau zu wehren (anstelle der bisher vorhandenen, letztlich nicht verbindlichen und nicht hinreichend eindeutigen Eingrenzungen auf der Ebene des ärztlichen Standesrechts in den Richtlinien der Bundesärztekammer zur Durchführung der assistierten Reproduktion). 5. Eine ethische Bewertung hat ferner die Rahmenbedingungen medizinischer Handlungsmöglichkeiten zu beachten. Verfahrenstechnisch sollte die Qualität, die Eignung und Zweckmäßigkeit der neuen Methode fortlaufend evaluiert werden. Vor allem sind die menschlichen Rahmenbedingungen zu sehen. In einer pluralistischen Gesellschaft und in einer an Freiheitsgrundrechten ausgerichteten Rechtsordnung wird es auf die Kinderwunschpaare selbst ankommen, ob sie das neue Verfahren nutzen oder sich anders entscheiden. Neben der medizinischen Aufklärung ist daher die ethische und psychosoziale Beratung relevant, die weiter ausgebaut werden sollte. So sehr auf Dauer auch andere Probleme der Fortpflanzungsmedizin, etwa die Präimplantationsdiagnostik, rechtspolitisch zu erörtern sind, ist es im Augenblick die morphologische Beobachtung von Embryonen mit nachfolgendem Single-EmbryoTransfer, zu der eine Novellierung des Embryonenschutzgesetzes möglichst zügig Normenklarheit und Rechtssicherheit herstellen sollte. Für die ethisch-rechtliche Bewertung ist entscheidend, dass es darum geht, 1. bisherige negative Nebenfolgen der Sterilitätstherapie einzudämmen, 2. eine möglichst erfolgreiche Kinderwunschbehandlung durchzuführen, die den heutigen medizinischen Standards entspricht, und 3. dem Gesundheitsschutz der Patientinnen sowie der erhofften Kinder gerecht zu werden. Prof. Hartmut Kreß 28.6.2005 Verfasser: Prof. Dr. Hartmut Kreß Universität Bonn Evang.-Theol. Fakultät, Abt. Sozialethik Am Hof 1, 53113 Bonn. http://www.sozialethik.uni-bonn.de.