die wirklichkeit der wissenschaften und die metaphysik

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MORITZ GEIGER
DIE WIRKLICHKEIT DER
WISSENSCHAFTEN
UND DIE METAPHYSIK
0
~
1966
GEORG OLMS VERLAGSBUCHHANDLUNG
HILDESHEIM
INHALT
Seite
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII
Einleitung
Die wissenschaftliche Wirklichkeit und die Wirklichkeit
der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.
Kapitel. Die beiden Einstellungen
I.
2.
1
Die Charakterisierung der Einstellungen
A. Die naturalistische Einstellung . .
B. Die unmittelbare Einstellung . . .
Das Physische und das Psychische .
Nicht·physische Objektsbereiche . .
14
IS
20
21
23
Kapitel. Das Wahrnehmungsproblem und die Einstellungen
Die Korrelation von Einstellung und Strukturantik
Das Wahrnehmungsproblem . . . . . . .
3· Die Abbildtheorie der Wahrheit . . . . .
4· Die Korrespondenztheorie der Wahrheit
·.
5. Die Deckungstheorie der Wahrheit
6. bie Wahrnehmung und der Leib . . . .
I.
2.
30
31
39
42
46
49
3· Kapitel. Die Haltungen
Die strukturfixierend·objektivistische und die perspektivistisch-subjektivistische Haltung ~
54
Zeit und Geschichtswissenschaft .
55
Raum und Physik .
56
Biologie . . . . . . . . . . . . . .
57
) s OZlO
. 1ogte. . . . . . . . . . . . . .
57
2. Subjektivistische und Gegebenheitshaltung.
6I
3· Die Haltungen und die Philosophie .
64
'4. Die neutralistische Haltung . . . .
68
5· Primäre und sekundäre Qualitäten
71
I.
Reprografieeher Nachdruck der Ausgabe Bonn 1930
Lizenzausgabe des Verlages G. Schulte·Bulmke, Frankfurt a. Main
der 1930 im Verlag Friedrich Cohen erschienenen Originalausgabe
Printed in Germany
Herstellung: Druckerei Lokay, Reinheim
Best.·Nr. 5101 364
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l.j.,
7
4· Kapitel. Die Einstellungen in den Wissenschaften
Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft
Mathematik . . . . . . . . . . . . . . . .
.
3· Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4· Logik . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . .
I.
2.
Seite
76
81
88
107
5· Kapitel. Die philosophischen Einzelprobleme und die
Einstellungen
Der Zusammenhang von Leib und Seele
Universalienproblem . . . . . . .
3· Determinismus und Indeterminismus
4· Das Problem der Unsterblichkeit. . .
I.
123
2. Das
128
I36
141
6. Kapitel. Metaphysik und Einstellung
I.
Die philosophischen Systeme . . . . . . . . . . . . .
144
7. Kapitel. Die metaphysische Verabsolutierung der Einstellungen
Die Einstellungen und das Problem der Verabsolutierung . . . . . . . . . . . . . . .
2. Die Verabsolutierung der natur~li.st~s~he~ ·S~r~kt~r:
ontik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . .
3· Die Verabsolutierung der unmittelbaren Strukturantik
4· Das Erkenntnisproblem . . . . . . . . . . . . . . . . .
I.
VI
VORWORT
159
162
168
1 79
Aus Arbeiten zur Grundlegung der Metaphysik hat sich
dieses Buch als ein besonderes, selbständiges Kapitel losgelöst. Der Inhalt gibt weniger und mehr als der Titel vermuten läßt :--weniger - denn es wird keineswegs das Verhältnis zwischen der Wirklichkeit der Wissenschaften und der
Wirklichkeit der Metaphysik. allseitig untersucht und zur
Lösung gebracht; es werden vielmehr nur die allgemeinsten Voraussetzungen der Wissenschaften aufgewiesen und gezeigt, daß sie sich nicht dazu eignen, metaphysisch verabsolutiert zu werden; es wird dargetan, daß solche
Verabsolutierung auf Widersprüche fuhrt, die - so lange
man innerhalb der Voraussetzungen der Wissenschaft bleibt
- nicht zu lösen sing. Nach dieser Richtung hin liegt der
Schwerpunkt des Buches in den drei ersten und in den zwei
letzten -Kapiteln.
Andererseits will das Buch jedoch mehr geben als der Titel
andeutet: Die Verschiedenheiten in den immanenten wissenschaftlichen Voraussetzungen sind nicht bloß etwas, was nur
den! Philosophen angeht, die Beschäftigung mit ihnen ist nicht
eine bloße Liebhaberei methodisch interessierter Geister.
Vielmehr: viele der Streitigkeiten innerhalb der Rechtswissenschaft, der Staatslehre, der Soziologie, der Sprachwissenschaften, der Biologie usw. hängen letztlich mit der Unklarheit
über diese immanenten Voraussetzungen zusammen, beruhen
auf der Vermischung oder Nicht· Sonderung entgegengesetzter Strukturontiken. Nur, daß der in die Fachwissenschaft
Eingeschlossene sich nicht klar darüber zu sein pflegt, daß
in den anderenWissenschaften ähnliche Kämpfe sich abspielen; er würde zuweilen die Analogie zu den Kämpfen innerhalb seiner eigenen Wissenschaft auch dann nicht wiederVII
erkennen, wenn ihm die Kämpfe in der fremden Wissenschaft
bekannt wären, weil die Einkleidung der Voraussetzungen
von Wissenschaft zu Wissenschaft wechselt.
So liegt in der scheinbar -jedoch nur scheinbar- bloß
methodischen Scheidung der Strukturantiken eine Auseinandersetzung mit heutigen Wissenschaftsprinzipien
überhaupt beschlossen.
Es wäre ein Leichtes gewesen, den Gegensatz der Struk-··
turontiken in seiner Bedeutung durch alle Wissenschaften
hindurch zu verfolgen, an den aktuellen Diskussionen heutiger Wissenschaft die Geltung und Wichtigkeit der Scheidungen aufzuzeigen. Dazu aber wäre ein Eingehen auf die
Problematik der Wissenschaften nach ihrer prinzipiellen Seite
hin notwendig geworden; es war vorauszusehen, daß in dem
Versuch die heutige wissenschaftliche Problemlage im einzelnen nach derSeiteder immanenten Voraussetzungen hin
zu entwirren, die scharfe Linie des Buches verlorengegangen
wäre. So habe ich es mir versagt, das große Material, das
mir als Beleg ftir den Gegensatz der Einstellungen und Strukturantiken in Wissenschaft und Philosophie zur VerfUgung
stand, in das Buch hineinzuarbeiten; ich habe mich damit begnügt, die Tendenzen herauszuarbeiten und jeweils mit
prägnanten Beispielen zu belegen.
Es besteht die Absicht, das Material aus Philosophie und
Einzeldisziplinen, das hier nicht zur Verwendung gelangen
konnte, gelegentlich in Einzelaufsätzen zu verwerten, die nicht
von oben, vom Philosophischen her, sondern von unten, von
der Einzelwissenschaft aus, die Fruchtbarkeit der aufgewiesenen Gegensätzlichkeiten zeigen können.
Göttingen, im August I929.
M. Geiger
VIII
EINLEITUNG
Die wissenschaftliche Wirklichkeit und die Wirklichkeit der Metaphysik.
I
Das Verhältnis zwischen der Wirklichkeit, wie sie durch die
Wissenschaft bestimmt wird, und der Wirklichkeit, die die
Metaphysik zu erkennen bestrebt ist, wurde in dem Augenblick zweideutig,' in dem sich die Wissenschaft von der Philosophie loslöste. Von jetzt ab war die Philosophie nicht mehr
Erkenntnis alles Wirklichen schlechthin, sondern Erkenntnis des schlechthin Wirklichen. Es war also eine rein formale Bestimmung, durch die nunmehr der Gegenstand der
Metaphysik gekennzeichnet wurde: Sie wurde die Lehre vom
letzten unabhängigen, in sich selbst ruhenden Sein.
Der Inhalt dieses letzten Seins konnte jedoch aus dieser
formalen Bestimmung nicht entnommen werden; und ebensowenig ließ sich ohne weiteres entscheiden, wenn nun irgendein Sein mit dem Anspruch auftauchte, das letzte zu sein das Wasser oder die Luft, die Ideen oder die Materie, der
Wille oder der Logos - , ob dieser Anspruch gerechtfertigt
sei oder nicht. Andererseits war jedoch durch die Formalität
dieser Bestimmung der Metaphysik auch in keiner Hinsicht
eine Methode angezeigt, wie man zu einer inhaltlichen Bestimmung des letzten Seins gelangen könne. Auf diese Weise
war das metaphysische Sein zu einem fernen Land geworden,
von dem man nicht wußte, wo es lag, und von dem man nicht
einmal die Richtung kannte, in der es zu suchen sei. Und
demgemäß mußte jeder Metaphysiker aufs neue aus eigener
Wahl sich eine Straße bahnen, ohne die Sicherheit zu besitzen, daß sie auch wirklich zum Ziele führe.
I
Wenn so die Metaphysik durch die Trennung von der
Wissenschaft inhaltlich und methodisch aufs Ungewisse gestellt wurde, so hat die Wissenschaft ihrerseits durch die
Trennung von der Metaphysik nur gewinnen können. Befreit von dem Zwang, sich an einem letzten Sein zu orientieren, konnte sie sich inhaltlichen Aufgaben zuwenden.
Jede Wissenschaft, jede Wissenschaftsgruppe bearbeitet von
jetzt ab bestimmte inhaltlich determinierte Seinsgebiete (oder
inhaltliche Gebiete unter bestimmten Gesichtspunkten): Die
anorganische Natur, die Lebensvorgänge, das Gebiet des
Seelischen, die historischen Geschehnisse usw. - Gebiete,
die ihr zunächst die natürliche Erfahrung zuweist. Damit ist
auch, trotz allen Schwierigkeiten im einzelnen, der Wissenschaft methodisch der Weg gewiesen. Ihr Ausgangspunkt
ist die natürliche Erkenntnis. An sie knüpft die Wissenschaft an und füllt die Vorzeichnungen aus, die ihr die natürliche
Erkenntnis liefert. Was die natürliche Erkenntnis sporadisch, unexakt, Einzelheiten zu Einzelheiten häufend an Wirklichkeitsmaterial beibringt, bearbeitet die Wissen s c h a f t
methodisch, präzisiert es, erweitert es, befreit es von Widersprüchen, stellt es in Zusammenhänge hinein, erklärt es und
ordnet es zum wissenschaftlichen System.
Damit aber tut sich eine Kluft auf zwischen Metaphysik
und Wissenschaft. Beide suchen auf ihre Weise Wirklichkeiten zu erfassen: die Metaphysik das letzte Sein, die Wissenschaft eine Wirklichkeit, die sie aus der natürlichen Erkenntnis herauskristallisiert, ohne daß sie sich darum kümmert, ob sie nun gerade das letzte Sein in Händen hält oder
nicht. So erhebt sich für alle ernsthafte Philosophie die Frage:
Wie stehen metaphysische und wissenschaftliche
Wirklichkeit zueinander? Aus der vorläufigen Ansage,
die wir vomWesender beiden Wirklichkeiten gegeben haben,
läßt sich nichts über ihre Beziehungen entnehmen: Die Definitionen, die wir von ihnen brachten, grenzten die Wirklichkeiten jede für sich ab, ohne sie in Beziehung zueinander zu
2
setzen. Es bedarf neuer gedanklicher Griffe, um eine solche
Beziehung herzustellen, neuer Gesichtspunkte, um die beiden
Wirklichkeiten nicht unvermittelt nebeneinander bestehen
zu lassen.
2
Die Lösung des Pr_gblems der Beziehung der beiden Wirklichkeiten zueinander kann von zwei Seiten her in Angriff
genommen werden: Man kann von der Metaphysik her die
wissenschaftliche Wirklichkeit zu durchleuchten suchen, und
man kann von der wissenschaftlichen Wirklichkeit aus
zum Sein der Metaphysik vorzudringen sich bemühen.
Die prinzipielle Lösung bringt einzig derAus gang
von der Metaphysik. Es soll ein Maßstab gefunden werden,
ob und inwi~weit die wissenschaftliche Wirklichkeit einen Beitrag liefert zum letzten Sein; und einen solchen Maßstab kann
einzig das letzte Sein selbst beibringen. Nur von einer feststehenden Metaphysik aus kann entschieden werden, welche
Position man gegenüber dem Anspruch der Wissenschaft
Wirklichkeitserkenntnis zu bieten, einzunehmen hat: Ist die
wissenschaftliche Wirklichkeit in derTat (wie es die geheime
Überzeugung aller wissenschaftlichen Arbeit ist) eine Vorstufe zur letzten Wirklichkeit? Oder ist vielleicht auf dem
Wege der Wissenschaft überhaupt die Wirklichkeit nicht zu
finden- nicht die vorletzte, geschweige denn die letzte Wirklichkeit? Bedarf es vielleicht radikaler Umkehr gegenüber der
Wissenschaft zu metaphysischer Dialektik, zu mystischer Versenkung, zu einem nicht forschenden, sondern hingebenden
Horchen auf das, was in Ekstase, in unmittelbarer religiöser
Erleuchtung, in der Offenbarung durch das Wort eines von
Gott inspirierten Propheten sich darbietet? Ist solcher unmittelbaren Erfassung des letzten Seins gegenüber das wissenschaftliche Erkennen ein absolutes Nichts oder nur ein
relatives? Ist es eine so untergeordnete Form des Wissens,
das sich zur metaphysischen Erkenntnis wie das Endliche zum
Unendlichen verhält? Oder: Darf die Wissenschaft von sich
3
aus überhaupt keinen Anspruch auf Erkenntnis machen
nicht einmal einen unendlich kleinen weil sie nichts ist al~
eine denkökonomische Veranstaltun~, um die unüberschaubaren Massen der Empfindungen mit selbstgeschaffenen Mit- .
teln von Begriffen und Gesetzen für das Bewußtsein beherrschbar zu machen (Mach, Petzoldt)? Gibt sie aus der Unerschöpflichkeit, das jedem einzelnen Stück der Wirklichkeit
nicht nur dem Universum als Ganzem zukommt eine Auswahl, indem sie diese Wirklichkeit mit Individuai- oder AIIg:mei~begriffen ~eis!ert (Rickert)? Oder schafft umgekehrt
die WIssenschaft m emem unendlichen Prozeß erst das was
wir Wirklichkeit nennen, indem sie mit ihrer Method~ den
Gegenstand näher und näher bestimmt (Marburger Neukantianismus)? Ist vielleicht die Wissenschaft als Lebensausdruck :
zu verstehen, wie Kunst und Religion (Dilthey)? Vielleicht
aus der Fülle der menschlichen Existenz stammend
vielleicht auch nur eine Ausgeburt des In t e 11 e k t s eine;
ihrem Ursprung nach praktischen Lebensbetätigung '(biologischer Pragmatismus), die daher auch nicht an die Wirklichkeit heranzukommen vermag, sondern die Erkenntnis des
letzten Seins anders gearteten Erkenntnisquellen, wie z. B.
der Intuition überlassen muß (Bergson)? Oder ist es gerade
~er In~ellekt, der wissenschaftliche und metaphysische Wirklichkeit zu ergreifen vermag, weil die eine menschliche Vernunft a:uch nur eine Methode der Erkenntnis besitzen kann
(Descartes), wenn auch der menschliche Verstand sich in den
Realwissenschaften mit der Erkenntnis der verites des faits
begnügen muß, deren rationaler Auflösung sich ftir endliche
Wesen unübersteigliche Hindernisse in denWeg legen (Leib. )?. usw. usw.
mz
Al~ solche Lösungen sind metaphysischer Natur (mögen
~uch thre Anhänger sich noch so sehr dagegen sträuben,
Ihre Anschauungen als Metaphysik bezeichnet zu sehen sie
~Wissenschaftstheorie c, , Erkenntniskritik c, , T ranszendentalphilosophie ~ oder sonstwie nennen) - der metaphysische
4
Hintergrund ist von diesen Lösungen nicht zu trennen, auch
wenn er nicht bewußt ist oder gar bestritten wird. Man stellt
sich in all solchen Lösungen außerhalb der Wissenschaft,
um sie verstehen zu können, nimmt sie nicht hin, als das, als
was sie sich gibt: als Wirklichkeitserkenntnis. Man meditiert vielmehr von außen her darüber, ob sie nun auch in der
Tat Wirklichkeitserkenntnis sei, und wie weit sie es sei.
Deshalb bedarf es einer ausgeführten Metaphysik, um auf
diesem Wege der Beziehung zwischen wissenschaftlicher und
metaphysischer Wirklichkeit Herr zu werden; man muß die
wissenschaftliche Fragestellung einbetten in diese Metaphysik
und die wissenschaftliche Wirklichkeit festklammern an dem
sicheren Grund ultimativen Seins. Der umgekehrte Weg, der Weg von der wissenschaftlichen Wirklichkeit her zum letzten Sein ist weniger prinzipiell und weniger durchschlagend. Da er von der Wissenschaft herkommt, k~mn er von sich aus keine Kritik an der
wissenschaftlichen Haltung üben. Er bleibt in der Auffassung
der Wirklichkeit befangen, wie sie die communis opinio jeglicher Epoche der Wissenschaft gegenüber einnahm: Es ist
das Ethos aller wissenschaftlichen Arbeit, daß durch ihr Nachsinnen, F ersehen und Experimentieren ein Stück Wirklichkeit
erobert werden könne, das der natürlichen Erkenntnis unzugänglich ist. Führt nun der Weg von der Wissenschaft
zur Met~physik, so muß dieser Anspruch der Wissenschaft
auf Wirklichkeitserkenntnis ausdrücklich anerkannt werden;
man muß versuchen, diese wissenschaftliche Wirklichkeit derart auszuwerten, daß aus ihr die Wirklichkeit letzten Seins
herausdestilliert wird. Nicht von außen her, sondern in der
Haltung der Wissenschaft bleibend, muß man sich klar darüber werden, ob die Wissenschaft sich über sich hinausheben
kann zur Metaphysik, oder ob sie auf ewig in ihre eigene
Wirklichkeit gebannt ist.
Lautet die Antwort: Eine Eroberung des letzten Seins
von der Wissenschaft her ist möglich, so bedarf es nicht
5
noch einmal eines gesonderten Weges zur Metaphysik; der
Zugang zur Metaphysik führt in diesem Falle durch die Wissenschaft. Lautet die Antwort, diese Eroberung sei unmöglich, prinzipiell unmöglich, so ist diese Antwort zunächst nur
negativ wertvoll: Die Ansprüche einer Metaphysik von der
Wissenschaft her sind ein für allemal abgewiesen; man wird
auf den ersten der alternativen Wege zurückgeworfen: Die
Metaphysik muß sich aus eigener Kraft aufbauen.
Hier - im Zusammenhang dieses Buches - soll einzig
der zweite Weg beschritten werden. Es wird zunächst der
Wissenschaft die Bedeutung zugeschrieben, die sie sich selbst
zuschreibt: daß sie Wirklichkeitserkenntnis liefert. Es soll
dieser Anspruch der Wissenschaft nicht angefochten werden,
sondern im Sinne des zweiten Weges soll versucht werden
in wissenschaftlicher Haltung weiter vorzustoßen, soll die
Probe gemacht werden, ob sich die wissenschaftliche Haltung zur metaphysischen erweitern läßt.
3
Der Szientifismus gibt eine radikale Lösung der Probleme, die von dieser Fragestellung aus auftauchen: Es
existiert für ihn keine Erkenntnis der Wirklichkeit, außet
derjenigen, die durch die Wissenschaft geleistet wird: Eine
metaphysische Erkenntnis neben der wissenschaftlichen ist
unmöglich.
Solcher Szientifismus ist ein Kind der wissenschaftsdogmatischen Epoche in der Mitte des 19. Jahrhunderts: Erst
als die Wissenschaften auf den Koloß ihrer Leistungen hinweisen konnten, mehr noch: erst als das Bewußtsein der
Allgemeinheit sich anschickte, das wissenschaftliche Wehbegreifen gegenüber dem religiösen und dem philosophischen in den Vordergrund zu schieben, konnte sich der
Szientifismus ausbilden. Er begann in seiner exakten Form
mit der These: Wissenschaftliches und metaphysisches Sein sind identisch. Die Wissenschaft erkennt die
6
Welt so wie sie an sich ist; das Sein der Wissenschaft trägt
ultimativen Charakter; es gibt kein,> letztes c Sein, das hinter
dem Sein der Wissenschaft läge. Durch die Einzelwissenschaften wird prinzipiell jede Erkenntnis des Seienden gewonnen, , jede andere Ontologie c (hier gleich Metaphysik),
, ist leeres Geschwätz« (Schlick), ist» Begriffsdichtung c (F riedr.
Alb. Lange). An Konsequenz gibt dieser Szientifismus dem
Kalifen Omar nichts nach. Wie die Sage erzählt, erteilte er
den Befehl, die Bibliothek von Alexandria zu verbrennen,
weil die Bücher dieser Bibliothek, wenn sie dasselbe enthielten, wie der Koran, unnötig, wenn sie etwas anderes enthielten, falsch und ketzerisch seien. Der Koran dieser Form
des Szientifismus ist die Enzyklopädie der Wissenschaften.
Nicht jeglicher Szientifismus bleibt bei dieser extremen
These. Es gibt eine gemäßigte Spielart, die neben den Einzelwissenschaften auch eine übergeordnete Wissenschaft
anerkennt, der sie zuweilen den Namen , Metaphysik' nicht
versagt. Solche wissenschaftliche Metaphysik hat eine doppelte Aufgabe. Sie soll einmal den Zusammenhang zwischen
den Gebieten der einzelnen Wissenschaften herstellen; sie
soll i. B. den Zusammenhang zwischen Leib und Seele erforschen. Das Problem dieses Zusammenhangs gehört weder
in den Bereich der Psychologie, die nur das seelische Geschehen, noch in das der Physiologie, die einzig körperliche
Vorgänge untersucht; nur eine über die Einzelwissenschaft
übergreifende Wissenschaft kann diesen Zusammenhang aufklären. Die Metaphysik dieser Artung hat noch eine zweite
Aufgabe: Die Ereignisse der Einzelwissenschaften müssen ·
zu einer einheitlichen Weltanschauung verarbeitet werden: , Metaphysik ist der auf der Grundlage des gesamten
wissenschaftlichen Bewußtseins des Zeitalters oder besonders hervortretender Inhalte desselben unternommene Versuch, eine die Bestandteile des Einzelwissens verbindende
Weltanschauung zu gewinnen« (Wundt).
7
Solche Metaphysik ist nichts als eine Wissenschaft
unter anderen, nur eine Wissenschaft höheren Grades. Sie
verhält sich etwa zu den Einzelwissenschaften wie die Einzelwissenschaften zu ihren Teildisziplinen. Aus der Lehre von
der Wärme, dem Licht, der Elektrizität usw. ist die einheitliche Physik gewonnen worden, indem man die Ergebnisse
aufihre Gemeinsamkeiten hin prüfte, durch umfassende Hypothesen unterbaute, zu einer physikalischen Gesamtanschauung
verarbeitete. Entsprechend sollen hier die Ergebnisse aller
Einzelwissenschaften durch eine gesamtwissenschaftliche
Weltanschauung unterbaut werden.
Ist solche wissenschaftliche Weltanschauung mit der Metaphysik als Erkenntnis letzten Seins identisch? Die Antwort
des Szientifismus ist nicht eindeutig: er schwankt zwischen
zwei Auffassungen: die primitive Form des Szientifismus ist
überzeugt, daß mit den Mitteln der Wissenschaft das letzte
Sein erkannt werden könne, und daß daher die vollendete
wissenschaftliche Weltanschauung zugleich die so lange
gesuchte Metaphysik darstelle. Für die skeptische Form
des Szientifismus ist eine Erkenntnis des letzten Seins nicht
möglich (Spencer), metaphysisch im strengsten Sinn ist der
Agnostizismus das letzte Wort. Gerade dieser Richtung
des Szientifismus mußte der negative Teil der Kautsehen
Vernunftkritik besonders sympathisch sein: Metaphysik als
Wissenschaft ist unmöglich; alle Wissenschaft bleibt in der
empirischen Realität befangen. Für diesen agnozistischen Szientifismus gibt also die wissenschaftliche Weltanschauung nicht das letzte Sein; allein
diewissenschaftliche Methode ist doch die einzige Methode,
die überhaupt zu einer Erkenntnis der Wirklichkeit führt.
So weit diese Methode trägt, so weit können wir die Wirklichkeit erkennen; wo sie versagt, ist es mit unserer Wirklichkeitserkenntnis zu Ende.
Beide Ausdeutungen des Szientifismus sind dogmatisch:
Der Glaube, die Wissenschaft könne das letzte Sein seinem
8
Inhalt nach erkennen, ist inhaltlicher Dogmatismus, der
Glaube, die wissenschaftliche Methode sei die einzige Methode die zur Erkenntnis der Wirklichkeit führe, ist methodisch~r Dogmatismus. Gemeinsam ist beiden die Ablehnung''finer nicht-wissenschaftlichen Metaphysik.
~>-i
/
4
Die Kritik des Szientifismus hat sowohl den inhaltlich
dogmatischen wie auch den· methodischen Dogmatismus zu prüfen:
.
. .
Ist wirklich die wissenschafthebe Erkenntnis Imstande die Erkenntnis letzten Seins zu vermitteln?
Ist ~irklich die wissenschaftliche Methode die
einzige Methode der Wirklich~e.itserkenntnis?
.
· Die zweite dieser Fragen kann emztg von der Metaphysik
her beantwortet werden von einer Metaphysik her, die auch
andere Farmen der Erk~nntnis außer der wissenschaftlichen
(Intuition intellektuelle Anschauung usw.) kritisch untersucht.
Nur die Metaphysik kann entscheiden, o~ d!e wi~senschaft­
liche Methode die einzige Methode der Wtrkhchkeitserkenntnis ist oder nicht. Da diese prinzi pi eil metaphysische Fragestellung hier ausgeschaltet werden soll, so ·liegt ~ie Kritik
des methodischen Dogmatismus außerhalb des Gebiets unserer Betrachtung ..
Dagegen ist die Kritik des in~altlichen Dogmatismus
ein zentrales Problem für unsere Uberlegungen.
5
Im Zusammenhang dieses Problems tritt der Gegensatz ·
der immanenten· Strukturantik der Einzel wissensehaften und der transzendenten Strukturontik, der
Strukturantik des letzten Seins in den Vordergrund.
Die transzendente Strukturantik ist der Gegenstand
der Metaphysik. Sie untersucht das Strukturreale. schlec~t­
hin, sowie es an sich ist, abgesehen von aller Erschemung fur
9
~in Subjek~, abgesehen von aller Auffassung durch ein SubJekt". Idealismus und Realismus, Spiritualismus und Materialismus sind Lösung-en des Problems der transzendenten
Strukturantik
Daneben aber enthält jede Wissenschaft und jede Wissenschaftsgruppe immanente Voraussetzungen über die Beschaffenheit ihres Gebietes, - Voraussetzungen, die ihr
u?d nur ih: zukommen. Sie nimmt diese Voraussetzungen
hm, ohne ste zu prüfen; als Rahmen, innerhalb dessen sich
ihre Forschungen vollziehen. So setzen alle Wissenschaften
(~it Ausnahme ~er reinen M~thematik, der Logik und der'
retnen Wesenswtssenschaften) - alle Naturwissenschaften
wie Geisteswissenschaften - die Existenz einer realen subjektsunabhängigen Welt voraus;· die reale · Existenz ihrer
Welt gehört zur immanenten Strukturantik dieser
Wissenschaften.
Derimmanente Realismus der Wissenschaften darf
jedoch nicht mit dem transzendenten Realismus verwechselt werden (wie es der Szientifismus dogmatisch zu tun
pflegt). Der immanente Realismus der Naturwissenschaften
präjudiziert in keiner Weise die Stellungnahme zum transzendenten Sein. Es folgt aus dem immanenten Realismus der
Wissenschaften nicht, daß die Außenwelt in meta p h ys i s c h e m Sinn real sei. Realismus und transzendenter Idealismus sind widerspruchslos miteinander vereinbar (wie bereits Kant gesehen hat).
Über den gemeinsamen immanenten Realismus von Naturund Geisteswissenschaften hinaus macht jede einzelneWissenschaft noch einegroße Zahl speziellerer, nur für diese Wisse?schaf~ gel~ender strukturontischer Voraussetzungen. So
sptelen steh dte Geschehnisse von Biologie und Geisteswissenschaften in einem dreidimensionalen euklidischen Raum und
einer eindimensionalen Zeit ab, während die relativistische
Physik für ihre Welt diese Voraussetzungen ablehnt. So
nimmt die Physik ferner die sekundären Qualitäten von Far10
b~n
und Tönen nicht in die realen Voraussetzungen ihrer Welt
mtt auf, sondern .läßt nur die quantitativen Bestimmurigen
gelten, während die Geschichtswissenschaften die Farben und
Töne in .ihrer vollen Anschaulichkeit als real anerkennen:
Die Ansprachen, mit denen Alexander der Große seine meuternden Truppen beruhigte, sind für sie keine Luftschwingungen, sondern anschauliche sinnerfüllte Klänge; die Farben der
roten und weißen Rosen, die sich die Anhänger der Häuser
Y ork und Lancaster zu Beginn des Krieges der beiden Rosen
ansteckten, sind für die Geschichtswissenschaften keine Atomstrukturen, sondern real in der Anschaulichkeit in der
sie wahrgenommen werden.
'
Es wäre grotesk, die immanenten strukturontischen Voraussetzungeneiner Wissenschaft gegen die eineranderen aus. zuspielen, etwa von der Geschichtswissenschaft zu verlangen, daß sie auf die atomstrukturellen Bestandteile ihrer
Ge~enstände zurückging~. Das _bedeutete eine Verkennung
des Immanenten und damit relativen Charakters dieser strukturontischen Voraussetzungen. Was für die Physik - immanen.t-stru~turontisch - gilt oder nicht gilt, ist für die Geschichtswissenschaft belanglos. Die Relativitätstheorie hat
nichts an der Realität des Raumes für die Nationalökonomie
geändert. Die Forderung einer gleichartigen V oraussetzungsgrundlage für alle Wissenschaften verwechselt transzendente
und immanente Strukturantik
. Die Existenz immanenter Voraussetzungen der Einzelwissenschaften hängt mit der Abkunft der Wissenschaften
aus der natürlichen Erkenntnis zusammen. DieWissenschaften
haben ihre _Gebie~e nicht vom Himmel heruntergeholt; sie
haben an dte Gebtete angeknüpft, die ihnen die natürliche
Erk~nntnis zuerteilte. So übernahmen sie vonAnfang an die
Gebtete ungeklärt und - wie sich zeigen wird - mit wider·
spruchsvollen Bestimmungen behaftet. Die immanenten Voraussetzungen der natürlichen Erkenntnis sind zunächst auch
die natürlichen Voraussetzungen der Wissenschaften; die
II
Wissenschaften reinigen diese Voraussetzungen, soweit es
ihren Zwecken entspricht, aber eben auch nur soweit es ihren
Zwecken entspricht. Es ist gar nicht ihre Absicht, überhaupt
ohne immanente Voraussetzungen auszukommen (wenn
etwas dergleichen überhaupt möglich ist), sondern nur ihre
Voraussetzungen in sich möglichst widerspruchsfrei zu gestalten. Dabei opfern sie von den immanenten Voraussetzungen,
'die ihnen die natürliche Erkenntnis überliefert hat, nur so
viel, als innerhalb ihrer Untersuchungen notwendig ist: Die
Geschichtswissenschaft z. B. weniger als die Physik.
Die prinzipielleFrage nach dem letztenSeinwird daher
von keiner Einzelwissenschaft gestellt, und auf ihrem Wege
der Bereinigung ihrer immanenten Voraussetzungen wird sie
nie zur Beantwortung dieserFrage kommen. Nehmen wir etwa
an, der subjektive Idealismus sei im Recht: die ganze Welt
sei nichts als meine Vorstellung. Wie sollte die Physik von
sich aus zu einer solchen Metaphysik gelangen können, da
doch die Realität der Welt mit zu ihrer unaufhebbaren immanenten Strukturantik gehört?
Die Wissenschaften geben Wirklichkeit, aber sie geben
nicht letzte Wirklichkeit. Sie bleiben im Reich der !56~a, sie
dringen nicht zur bua-dJ!.t1J vor. Natürliche Erkenntnis und
wissenschaftliche Erkenntnis erfassen beide ein Mittleres zwischen Sein und Nichtsein, sie gehören beide zur !56~a, das .hat
Plato richtig gesehen (vgl. Politeia 533). Sie gehen auf ein
Mittleres zwischen Sein und Nichtsein. Zwar auf ein Nichtsein also; d. h. die Wissenschaften geben nicht letzte Wirklichkeit. Aber sie gehen doch auch auf ein Sein, nur daß
dieses Sein in , Hypotheseis c, in strukturontische Voraussetzungen eingehüllt ist, auf ein Sein, durch das hindurch
vielleicht der Weg zum wirklichen Sein führen kann (und
für Plato wirklich führt). Viel klarer hat Plato dieses Problem
der gleichzeitigen Positivität und Negativität, der außermetaphysischen Erkenntnis der natürlichen und wissenschaftlichen
!56~a gesehen I as K an t, dem, innerhalb der theoretischen
12
Philosophie, nur die metaphysischeN egativität der imma·
nenten Strukturantik zum Bewußtsein kam. Sie allein hat er
herausgearbeitet,· wenn er die Strukturantik wissenschaftlichen Seins in den Anschauungsformen von Raum und Zeit
und den Kategorien erblickt, während er die Positivität des
Verhältnisses von wissenschaftlichem und metaphysischem
Sein durch das Schlagwort des Verhältnisses von den , Dingen,
wie sie an sich selbst sind~, und den , Erscheinungen c mehf
verdunkelte als enthüllte.
Die Beziehung der immanenten Strukturantik der Wissenschaften zur transzendc::nten Strukturantik -gesehen von
der Strukturantik der Wissenschaften aus - zu klären, das
ist das Ha,uptproblem dieses Buches. Es sollen- nach einer
bestimmten Seite hin .- die Strukturantiken der Wissenschaften herausgearbeitet werden. Es soll gezeigt werden,
daß der V ersuch, sie von ihrer Immanenz zu befreien, sie zu
einer transzendenteil Strukturantik zu verabsolutieren, mißlingt, daß dieser Versuch auf unaufhebbare Widersprüche
fUhrt. Und daß so - zu Ende gedacht -· die Haltungen der
Wissenschaften und ihre Strukturantiken sich selbst widerlegen, daß sie von sich aus nach einer selbständigen
Metaphysik verlangen, die nicht von den Wissenschaften
aus g.e h t, sondern die Wissenschaften und ihre Wirklichkeiten begreift und durchleuchtet.
1. KAPITEL.
DIE BEIDEN EINSTELLUNGEN.
I.
Die Charakterisierung der Einstellungen.
Man kann den Unterschied der immanenten strukturontischen Voraussetzungen der einzelnen Wissenschaften keines~
wegs dadurch kennzeichnen, daß man die Wissenschaften in
eine Reihe ordnet, deren Glieder immer weniger an immanenten Voraussetzungen beanspruchen. Etwa so, daß die
Relationstheorie (die nur das Vorhandensein von Relationen
als Voraussetzung benötigt und nicht einmal reale 'Existenz
ihrer Relationen fordert) an dem einen Ende stünde und die
Geisteswissenschaften (die die immanenten Voraussetzungen
der natürlichen Erkenntnis in ihrer ganzen qualitativen Fülle
sich zu eigen machen) am anderen; während etwa Mathematik, Physik, Chemie, Biologie die Zwischenglieder zwischen diesen Endpunkten darstellten. Solche Eindimensionalität besteht nicht. Vielmehr existieren zwei prinzipiell
unterschiedeneTypen von immanentenVoraussetzungen
der Wissenschaften, von immanenten Ontiken, die den
Einzelwissenschaften Gerüst und Struktur für ihre Einzel.ergebnisse liefern.
Diese beiden immanentenStrukturantiken sindFormungen
der Welt, deren sich das Bewußtsein - das wissenschaftliche, wie das außerwissenschaftliche - in zwei Einstellungen bemächtigt, die grundlegend sind für die Betrachtungsart der Wissenschaften. Diese beiden Einstellungen, in
denen jeweils die immanente Strukturantikerfaßt wird, sollen
als die naturalistische und die unmittelbare Einstellung
einander gegenübergestellt werden.
A. Die naturalistische Einstellung 1•
Ihren .reifsten Niederschlag findet die naturalistische Ein'· . ,stellung in. dem Weltbild der exakten Naturwiss~nschaf­
.t e n · wie es sich seit der Renaissance herausgebtldet hat.
Zwei allgemeinste Momente sind für die naturalistische
. .
Einstellung charakteristisch. .
.
. .
1. Sie nimmt die Existenz emer an steh setenden, m steh
gegründetenrealenAußenweltzum.Ausgangspunkt.Diese
Außenwelt ist selbst-ständig - auf steh selbst stehend. Dagegen wäre es verfehlt-·- solange man in der naturalistischen
Einstellung selbst bleibt- sie als »subjektsunabhängige zu
bezeichnen. '> Subjektsunabhängigkeit c negiert die Abhängigkeit von einem Subjekt, setzt also voraus, daß in der Gru?dkonzeption dieser Welt ein Subjekt mit e.ingeschlo~sen 1st.
Das ist zunächst nicht der Fall. Von emem Subjekt als
einem Bestandteil der aufgefaßten Welt weiß die naturalistische Einstellung zunächst nichts. Es wäre für die ~elt
der naturalistischen Einstellung sehr wohl denkbar, daß keme
Subjekte existierten. Tatsächlich n_im~t ja auch di~ ~stro­
nomie und Erdgeschichte an, daß m dteser naturahsttschen
Welt ungeheure Zeiträume hindurch die Subjek~e _fehlten.
Die. Vermutung liegt nahe, daß es zur naturahsttsch gesehenen Welt gehöre, rein quantitativ bestimmt zu sein;
diese Vermutung ist unzutreffend. An sich ist der Ausgang
von der physischen Welt indifferent dagegen~ ob. diese W,elt
bloß quantitative oder daneben auch qualitative B~sttm­
mungen enthält. Die Annahme der heutige~ N.aturwtss~n­
schaft, daß die Außenwelt nur durch quantitative Besttm• »Naturalistische Einstellung• ist nicht ~dentisch m~t jenem Typus der
den Dil they als »N~turahsmus• ?ez~lc.h~et hat. Ebensowenig lassen sich die weiterhin zu diskutierenden »ObjektiVIStischen und su}>jektivistischen I;Ialtungen « mit Diltheys »oJ:>jek~~vem Iq~alis!Dus• _und • Idealtsmus der Freiheit• in Parallele setzen. Gew1sse außere Ahnhchke1ten beste~en
nach mehreren Richtungen hin; doch sind Ausgangspunkt, Weg und Absicht
der Diltheyschen Einteilungen yon !Ype~ der Weltanschauunge~ g~und­
sätzlich verschieden von der h1er emz1g m Betracht kommenden Emteilung
von Strukturantiken und·Einsf"etlun.gen.
Weltanschau~ng,
15
I
'
mungen gekennzeichnet werden dürfe, gibt der naturalisti~chen Welt eine eingeschränkte Formung, stammt nicht aus
threm Wesen, sondern aus methodischen Erwägungen. Eine
~atu.ralistisch_gesehene Welt kann sehr wohlneben den quantttattven Bestimmungen auch von qualitativen Momenten von
Farbe und Ton erfüllt sein.
'
2. Charakteristischer als die bloße Tatsache des Aus~a~gs von ~er realen AußeJilwelt ist die Haltung der naturahsttschen Emstellung dem P s y c h i s c h e n gegenüber: Ein
zweiter Realitätsbereich neben dem Physischen (wie es das
Psychische ist) gehört nicht zu den unbedingt erforderlichen
~austeinen der naturalistischen Welt - ihren Grundkonzepttonen nach. Allein das Psychische existiert nun einmal Wahrnehmungen, Willensakte, Gefühle sind nun einmal
reale Vorkommnisse, und deshalb muß die naturalistische
Einstellung versuchen, so gut es geht, sie in die physische
Welt einzuordnen.
Es ist nun höchst charakteristisch, wie die naturalistische
Einstellung diese Einordnung vornimmt: Die psychische Realität wird in ihrer Faktizität anerkannt, aber sie ist für die
naturalistische Einstellung methodisch nicht eine Realität
~!eichen Rechtes, gleicher Ursprünglichkeit wie das Phystsche. In der Grundkonzeption der naturalistischen Welt
war das Psychische nicht vorgesehen; die Welt wäre so
wundervoll in sich vollendet, wenn es die unbequeme Tatsache des Psychischen nicht gäbe: Aber nun drängt sich an
einigen Stellen der Welt, in bestimmten Anhäufungen der
Materie - wie etwa im Zusammenhang mit dem Zentralnervensystem der Tiere - das Psychische in die in sich
g:schlossene Welt der äußeren Natur. Das Sinnesorgan des
Tteres- das Auge, das Ohr- wird durch einen Lichtstrahl
eine Luftschwingung gereizt. Die Erregung wird zum Zen~
tralnervensystem weitergeleitet; und jetzt entstehen im Zusammenhang mit dem Gehirn Realitäten, die prinzipiell verschieden sind von den Realitäten, von denen die naturalisti16
'
i
sehe Einstellung ausging: Es entstehen etwa Empfindungen
von blau, sauer, hart, - es stellen sich Wahrnehmungen
von Gegenständen ein: mit einem Wort: es entstehen p s ychisehe Realitäten.
Wie ist der Zusammenhang zwischen den beiden Realitäten, zwischen den Vorgängen im Zentralnervensystem
und den psychischen Tatbeständen näher zu charakterisieren?
Die naturalistische Einstellung als solche weiß nichts darüber
zu sagen. Sie ist indifferent gegenüber den einander widerstreitenden Lösungen: Materialistische Auffassung der psychophysischen Kausalität, Parallelismus, Wechselwirkungstheorie sind in gleicherWeise mit der naturalistischen Einstellung vereinbar. Es bedarf noch der Einführung speziellerer
Gesichtspunkte, Hilfsannahmen und argumentativer Erörterungen um sich für die eine oder die andere dieser Möglichkeiten 'zu entscheiden. Nur darüber, daß eine Beziehung
physischer und psychischer Realitäten besteht, darüber ist
für die naturalistische Einstellung kein Zweifel möglich.
Soweit die immanente Strukturontik. Die naturalistische
Einstellung führt jedoch von dieser immanenten Strukturantik aus auf ein bestimmtes transzendent metaphysisches
Problem (von dem sich späterhin zeigen wird, daß es nur
von dem Boden der naturalistischen Einstellung aus sinnvoll
ist). Es läßt sich nämlich die Frage aufwerfen, ob die beiden
empirisch verschieden gearteten Realitäten des Physischen
und Psychischen auch metaphysisch getrennte Realitäten
darstellen. Gibt es also zwei letzte Seinsqualitäten oder auch
zwei getrennte metaphysische , Substanzen«, die physische
und die psychische Substanz? Ist- wie empirisch, so auch
metaphysisch - der Dualismus das letzte Wort? Oder existiert metaphysisch eine höhere tragende Einheit, in der die
beiden empirisch verschiedenen Seinsarten des Physischen
und Psychischen aufgehoben sind (Monismus)?
Es ist daher kein Zufall, .Jaß der wesentlich naturalistisch
eingestellten Zeit am Ende des I g. Jahrhunderts der Zu-
I7
s~mmenhang
zwischen Physischem und Psychischem, und
dte Frage der Bedeutung für die Strukturantik dieses Zusammenhanges zum beherrschenden Problem der Metaphysik
werden konnte. Nicht nur erkenntnismethodisch, sondern auch methodisch- begrifflich wird das Physische vor dem Psychischen
bevorzugt : Psychisch und physisch sind ftir die naturalistische
Einstellung kontradiktorische Gegensätze· was nicht
physisch ist, ist psychisch; was nicht p;ychisch ist
ist physisch -das ist ihr methodischer Grundsatz. Jedoch
nur das Physische wird von dem Naturalismus begrifflich
al~ du~ch sich s~lbst be~timmt angesehen: das Psychisc}:le
wtrd emfach als dte Negatton des Physischen, als das NichtPhysische betrachtet. Das Physische ist das Reale in Raum
und Z~it; es ist das >Objektive«; das Psychische dagegen ist
das Ntcht-Räumliche und Nicht-Objektive. Alles, was nichtobjektiv, »bloß« subjektiv ist, ist psychisch.
Demgemäß wird man im Zweifelsfall einen Tatbestand
nicht daraufhin untersuchen, ob er psychisch ist· denn
dem Psychischen fehlt die eigenständige Begriffsbestimmung. Man wird vielmehr zu prüfen haben, ob der Tatbestand physischer Natur ist. Ist er es nicht so steht von
vornherein fest, daß er psychisch ist. So we;den etwa im
gewöhnlichen Leben die anschaulichen Farben und Töne als
der phys_ischen Welt zugehörig betrachtet; ftir die heutige
Na tu_rwts.senscha_ft hingegen sind sie als nicht-quantitativ
z~gletch mcht-phystsch. Indem sie als nicht-physisch deklariert werden, ist jedoch ohne weiteres entschieden daß sie
psychisch sind, denn ein Drittes, neben dem Physischen
und ~em Psychisch~n existiert nach dieser Anschauung nicht.
Nt_cht anders dte Wertmomente der Gegenstände: Die
Zergh:derung des physikalischen Objektes läßt z. B. niemals dte Schönheit unter seinen konstitutiven physischen
Momenten auffinden. Also muß Schönheit nach der naturalistischen Auffassung etwas Psychisches sein: Das Sein der
18
Schönheit besteht im Schönheitsgefühl, I?it dem d~s Sub~ekt
auf ein Objekt reagiert: >Schön ist das Objekt nur, msow.eit es
geeignet ist, ein Schönheitsgefühl zu erzeugen c (Th .. Lipps).
Ähnlich die >Bedeutung« von Worten. Physisch betrachtet gibt es so etwas nicht wie die Bedeutung des W or~es.
Physisch betrachtet ist das gespro_chene Wort sam~. semer
Bedeutung nichts als eine Luftschwmgung. Demgernaß muß
die Bedeutung des Wortes etwas Psychisches ~ein. Man hat
die Wahl worin man dieses Psychische, das ~Ie Bedeutung
des W or~es ausmacht, sehen will: in der Bereitst_ellung von
Reproduktionstendenzen, in der V erkn~pfung emes W o:tzeichens oder einer Sachvorstellung mit latenten As~ozia­
tionen (wie fast die gesamte naturalistische Psychologie nach dem Vorbilde Humes - die Wortbed:utung auffaßt),
in der einfachen Assoziation eines Wortes mit Gegenstandsvorstellungen in bestimmten l> Bedeutungsgefühlen c (W undt),
in besondere~ Bedeutungserlebnissen usw., usw.
Entsprechend kann, von der naturali_stisc~en Einstell'!ng
aus, dem Staat als politischem und soz10logischem Gebil?e
keine Eigenexistenz zugesprochen w:rden. Der Staat I~t
entweder identisch mit der Gesamtbett der Me?-sche?, die
sich im Staate zusammengeschlossen haben, sie » bil~en «
den Staat- oder der Staat existiert als V orstellungs~ebild~,
als Idee in den einzelnen Menschen; eine Alternative, wie
siez. B. folgerichtig Max Weber vom Standpunkt der naturalistischen Einstellung aus vertreten h~t.
..
Nach einer etwas anderen Richtung hegt es, daß es ~ur
die konsequent denkende naturalistische Einstellung keme
l> Subjekte c als Ausgangspun~te psychisc?er Akte usw. geben
darf. Im Zusammenhang mit dem Gehirn entstehen ? s Ychisehe Einzeltatsachen, die sich miteina~der verbi?den
können·; aber für die Annahme der Existenz emes von dtes~n
psychischen Tatsachen gesonde~t:n Subjektes be~teht kem
Anhalt. Man kann sich, naturalistisch geseh~n, em. solches
Subjekt nur nach Analogie eines äußeren Dmgs, emes Ob19
jektes denken; als Träger der psychischen Tatsachen.
W esha!b aber soll . neben den einzelnen psychischen Ges~hehmssen noch em Träger, ein Substrat dieser Gescheh~Is~e angenommen werden? So hat denn auch die naturalistische ~sychologie die Existenz dieses Subjekts des Ichs
aufs. heft~gste bek.ämpft. Schon Beneke hat das Ich- da~
Subjekt m dem hier vorliegenden Sinn - als , Verschmelzungsprodukte bezeichnet, für John St. Mill ist es nichts als
th~ P.erma~ent possibility of feeling, und fast die ganze naturalistisch :I~gestellte Psychologie sieht im Ich nichts als die
Gesamtheit der Erlebnisse (Taine, Ribot, Ebbinghaus) oder
den Z~sammenhang de.r Bewußtseinserlebnisse (Wundt); oder
n:a~ l~ßt das I.ch gar mit dem Leib identisch sein, wie die matenahstisc? gencht~te? Philo~ophen (Demokrit, Haeckel).
.Da di~ naturah~tische Emstellung, solange sie konsequent
bleibt, keme ,~ubjekte«. kennt, sondern nur psychische Einzelge~chehms~e; so hegt hierin ein weiterer Grund, wesh~lb ~Ie natu:ahstische Außenwelt nicht als > subjektsunabh~ngig c bezeic~net wer~en ·darf. Wo es keine Subjekte gibt,
gibt es auch keme Subjektsunabhängigkeit.
B. Die unmittelbare Einstellung.
. Di~ unreflektierte Haltung des gewöhnlichen Lebens ist
mcht ~~e natura~istische, sondern dieunmittelbare Einstellung.
W,ahrend die naturalistische Einstellung von der Außen~~lt Ihr~n Ausgang nimmt und Subjekte konsequenterweise
I~ Ihr. kemen Platz fi.nden, ist umgekehrt das Gegen ü her von
Subjekt und Objekt das Rückgrat der unmittelbaren Einstellung1. Die unmittelbare Einstellung kennt also von An1:-iese G~genüb~rstellung von •Subjektcc und •Objekt• soll nicht im Sinne
•
1rgen emer philosophischen Theorie angesetzt werden - es soll nur dem · ede
~eka~.ten T:l;tbest~nd de: unmittelbaren Einstellung Ausdruck verliehe~ we~
1 en. ~~ gew1ß phllosop.hJsch ~llzu. belasteten Worte •Subjekt« und •Objekt•
ass~n s1ch .kaum yerme1den; vielleicht gibt ihnen gerade diese Belastun eine
gewisse phllosoph1~che Indifferenz, die nicht vorhanden wäre wenn mfn sie
~urc_h andere schem?ar weniger belastete Worte ersetzte, die dafür sofort ganz
estimmte metaphysische Stellungnahme involvieren.
20
fang an nicht einen sondern zwei verschiedene Realitätsformen grundverschiedener Art: die Subjekte. und ?ie Objektwelt. Die Subjekte si~d Z~ntren, d:ne~ die Objektwe~t
gegeben ist, auf die_ sie. hmbhcken, di~ s~e auffassen, d~e
sie erkennen . über die sie nachdenken, die sie bewerten, die
sie bearbeit~n die sie zum Gegenstand ihres W ollens, ihrer
Wünsche madhen, zu der sie Stellung nehmen, die sie genießen über die sie sich ängstigen usw. usw. Und umgekehrt
affizi~ren die Objekte unmittelbar das Subjekt, beeindrucken es, lenken die Aufmerksamkeit auf sich, regen· zu
Handlungen an usw. usw.
Das Physische und das Psychische
Die Orientierung dtr unmittelbaren Einstellung am Gegensatz von Subjekt und Objekt ergibt eine begriffliche .und stru~­
turontische Bestimmung des Physischen und Psychischen~ die
von derjenigen der naturalistischen ~instellung a?v:eicht.
Das Physische zwar bleibt, was es bei der naturahstis~hen
Einstellung war. Physisch-materiell ist alles, was als 0 b J ~kt
im Raume sich findet: Häuser, Bäume, Möbel, Steme,
lebende Körper (unter denen der eig:ne Lei~ eine besondere
Bedeutung für das vorfindende SubJekt besitzt).
Das Psychische hingegen ändert .sich von Gr~nd ~us: Es
ist nicht mehr bloß das Nicht- Physische; es wird vielmehr
inhaltlich bestimmt als dasjenige, das von dem Subjekt unmittelbar als dem Subjekt zugehörig erlebt wird (und
darüber hinaus als das was dem Subjekt unmittelbar als Teil,
als Zuständlichkeit ~ls Grundlage angehört): seine Hoffnungen seine Wü~sche seine Triebe und seine Leidenschafte~ seine Akte de~ Erkennens und Wollens, Einstellungen, Halti:.mgen, Charaktereigenschaften, das Unbewußte,
das die Dynamik des Seelenerlebens beherrscht usw.
Die Führerrolle des Physischen in der Abgrenzung .der
Realitätsbereiche ist damit aufgehoben; jeder der Bereiche
erhält seine eigene, nicht von andern abhängige Wesens21
bestimmung. Di~ unmi~telbar e rl ~ b t e Zugehörigkeit
zum Ich (od~r die Ableitung aus dieser unmittelbaren Zugehörigkeit wie bei > Charaktereigenschaften ~) entscheidet
d~rüber, o~ etwas psychisch ist oder nicht. Meine ·Freude
wird a~~ mir ~u~ehöri~ erlebt und ist deshalb psychisch, die
Rose, uber die Ich mic? freue, ist nicht mir zugehörig und
kann deshalb unter kemen Umständen psychisch sein au~h wenn.sie bloß ?alluziniert ist. Demnach ist das Psy~hi~che von .vornherem enger begrenzt als bei der naturalistischen Emstellung, wo das Psychische ein Sammelkasten war für all dasjenige, was im Physischen keinen
Platz fand.
So. darf also bei. der unmittelbaren Einstellung nichts dem.
Psychischen zuge~Iesen werden, was unmittelbar als Objekt
oder als dem Objekt zugehörig vorgefunden wird: Farben und Töne sind daher für die unmittelbare Einstellung
~ufke~nen Fall psychischer Natur. Sie werden von dem SubJekt mcht als Bestandteil seiner selbst sondern als
Bestandteil des Objekts erlebt. Keine wissenschaftliche
~rkenntnis kann s~e als psychisch erweisen; denn nie und
m_mme:, durch noch so tiefe wissenschaftliche Entdeckungen,
Wird die Farbe der Rose zu meiner Farbe sie bleibt immer
Farbe .des Objekts. Es wäre für die unmittelbare Einstellung ei~ ebenso schlimmer Fehler, die Farbe als psychisch
z~ bezeichnen, weil _si~ ni~ht-physis~h i~t, wie sie als phySisch anzusetzen, weil sie mcht-psychtsch Ist. Die Alternative
. der ~aturalistischen Einstellung verliert unter allen Umständen Ihre G_ültigkei~ bei der unmittelbaren Einstellung; sie
da:f wed~r m der ~Ichtung_ von dem Physischen auf das Psychische h~n, noc~ m der Richtung von dem Psychischen auf
das. Phys1sche · hm angewendet werden. Farben werden im
?bJ~kt vorge~unden und sind daher in diesem Sinn >obJ~ktivc: · D~bei kann :vollkommen zu Recht bestehen, daß
die Naturwissenschaft Ihre , Subjektivität c: im Sinne der Nichtzugehörigkeit erwiesen hat. Die Subjektivität der Farbe, von
22
der die Natnrwissenschaft spricht, hat eine andere Bedeutung als die Subjektivität, durch die das Psychische konstituiert wird. Subjektiv-psychisch bedeutet Subjektszugehörigkeit. Die Farben sind hingegen >subjektiv« im Sinne
der Subjektsabhängigkeit, der Gesetztheit durch das
Subjekt. Sie sind Bestimmtheiten des Objekts, die vom
Subjekt abhängig sind, von ihm gesetzt sind.
Die Farben (und sekundären Qualitäten aller Art) teilen
diese Form der Subjektivität mit einer großen Zahl von Obiektgattungen und Gatturigen objektiver Bestimmtheiten.
Der Riese, den ich phantasiere, das Luftschiff, von dem ich
träume, die Pferde, die ich halluziniere, besitzen bloß subjektive Existenz; sie haben keine Stelle in der objektiven
realen Welt, aber sie sind deshalb vom Standpunkt der unmittelbaren Einstellung aus nicht psychisch: es gibt keine
psychischen Luftschiffe, Riesen und Pferde. Solche subjektsgesetzten (Farbe, Halluzinationen), bewußt vom Subjekt
geschaffenen Objekte (Phantasieobjekte) sollen als mentale
Objekte bezeichnet werden.
Daß diese Betrachtungsweise .ungewohnt erscheint, hat
seinen Grund darin, daß wir doch immer wieder die Gesichtspunkte der naturalistischen Einstellung in die unmittelbare Einstellung hineintragen; daß man immer wieder den
Gegensatz physisch-psychisch als einen kontradiktorischen
Gegensatz empfindet, und alles, was nicht physisch-real ist,
dem Psychischen zuschreiben möchte .
Nicht-physische Objektsbereiche
Daß der Gegensatz physisch-psychisch nicht kontradiktorisch ist, hat noch weitere Konsequenzen: Es bleibt noch
Platz ftir weitere Seinsbereiche, außer den mental~n, subjektsal;>hängigen Seinsbereichen, die weder physisch noch
psychisch sind. Sie finden nicht auf der Seite des Subjekts
ihren Platz, denn alles ,Subjektivec: im Sinne der Subjektszugehörigkeit ist psychisch; aber das Reich der 0 b je k t e
23
ist durch das Gebiet des Physischen, das Gebiet der materiellen Existenz nicht ausgeschöpft.
So gehören z. B. alle Kunstwerke der objektiven Welt
an, ohne physisch zu sein. Physisch ist am Gemälde nur die
bemalte Leinewand, nicht das »Bild«, das »Konterfei< des
Menschen oder der Landschaft; da , draußen c im physischen Sinn ist kein dreidimensionales ~Abbild von Julius II. «,
sondern eine Fläche von bestimmter Struktur, kein , Erlkönige, sondern schwarze Buchstaben auf weißem Papier in
einem Buch, keine »Matthäuspassion c, sondern Luftschwingungen. Aber das Bild, das Gedicht, das Musikwerk sind
auch nicht einfach eine Summe von Er I e b n iss e n, die das
Objekt, genannt Bild, Gedicht, Musikwerk konstituieren.
Julius II., der Erlkönig, die Matthäuspassion sind vielmehr
0 b je k t e für mich, nicht Erlebnisse.
Da sie keine physischen Objekte sind, da sie von Menschen
geschaffen wurden, so liegt es demgemäß nahe, sie den mentalen Objekten zuzurechnen (wie die Träume, die Halluzinationen usw.). Diese Kennzeichnung trifft nicht zu; Mentale Objekte sind stets nur dem einzelnen Subjekt unmittelbar zugänglich - darin sind sie dem Psychischen verwandt. Aber
gerade die Transsubjektivität, im Sinne der vorgefundenen
Unabhängigkeit vom Subjekt ist wesentlich ftir das Kunstwerk. Das Kunstwerk, der» Faust«, die )) Ilias «, die »Neunte
Symphoniec, die ,Mona Lisa« sind für die unmittelbare Einstellung als selbständige Objekte vorhanden, die von einer
großen Zahl von Menschen gleichzeitig aufgefaßt werden.
Das Gedicht, das Bild, das Musikwerk entstehen nicht immer
aufs neue, wenn Menschen sie sich vergegenwärtigen; so wenig
das Haus neu entsteht, so oft Menschen es sehen. Das Kunstwerk gehört von der unmittelbareu Einstellung aus gesehen,
einem dritten realen Reich an, das weder physisch noch psychisch ist: dem Reich der , geistigen Gebilde«. Die sinnvolle Einheit des Gedichts realisiert sich in den Drucken und
Rezitationen des Gedichtes, aber seineExistenzbesteht nicht
in solcher physischen Verleiblichung. Denn das Kunstwerk
ist als sinnvolles Gebilde real, - daran kann nicht gezweifelt werden: es ist geschaffen worden in der Zeit, es kann
zugrunde gehen, wenn sein realisierender Leib zerstört wird
(wenn das Gemälde etwa verbrennt) oder sein ideeller Gehalt
unzugänglich geworden ist (beim Gedicht, wennallseine Realisierungen in Büchern und Handschriften vernichtet sind und
sein Wortlaut vergessen ist) usw.
Die Kunstwerke sind nicht die einzigen Arten realer geistiger Gebilde; es gibt eine große Zahl von ihnen. DerStaat
z. B. ist ein reales geistiges Gebilde - nicht der Staat als
»Idee«, nicht als , Wesen«, nicht als , Begriff«, sondern der
konkrete einzelne Staat, der italienische, englische, französische Staat. Das römische Recht gehört zu ihnen, die
französische Sprache, die deutsche Wissenschaft usw. usw.
Dieser kurze Hinweis auf das Reich der realen geistigen
Gebilde möge genügen. Nur auf die Realität des Staates
soll noch mit ein paarWorteneingegangen werden. Es wurde
gezeigt, wie die naturalistische Einstellung den Staat in physische und psychische Momente auflöst; ftir die unmittelbare Einstellung ist er geistig real. Der italienische Staat z. B.
ist in der Zeit real; in der Zeit entstanden; wie alles Reale
verurteilt in der Zeit zu vergehen. In dieser Weise empfindet
auch die Auffassung des gewöhnlichen Lebens den Staat als
real als eine Realität neben den Individuen, als eine Reali'
.
tät, die den Individuen als reale Macht gegenübertritt, ste
zwingt ihre Gesetze zu befolgen, Steuern zu zahlen usw. Und
ebenso ist für die Geschichtswissenschaft der Staat eine Realität. Wenn Napoleon dem Zaren die Kriegserklärung überschickt, so entsteht nicht eine Fehde zwischen zwei mächtigen
Herren, sondern ,Frankreich« hat an »Rußland< den Krieg
erklärt. Wenn die Vereinigten. Staaten die Sklaven ftir frei
erklären, so tun das nicht einzelne Menschen, sondern der
» Kongreß « eine Realität - als Repräsentant einer anderen Realität, des amerikanischen Staates.
Der Gegensatz der Einstellungen in der Art, wie sie den
Staat betrachten, ist zunächst einfach und klar: Die konsequente naturalistische Einstellung wird den Staat arealistisch (atomistisch oder psychologistisch) auffassen, die konsequente unmittelbare Einstellung realistisch. Allein Tendenzen politischer und kulturphilosophischer Art
durchkreuzen diese einfache Alternative: Sie stellen die Auffassungen von der Existenzart des Staates in den Dienst
ihrer nicht mehr rein analysierenden, sondern bewertenden
Stellungnahme. Es geht ihnen um das Verhältnis des Einzelnen zum Staat; ist der Staat das Höhere gegenüber dem
Einzelnen? Hat sich der Einzelne vor allem als ein Glied dieser höheren Einheit zu fühlen? Ist der Staat nicht nur de
facto allmächtig, sondern hat er aufGrund seinergrößeren Allgemeinheit eine höhere ethische und metaphysische Würde?
Wer diese Fragen bejaht, der schreibt dem Staat Realität
zu, nicht aus irgendeiner methodischen Einstellung heraus,
sondern weil es seine Auffassung von der Wertpriorität des
Staates so verlangt. So haben denn alleVerteidigerder Omnipotenz des Staates (Hobbes z. B.) oder der höheren Würde
des Staates, wie Hegel und die Romantik, wie bestimmte Richtungen des Sozialismus (Schäffle), wie die Vertreter einer konservativen Weltanschauung (Stahl, Gierke, Spann, Tönnies)
sich nicht nur zur Realität des Staates bekannt, sondern diese
Realität nochdadurch unterstrichen, daß sieden Staatals Persönlichkeit oder als Organismus faßten. Solche Übersteigerung liegt jedoch nicht in der unmittelbaren Konsequenz
der unmittelbaren Einstellung. Für sie ist der Staat gewiß Realität- Realität welcher Art er ist, ist jedoch durch die Strukturantik der unmittelbaren Einstellung nicht präjudiziert.
Gegen diese Anschauung von der Wertprävalenz des
Staates stellen sich diejenigen, flir die die Einzelnen Träger
der sozialen Werte sind, oder ftir die eine andere Gemeinschaft- die Kirche etwa - , die Wertpriorität gegenüber
dem Staate besitzt. Es ist nicht notwendig, daß die Anhänger
26
dieser Anschauungen die Realität des Staates negieren (und
gerade die Lehre von der Höherwertigkeit der Kirche gesteht meist dem Staate eine selbständige, nur weniger wertvolle Existenz zu). Der soziale Individualismus geht jedoch
im allgemeinen weiter: Nicht nur, daß er den Wert des
Staates aus den Interessen und Werten des Einzelnen ableitet, er hat - vor allem im I 8. Jahrhundert- dem Staat
zugleich auch die Realität abgesprochen. Er geht auf diese
Weise am sichersten - seine Ablehnung der W ertsuperiorität des Staates ist auf diese Weise am besten fundiert. Was
keine selbständige Realität besitzt, kann auch nicht den
Anspruch machen, dem realen Einzelnen gegenüber wert·
prävalent zu sein.
Daher haben auch Zeiten und Denker, die die unmittelbare Einstellung einnahmen, dennoch die Realität des Staates
bestritten, wenn sie zugleich soziale Individualisten waren
(Aufklärung, Liberalismus). Denn durch die Entrealisierung
des Staates waren sie am besten gegen die Theorie von der
Wertprävalenz des Staates gefeit. Sie suchten daher nach
Gesichtspunkten, die es ihnen trotz ihrer unmittelbaren Einstellung erlaubten, den Staat zu entrealisieren: Bald behielten
sie zwar die Sicht auf die Vorfindlichkeit bei, so daß der
Staat für sie den Objektcharakter bewahrte, - aber sie
faßten dieses Objekt nicht als reales, sondern als mentales
Objekt, als eine bloße , Idee c. Oder sie gaben die Richtung
auf die Vorfindlichkeit auf und fragten statt dessen: Wie ist
der Staat genetisch zustandegekommen (Vertragstheorie),
oder wie lassen sich seine Funktionen aus den Interessen
der Einzelnen, die den Staat , bilden c, erklären? Oder sie
legten den Nachdruck darauf, daß sich die Staatsakte einzig
in den Gedanken und Handlungen der Menschen realisierten,
wie sich. die Gedichte in den Rezitationen, Drucken und
den Erlebnissen der Menschen , realisieren c • In all diesen
Fällen wurde die Vorfindlichkeit mißdeutet oder an der
Vorfindlichkeit vorbeigesehen: Denn von der unmittelbaren
27
Einstellung aus muß die Realität des Staates als Vorfindlichkeit unbedingt anerkannt werden. Neben diesen realen geistigen Gebilden existieren für die
unmittelbare Einstellung noch weitere Objektreiche nichtrealen Charakters: DieReiche der ideellen Gegenstände:
sie sind objektive, subjektsunabhängige Gebilde, aber nicht
real. Die Begriffe gehören zu ihnen, die logischen und
mathematischen Gesetze, die Wesen und Wesensgesetzmäßigkeiten. Der Begriff> Mensch« ist weder physisch
noch psychisch, er ist ein Objekt, das vom Subjekt als von
ihm unabhängig erfaßt wird, über das wahre Aussagen gemacht werden können; wie z. B. : der Begriff Mensch ist dem
Begriff Säugetier untergeordnet usw. Daß in diesen Gebilden eigene Seinsregionen vorliegen, die mit den Regionen
der , realen c Gegenstände im gewöhnlichen Sinn nicht ver-.
wechselt werden dürfen, ist seit Plato immer wieder (zuletzt
von Husserl) entdeckt worden - immer dann, wenn die
Philosophie von der unmittelbaren Einstellung ausging; es
wurde ebensooft wieder vergessen oder wieder verdunkelt,
wenn die Zeit sich der naturalistischen Einstellung zuwandte.
Allein auch dort, wo die Region des ideellen Seins anerkannt
wird, gehen die Anschauungen weit auseinander, wie das
ideelle Sein aufzufassen sei. Ob , ideelles Sein« doch nur ein
Name sei für das letztlich reale Sein, demgegenüber die sogenannte Realität der zeitlich-irdischen Welt nur eine Realität
niederen Grades darstelle (Plato), ob es sich um eine geistig
geschaffene oder an sich seiende nichtreale Welt handele
(Husserl), ob dieser Welt überhaupt der Seinscharakter
zukomme, oder ob in ihr ein bloßes Sosein der Dinge aus der
Realität losgelöst sei usw. usw.
Nicht auf die Diskussion des Seinscharakters dieser ideellen Gegenstände kommt es in diesem Zusammenhange an,
sondern nur darauf, daß sich in ihnen Objektwelten auftun,
deren Seinscharakter auf keinen Fall in eine Linie gestellt
werden darf mit dem Seinscharakter realer Gegenstände.
28
Es muß zusammenfassend noch einmal betont werden,
daß die Subjektsunabhängigkeit der geistig-realen wie der
ideellen Gegenstände eine vom Subjekt vor gefundene
Unabhängigkeit ist. Über den Ursprung dieser Gegenstände ist durch diese Vorfindlichkeit nichts ausgesagt: Die
kausalgenetische wie die bewußtseinsgenetische Fragestellung ist ausdrücklich ausgeschaltet; den Lösungen, die sich
von solchen Fragestellungen her ergeben, wird durch die Ergebnisse der V orfindlichkeit nicht vorgegriffen. Es ist sehr
wohl denkbar, daß die geistig-realen wie die ideellen Gegenstände überhaupt nur für ein Bewußtsein vorhanden sein
können, daß ihre Konstitution sich nur aus dem Bewußtsein
heraus verstehen läßt, daß z. B. die Zahlen Schöpfungen des
menschlichen Geistes sind, die Kunstwerke bewußtseinskorrelativ zu deuten sind usw. usw. Probleme dieser Art sollen hier nicht aufgegriffen werden; es unterbleibt jegliche
Stellungnahme zu ihnen. Die Vorfindlichkeit ist hier der einzige Maßstab über Realität und über Idealität, über den physischen oder psychischen Charakter der Gegenstände.
Und von hier aus gesehen zeigt die Strukturantik der unmittelbaren Einstellung fünf verschiedene Gruppen von Tatbeständen (von denen jeweils nur Beispiele gegeben wurden):
I. Die psychischen Tatsachen (Wünsche, Gefühle, Willensakte).
2. Die physischen Objekte (Häuser, Bäume, Tierleiber).
3· Die realen geistigen Objekte (Staaten, Kunstwerke).
4· Die ideellen Objekte (Begriffe, mathematische Funktionen).
5. Die mentalen Objekte (Phantasiegebilde, Halluzinationen).
Es möge diese kurze Aufzählung und Charakterisierung
der Objektreiche genügen. Die ernsten philosophischen
Probleme beginnen erst hinter dieser Aufreihung; sie auch
nur anzudeuten, würde uns weit von dem Wege wegführen,
den zu verfolgen hier unsere Aufgabe ist.
29
2. KAPITEL
DAS WAHRNEHMUNGSPROBLEM
UND DIE EINSTELLUNGEN.
Die Korrelation
von Einstellung und Strukturontik.
1.
Vor zwei Mißverständnissen der Einstellungen muß gewarnt werden:
1. Die Einstellungen sind nicht ~Gesichtspunkte c, unter
denen die Welt aufgefaßt wird, nicht subjektive Formungsrunktionen im Sinne irgendeiner idealistischen Konzeption.
Vielmehr sind sie die subjektiven Korrelate zu den Strukturontiken; sie sind die Haltungen, unter denen die Strukturontiken aufgefaßt, betrachtet werden. Der Gegensatz
der Strukturontiken schreibt dem auffassenden Subjekt den
Gegensatz der Einstellungen vor, nicht umgekehrt. Es existieren zwei Einstellungen, weil es zwei Strukturontiken, zwei
Weltgeformtheiten gibt.
Freilich haben die Einstellungen neben ihrer rein zur Strukturontik korrelativen, zugleich auch eine methodische über
diese Korrelation hinausgehende Bedeutung. Wenn z. B. die
naturalistische Strukturantik ein gleichwertiges Nebeneinander von Physischem und Psychischem zeigt, so wird doch
methodisch die physische Welt durch die Art der Einstellung bevorzugt. Die Sichtnahme der naturalistischen Einstellung kommt, sowohl erkenntnismethodisch als auch begriffsmethodisch, von der physischen Welt her, die Strukturontik als solche hingegen kennt keine Sichtnahme. Ebenso ist
begrifflich-methodisch das Physische vor dem Psychischen
bevorzugt, indem das Psychische nur als das Nichtphysische
begriffsinhaltlich bestimmt wird; auch die Begriffsmethodik
30
ist also Sache der Einstellung und nicht der Strukturontik.
(Von ähnlichen methodischen Pointierungen innerhalb der ·
Strukturontik der unmittelbaren Einstellung wird noch zu
sprechen sein.)
Allein diese methodischen Momente setzen bereits voraus,
daß die Strukturontik feststeht. Nur innerhalb einer sichergestellten Strukturontik kann methodisch pointiert werden.
2. Die Einstellungen sind jedoch ebensowenig oder
besser: noch weniger - bloße klassifikatori·sche Gesichtspunkte - etwa derart, daß die >Begriffe c unter der
Klassifikation der naturalistischen Einstellung betrachtet als
>psychische« Gebilde, unter dem >Gesichtspunkte der unmittelbaren Einstellung als >ideelle c Gebilde erscheinen, ohne
daß sachlich eine Verschiedenheit vorliegt. Eine solche
Auffassung sieht vollkommen vorbei an der Tatsache, daß
die Strukturontiken - die Weltkorrelate <.ler Einstellungen
-einen sachlich verschiedenen Aufbau der Welt bedeuten,
nicht bloße nachträgliche Einteilungen darstellen. Die Strukturontik der naturalistischen Einstellung kennt ein Nebeneinander von physischer und psychischer Realität,
deren Zusammenhang noch durch speziellere Hypothesen zu
bestimmen ist; die Strukturantik der unmittelbaren Einstellung hingegen zeigt das Gegenüber einer Vielzahl von
Subjekten und einer mannigfach geschichteten Objektwelt. So hat die naturalistische Welt von vomherein ein
strukturell anderes Gesicht als die Welt der unmittelbaren
Einstellung; die Gegenstände und Tatsachen werden in den
beiden Strukturontiken nicht etwa nur anders gruppiert.
2.
Das Wahrnehmungsproblem
Als typisches Beispiel dafür, wie scheinbar >Dasselbec
ein strukturell verschiedenes Gepräge annimmt, je nach der
Strukturontik, in die es hineingestellt wird, sei der Tatbestand derWahrnehmungangeführt: , Ich sehe einen Baum c.
31
Von der naturalistischen Einstellung her betrachtet ist das
Sehen ein kau s a I er Prozeß. Von dem Baum her verläuft
dieser Prozeß nach dem Psychischen hin: nach der Wahrnehmung. Dabei ist entscheidend: Durch die Wahrnehmung
wird der Gegenstand ver d o p p e I t: , Ich sehe einen Baum c:
bedeutet naturalistisch: Der äußere Gegenstand bewirkt
in mir die Vors t e 11 u n g Baum. Der Baum ist zugleich als
äußerer Gegenstand vorhanden und als Vorstellung,
die diesen Gegenstand ab b i I d e t. Diese Verdopplung ist
nach naturalistischer Einstellung ein integrierender Bestandteil des Sehprozesses; man kann diese Verdopplung in verschiedener Weise auffassen, aber niemals wegdeuten.
Für die unmittelbare Einstellung hingegen hat det Tatbestand: , Ich sehe einen Baum c einen völlig anderen Sinn:
>Sehenc ist hier kein kausaler Prozeß, sondern ein unmittelbarer Erfassensakt des Subjekts, eine vom Subjekt
gegen das Objekt gerichtete Intention, eine Subjektsaktion.
Zur Annahme der> Verdopplung« des Objektsliegt im Sehen
unmittelbar keine Veranlassung vor. Wenn man den Baum
im Garten sieht, ist man überzeugt, den Baum selbst, den
realen Baum durch Subjektsakt zu ergreifen- den Baum,
so wie er ist; es schiebt sich zwischen Beschauer und Baum
nicht noch eine Vorstellung ein.
Man wende hier nicht ein, daß der Baum doch nicht unmittelbar flir mich da sei, sondern durch Vermittlung der
Luftschwingungen, des Sehprozesses im Auge usw. usw.
Dieser Einwand fällt in die naturalistische Einstellung zurück.
Es handelt sich zunächst nur um die bewußte V orfindlichkei t. Und flir sie gilt, daß b.ei der unmittelbaren Einstellung
in der Wahrnehmung kein Zweierlei gegeben ist, sondern
nur das erfaßte Objekt, der gesehene Baum.
Ebensowenig läßt sich eine Verdopplung des Objekts
in Vorstellung und Gegenstand durch folgenden Gedankengang rechtfertigen: In der Wahrnehmung, selbst wenn sie
als unmittelbare Ergreifung aufgefaßt wird, könne mir nichts
gegeben sein als das Objekt, wie es für mich ist, also ein
bloßes , Bild« des Objekts. Ob ich das Objekt ergreife, wie
es , an sich" ist, könne ich niemals wissen. Deshalb müsse
I. NatuPalistische Strukturantik
Bereich
des Psychischen
BePeich
des Physischen
Baum
man prinzipiell das Bild des Baumes, sein Aussehen , ftir
mich« von dem , An sich c: des Baumes scheiden. Auch voin
Standpu11kt der unmittelbaren Einstellung aus sei also eine
Verdopplung nötig; das Aussehen des Baumes für mich
und der Gegenstand, so wie er an sich ist, der Gegenstand,
33
auf den ich in dem Akte des Erfassens abziele, müßten geschieden werden.
Allein gerade dann, wenn die Wahrnehmung wirkliche
Wahrnehmung ist, verschwindet ftir die unmittelbare Einstellung dieser Gegensatz: Der Baum, den ich sehe, und
der Baum, wie er an sich ist, ist nicht mehr zweierlei. Darin
besteht gerade für die unmittelbare Einstellung das KeQ.nzeichen der echten Wahrnehmung, daß es kein Auseinanderfallen von wahrgenommenem und seiendem Gegenstand gibt.
Das Sein ist auch ftir sie gewiß nicht identisch mit dem
Wahrgenommenwerden; das Sein des Baum·es und sein
Wahrgenommenwerden sind zwei verschiedene Dinge, allein
II. Unmittelbare Strukturantik
Sub"ekt
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Reale geistige wert
- - - - - - - - - - - - - - Physfsche wert-
das Seiende und das Wahrgenommene (der Baum, der
ist, und der, der wahrgenommen wird) sind bei der echten
Wahrnehmung identisch. (Ob es freilich realiter jemals einen
Fall echter Wahrnehmung gibt, bleibe dahingestellt.)
Trotzdem ist es völlig berechtigt zu behaupten> daß auch
dieunmittelbareEinstellungdie VerdopplungdesObjekts in
VorstellungundrealenGegenstandkenne,jedochnichtimFalle
der echten Wahrnehmung, sondern in zwei anderen Fällen:
1. Im Falle der Täuschung: Wenn ein halb ins Wasser
gesteckter Stab an der Eintauchstelle gebrochen erscheint,
34
so besteht ein Gegensatz zwischen dem >Bild c des Stabes
und dem Stab, wie er wirklich ist. Allein diese Art der :. Verdopplung« des Gegenstandes ist grundverschieden von der
Verdopplung bei der naturalistischen Einstellung. Bei der
naturalistischen Einstellung besteht eine wirkliche, zeitlich
getrennte Zweiheit: Der Gegenstand und die Vorstellung
des Gegenstandes sind durch eine Kausalkette voneinander
getrennt. Im Falle der Täuschung jedoch besteht ein solches
Auseinander nicht. Der Stab, den ich sehe, ist der Stab,
der in das Wasser getaucht ist. Die Intention erfaßt den
wirklichen Stab. Nur daß diese Intention für mich anders
erfüllt ist, als sie in Wirklichkeit ist. Der Stab ist in Wirklichkeit gerade, für mich ist er gebrochen. Es sind also nicht
zwei :. Stäbe« vorhanden, ein gesehener und ein wirklicher
realer Stab; vielmehr nur ein wirklicher Stab, er ist zugleich
vorhanden und im Sehen gemeint. Nicht der Stab, nur die Art
seiner Erfüllung ist zweimal vorhanden; er ist >gerade« (als
wirklicher Stab) und :.gebrochen« (als gesehener Stab). Die
Zweiheit ist übereinandergelagert und zugleich an einem identischen Beziehungspunkt, dem Stab, zusammengeheftet.
Ein solcher Beziehungspunkt der Wirklichkeit, der nur
einmal vorhanden ist, muß immer aufzuweisen sein, wo
Täuschung, Halluzination, Fata Morgana usw. vorliegen. Nur
kann der Beziehungspunkt wechseln. Bei der Täuschung
darüber, daß der Stab gerade ist, ist der Stab selbst der
Beziehungspunkt, der gemeint und zugleich existent ist.
Wenn der Stab eine bloße Halluzination ist, so ist die
Raums t e 11 e, an der ich den Stab zu sehen glaube, in
Wirklichkeit auf andere Weise ausgefüllt; die Raumstelle
ist der feste Beziehungspunkt.
Im Falle von Täuschung, Halluzination usw. muß also ein
fester Beziehungspunkt gegeben· sein; und außerdem eine
:. Verdopplung«, die die Erfüllung des Beziehungspunktes
betrifft: Es muß eine m e n t a 1e Objektivation, das täuschende >Bild« einer realen (oder bei mathematischen
35
Gegenständen , idealen«) Objektivation überlagert sein.
Beides gehört zur Täuschung: der feste Beziehungspunkt
und die doppelte Erftillung. Fehlt der Beziehungspunkt,
so stehen zwei Gegenstände nebeneinander, die sich nichts
angehen: Ein wahrgenommener Stab an einer Raumstelle
und etwa eine wirkliche Blume an einer andern Raumstelle ergeben keine Täuschung. Fehlt andererseits die Verdopplung, das Gegeneinander von Mentalem und Realem,
so liegt ebenfalls keine Täuschung vor, sondern der Gegenstand ist ein Objekt echter Wahrnehmung; er ist wahrgenommen, so wie er ist.
2. Ganz anders beschaffen ist der zweite Fall der Verdopplung bei unmittelbarer Einstellung: Die Vergegenwärtigung oder die Erinnerung eines an sich Wirklichen. Ich stelle mir etwa anschaulich das Ulmer Münster
vor, oder erinnere mich etwa an das gestrige Zusammentreffen mit einem Bekannten. Im Falle der Vergegenwärtigung des Ulmer Münsters ziele ich auf das reale Objekt, das
in Ulm steht, und diese Intention ist zugleich anschaulich
erftillt. Aber die Erfüllung der Intention ist eine bloß bildmäßige (keine :) leibhaftige« [Husserl] wie bei der Wahrnehmung); ich bin mir bewußt, daß die Anschauung, die ich
vor mir habe, ein mehr oder minder klares Vorstellungs> Bild« des Ulmer Münsters ist, nicht das wirkliche Ulmer
Münster selbst.
Der Abbildcharakter ist also hier ein phänomenales
· Charakteristikum der Vorstellung (ähnlich wie beim Porträt
oder dem Landschaftsbild). Es soll daher von der p h ä n omenalen Abbildrelation der Vergegenwärtigungs-und Erinnerungsvorstellungen gesprochen werden. Im Gegensatz
zur realen Abbildrelation, wie sie etwa vorliegt, wenn der
Sohn das , Abbild seines Vaters« ist, wo zwei verschiedene
Gegenstände, die nicht Bildcharakter tragen, im Verhältnis
von Vorbild und Abbild stehen. Es ist unmöglich, dem Sohn
anzusehen, daß er Abbild des Vaters ist.
36
Im Falle einer adäquaten Vergegenwärtigung des Ulmer
Münsters bestehen beide Abbildrelationen nebeneinander:
Die phänomenale und die reale: Die anschauliche V ergegen~
wärtigung trägt Bildcharakter; und sie ist außerdem realiter
ein Abbild des Ulmer Münsters.
Es sind also folgende Fälle streng auseinander zu halten:
1. Die Verdopplung bei der naturalistischen Einst e 11 u n g. Gegenstand und Vorstellung sind kausal miteinander verknüpft. Die Vorstellung ist im günstigsten Fall
tatsächlich ein Bild des Gegenstandes, wiederholt den Gegenstand gleichsam in anderem Material.
2. Bei derunmittelbaren Einstellung ist die echte
Wahrnehmung ein Erfassen des Gegenstandes, so wie er
ist. Eine Verdopplung ist nicht vorhanden.
3· Im Falle der Täuschung ist etwas Wirkliches unmittelbar erfaßt. Aber die Erfüllung der auf dieses Wirkliche
gerichteten Intention ist verfehlt. Es besteht eine doppelte
>Erfüllung«: Die Erfüllung durch das wirkliche Sein und die
durch das wahrgenommene. Die wahrgenommene Erfüllung
ist jedoch gerade kein Abbild der Seinserfüllung, der anschaulichen Wirklichkeit (das Gebrochensein des Stabes kein
Abbild des wirklichen Geradeseins). Die beiden Erftillungen
decken sich nicht und dürfen sich nicht decken, wenn der
Fall der Täuschung vorliegen soll.
4· In der anschaulichen Vergegenwärtigung eines
Wirklichen ebenso wie bei der anschaulichen Erinnerung
ist die Vorstellung nicht nur ein tatsächliches Abbild, sondern sie hat auch phänomenalen Bildcharakter.
Die Fälle der Täuschung usw. einerseits, der Vergegenwärtigung und der Erinnerung andererseits wurden einzig
angeführt, um sie gegen die Wahrnehmung zu kontrastieren,
bei der in unmittelbarer Einstellung keine Verdopplung vorliegt..
Es hat sich also ftir die Wahrnehmung eine völlig verschiedene Struktur ergeben, je nachdem man sie vom Stand-
37
punkt der unmittelbaren oder der naturalistischen Einstellung
aus betrachtet, und zwar als Folge der verschiedenen Strukturantiken des Wahrnehmungsaktes: Bei der naturalistischen Einstellung eine Verdopplung des Gegenstandes in wirklichen Gegenstand und Bild, verbunden
durch einen kausalen Prozeß vom Gegenstand zu der
Vorstellung hin; bei der unmittelbaren Einstellung ein
Gegenstand, der durch einen Subjektsakt erfaßt wird.
So finden sich auch in allen philosophischen Systemen,
die konsequent eine einheitliche Einstellung einnehmen, je
nach ihrem Standpunkt, in der Analyse der Wahrnehmung
Verdopplung oder Nichtverdopplung des Gegenstandes.
Eine typische Umdeutung der naturalistischen immanenten Strukturantik in eine naturwissenschaftliche
Theorie zeigt sich bei Demokrit. Nach der immanenten Metaphysik des Naturalismus ist die Vorstellung ein Abbild des
Gegenstandes. Die einfachste naturwissenschaftliche Erklärung dieses Verhältnisses liegt dann vor, wenn man mit Demokrit annimmt, daß sich el'~wla, kleine Bilderehen von den
Gegenständen ablösen und in die Seele hineinwandern.
Besonders deutlich läßt sich der Gegensatz der naturalistischen und der unmittelbaren Wahrnehmungstheorien an der
Entwicklung der relativ einfach konstruierten Systeme der
englischen Empiristen verfolgen:
In den Grundlagen seiner Anschauungen huldigt Locke
der naturalistischen Einstellung. Er beginnt daher folgerichtig
seine Analyse der Ideen: , Erstens bringen unsere Sinne gemäß der mannigfachen Art, wie Gegenstände auf sie einwirken, eine Mehrzahl unterschiedener Wahrnehmungen ins
Bewußtsein. Auf diese Weise kommen wir zu den , Ideen c,
die wir von gelb, weiß, wärm, kalt, weich, hart, bitter, süß
und allem dem, was wir sinnlich wahrnehmbare Eigenschaften
nennen, besitzen. Von ihnen sage ich: Die Sinne bringen sie
uns ins Bewußtsein; indem ich meine: sie bringen von äußeren Gegenständen das ins Bewußtsein, was in ihnen solche
Wahrnehmungen hervorruft« (Locke, Über den menschlichen Verstand, 3· Kap., § 3). Das ist ganz naturalistisch
gedacht im Sinne der kausalen Verdopplungstheorie.
Berkeley hingegen weiß, vom Standpunkt der unmittelbaren Einstellung aus, mit solcher Verdopplung nichts anzufangen. Er bringt nicht etwa Argumente gegen die Verdopplung vor; er wiederholt immer nur fast Seite für Seite, daß
er keinen Unterschied finden könne zwischen Vorstellungen
und Dingen. Man merkt seinen Ausführungen deutlich an,
daß er überhaupt nicht recht begreift, wie Locke zu einer
solchen absurden Meinung, wie es nach Berkeleys Meinung
die Verdopplungsanschauung ist, hatte kommen können;
Berkeley vermag sich überhaupt nicht in die ihm fremde naturalistische Einstellung hineinzuversetzen.
Für Hume endlich ist die naturalistische Abbildtheorie
überhaupt kein Problem mehr; er setzt sich nicht mehr mit
Locke auseinander - das hat Berkeley bereits für ihn getan.
Abbildverhältnis besteht für ihn nur noch zwischen impressions und ideas, zwischen dem unmittelbaren Eindruck u~d
der abbildenden Vorstellung im Sinne der Vergegenwärtigung
eines jetzt nicht sinnlich anschaulich Vorhandenen. (Wobei
Hume freilich den phänomenalen Abbildcharakter der Vorstellungübersieht und nur das tatsächliche Abbildungsverhältnis berücksichtigt. Die , Ideen c werden einfach als
,abgeblaßte«:, ,schwächere« Impressionen gefaßt.)
Wie Hume, so hat bisher noch jede Philosophie, die strikt
vom , Gegebenen c ausging, die Verdopplung von Vorstellung und Gegenstand in der Wahrnehmung zurückgewiesen
(die phänomenologische Schule, Scheler, Mach, die Mehrzahl der Immamenzphilosophen).
3, Die Abbildtheorie der Wahrheit.
Von solch verschiedener Deutung der Wahrnehmung her
erwachsen auch für die beiden Einstellungen entgegengesetzte
39
Anschauungen darüber, wann ein Gegenstand der Außenwelt , richtige aufgefaßt ist, und wann nicht.
Zunächst werde die Richtigkeitstheorie der n a tu r a 1is t i s c h e n Einst e 11 u n g diskutiert: Nach der naturalistischen Einstellung ist die richtige Auffassung eines Gegenstandeseine Relation zwischen Vorstellungund Gegenstand:
Gibt eine Wahrnehmungs-Vorstellung den Gegenstand richtig
wieder, so ist die Auffassung des Gegenstands richtig (Konformi tätstheorie).
Wann aber ist die Wiedergabe eines Gegenstandes durch
die Wahrnehmung eine richtige? Entweder dann, wenn die
Vorstellung den Gegenstand naturgetreu abbildet, oder
wenn doch wenigstens die Vorstellung dem Gegenstand in
einer eindeutigen Weise zugeordnet ist, ihm eindeutig
korrespondiert. Danach lassen sich innerhalb der Konformitätsanschauung Abbildungstheorie und Korrespondenztheorie unterscheiden.
Die Abbildtheorie der richtigen Vorstellung wird
zu einer Abbildtheorie der Wahrheit des Urteils erweitert.
Zull.ächst besagt die Abbildtheorie nur: Eine Wahrnehmungsvorstellung oder Erinnerungsvorstellung ist dann und
nur dann richtig,, wenn sie den Gegenstand so abbildet, wie er
wirklich ist. Die Wahrnehmungsvorstellung (und die Erinnerungsvorstellung) eines grünen Baumes ist nur dann richtig,
wenn der Baum auch in Wirklichkeit grün ist.
Ein Urteil jedoch ist für die übliche naturalistische Anschauung eine Verbindung von Vorstellungen oder stützt sich
zum mindesten auf eine Verbindung von Vorstellungen. Im
Urteil: Der Baum ist grün, werden danach die Vorstellung des
Baumes und die Vorstellung des Grün verbunden. Demgemäß
ist nach der Abbildtheorie das Urteil: , Der Baum ist grün c
dann wahr, wenn diese Vorstellungsverbindung die Wirklichkeit abbildet. Es besteht dabei für die naturalistische Einstellung kein Unterschied zwischen Wahrnehmungsurteil und
ErinnerungsurteiL In beiden Fällen ist für sie eine abbildende .
40
, Verdopplung c des Gegenstandes in der Vorstellung gegeben. In einem Fall wird auf Grund der Wahrnehmungsvorstellung, die den grünen Baum abbildet, das Urteil gefallt, im anderen Fall auf Grund der Erinnerungsvorstellung.
Es gibt auch innerhalb der u n mit t e 1baren Einstellung
bestimmte Sondererscheinungen, die einer Abbildtheorie der
Wahrheit huldigen. Doch ist ftir die unmittelbare Einstellung eine solche Abbildtheorie der Wahrheit nur möglich,
wenn es sich um Urteile handelt, die sich nicht aufunmittelbar Wahrgenommenes beziehen, sondern um Urteile, die
an Vergegenwärtigungen eines Früheren anknüpfen. Denn:
sehe ich den grünen Baum (stelle ihn nicht bloß vor), so liegt
für die unmittelbare Einstellung keine Verdopplung vor und
danach auch ':keine Abbildung. Dagegen würde ein Urteil:
»Der Baum auf der Höhe des Hügels, den wir gestern besuchten, ist trotz der frühen Jahreszeit schon grün c, auch
von seiten d~r unmittelbaren Einstellung eine Abbildungsinterpretation zulassen. Es muß dann behauptet werden: das
Urteil werde stets auf Grund einer anschaulichen Vergegenwärtigung des gestern Gesehenen gefallt.
In der üblichen Definition der , Wahrheit« spielt die Abbildtheorie eine große Rolle. Sie ist diejenige Auffassung
der Wahrheit, auf die man stößt, wenn man überhaupt beginnt, über das Problem der Wahrheit nachzudenken. Dort,
wo die Abbildtheorie im populären Denken als selbstverständlich vorausgesetzt wird, wirft man meist die , reale c
Abbildtheorie der naturalistischen Einstellung mit der phänomenal-realen der unmittelbaren Einstellung zusammen;
man denkt bei ,Abbild« ungeschieden an die reale Abbildung eines Gegenstands durch die Wahrnehmung nach naturalistischer Anschauung, und an die Tatsache, daß jede Vorstellung in sich das Abbild eines Gegenstandes darstellt.
Nicht viel anders pflegt es sich bei der philosophischen Abbildtheorie zu verhalten. Es kann jedoch hier nicht aufEinzel41
ausführungen der Abbildtheorie eingegangen werden, da
diese philosophische Theorie meist noch von weiteren philosophischen und psychologischen Vorgriffen mitbestimmt ist,
die in diesem Zusammenhang nicht erörtert werden dürfen.
4· Die Korrespondenztheorie der Wahrheit.
Die Abbildtheorie (sei es, daß sie der naturalistischen,
sei es, daß sie der unmittelbaren Einstellung entstamme),
macht eine doppelte Voraussetzung:
1. Daß bei Urteilen über sinnlich wahrnehmbare Gegenstände die Vergegenwärtigung dieser Gegenstände in sinnlich anschaulicher Form erfolgt. Daß also, wenn das
Urteil gefällt wird: Der Schnee ist weiß, im Bewußtsein des
Urteilenden sich eine Vorstellung weißen Schnees einstelle.
Diese Grundlage der Abbildtheorie ist für den Fall der vergegenwärtigenden Vorstellung heute aufgegeben. Seit Galtons Versuchen, der nachwies, daß bei der Vorstellung oft
gesehener Gegenstände (etwa des täglichen F rühstückstisches)
sich nicht ein ausgeführtes Bild des Frühstückstisches einzustellen braucht, während doch richtige Urteile über die
Tassen, die Teller usw. gefällt werden können; seit Einführung
des Begriffes des , Meinens c und der , leeren c Intention in die
Urteilstheorie durch die Brentanoschule; seit den Experimenten Bühlers über , Gedanken c ; seit der Einführung des Begriffes der unanschaulichen Gegebenheiten in der Külpeschule
usw. ist dieser Form der Abbildtheorie der Boden entzogen.
Es läßt sich nur in engumgrenzten Fällen die Behauptung
aufrecht erhalten, daß, auch bei ,richtigere Vergegenwärtigung eines wahrnehmbaren Gegenstandes, eine sinnlich
anschauliche Vergegenwärtigung eine Abbildung des
Wirklichen sei.
Die naturalistische Einstellung kann, nach dem Wandel
der Anschauungen über den Charakter der Vorstellungen;
die Abbildtheorie der Wahrheit - wenn überhaupt - nur
noch für W ahrn ehm un gs urteile aufrechterhalten, da allgemeinnurimFalleunmittelbarerWahrnehmungvoneinerAbbildung des Gegenstandes durch die Wahrnehmung gesprochen
werden kann. Die unmittelbare Einstellung hingegen muß
aufjedenFall dieAbbildungstheorieals prinzipielle Theorie
aufgeben: Bei der Wahrnehmung fehlt für sie die Verdopplung, die die Grundlage jeglicher Abbildung ist, und bei der
vorstellenden Vergegenwärtigungist die anschauliche Vergegenwärtigung ein Ausnahmefall.
2. Allein auch die Abbildtheorie der Wahrnehmung,
wie sie der naturalistischen Einstellung naheliegt, hat im
Laufe der Zeit Bedenken hervorgerufen: Nur der naive Realismus des gewöhnlichen Lebens setzt voraus, daß die Wahrnehmung ein getreues Konterfei der Wirklichkeit sei; die
exakten Naturwissenschaften ersetzen den naiven Realismus durch einen kritischen. Für sie sind die Wahrnehmungen nicht länger vollkommene Abbilder der Dinge,
sondern je nachdem: Zeichen, Symbole, Repräsentanten. Nur
den primären Qualitäten (Lage, Größe, Bewegung usw.) ent·
spricht ein Abbild in der Wahrnehmung, nicht aber den
sekundären Qualitäten, wie Farbe, Ton, sauerusw. Es existiert
für sie in der Außenwelt keine anschauliche Farbe Rot, keine
Rotqualität, sondern einzig atomistische Strukturen bestimmter Art. Der Behauptung: Die Wahrnehmung der roten
Nelke sei ,richtige, liegt daher ein anderer Richtigkeitsbegriff zugrunde als der, welcher der Abbildungstheorie des
naiven Realismus entspricht. An Stelle der Abbildungstheorie
tritt eine bloße Korrespondenztheorie. Gegenstand .und
Vorstellung stehen nicht im Verhältnis von Urbild und Abbild, sondern von Gegenstand und adäquat erzeugter Vorstellung: Wenn die reale Nelke im Garten die Fähigkeit besitzt,
Lichtstrahlen von der Wellenlänge 700 pp zurückzustrahlen
und die Wahrnehmungsvorstellung die anschauliche
Rotqualität besitzt, so gilt die Wahrnehmungsvorstellung
als adäquat erzeugt.
43
Was heißt das: Eine Wahrnehmung sei adäquat erzeugt?
Es besagt z. B.,daß beinormaler Beleuchtungund normaler
Beschaffenheit des Auges, normaler Zuleitung zum Gehirn
als Reaktion auf die Wirkung eines Gegenstandes, der Licht
von der Wellenlänge 700 pp zurückstrahlt, eine Wahrnehmungsvorstellung: »Rot c erfolgt. Eine adäquate, d. h. unter
normalen Bedingungen erzeugte Vorstellung ist >richtig c;
die Wahrnehmung ist dagegen »unrichtig«, wenn etwa bei
der Dämmerung, also unter nicht-normalen Bedingungen, die
Nelke als schwarz wahrgenommen wird, das Wahrnehmungsbild also inadäquat erzeugt ist.
Theoretisch ist der Begriff der ~normalen« , der >adäquaten c Erzeugung schwer ganz exakt zu fassen. Man müßte alle
Bedingungen der Normalität genau erforschen, die einzelnen
Momente exakt herausarbeiten, die zur normalen Beleuchtung gehören usw. Die praktische Verwertbarkeit des Begriffes der normalen Erzeugung wird durch solche theoretische Schwierigkeiten nicht beeinträchtigt; es ist in den
wenigsten Fällen ein Zweifel darüber vorhanden, was ,normal ( ist und was nicht.
Durch zwei Momente wird diese Feststellung der Normalität erleichtert: Einmal braucht man nicht etwa auf die
theoretische Grundlage- Lichtschwingungen von derWellenlänge700pp-zurückzugehen, umfestzustelle?, was :nor?Iale
Bedingungen« für die Auffassung des Rot smd; wtr wtssen
aus der Erfahrung des praktischen Lebens, was normale
Beleuchtung ist, aus welcher Entfernung wir den Gegenstand
in seiner richtigen Farbe zu sehen pflegen usw. Wenn auf
diese Weise die Normalität festgelegt ist, wird umgekehrt
nun die Wellenlänge der Lichtstrahlen aufgesucht, die dieser
,normalen« Farbe entspricht. Es stelle sich heraus, sie
betrage 700 pp. Und nun schließt man wieder umgekehrt:
Wenn der Gegenstand, der Lichtstrahlen von der Wellenlänge 7oo pp reflektiert, die Wahrnehmung >Rot« erzeugt,
dann liegen normale Bedingungen vor.
44
Auf diesen Begriff der adäquaten Erzeugung als des
Correlats der Richtigkeit stützt sich nun auch der Wahrheits. begriff der Wahrnehmungsurteile bei der kritischen _na.turalistischen Einstellung: Ein Wahrnehmungsurtetltst
dann wahr, wenn die betreffende Wahrnehmung
adäquat erzeugt ist.
Die Situation ist nicht ganz einfach: Strenggenommen
dürfte von >richtiger« Wahrnehmung, von ~Wahrheit« der
Wahrnehmung überhaupt nicht gesprochen werden .. Kausale Prozesse kennen nicht den Gegensatz von W ahrhett und
Falschheit von Richtigkeit und Unrichtigkeit. Licht von der
Wellenlän~e 700 pp erzeugt das eine Mal unter ~10rmalen
Bedingungen den Eindruck Rot, unter anderen Bedmgungen
Schwarz· beides ist kausal eine gleicherweise >richtige« Erzeugung~ Erst das Urteil bezieht, nach naturalistischer Anschanung das wahrgenommene Rot oder das wahrgenommene Schwarz auf den Gegenstand; und erst jetzt kann von
Richtigkeit oder Unrichtigkeit die Rede sein.
Deshalb darf die Korrespondenztheorie, wenn sie konsequent sein will zwar von einer »adäquat erzeugten«, aber
nicht von einer ;richtigen« Wahrnehmung sprechen; Richtigkeit und Wahrheit kann für sie erst im Urteil zustandekommen. Dagegen hat Richtigkeit einer Wahrnehmung sowohl für die Abbildtheorie einen guten Sinn, wie auch ftir
die noch zu besprechende Deckungstheorie der unmittelbaren Einstellung.
Man wird erstaunt sein, daß trotz der naturalistischen
Einstellung der exakten Naturwissenschaften der Richtigkeitsbegriff, der sich auf die adäquate Erze~gu~g st?t~t, auch
von denjenigen Denkern nicht herausgearbeitet 1st, dte thre Erkenntnistheorie an die exakten Naturwissenschaften anknüpfen
-geschweige denn, daß man versucht ~ätte, diesen Begri~ der
adäquaten Erzeugung exakt zu analysteren. D~r Grund he~t
darin daß - meines Wissens - nirgends dte Erkenntmstheorie den naturalistischen Standpunkt rein durchgehalten
45
hat. Man hat entweder den pragmatistischen Wahrheitsbegriff in die naturalistische Einstellung mit hineingenommen
oder die Grundlagen der Naturwissenschaften idealistisch
umgedeutet. Auch dort, wo der Realismus der Naturwissenschaften festgehalten wurde, hat man nicht die Konsequenzen
im Sinne der naturalistischen Korrespondenztheorie für den
Wahrheits- und Richtigkeitsbegriff gezogen. So verbreitet
~ie ~bbildtheorie von Richtigkeit und Wahrheit ist, so wenig
tst dte Korrespondenztheorie der Wahrheit und Richtigkeit
akzeptiert worden. Von den Gründen, die zu solchen Inkonsequenzen geführt haben, wird später noch zu sprechen sein.
5· Die Deckungstheorie der Wahrheit.
Für die unmittelbare Einstellung liegt das Wahrheitsproblem anders als für die naturalistische Einstellung. In der
unmittelbaren Einstellung tritt die Abbildtheorie der Wahrheit in den Hintergrund. Nur einige Sonderausprägungen
der unmittelbaren Einstellung - so wurde gezeigt - haben
sich die Abbildtheorie der Wahrheit zu eigen gemacht. Und
zwar auch nur für solche Urteile, die sich auf Erinnerungen
an Vergangenes stützen; nicht für die Wahrnehmungsurteile.
Allein auch für solche Urteile konnte die Abbildtheorie nicht
rein durchgeführt werden.
Die eigentliche Konsequenz der unmittelbaren Einstellung
geht nach anderer Richtung: Die Richtigkeit einer Wahrnehmung kann für sie weder in der Abbildung des Gegenstandes durch die Wahrnehmung noch in der Korrespondenz
von Wahrnehmungsvorstellung und Gegenstand liegen. Die
Voraussetzung beider Anschauungen: >Die Verdopplung
des Gegenstandes« ist für sie nicht gegeben. Die Wahrnehmu~g ist vielmehr für sie dann und nur dann richtig,
wenn ste den Gegenstand gerade so erfaßt ' . wie er
.tst;
wenn der Gegenstand, wie er ist und wie er wahrgenommen wird, sich decken (Deckungstheorie). Auch hier
46
bedeutet richtiges Wahrnehmen eine Relation; aber nicht
zwischen Gegenstand und Vorstellung, sondern zwischen dem
Gegenstand, wie er ist, unddem Gegenstand, wie er erfaßt
wird. Das Erfassen, das Meinen des Gegenstandes ist ein
Plus gegenüber dem bloßen Sein des Gegenstandes, ohne
daß dieses Plus in einer Wiederholung des Gegenstandes
besteht.
Zu allen Zeiten haben Denker die Richtigkeit der Wahrnehmung, die > Wahrheitc: der Wahrnehmung in d!esem
Sinne gefaßt; am schärfsten ist diese Deckungstheorie der
Wahrnehmung von Husserl herausgearbeitet worden.
Gerade an dem Begriff der , Richtigkeit der Wahrnehmungc läßt sich der Gegensatz immanenter Strukturantik
und transzendenter Strukturmetaphysik deutlich machen.
Die immanente Strukturontik, sowohl der naturalistischen,
als auch der unmittelbaren Einstellung ist realistisch: Eine
reale Welt wird bei beiden zugrunde gelegt. Von einer transzendent-idealistischen Anschauung aus hingegen verlieren
alle Richtigkeitsbegriffe, die wir analysiert haben, ihre Geltung: Wenn der Gegensatz zwischen einer realen Außenwelt
und dem Psychischen (naturalistische Einstellung) oder der
Gegensatz zwischen einer realen Außenwelt und dem auffassenden Bewußtsein {unmittelbare Einstellung) nicht existiert, so kann die Richtigkeit einer Wahrnehmung, weder
in einer Abbildung der Wirklichkeit, noch in einer Korrespondenz mit der Wirklichkeit, noch im Erfassen der
Wirklichkeit gesucht werden. Der Gegensatz von Wirklichkeit und Unwirklichkeit fallt bei einer idealistischen Auffassung ins Bewußtsein selbst; es fehlt daher ein transzendenter Maßstab für die Richtigkeit einer Wahrnehmung.
Nur zwei Möglichkeiten bestehen für die konsequent denkende transzenden t-idealis tischeAnschauung: Entweder
wird der Maßstab der Richtigkeit der individuellen Wahrnehmung in dem Verhältnis zur, Wahrnehmungc eines überin d i v i du e 11 e n Wesens gesucht. Der Maßstab der Rich-
47
tigkeit, der ftir den immanenten Realismus in der Beziehung
zu einer objektiven Wirklichkeit gegeben war, wird nun in
der Beziehung auf die >Gedanken Gottes c oder auf ein
> überindividuelles Bewußtsein« gefunden. In primitiverForm
findet sich eine solche Anschauung etwa bei Berkeley, in
geläuterter und ins Erkenntnistheoretische gewandter Form
in der Annahme eines , Bewußtseins überhaupt c im Kantianismus.
Läßt man jedoch so wo h 1 den Maßstab einer festen
Realität, wie auch eines richtunggebenden , Bewußtseins
überhaupt c fallen, so fehlt jeglicher über die Vorstellungen
selbst hinausgehender Maßstab. Man muß dann das Kriterium von Wahrheit und Falschheit in den Beziehungen von
Wahrnehmungen und Vorstellungenuntereinander suchen.
So haben denn meist die idealistischen Theorien die w i d erspruchslose und gesetzmäßige Verknüpfung der Wahrnehmungsinhalte untereinander zum Gradmesser der Wirklichkeit erhoben.
Nach dieser Anschauung ist die einzelne Wahrnehmung
in bezug aufRichtigkeit und Unrichtigkeit an der Gesamtheit
der übrigen Wahrnehmungen zu messen; die einzelne Wahrnehmung in ihrer Isolierung betrachtet, ist weder wahr noch
falsch - sie ist einfach da. Erst von dem Gesamtsystem der
Vorstellungen und Wahrnehmungen aus erhält sie den Index
der Richtigkeit oder Unrichtigkeit; erst aus dem Zusammenhang der Gesamtwelt ergibt sich, ob der Baum, den ich sehe,
eine Halluzination ist oder nicht, ob die anschauliche Farbe
einereale Gegenstandsbestimmtheit darstellt oder bloß subjektiver Natur ist. Nachdem durch Berkeleys esse est percipi für
allen subjektiven und transzendentalen Idealismus jegliche
Konformitäts- .oder Deckungstheorie der Wahrheitstheorie
unmöglich geworden war, hat sich für die idealistischen
Theorien immer mehr der Wahrheitsbegriff in die Übereinstimmung der Vorstellungen miteinander zurückgezogen.
K an t zwar war sich noch wohl bewußt, daß es sich hier
um eine metaphysische Theorie handele, die »Namenserklärung der Wahrheit« (d. h. in Wirklichkeit: die unmetaphysische, rein sachliche ~?terpretation der Wahrheit) bestand auch für ihn in der Ubereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande (Kritik der reinen Vernunft,
B. 82), aber die neukantischen und konszientialistischen Interpretationen der Wahrheit nehmen die Wahrheit sofort
vom Standpunkt ihrer metaphysischen idealistischen Deutung der Welt als Übereinstimmung der Gedanken
untereinander.
In der Lehre vom >Bewußtsein überhaupt« pflegen sich
diese beiden idealistischen Deutungen zu treffen: Die Wahrheit wird gedeutet als Übereinstimmung der Vorstellungen
mit einem überindividuellen Bewußtsein, das zugleich
als Norm der Übereinstimmung der Gedanken untereinander aufgestellt wird.
6. Die Wahrnehmung und der Leib.
\'..
I
In großen Zügen werden auch die Meinungen über die
Bedeutung des Leibes für die Wahrnehmung (und ebenso
fur das Wollen) durch den Gegensatz der naturalistischen
und der unmittelbaren Einstellung bestimmt.
Aus der naturalistischen Einstellung ergibt sich eine
einfache Lösung des Leib-Wahrnehmungsproblems: Das
Psychische wird im Zusammenhang mit dem Gehirn erzeugt;
der Leib ist eine Durchgangszone des psychophysischen Kausalprozesses, nicht anders als die elektromagnetischen Lichtwellen. Die prinzipiellen Schwierigkeiten des Wahrnehmungsvorganges liegen nicht be!!ll Leibe als Glied des kausalen
Prozesses, sondern beim Ubergang vom Gehirn zum Psychischen und umgekehrt.
Die unmittelbare Einstellung .bedarf weit komplizierterer Gedankengänge, um sich das Verhältnis von Wahrnehmung und Leib verständlich zu machen. Die Wahrneh49
mung hat für sie eine doppelte Seite: Das Subjekt muß
durch das wahrzunehmende Objekt affiziert, zum Wahrnehmen angeregt werden; und auf Grund dieser Affektion,
dieser Anregung ergreift das Subjekt das Objekt in der
Wahrnehmung. Man kann demgemäß die Wahrnehmungstheorie entweder so ausbauen, daß der Leib in den Affektionsprozeß oder daß er in den Vorgang des Ergreifens
des Objekts durch das Subjekt eingeschaltet wird; entweder
in den Weg vom Objekt zum Subjekt oder in den Weg
vom Subjekt zum Objekt. (Meist ist man sich jedoch über
diese Alternative nicht klar und verwertet beide Möglichkeiten
nebeneinander.) Nimmt man den Leib in den Affektionsprozeß mit hinein, so schließt man sich mehr oder weniger
eng an eine modifizierte naturalistische Anschauung an: Das
Objekt regt durch den Leib, durch die Sinne hindurch das
Subjekt an, das Objekt unmittelbar zu ergreifen.
Wenn man den Leib hingegen ftir den Weg vom Objekt
zum Subjekt hin in Anspruch nimmt, so kann man auf diese
Weise zwar eine Lösung des Wahrnehmungsproblems proponieren, nicht aber - von der unmittelbaren Einstellung
aus- dem Willensproblem nahekommen. Zum Verständnis
des Wollens muß der Leib zwischen Subjekt und Objekt in
der Richtung auf das Objekt hin eingeschaltet werden;
das Subjekt muß mittels des Leibes seine W ollungen in
Handlungen umsetzen, damit die gewollte Veränderung in
der äußerenWelterreicht wird. Demgemäß liegt es nahe, dann
·auch für die Wahrnehmung eine Anschauung zu versuchen,
bei der der Leib eine Rolle in der Subjekt-Objektrichtung
beim Ergreifen des Objekts durch das Subjekt spielt. In
diesem Falle aber wird die Beziehung zwischen Wahrnehmung und Leib, wie auch zwischen Wollen und Leib schwer
interpretierbar. Der Leib wird jetzt zu einem zwischengeschalteten Vermittlungsorgan, zu einer unerläßlichen Bedingung, um das Ergreifen des Objekts zu ermöglichen.
Wie diese Vermittelung zu denken ist, darüber sagt die
so
unmittelbare Einstellung nichts. Auch mit den üblichen Relationsbegriffen, wie Kausalität, Mittel usw. ist diesem Verhältnis von Subjekt und Wahrnehmung nicht beizukommen:
Man hilft sich mit Vergleichen. Das Subjekt ist der Steuermann, der das Schiff des Leibes lenkt (Plato), der Leib ist
.ein Organ der Seele (eine Anschauung, wie sie von Platin
bis zur Romantik in einem breiten Unterstrom das Denken
über die Seele durchzieht); oder der Leib ist ein , Analysator« für die Außenweltsgegebenheit, eine einschränkende
Bedingung ftir die Wahrnehmung des realen Seelenlebens c
(Scheler 1).
Da das Subjekt im wahrnehmenden Ergreifen des Objekts, wie in der willensmäßigen Betätigung ein aktiver
Faktor ist, so liegt es ftir die unmittelbare Einstellung nahe,
das Seelische, die Subjektsaktivität als ein Bewegungsprinzip zu deuten. Gegenüber dem Körper ist das Seelische
das Bewegende, das Lebendige. An Stelle der naturalistischen Zweiteilung Physisches-Psychisches tritt jetzt die Zwei1 ) Ich kann es mir nicht versagen, eine physiologische Anschauung in ex·
tenso wiederzugeben, die im Gegensatz zu unserer heutigen naturalistischen Deu·
tung des.Wahrnehmungsprozesses, rein von der unmittelbaren Einstellung aus
an das WahrnehmungsP.roblem herangeht. In des Nicolaus Cusanus liber de
mente (zitiert nach der Übersetzung von Heinrich Cassirer in Ernst Cassirers
»Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance« S. 254-256)
wird der Philosoph gefragt, wie sich die Physiker das Entstehen der Empfin·
dungen denken, und er gibt folgende charakteristische Auskunft: »Die Phy·
siker sagen, daß die Seele mit einem ganz feinen Lebensgeist gemischt sei,
welcher durch die Adern zerstreut sei, und zwar so, daß jener Lebensgeist das
Vehikel der Seele ist ... Es ist also der Lebensgeist ... ein Werkzeug der
Seele, vermöge dessen sie den Gesichtssinn zur Ausübung bringt . . . Der
Lebensgeist aber, der zum Auge gelenkt wird, ist von höchster Beweglichkeit.
Vilenn er also ein störendes Hindernis von außen vorfindet, wird er zurück·
getrieben, und die Seele wird dazu bewogen, dasjenige, was hinderlich ist, zu
betrachten ... Der Umstand, daß sich die Augenstrahlen so kräftig, so fein
und scharf auf die Luft richten, bewirkt, daß die Luft dem Auge weichen muß,
und daß nichts ihm widersteht außer dem Groben der Erde und des Wassers.
Da also jener Lebensgeist ein Werkzeug der Sinne ist, so sind Auge, Nase
und die andern Sinneswerkzeuge gleichsam Fenster und Wege, auf denen.
jener Lebensgeist den Ausgang zum Wahrnehmen findet. • Hier ist alles, völlig
im Sinne der unmittelbaren Einstellung, derart gedeutet, daß das Wahrnehmen
sich als Subjektsaktivität darstellt. Das Subjekt schickt die Augenstrahlen aus,
die auf ein Hindernis stoßen und in das Subjekt zurückkehren.
SI
teilung Körperliches-Lebendiges: Das Seelische wird
damit ein Unterfall! eine Ausformun_g des Lebendigen. So
~at mehr.oder w_emger bewußt beretts die ganze voraristotehsche Phdosophte das Problem des Seelischen gesehen (mit
Ausnahme des naturalistischen Demokrit, bei dem diese Anschauung jedoch ebenfalls anklingt); bewußt hat sie Aristoteles ausgebaut, und überall, wohin sein Einfluß reichte im
Mittelalte.r, wi~ in ~er n~ue~ten Philosophie (Bergson, Drie~ch,
Scheler) 1st dte v 1t alt s t 1s c h e Auffassung des Seelischen
grundlegend für die unmittelbare Einstellung geblieben.
Umgekehrt besteht ftir die naturalistische Einstellung die
Tendenz, das Leben in das Mechanische aufzulösen und das
Seelische avitalistisch, rein zuständlich inaktiv zu fassen
(Demokrit, Descartes in den naturalisti~chen Teilen seines
~ystems, der Naturalismu~ des rg. Jahrhunderts). Jener beruhmte Zus~mmenstoß zwtschen den Anhängern der Lebensk~~ft. und thren Gegnern auf der Naturforschertagung in
Gottmgen I 8 54 war in letzter Linie ein Zusammenstoß
z':"ischen den beiden Einstellungen, und er mußte mit dem
St~g der G~gne~ des Vitalismus (Du-Bois Reymond) enden,
wed nun dte Zett der naturalistischen Einstellung ge·
kommen war.
. Die. vftal!stfsche N~igung der unmittelbaren Einstellung,
d!e an~tvtt~hsttsche Netgung der naturalistischen Einstellung
smd mcht m dem Maße zwingend daß sie nicht noch Raum
f~r diese Neigungen durchkreuze~de Tendenzen ließen. So
gtbt es z. B. einen Vitalismus, der nicht aus der unmittelbaren Einstellung stammt und sich deshalb ohne Inkonsequ~nz. mit ~er naturalistisc~en Einstellung vereinen läßt:
Rem •.nnerwtssenschaftliche Uberlegungen haben eine Reihe
vo~. Btologen ~m ~ie Jahrhundertwende zu der Überzeugung
gefuhr~, daß steh dte Zweckmäßigkeiten im Bau von Pflanzen
und Ttere~ und ebenso _die zweckmäßige Restitution von
Organen mcht ohne Zuhtlfenahme von Determinanten Entelechien, zielstrebigen Lebenskräften erklären ließen. S~lche
52
Anschauungen können prinzipiell sehr wohl auf dem Boden
der naturalistischen Einstellung erwachsen; allein es ist bezeichnend, daß der Naturalismus sie nur zögernd und ungern annimmt, während Gedankengänge aus unmittelbarer
Einstellung sich leicht mit ihnen befreunden.
Mit dieser verschiedenartigen Stellung des Seelischen
zum Leib, je nach der Einstellung, ergibt sich auch eine verschiedenartige Interpretation, die die Bezeichnung ~mein Leib c:
für die jeweilige Einstellung gewinnt. Für die streng naturalistische Einstellung, die kein Subjekt als Strukturbestandteil der Welt kennt, wird die Einheit des Psychischen (die
bei der unmittelbaren Einstellung auf der Einheit des Subjekts beruht), letztlich nur durch die Einheitlichkeit des Leibes oder des Gehirns, an die das Psychische angeschlossen
ist, gewährleistet. So individualisiert hier nicht das Subjekt
den Leib, sondern der Leib umgekehrt dasjenige, was beim
Naturalismus dem Subjekt entspricht: das Psychische in
seiner Einheit. , Mein c Leib ist naturalistisch gesehen derjenige Leib, der bestimmten psychischen Erlebnissen die
Einheit gibt. Umgekehrt bei der unmittelbaren Einstellung:
Das Subjekt ist für sie in sich individuiert; und das Subjekt
bezeichnet den Leib, der ihm Kunde von der Außenwelt gibt,
der ihn zur Erfassung der Außenwelt anregt, und durch
dessen Vermittlung er die Welt erfaßt und sich in der Welt
betätigt, als >seinen« Leib.
Der Gegensatz in der Beurteilung des Verhältnisses von
Seele und Leib wird in den philosophischen Systemen nicht nur
durch das Verhältnis der jeweiligen Einstellung zum Problem
Wahrnehmung-Leib, Wille-Leib bestimmt, sondern auch
noch durch die Lösung anderer Probleme, die das SeeleKörperproblem mannigfach verschränken - Probleme, die
im 5. Kapitel zu erörtern sind.
53
;.KAPITEL.
DIE HALTUNGEN.
. Natu~alistische und unmittelbare Einstellung liefern nur
die Umrisse der Strukturontiken. Das Bild der Welt wird
im U~k;eis der u~mitte_lbaren Einstellung noch weiterhin
komphziert und differenziert durch drei verschiedene methodische Haltungen, die 1. als die strukturfixierende (abgekürzt die fixierende) oder auch objektivistische Haltu~g, 2. als die su?jektivistische oder perspektivistische und 3.als die Gegebenheitshaltung bezeichnet
werden sollen.
Die strukturfixierend-objektivistische und die
pers pekti vis tisch-su bj ektivis tis ehe Hai tung.
I.
Die strukturfixierende Haltung zeigt die Struktureines
Tatbestandes auf, so wieersiehnach der unmittelbaren Eins~ellung ergibt. So.ist etwa für die unmittelbare Einstellung
die Tatsache, daß .em Gemälde auf ein Subjekt wirkt, sein
Ge~allen erregt, em Wechselspiel zwischen Subjekt und
Ob~ek.t. Das Gemälde affiziert das Subjekt; das Subjekt ergreift Im Sehensakt das Gemälde; die gesehenen, wertvollen
Momente des Gemäldes affizieren ihrerseits wieder dieaffektive Seite des Subjekts, und das Subjekt reagiert mit einer
Stellungnahme des Gefallens. (Für die naturalistische Einstellung würde sich der Vorgang ganz anders darstellen:
Von der physischen Atomstruktur der Leinwand führt ein
kausaler Proze~ ~um G7hirn, es entsteht die Vorstellung des
K~ns.twer~s, dte ~hrerseits Gefallenserlebnisse erzeugt; natur~hst~sch hegt k~me Wechselwirkung vor, sondern ein einSinnig vom Objekt zum Psychischen laufender Prozeß.)
54
Bei dieser Analyse der Wechselwirkung zwischen Objekt
und Subjekt wurde weder Objekt noch Subjekt methodisch
bevorzugt; es wurde einfach fixiert, was nach der unmittelbaren Einstellung vorliegt; Objekt und Subjekt sind Gegenspieler. Allein sachlich liegt schoneinegewisse Bevorzugung
des Objekts vor dem Subjekt im Aufbau der Weltstruktur
selbst. Das Subjekt wird von der unmittelbaren Einstellung
als in der Objektwelt befindlich, als in die Objektwelt hineingestellt betrachtet. Die Sichtnahme erfolgt wesentlich vom
Objekt her. Deshalb wird im folgenden diese Haltung (wenn
der Gegensatz zur subjektivistischen Haltung im Vordergrund
steht) als objektivistische Haltung bezeichnet werden.
Bei der s u bj ekti vis tisch en Haltung hingegen (die ebenfalls ein Sonderfall der unmittelbaren Einstellung ist) stellt
man sich auf den Standpunkt des Subjekts und fragt: Wie
sieht vom Standpunkt des Subjekts die Welt aus? Diese
Haltung ist eine perspektivistische Haltung gegenüber der
Welt.
Der Unterschied von fixierend-objektivistischer und perspektivistisch-subjektivistischer Haltung möge an einer Reihe
von Beispielen klargemacht werden :
Zeit und Geschichtswissenschaft. In der fixierenden Haltung ist die Zeit eine subjektsunabhängige Linie,
eine Linie, die sich von Ewigkeit zu Ewigkeit erstreckt, und
ftir die der jetzige Zeitpunkt ein belangloser Punkt ist wie
jeder andere; von der perspektivischen Haltung au!i
wird die Zeit vom Standpunkt des die Zeit erkennenden
Subjekts aus betrachtet: Vom Subjekt aus gesehen ist das
>Jetzt« ein ausgezeichneter Punkt; das Subjekt sieht vom
Jetzt, von der Gegenwart aus rückwärts auf die Vergangenheit, vorwärts in die Zukunft. Gegenwart, Vergangenheit und
Zukunft sind perspektivisch ungleichwertig.
In der Geschichtswissenschaft finden sich diese Zeitauffassungen in merkwürdiger Verschränkung verwertet. Die
Gesamthaltung der Geschichtswissenschaft ist struktur-
55
fixierend: Die Eroberung von Babylon, die Kreuzzüge, der
30jährige Krieg, die französische Revolution, die historischen
Ereignisse des Jahres 20 I 7 sind ftir sie gleichwertig als Geschehnisse in der objektiven Zeit (wobei nur der jetzige Historiker das Pech hat, die Ereignisse des Jahres 20I 7 einem
später lebenden Kollegen zur Erforschung überlassen zu
müssen). All diese Ereignisse reihen sich ftir die Geschichtsforschung auf den Faden der objektiven Zeit auf. Die Geschichtsdarstellung hingegen ist im wesentlichen perspektivisch (soweit sie die Ereignisse nicht einfach konstatierend
nebeneinander stellt: erst geschah das, dann dieses, dann
jenes). Die eigentliche Geschichtsdarstellung versetzt sich in
einen bestimmten Zeitpunkt, sagen wir in das Jahr I 247. Sie
spricht davon, welches gerade ,jetzt' die historische Situation ist, welche Pläne Friedrich li. >ftir die Zukunft~ hat,
wie er die Einnahme von Parma durch die Guelfen wett
machen will, wie er die Blößen, die sich Innocenz IV. etwa
) bisher« gegeben hat, ausnutzen, und wie er den kommenden, gegen ihn gerichteten Anschlägen vorbeugen kann. Dann
aber wird rein fixierend geschildert, wie die Ereignisse ablaufen. Nun wiederholt s1ch dasselbe Spiel etwa ftir das
Jahr I 248: Die neue Situation wird zum Ausgangspunkt genommen für die Darstellung der neuen Überlegungen, Entschlüsse, Maßnahmen. (Die Stilkritik der Epik findet in diesem Ineinander von fixierender und perspektivischer Haltung
des Erzählers ein wertvolles charakterisierendes. Moment.)
Raum und Physik: Ähnlich läßt sich eine subjektivistische und eine objektivistische Haltung dem Raum gegenüber einnehmen. Wir beziehen im gewöhnlichen Leben letztlich alle Geschehnisse im Raum perspektivisch auf das >Hier c.
Die Lehre von der Raumperspektive wertet diese Stellungnahme aus; sie nimmt den Standpunkt des in den Raum
hineinschauenden Subjektes ein. Die Mathematik hingegen
betrachtet im allgemeinen den Raum als in allen seinen Teilen
gleichwertig: ein Punkt ist ihr so gut wie der andere.
In die Physik hat die perspektivische Haltung durch die
Relativitätstheorie ihren Einzug gehalten. Die Newtonsehe
Physik stellte die Subjekte in die objektive Welt eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit hinein; ftir die Relativitätstheorie hingegen erscheinen die Ereignisse von jedem
Beschauer aus Qe nach seinem Bewegungszustand) anders.
Die physikalischen Gesetze werden auf das Subjekt hin relativiert. Und wennEinstein in seinem > Weltgesetz' der Trägheit von der Relativität auf das Subjekt loszukommen sucht,
so ist doch der Unterschied gegenüber der früheren Physik
charakteristisch: es wird keine Formel gesucht, die, wie die
Gesetze der Newtonsehen Physik, vom Subjekt tatsächlich
unabhängig sind, sondern bei der die Abhängigkeit vom Subjekt dadurch unschädlich gemacht wird, daß die Formel ftir
den Bewegungszustand aller Subjekte in gleicher Weise
gilt: die Invariante der Perspektiven wird aufgesucht,
nicht ein aperspektivisches Gesetz.
Biologie: In derselben Weise zeigt die Biologie neue;dings einen Einbruch perspektivischer Gedankengänge m
die im ganzen aperspektivischeWissenschaft. Aperspektivisch
sind die schlichten Untersuchungen über Entwicklungsmechanik, über Vererbung, über die Beeinflussung psychischer und
physischer Eigenschaften durch das Klima, durch den Standort usw. Üxküll hingegen hat in seinen Forschungen bewußt
den perspektivischen Standpunkt eingenommen: Er hat auf
diese Weise festgestellt, daß die Umwelt des Tieres, dasjenige, was das Tier von der Welt erfaßt, durch das Interesse
seiner Lebenserhaltung, nicht durch die Intensität und den
Umfang der objektiven Reizwelt bestimmt ist usw. Er interessiert sich also für die , Umwelt« des Tieres; ftir die Welt,
wie sie in der Auffassung durch das Tier sich konstituiert.
Soziologie: Gleiche Gegensätze perspektivisch-subjektivistischen und aperspektivisch-fixierenden Denkens lassen
sich ftir die Soziologie aufstellen, obwohl hier in den Forschungen die Differenzierung im einzelnen noch nicht deut57
lieh greifbare Gestalt gewonnen hat: Hier wird z. B. der
Gegensatz von , Milieu c und ,objektivem Tatbestand einerseits«, von ,Umwelt« und >Situation« andererseits bedeutsam. Die Milieutheorie der goer Jahre, die materialistische
Geschiehtsauffassung erklären den Menschen und die sozialen
Geschehnisse aus den objektiv-sozialen, besonders den
wirtschaftlichen Bedingungen. Wenn etwa die materialistische
Geschiehtsauffassung behauptet, die deutschen Einheitsbestrebungen hätten sich mit Notwendigkeit aus der wirtschaftlichen Entwicklung von Handel und Industrie ergeben, die
auf ein großes durch keine Zollschranken durchbrochenes,
in Verwaltung und Wirtschaftsorganisation geeintes Reich hintrieb- so ist eine solcheErklärungwenigstens der Absicht
nach rein von den Objekten ausgehend, strukturfixierend
gemeint. Oder wenn die Milieutheorie (Comte, Taine)- und
programmatisch das Milieudrama und der Milieuroman den Menschen aus Milieu und angeborenem Charakter zu
verstehen suchen, so gehen sie rein objektivistisch vor. Man
nimmt die Sichtnahme vom Milieu her: das Milieu bewirkt
die Einheitsbestrebungen.
Soziologische Untersuchungen anderer Richtung visieren
umgekehrt die Welt vom Subjekt her: Es werden die sozialen Umwälzungen nicht rein wirtschaftlich-objektiv, sondern
aus nacherlebba~_en Gesinnungsänderungen der Individuen
begriffen. Der Obergang zu liberalen Gesellschafts- und
Staatseinrichtungen etwa wird als Niederschlag der inneren
Umwandlung der Menschen verstanden usw. usw. Die »verstehende c Soziologie (Max Weber) ist in wesentlichen Punkten
subjektivistisch eingestellt. Ebenso pflegt die übliche Biographie eines Einzelmenschen sich an die subjektivistisch nachlebende Darstellung der Geschichtswissenschaft anzuschließen;
sie versetzt sich auf den Standpunkt des Helden der Biographie, schildert, wie , Umwelteinflüsse « auf ihn wirken, die Erlebnisse ihn beeinflussen, wie die Situationen, in die er hineingerät, ftir seine innere Entwicklung wichtig werden usw. -
Der Gegensatz von strukturfixierend-objektivistischer
und perspektivisch-subjektivistischer Haltung bewegte sich
innerhalb einer gemeinsamen Strukturontik: Objekte und
Subjekte sind beide real; zwischen ihnen besteht eine Wechselwirkung: Objekte wirken auf das Subjekt, Subjekte auf das
Objekt. Daneben existiert gleichsam ein Überschuß auf seiten
des Subjekts. Das Subjekt erkennt, erfaßt das Objekt im
Wissen-das Objekt hingegen besitzt kein solchesWissen vom
Subjekt. DerUnterschied zwischen beiden Haltungen liegt
in der Parteilichkeit der subjektivistischen Haltung: Sie will
nicht einfach fixieren, was an sich vorhanden ist, sondern
vom Standpunkt des Subjekts aus das für das Subjekt Vorhandene fixieren. Allein auch diese Perspektiven
des Subjekts werden von der Wissenschaft und dem gewöhnlichen Leben als Perspektive einer wirklichen Welt
aufgefaßt. In jedem Momente sprechen wir subjektivistisch
von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; jedoch sollen
diese Zeitmodi nur Pointierungen innerhalb der objektiven
Zeit bedeuten, nicht ins Leere greifende Perspektiven, die
nicht Perspektiven von etwas sind. Der Historiker, der
sich in die Ereignisse des Jahres 1247 versetzt und nach
dem Aspekt der Welt in diesem Jahre fragt, sieht zugleich
diesen Aspekt eingebettet in die objektive Zeit. Der Biologe, der die Umwelt des Tieres untersucht, faßt diese Umwelt als einen Ausschnitt aus der Realität; der Relativitätsphysiker (solange er nur Physiker ist und nicht die
~hilosophie in seine Überlegungen hineinträgt) legt seinen
Uberlegungen eine reale Welt zugrunde; nur daß er (im
Gegensatz zur klassischen Physik) zu dem Ergebnis gelangt,
daß diese Welt nach der raumzeitlichen Seite hin für jeden
Beobachter je nach seinem Bewegungszustand verschieden
aussehen muß usw. usw.
Es ist ein erkenntnismethodisches Problem, wie man
es anfängt, von der subjektivistischen Perspektive zu der
Erkenntnis der objektiven Welt sich durchzuarbeiten: Denn
59
zunächst kennt jeder in jedem Moment nur die Perspektiven
dieses Moments: Man muß von dem Aussehen des Hauses
. es sie
. h von vorn, von hinten, von innen präsentiert zu'
wie
einer Gesamtanschauung des Hauses vordringen, zu einer
Anschauung, wie das Haus wirklich beschaffen ist. Man muß
sich aus den perspektivischen Zeitbildern aller momentanen
Jetzte. und aus. dem Rückblick auf die Vergangenheit, dem
Vorblick auf die Zukunft von diesen Jetzten aus, eine Gesamtanschauung des eigenen Lebens und der Geschehnisse
in ihm herausarbeiten: Es ist eine Synthese der perspektivischen Weltbilder vonnöten. Die Realität der Objekte
die Objektivität von Zeit und Raum ist dabei stets vor~
ausgesetzt. Dies so gewonnene räumliche und zeitliche
Bi~d ~rweitert sich durch persönliche Erfahrungen, durch
Mittedungen anderer) durch Traditionen. Das persönliche
L:eben. beginnt diese Erweiterung und objektive Fixierung,
die Wissenschaft geht weiter. Sie muß die perspektivischen
Bilder der verschiedenartigsten Menschen dazu benutzen
die objektive Realität herauszuschälen: Sie benutzt etwa di~
Memoiren Lord Greys, Paleologues, Kaiser Wilhelms li., die
Rot-, Weiß- und Blaubücher, die Zeitungen der Zeit und
hundert anderes, um, wie der Richter aus den Zeugenaussa~en, den .objektiven Verlauf des Beginns des Weltkriegs
fixierend wtederherzustellen. Der Mann der Naturwissenschaf~en stößt von den Einzelbeobachtungen, die seine Perspektiven darstellen - indem er sie miteinander konfrontiert - durch Induktion und Schlußfolgerungen, zu seiner
Realität, der Natur, vor: Immer ist das Problem dasselbe:
Die Haltung des einzelnen im Erleben.ist subjektivistisch
das Ziel ist, in objektivistischer Haltung die Wirklichkei~
zu fixieren, wie sie ist.
Die prinzipielle Untersuchung dieses Übergangs hat noch
nichts mit 1 Philosophie" im Sinne der Metaphysik zu tun.
Es ist ein Problem, das innerhalb der Strukturantik der
Wissenschaften bleibt.
6o
2.
Subjektivistische und Gege benhei tshal tung.
Die dritte Haltung der unmittelbaren Einstellung - die
Gegebenheitshaltung - teilt mit der subjektivistischen
Haltung den Ausgang vom Subjekt. Deshalb wird sie in
philosophischen und wissenschaftsmethodischen Überlegungen oft mit ihr verwechselt und vermischt. Allein in jeder
anderen Hinsicht, außer in dieser Sichtnahme vom Subjekt
her, ist sie der subjektivistischen Haltung diametral entgegengesetzt.
Die Gegebenheitshaltung fragt nicht: Wie sieht die objektive Welt für das Subjekt aus? Sondern: was ist dem
Subjekt gegeben, und wie ist es gegeben?
Es sei an einer Reihe von Beispielen der Unterschied
klargemacht: In subjektivistischer Haltung stelle ich fest:
vor mir steht ein Tisch; ich sehe ihn. Hinter mir zur Seite
steht ein zweites kleines Tischehen - ich sehe es nicht,
aber ich weiß, daß es dort steht; daß auf diesem Tisch eine
Zeitung liegt, vermute ich nur. So sieht ein kleines Stück
der objektivenWeltvon meiner Perspektive in diesem Augenblick aus. Hingegen weiß die Gegebenheitshaltung nichts
von einer objektiven Welt, sondern nur von Eindrücken.
Gegeben sind mir, wenn ich den Tisch sehe, einige anschauliche Eindrücke, die durch eine Intention auf den Tisch hin zusammengehalten sind: gegeben ist mir anschaulich nur
recht wenig vom Tisch. Es ist eine Frage der Gegebenheit,
wie die Härte des Tisches z. B. fiir mich da sei, - ob ich
sie sehe, ansehe, assoziiere oder wie sonst; wie das
»Tischsein ( von mir erfahren wird usw.
Entsprechend im Zeitlichen: Die perspektivische Haltung
und die Gegebenheitshaltung gehen beide von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aus. In beiden Fällen stelle
ich fest: Ich erinnere mich des gestrigen Spaziergangs, aber
die Gegebenheitshaltung fragt weiter: in Momenten welcher
Art ist mir die Erinnerung gegeben? In sinnlich anschau6I
liehen Bildern oder im bloßen Meinen? oder zum Teil anschaulich, zum Teil in leerer Erinnerung? In verschwommenen Bildern oder wie sonst? Und wie ist das Erinnern
selbst gegeben? Als bloßes Bewußtsein des >früher Erlebthabens c oder als »Vergegenwärtigung c, als >Einfühlung in
Früheres«? Wie ist mir die Zukunft gegeben? Als ,Erwartung«. (Corneliu~), als >Vorlaufen« (Heidegger)? usw. usw.
Em entscheidender Unterschied der perspektivistischen
und der Gegebenheitshaltung ist ihre Stellung zur Realität.
Zur Strukturontik der subjektivistischen Haltung gehört die
V~raussetzu~g der objektiven Realität; für die Gegebenhettsha_Itung Ist alles bloße , Gegebenheit«, also weder real
no~h mchtreal. Das Realitätsmoment ist selbst ein Gegebenhe~tsmoment: U~ter den Gegebenheiten, die zum Gegebenbettskomplex >Tisch c gehören, findet sich auch das »als realGegebensein c des Tisches. Er teilt dieses »als real«- Geg~benst;in ~~t _der Halluzination und der Täuschung. Für
dte subJe~t1Vlstische. Haltung ist es dagegen wichtig, ob etwas real Ist oder mcht -ob der Tisch nur Halluzination
~st; _dt;n~ die s~bjektivistische Haltung strebt stets zur objektivistisch-fixierenden hin; sie sucht von dem für ein Subje~t r_eal Vorhande~en zum Objektiv-Realen vorzudringen.
~ur ~Ie Gegeb~nhettshaltung hingegen sind die echte Halluz~nat~on und dte Wahrnehmung völlig gleichwertig, sobald
sie steh als Gegebenheiten nicht unterscheiden.
. Die Verw:chslu~g von ~ubjektivistischer und Gegebenh~ttshaltu~g heße sich an vielen Problemen aufzeigen, es sei
hter nur emes angeführt, bei dem auch noch überdies eine
philosophische Fragestellung hineinspielt: Das Problem des
Bewußtseins vom fremden Ich.
.. Diese~ Problem en~hält eine dreifache Fragestellung: Zun~chst et~e erk~nntms-theoretisch-philosophische: In
dtesem Smne w1rd gefragt: Mit welchem Recht wird die
Existenz fremder lche angenommen? Die subjektivist i sehe
Haltung stellt diese Frage nicht. Für sie sind die fremden
62
lche so gewiß existierend, wie die Welt der Objekte, und die
Rechtsfrage wird demgemäß hinfällig. Die subjektivistische
Haltung interessiert sich vielmehr dafür, mit Hilfe welcher
Erkenntnisquelle sich dasSubjektdes fremden Ichs wissend bemächtigt [etwa durch Einfühlung (Th. Lipps)]; oder durch
F remdwahrnehmung(Scheler) und was das Subjektdurch diese
Quellen vom fremden Ich erfahren kann (z. B., daß das fremde
Ich zornig ist, aber nicht, welches der letzte Einheitspunkt
seines Charakters ist). Die Gegebenheitshaltung endlich
fragt: In welchen Momenten welcher Art sind mir die
fremden Iche gegeben? Es muß analysiert werden, ob es
richtig ist, daß mir nur eigene Erlebnisse gegeben sein
können, die dann in den fremden Körper hineinprojiziert werden; es muß gefragt werden, in welchen Gegebenhe~ts­
momenten ist fremder Zorn für mich gegeben? Ist es eme
»Assoziation« oder eine »symbolische Intention«, in der der
Ausdruck des Zorns für mich im fremden Gesicht gegeben
ist? Sind Charaktereigenschaften, wie Güte, Bosheit usw. in
denselben anschaulichen Momenten gegeben, wie Affekte,
wie Zorn usw. usw.?
Diese drei Fragen: die Rechtsfrage, die Frage, wie
sich das fremde Ich dem Subjekt darstellt, und die Gege benhei tsfrage werdenimmerwieder verwechselt. Scheler
wirft der Einfühlungstheorie von Lipps vor, daß sie die Existenz
des fremden Ich voraussetze. Das ist in der Tat der Fall,
allein deshalb wäre sie noch nicht falsch, wenn sie nichts weiter
sein wollte als eine Angabe, wie man das fremde Ich erfaßt;
wie man ihm nahekommt. In Wahrheit freilich glaubt die Einfühlungstheoriedie Rechtsfrage beantworten zu können, ohne
dazu imstande zu sein; aber auch Scheler seinerseits schwankt
in seinen Untersuchungen zwischen der rein perspektivischen
Frage: Mit welchen Mitteln erfasse ich das fremde Ich? und
der Gegebenheitsfrage: In welchen Momenten ist mir das
fremde .Ich gegeben? Dasselbe gilt für alle mir bekannt gewordenenVersuche zur Lösung des Problems des fremden Ichs.
63
Die Gegebenheitshaltung ist keine Haltung, die von einer
der altüberkommenen Wissenschaften eingenommen wird;
und auch dem gewöhnlichen Leben ist die Frage: in welchen
Momenten ein Tatbestand gegeben ist, völlig fremd. Die
Gegebenheitshaltung hat sich als philosophische Haltung,
nicht als wissenschaftliche, herausgebildet, und so verschmelzen denn auch meist sofort philosophische Deutungen
mit der reinen Gegebenheitsanalyse. Es gibt nur eine einzige
Wissenschaft, die das Gegebene rein als solches untersucht: die Phänomenologie in ihrer ursprünglichen Ausbildung, zu der sich Ansätze bereits bei Aristoteles finden.
3· Die Haltungen und die Philosophie.
In den beiden letzten Kapiteln dieses Buches soll klargestellt werden, ob sich die Haltungen und Einstellungen und
die ihnen korrelativen Strukturantiken zur metaphysischen
Verabsolutierung eignen. An dieser Stelle soll nicht von den
Verabsolutierungen der Haltungen, der Erweiterung der
Strukturantik gesprochen werden, sondern von der Affinität
der Haltungen zu gewissen philosophischen Stellungnahmen
zur Realitätsfrage - Stellungnahmen, die nicht ohne weiteres durch die betreffenden Haltungen mitgegeben sind.
Dazu ist nötig, zunächst sich über die immanente Strukturantik der Haltungen in ihrer Beziehung zu den Gegensätzen
des Realismus und Idealismus Klarheit zu verschaffen.
Die natürliche wie die wissenschaftliche Weltanschauung ist r e a I ist i s c h, und so ist auch die immanente
Strukturantik sowohl der fixierend-objektivistischen, wie der
perspektivisch- subjektivistischen Haltung realistisch. Daß
außer den realen Objekten und Subjekten noch Welten von
ideellen Gegenständen anerkannt werden, ändert am realistischen Grundcharakter nichts.
Wenn auch beide Haltungen den natürlichen Realismus
voraussetzen, so sind sie doch darin verschieden, was an
realistischen Momenten durch die Haltung selbst jeweils mitgesetzt ist. Für die fixierende Haltung wäre eine Welt der
Objekte ohne Subjekte sehr wohl denkbar. Die Objekte
sind nach der fixierenden Haltung subjektsunabhängig; es
könnte also eine Objektwelt vorhanden sein, ohne daß Subjekte sie auffassen. Im Wesen des Subjektes liegt es hingegen, daß es erkennend, nachdenkend, wollend, wertend,
fühlend, handelnd, stets auf Objekte gerichtet ist, daß es in
eine Welt der Objekte hineingestellt ist. Es gibt für die
fixierende Haltung kein Subjekt ohne Objekt, dagegen
gibt es Objekte ohne Subjekt.
In diesem Punkt ist die subjektivistische Haltung' eingeschränkter als die fixierende. Da sie sich für die Perspektiven vom Subjekt aus interessiert, so müssen diese Subjekte
notwendigerweise existieren; allein es ist auch für die subjektivistische Haltung nicht ausgeschlossen, daß einzelne
Objekte existieren, die in keine Perspektive irgendeines
Subjekts eingehen, etwa sehr entfernte Sterne oder urweltliche Erdzustände usw. Es gilt also auch hier: »kein Subjekt ohne Objekt~, nicht aber »kein Objekt ohne Subjekt«;
vielmehr sagt die subjektivistische Weltansicht: Ich interessiere mich ftir kein Objekt, das nicht Objekt ftir ein
Subjekt ist. Im Gegensatz zur realistischen Strukturantik der objektivistischen wie der subjektivistischen Haltung ist die Strukturantik der Gegebenheitshaltung nicht realistisch, aber
auch nicht idealistisch, sondern indifferent. Nur das Sosein, dasGegebensein für das Subjekt interessiert sie; die
Gegensätze von Realismus und Idealismus liegen außerhalb
ihres Gesichtskreises. Das Bild ändert sich, wenn man die philosophischen
Deutungen betrachtet, die nicht durch die einzelnen Haltungen .mitgesetzt,. sondern nur durch sie nahegelegt
werden:
Die fixierende Haltung hat eine Tendenz zum transzen-
denten Realismus, - eine Tendenz, die Realität ihrer
Welt einfach ins Metaphysische zu transponieren. Dagegen
hat sowohl die subjektivistische wie die Gegebenheitshaltung eine Tendenz zum Idealismus, dessen Charakter
jedoch noch recht verschieden gedacht werden kann. Es seien
nur ein paar bezeichnende Formen herausgegriffen:
I. Der erkenntnismethodische Gang der subjektivistischen Haltung zur fixierenden Haltung hin läßt sich
in verschiedener Weise idealistisch umdeuten. Die subjektivistische Haltung gewinnt durch einen allmählichen Annäherungsprozeß aus den Perspektiven des Subjekts die
objektive Realität. Dieser Prozeß wird von manchen idealistischen Richtungen nicht als ein Prozeß der Gewinnung,
sondernderSetzungder Realität gedeutet; der Gegenstand
ist nicht gegeben, sondern »aufgegeben c. Die Synthese
der Perspektiven schafft erst die Realität (erkenntnismethodischer Idealismus des Neukantianismus).
Eine zweite idealistische Ausdeutung besagt: es gelingt
überhaupt nicht, zu einer Realität vorzustoßen (ganz gleich,
ob sie existiert oder nicht); das einzig Zugängliche sind die
Perspektiven selbst: >Der Mensch ist das Maß aller Dinge,
der seienden, daß sie sind, der nicht-seienden, daß sie nicht
sindc (relativistischer Idealismus).
2. Auch ohne daß man auf den Erkenntnisprozeß Rücksicht nimmt, durch den aus den Perspektiven zur objektiven
Welt durchgestoßen wird, läßt sich die Strukturantik der
subjektivistischen Haltung idealistisch deuten. Etwa in folgender Weise: Die subjektivistische Haltung weiß nur von einem
Objekt für ein Subjekt; die perspektivischen ,Ansichtenc
der Objektwelt sind selbstverständlich nur für ein Subjekt
vorhanden, aber auch wenn in den Perspektiven eine reale
Welt vorausgesetzt ist, so ist doch diese reale Welt eben
von einem Subjekt vorausgesetzt. Diese Tatsache, daß die
reale Welt von einem Subjekt gewußt, von ihm vorausgesetzt
wird, deutet eine bestimmte Form des Idealismus dahin, daß
66
sie auch nur für das Subjekt vorhanden sei. Im Sinne
dieses Idealismus gibt es also keine Objekte, die nicht für
Subjekte existieren (vielleicht nur für einzelne Subjekte~ vielleicht auch für ein» Bewußtsein« überhaupt). Wie es kein Subjekt ohne Objekt gibt, so auch kein Objekt ohne Subjekt.
(Korrelativer Idealismus.)
Es kann noch hinter diese Fragestellung zurückgegangen
werden: Es läßt sich unter Zugrundelegung des zuletzt
gegebenen Idealismus noch weiter fragen: \Voher kommt
es, daß kein Objekt ohne Subjekt existiert? Und die Antwort kann lauten: Weil das Objekt eine Setzung des Ich
ist (setzender Idealismus, Fichte). Man gelangt so zu
einer Art von potenziertem Idealismus, der eine idealistische
Grundanschauung , Kein Objekt ohne Subjekt« in einem
tieferen Sinne noch einmal idealistisch ausdeutet.
Es ist wichtig, zu betonen, daß all diese Formen des
Idealismus das Sein der Objekte nicht negieren, sondern nur
alle Objektivität auf das Subjekt r e I a t i vier e n.
3· Der aus der Umdeutung der Gegebenheitshaltung
stammende Idealismus ist prinzipiell verschieden von solchen
aus der subjektivistischen Haltung hervorgehenden Formen
des Idealismus. Daß die Gegebenheitshaltung das für ein
Subjekt Gegebene untersucht, wird dahin umgedeutet, daß
überhaupt nur Gegebenes, einem Subjekt Gegebenes
existiere. Wie soll dieses Gegebene seiner Natur nach aufgefaßt werden! Entweder das Objekt ist, als für das Subjekt bestehend, Bewußtseinsinhalt, ist » Vorstellunge des
Subjekts, es besteht aus einer Summe von Eindrüc~en
(subjektiver Idealismus Berkeleys und der lmmanenzphdosophie). Oder das Objekt bleibt als Objekt in seiner Gegebenheit gewahrt; nur wird behauptet, daß a!le Obje~te
sich im Bewußtsein und durch das Bewußtsem konstituieren. (Konstitutiver Idealismus Husserls.)
All dieser Gegebenheitsidealismus - wie er auch formuliert wird - ist seinem Wesen nach solipsistisch (soweit
nicht metaphysische Hypothesen ihn vom Solipsismus befreien). Aus sich selbst heraus kann er den Solipsismus
nicht überwinden: Alle Gegebenheit ist Gegebenheit nicht
nur für ein Subjekt, sondern zunächst nur für ein Subjekt; die fremden Menschen können diesem Subjekt nichts
weiter bedeuten als Gegebenheiten besonderer Art.
Alle Ge~ebenheitsphilosophie, alle Philosophie, die die
Gegebenbettshaltung überhaupt philosophisch auszudeuten
unternimmt, ist in steter Gefahr, solcher idealistischen Umdeutung der Gegebenheiten zu erliegen; und fast alle Gege.benheitsphilosophen sind ihr erlegen, von Berkeley an mit
semem esse est percipi über Humes Anschauung, daß die
Gesamtheit des Seins in impressions und ideas beschlossen
sei, bis zu Machs Analyse der Empfindungen und den idealistischen Umformungen der Phänomenologie.
4· Die neutralistische Haltung.
Nicht ein Sonderfall einer der beiden Einstellungen ist
die neutralistische Haltung (wie die bisher angeführten
Haltungen Sonderfälle der unmittelbaren Einstellung waren),
sondern sie greift gleichsam an der Indifferenzzone beider
Einstellungen an.
Die Weltbilder der beiden Einstellungen zeigen an zwei
Stellen eine Gemeinsamkeit: Einmal bei den unzweifelhaft
psychischen Tatbeständen,- bei denjenigen Tatbeständen, die für beide Einstellungen psychischer Natur sind: wie
das Wollen, das Fühlen, die Freude, die Zuständlichkeit der
Angst usw. Diese psychischen Tatbestände gehören in gleicher
\V eise in die Strukturantik der unmittelbaren wie der naturalistischen Einstellung; ihnen selbst kann man nicht ansehen,
ob sie in naturalistischer oder in unmittelbarer Einstellung
aufgefaßt sind.
Allein man kommt nicht weit, wenn man die psychischen
Tatbestände in ihrer Abgeschlossenheit betrachtet, in der
68
T
('
sie beiden Einstellungen gemeinsam sind. Die Feststeliung
.~Die Freude ist eh~ Gefühl« isoliert künstlich das Psychische;
1m Leben kommt d1e Freude nur vor als Freude ü her etwas J
über ein liebes Geschenk etwa - das Wollen als Wollen
von etwas, - man will· etwa eine Reise machen. Die Beziehung des Psychischen zum Objektiven ist nicht wegzudenken, sie ist wesenhaft ftir das Psychische: Mit dieser Beziehung zum Objektiven tritt jedoch der Unterschied der
beiden Einstellungen in Erscheinung; die Beziehung zu den
Objekten wird je nach der Einstellung anders beschrieben.
Für die unmittelbare Einstellung sind diese Tatbestände:
Das Geschenk, über das ich mich freue, das Unheil, vor dem
ich mich ängstige usw. unmittelbar er faßte objektive Tatbestände, ftir die naturalistische Einstellung Vorstellungen
eines Subjekts usw. Daher zeigt sich in allen konkreten Übertretungen über das Psychische sehr bald, ob sie das Psychische im Sinne der unmittelbaren oder der naturalistischen
Einstellung auffassen.
Anders bei dem zweiten Gegenstandsbereich, der indifferent ist gegenüber den Einstellungen: Bei der Welt des physischen Geschehens. (Alles andere, alles was nicht rein
psychisch ist im Sinne der Subjektzugehörigkeit oder rein
physisch materiell, alles was ~zwischen c Subjekt und physischer Welt liegt! die geistigen Realitäten, die ideellen
Gegenstände, die mentalen Objekte werden von den beiden
Einstellungen in verschiedener Weise interpretiert: hier als
Gegenstände, dort als psychische Vorstellungskomplexe usw.)
Diese zweite Indifferenzzone der Einstellungen - die
physische Welt - läßt sich, in ihrer Abgeschlossenheit
betrachtet, beschreiben und analysieren, ohne daß man für
eine der beiden Einstellungen Partei nimmt. Man stellt etwa
fest: , Die Planeten bewegen sich um die Sonne in Ellipsen,
in deren einem Brennpunkt die Sonne steht. c Dieser Satz
läßt nichts von einer bestimmten Einstellung erkennen. Man
vergleiche damit die anderen Sätze: , Licht von der Weilen6g
länge 700 ftft bewirkt eine Rotempfindungc:, »der Grünewald-Altar besitzt einen hohen Kunstwerte: - es kann keinem Zweifel unterliegen, daß der erste dieser Sätze aus
naturalistischer, der zweite aus unmittelbarer Einstellung
heraus konzipiert ist.
Man kann nicht nur nicht eindeutigbestimmen, in welche
Strukturantik das Keplersche Gesetz hineingestellt wird, es
liegt auch keine eindeutige Strukturantik bei seiner Bestimmung vor. Man hat bei der Feststellung des Keplerschen
Gesetzes kein Interesse an einem bestimmten Weltbild naturalistischer oder unmittelbarer Art, eben weil es sich hier
um ein Gebiet handelt, dasbeiden Strukturantiken angehört.
Wir wollen in diesem Fall, in dem die Einstellung eingeschränkt, rudimentär, strukturontisch indifferent geworden
ist, von neutralistischer Haltung sprechen.
Die neutralistische Haltung ist keine volle Einstellung,
denn ihr fehlt als Korrelat eine Strukturontik, die·
Physisches und Psychisches umfaßt; sie greift nur ein Stück
Welt, das beiden Einstellungen gemeinsam ist, heraus und
betrachtet es für sich.
Nur scheinbar widerspricht die Existenz der neutralistischen Haltung im Gebiet der Naturwissenschaften unserer
früherenBehauptung,das Weltbild derexakten Naturwissenschaft sei naturalistisch. Es muß zwischen der Strukturantik
des tatsächlichen Betriebes der Wissenschaft und ihrem
Weltbild unterschieden werden: Der tatsächliche Betrieb
der exakten Naturwissenschaft ist neutralistisch; denn er
hat es für gewöhnlich mit den zwischen den Einstellungen
nicht strittigen Punkten zu tun; er schließt sich in die physische Welt und ihre Probleme ein. Dagegen ist das Weltbild, die Strukturantik der Naturwissenschaften in ihrer
ganzen Ausdehnung betrachtet, naturalistisch. Das zeigt
sich sofort, wenn Fragen ins Spiel kommen, in denen die
Einstellungen differieren- wenn z. B. psychephysiologische
Probleme angerührt werden, wenn Theorien über Farben
aufgestellt werden usw. Da tritt der naturalistische Charakter
der Strukturantik der Naturwissenschaft ans Licht, und es
macht sich bemerkbar, daß die neutralistische Haltung hier
nur eine Verengung der naturalistischen Einstellung bedeutet.
Die Einstellung des gewöhnlichen Lebens ist die unmittelbare. Aber das gewöhnliche Leben kann trotzdem die Ergebnisse der Naturwissenschaften übernehmen, weil .si: nicht
aus der naturalistischen, sondern aus der neutrahsuschen
Haltung stammen. Wenn das gewöhnliche Leben die Ergebnisse der Naturwissenschaften benutzt, so bettet sie die neutralistische Haltung in diesem Fall in die unmittelbare Einstellung ein.
Die beiden Gesichter der neutralistischen Haltung - das
der unmittelbaren und das der naturalistischen Einstellung
zugewandte - werden so von großem Vorteil für die Verwendung der in neutralistischer Haltung gewonnenen Tatbestände: Sie können je nachdem in die Strukturantik der
unmittelbaren oder der naturalistischen Einstellung eingelassen werden.
5· Primäre und sekundäre Qualitäten.
Die neutralistische Haltung hat sachliche Vorzüge, da
· bei ihren Problemen auf die Unterschiede der Strukturantiken
keine Rücksicht genommen zu werden braucht. Phi 1o sop h i s c h jedoch hat sie den Nachteil, .~aß durch ihre In.differe?z
gegenüber den Einstellungen der Ubergang von emer Emstellung zur anderen verschleiert wird; daß man, ohne es zu
bemerken durch die neutralistische Einstellung hindurch von
der einen' Einstellung zur anderen hinübergleitet. Als Beispiel solcher Unklarheit über die tatsächlich eingenommene
Einstellung sei die Lehre von den primären und sekundären Qualitäten herangezogen.
Die Aufgabe, den Unterschied der primären und sekundären Qualitäten anzugeben, scheint man sehr einfach lösen zu
71
können: Die primären Qualitäten (Farbe, Ton, Geschmacksqualität usw.) sindnur subjektiv, die sekundären Qualitäten
auch objektiv. Was es bedeutet, die Farbqualität der Rose
sei ,nur subjektive, ist einleuchtend; ftirdie naturalistische
Einstellung heißt es, sie ist psychisch, nicht physisch; ftir
die unmittelbare Einstellung, sie ist mental und nicht
physisch-objektiv. Ebenso ist klar, was es bedeutet, die Gestalt der Cheopspyramide sei , auch c objektiv; hier zeichnen
sich die Unterschiede der Einstellungen noch deutlicher ab.
Für die naturalistische Verdopplung der Gegenständlichkeit
bedeutet die Aussage, die Gestalt der Pyramide sei ,auchc
objektiv vorhanden, daß diese Gestalt zweimal existiere:
als Gestalt der Pyramide im Raum und. als Gestalt der vorgestellten Pyramide ,inc mir. Das ,auchc Objektivsein der
Gestalt bedeutet also hier, daß die Gestalt nicht nur in
meiner Vorstellung existiert, sondern auch in der diese Vorstellung erzeugenden objektiven Welt.
Für die unmittelbare Einstellung hingegen kann der Satz:
Die Gestalt der Pyramide existiere , auch c objektiv, nicht
besagen, daß eine Verdopplung vorliege: Das , Auch c meint
hier, daß die Cheopspyramide nicht nur als ,erfaßtec existiere, sondern , auch c wirklich sei, daß sie kein mentaler,
sondern ein wirklicher Gegenstand sei. Die Gestalt sei in
derselben Weise wirklich, wie sie erfaßt ist.
T h e o r e t i s c h ist der Gegensatz in der Auffassung der
beiden Einstellungen durchsichtig; allein in praxi gehen die
Deutungen so sehr durcheinander, daß man bei kaum einem
Denker sagen kann, welche Einstellung er nun wirklich einnimmt. Sehr oft verbindet sich mit einer n.aturalistischen
Verwendung des Gegensatzes der primären und sekundären
Qualitäten ein Unterbau, der von der unmittelbaren Einstellung herkommt. Am ehesten noch hat Demokrit, der Begründer der Lehre von den primären und sekundären Qualitäten,
in seiner Eidolatheorie die naturalistische Einstellung rein
durchgeführt. Die primären Qualitäten schicken , Bilderehen c
72
in uns hinein; die sekundären Qualitäten sind nur subjektiv,
sie sind nur 110f.UP vorhanden.
Die Wiederaufnahme der Lehre von den primären und
sekundären Qualitäten in der Philosophie der Neuzeit war
weniger konsequent: Locke ftihrt zwar den Unterschied von
der naturalistischen Strukturantik aus ein: Durch Druck und
Stoß wirken die Körper auf uns: , Es ist einleuchtend, daß
sich von dem äußeren Objekt her eine Bewegung durch
unsere Nerven oder Lebensgeister, durch gewisse Teile
unseres Leibes bis in das Gehirn oder den Sitz der Sinneswahrnehmung fortpflanzen muß, um hier in unserem Bewußtsein
die eigentlichen Ideen hervorzubringen, die wir von ihnen
habenc (Über d. menschl. Verstand, 2. Buch, 8. Kap., S I I);
demgemäß ,läßt sich leicht der Schluß ziehen, da~ die Ideen
der primären Eigenschaften der Körper Eben b 1I d er derselben sind und ihre Muster wirklich in den Körpern selbst
existieren. Hingegen sind die von den sekundären Eigenschaften in uns hervorgebrachten Ideen den Eigenschaften
der Körper ganz und gar nicht ähnlich; in den Körpern selbst
existiertnichts, was unseren Ideen gleich wärec (§ IS). Das
ist konsequent naturalistisch gedacht.
Diese rein naturalistische Auffassung der primären Qualitäten ist jedoch nicht durchgehalten worden: Zunächst mußte
der kontinentale Rationalismus zu einer erkenntnismethodisch völlig anderen Auffassung der primären Qualitäten gelangen: Denn seine Haltung gegenüber der Welt war
nachdererkenntnismethodischenSeitehin subjektivistisch.
· Descartes erkennt all das als existierend an, quod clare et
distincte percipitur: Die primären Qualitäten gehören zu den/
klar und distinkt wahrgenommenen Eigenschaften des
Körpers, also existieren sie. Der hier ve~ndte W ahrne~­
mungsbegriff ist der der unmittelbaren Emstellung; d1e
Qualitäten werden unmittelbar erfaßt. _In .der Su~stanzen­
lehre hingegen denkt Descartes naturalistisch: D1e res extensae und die res cogitantes sind naturalistisch durch den
73
influxus physicus miteinander verbunden, und demgemäß
werden die Ideen sowohl der primären als auch der sekundären Qualitäten als kausale Erzeugnisse der Wirkung des
Körpers auf den Geist aufgefaßt. Nur daß eben die Ideen
der sekundären Qualitäten konfus und undeutlich sind, die
der primären Qualitäten klar und deutlich. In dem schillernden Begriff der , Idee<, die bald im naturalistischen Sinne
eine vom Körper erzeugte Vorstellung bedeutet, bald
ein Objekt des Geistes, in dem die Wirklichkeit erfaßt wird,
treffen sich die beiden Anschauungen.
Ähnlich ist die Doppelstellung von Leibniz, nur daß sie noch
dadurch erschwert wird, daß die ganze Körperwelt, Repräsentation« ist, und daß das Verhältnis der realen Wirklichkeit
der Monaden im Verhältnis zur >sogenannten« realen Wirklichkeit der Natur das Problem noch kompliziert. Aber auch
bei Leibniz erkennt der Verstand einmal unmittelbar die
Beschaffenheit der realen Welt der Natur, soweit sie aus den
primären Qualitäten besteht, andererseits werden auch hier
naturalistisch alle Qualitäten durch den Körper vermittelt.
Jedoch so, daß auch die sekundären Qualitäten zunächst als
quantitative Bestimmtheiten übermitteltwerden und erst durch
die Reflexion >der Erkenntnistrug der Farbenvorstellungen
entsteht- nicht in der Repräsentation selbst, sondern erst in
den Reflexionen, im teilweisen Versagen der perzipierenden
Tätigkeit unserer Seele<. , Unser Geist vermag die Vielheit
der in ihm selbst liegenden Momente nicht distinkt zu apperzipieren - so entsteht der Schein der Sinnesqualitäten c
(Heimsoeth, Die Methoden der Erkenntnis bei Descartes
und Leibniz, S. 312. S. a. die dort zit. Stellen aus Leibniz).
In andererWeise pflegen in der modernen Naturwissenschaft sich naturalistische und unmittelbare Einstellung zu
mischen. Geht man erkenntnismethodisch vor, so sind
die sekundären Qualitäten gleichsam ein Abstrich, den man
an den vorgefundenen Qualitäten der Gegenstände vornehmen
muß. Geht man hingegen von der kausalen Betrachtung aus,
74
so zeigen sich die primären Qualitäten im Sinne der naturalistischen Auffassung in doppelter Gestalt als wirkliche Qualitäten
und als Vorstellungsmerkmale, während die sekundären Qualitäten nur einmal vorkommen als Vorstellungsmerkmale.
Es wird späterhin deutlich, daß diese Vermischung der
Standpunkte keinen zufälligen, leicht auszumerzenden Fehlgriff der Naturwissenschaften bedeutet, sondern tiefere
Gründe hat, die mit der Notwendigkeit der Vermischung
der Einstellungen bei Untersuchungen eines bestimmten Typs
zusammenhängen (s. d. letzten Kapitel d. Buches).
75
4.KAPITEL
DIE EINSTELLUNGEN IN DEN WISSENSCHAFTEN
I.
Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft.
. Es steht nicht in dem Belieben des Forschers, von welcher
Emstell~ng aus er. an eine Wissenschaft herangehen will.
Jedes wissenschaft!Iche Sachgebiet hat seine eigene imman:nte st~kturontische Grundlage, und diese Grundlage
~Ird_- m de~ fundamentalsten Umrissen wenigstens Jeweils durch eme der beiden Einstellungen bestimmt. Demg~mäß muß ~uch die dieser Strukturantik entsprechende
E~nstellung ~mgenommen werden, wenn ein Sachgebiet
wissenschaftlich bearbeitet werden soll· es bedarf der adäquaten Einstellung beim Betrieb jede~ Wissenschaft.
Verfehlt man die adäquate Einstellung so kann sich
zweierlei ereignen:
'
. I. Die i~adäquate Einstellung kann das Sachgebiet im
Smne der Ihr adäquaten Strukturantik ummodeln. Dann
entsteht _ein neues. Sach~ebiet, das ':on dem ursprünglichen
Sach~ebi~t verschied~n Ist. Jedoch wird das neue Sachgebiet
nun Im Smne der dIesem Sachgebiet adäquaten Eins tel. lun~ erfaßt; da ~:lie ~instellung sich ein ihr adäquates Sachg~biet herstell~~ Ist sie f~r dieses neue Sachgebiet adäquate
Emstellung (wahrend Sie ftir das ursprüngliche Sachgebiet
inadäquate Einstellung war). Jetzt kann aus dem neuen Sachgebiet sich eine durchaus legitime Wissenschaft entwickeln
- nur ist sie nicht die Wissenschaft des Sachgebiets das
man zu bearbeiten beabsichtigte.
'
Dieser Umbauprozeß des Sachgebiets pflegt nicht bewußt zu werden. Derjenige, der dieses neue Sachgebiet
76
aus der ihr adäquaten Einstellung heraus bearbeitet, glaubt
es immer noch mit dem alten Sachgebiet zu tun zu haben.
Er gibt der neuen Wissenschaft den Namen der alten und
verbaut damit - vielleicht auf Jahrzehnte oder Jahrhunderte
hinaus - den regelrechten Zugang zu der ursprünglich
geplanten Wissenschaft. Diese Vertauschung des Gebietes
einer Wissenschaft durch das einer anderen (wie es in mancher Hinsicht bei der psychologischen Logik der Fall ist)
soll als Wissenschaftsverlagerung bezeichnet werden.
2. Zuweilen ereignet es sich jedoch, daß ein Sachgebiet
diese Umformung durch eine fremde immanente Metaphysik
nicht zuläßt; dann paßt die Einstellung, in der man das
Sachgebiet untersucht, nicht zu der immanenten Metaphysik
des Sachgebiets; es entsteht überhaupt keine echte, in sich
gefestigte Wissenschaft, sondern eine Zwitterbildung, eine
hybride Wissenschaft, wie wir sie nennen wollen.
Wie bereits bei der Analyse der naturalistischen Einstellung bemerkt worden ist, ist die Heimat der naturalistischen
Strukturantik die exakte Naturwissenschaft in ihrer modernen Ausbildung 1• Daß die exakten Naturwissenschaften
- zum mindesten seit der Renaissance - ihr Gebäude auf
der Strukturantik der naturalistischen Eins~ellung errichten, bedarf keiner langen Explikation (die neutralistische Haltung, wie man sie im aktuellen Betrieb der Wissenschaften
einnimmt, verändert nicht die Strukturontik, sondern macht
nur ihre Besonderheit für die Behandlung einzelner Probleme
gegenstandslos): Alle exakten Naturwissenschaften gehen
von den Gegenständen der realen Außenwelt aus, ohne
sich um die Existenz von Subjekten zu kümmern. Sie suchen
1
Die Biologie muß hier, wie in allen folgenden Überlegungen ausscheiden; in ihren Zusammenhang mit den Einstellungen wirken Probleme
hinein, die in den Gedankengängen dieses Buches nicht erörtert werden
können; umgekehrt spielt bei transzendent metaphysischen Erörterungen
beim heutigen Stand der Probleme die Biologie mit ihren Ergebnissen und
Fragestellungen eine große Rolle. Es ist kein Zufall, daß viele Metaphysiker
der Gegenwart (Bergson, Scheler, Driesch, William Stern, Pleßner) an biologische Fragestellungen und Begriffe angeknüpft haben.
77
ferner nach einem geschlossenen physikalischen Weltbild
in das sie anderen Realitäten (vitaler oder psychischer Art)
nach Möglichkeit keinen Einlaß gewähren.
Erstdie Physiologie fuhrtzum Problem des Psychischen.
Von dem Weltbild der Naturwissenschaften aus ist das Psychische ein nicht zu vermeidender Rückstand, der sich bei
der Abrundung des physikalischen Weltbildes ergibt - ein
Rückstand, von dem wir sahen, daß man ihn, so lange es
irgend geht, beiseite schiebt, oder den man mit einigen ganz
allgemein gehaltenen Erörterungen erledigt. Es ist kein Zufall, daß die Naturwissenschaften lange Zeit ein nur sekundäres Interesse an der Bearbeitung der psychischen Welt
nahmen, daß sie es überhaupt vermieden, das »zweite Realitätsgebiete vom naturalistischen Standpunkt aus zu bearbeiten.
. Erst konkrete Probleme - das Wahrnehmungsproblem,
die Probleme des Zusammenhangs der Geisteskrankheiten
mit körperlichen Veränderungen usw. - machten darauf
aufmerksam, daß hier naturalistisch zu bearbeitende Gebiete
vorlagen. Aber so lange es ging, wurde in den Anfangstagen
der naturalistischen Untersuchung des Psychischen die Anerkennung einer eigenen psychologischen Wissenschaft vermieden. Jene, in der Wissenschaft heute vergessenen Schlagworte, die sich in die Kreise der Halbgebildeten geflüchtet
haben: , Psychologie ist Gehirnanatomie c , »Psychologie ist
ein Teil der Physiologie c, damals aber selbst von ernsten
. Wissenschaftlern vertreten wurden (Meynert W ernicke)
. dAusdruck ftir den Widerstand der naturalistischen
'
sm
Ein-'
stellung gegen die Anerkennung eines zweiten Realitätsgebietes. Aber selbst wenn man die Psychologie als selbständige Wissenschaft anerkannte, so wurde sie methodisch
und inhaltlich doch völlig nach dem Muster der exakten
Naturwissenschaften ausgestaltet 1 •
1 Näheres darüber siehe: Das Unbewußte und die psychische Realität,
•
N1emeyer 1921 (Sonderabdruck aus: Jahrbuch f. Philos. u. phänomenal. Forschung IV).
Ebenso selbstverständlich wie der naturalistische Ausgangspunkt ftir die exakten Naturw~ss~nschaften ist für d~e
Geschichtswissenschaften, daß sie sich derStrukturantik
der unmittelbaren Einstellung bedienen. Alle Merkmale,
die als typisch für die Strukturantik der unmittelbaren Einstellung aufgewiesen worden sind, finden sich in der Struktur der historischen Gegenstandswelt wieder: Die Menschen,
von denen die Geschichte spricht, sind ftir sie Subjekte,
die sich in einer Objektwelt bewegen- nicht nur an Gehirne angeschlossene Einheiten psychischer Geschehnisse;
die Objektwelt der Geschichte ist die aktuelle Welt der
Vorfindlichkeit · der Staat ist für die Historie ein reales Gebilde ebenso ~ie Familie, Sippe usw. Die Reduktion der
aktu~llen Welt auf eine tieferliegende Schicht primärer
Qualitäten, wie sie z. B. die ~xakten Naturwiss~nsch~ften
vornehmen ist ihr fremd. (Hierauf wurde bereits hmgewiesen als' von der immanenten Strukturantik der Einzelwissen~chaften im allgemeinen die Rede war.) Der Versuch,
historischer Geschehnisse in die naturalistische Metaphysik
umdeuten zu wollen, wirkt absurd: Wenn Napoleon sich
entschließt vor der Schlacht von Austerlitz seinen Truppen
den Befehi zum Angriff zu geben, so ist Napoleon kein
Atomkomplex, mit dessen einem Teil, dem Gehirn, Entschlußvorstellungen verknüpft sind, seine Befehle bedeuten
nicht Mundbewegungen, die die Luft in Schwingungen versetzen usw .
Dieses Beispiel ist nicht willkürlich gewählt; es ist unter
dem Namen des »Austerlitz-Beispiels« von der naturalistischen Fragestellung aus wiederholt im Sinne des Gegensatzes von psychophysischem Parallelismus und Wechselwirkungstheorie diskutiert worden. (Z. B. in ei~~r Diskussion zwischen Ebbinghaus und Busse.) Ich zitiere nach
Ebbinghaus (Grundzüge der Psyc~ologie, 2. Au~., I S. ~2).
»Napoleon I. leitet und gewinnt die Schlacht bei Austerhtz:
für die parallelistische Betrachtung ein in sich geschlossener,
79
durch ausschließlich physische Glieder vermittelter Zusammenhang. Auf der Netzhaut Napoleons werden wechselnde
Bilder entworfen von Bewegungen blauuniformierter und
weißuniformierter Truppen; seine Ohren werden von Lufterschütterungen getroffen, herrührend von den Berichten
seiner Adjutanten. Daraus entstehen in seinem Gehirn
allerlei verwickelte nervöse Prozesse, die sich weiter in Bewegungen von Zunge und Kehlkopf umsetzen, neue Lufterschütterungen zur Folge haben und im Anschluß daran
Bewegungen in anderen Leibern hervorrufen. Daneben
würde freilich ein das Innere der Dinge erschauender Beobachter auch allerhand p_~ychische Vorgänge gewahr werden, Gemütserregungen, Uberlegungen, Willensakte· aber
diese haben nicht den geringsten Einfluß auf den Ablauf
der physischen Prozesse; sie sind lediglich etwas sie begleitendes ... Nicht Napoleons Genie gewinnt also die
Schlacht, sondern die mechanische Verkettung physischer
Prozesse, in welcher auch die paar Molekularbewegungen
in den Gehirnzellen enthalten sind, führen den Ausgang
mit Notwendigkeit herbei. c
In der Tat: Wenn man wirklich die naturalistische Fragestellung auf historische Vorgänge anwendet, so gelangt man
konsequent zu einer solchen absurden Beschreibung. Will
man den Zusammenhang Gehirn-Psychisches im Sinne der
naturalistischen Fragestellung zum Problem machen, so darf
man jedoch nicht zu historischen Beispielen greifen, sondern
.muß von elementaren Phänomenzusammenhängen ausgehen,
muß etwa an der Beziehung von ) Farbe« und » F arbempfindung «, von , Wollen den Arm zu bewegen« und , wirklicher
Armbewegungc das Problem diskutieren (warum das notwendig ist, davon später). Bei historischen Beispielen wirkt
ein Hineinziehen der naturalistischen Einstellung grotesk.
Es ließe sich eine Reihe von Gründen anführen, weshalb
Männer der exakten Naturwissenschaften zuweilen mit Unbehagen auf die Geschichtswissenschaften zu blicken pflegen
8o
- einer der Gründe ist, daß sich die immanente Strukturantik der Geschichte nicht in die naturalistische Einstellung
ftigt: Die Auflösung der Welt in Elemente und Elementarvorgänge läßt sich der historischen Welt gegenüber nicht
vollziehen, die Reduktion auf tiefere Wirklichkeitsschichten
darf nicht vorgenommen werden usw. Es besteht für den
strengen Naturalisten kein Zugang zur Strukturantik der
historischen Welt.
2.
Mathematik.
Die klaren Gegenpole der beiden Einstellungen finden
sich bei der heutigen exakten Naturwissenschaft und der
Geschichtswissenschaft - die eine ist der Prototyp einer
Wissenschaft aus naturalistischer, die andere einer Wissenschaft aus unmittelbarer Einstellung. Bei diesen beiden
Wissenschaftsformen wird man kaum in Versuchung geraten, von Piner inadäq11aten Einstellung aus an sie heranzugehen -· so selbstverständlich ist es, von welcher Einstellung aus sie zu bearbeiten sind.
Schon bei der Mathematik verhält es sich anders. Praktisch zwar - wenn man die Mathematik in dem wirklichen
Vorgehen ihres Betriebs beobachtet - kann es nicht zweifelhaft sein ' daß die Mathematik eine Wissenschaft aus unmittelbarer Einstellung ist. Weder als physisches, noch
als psychisches Gebilde behandelt die Mathematik ihre.
Gegenstände, wie es bei naturalistischer Einstellung verlangt wird. Die ideale Gerade, die nichteuklidischen Mannigfaltigkeiten, die analytischen Funktionen, die nichtabzählbaren Mengen- das sind alles Gegenstände, die nur Sinn als
>ideale geistige Gebildec besitzen, aber nicht als reale physische oder reale psychische Objekte. Ob man sie theoretisch als , Schöpfungen des menschlichen Geistes c betrachtet
oder als bloße F ormalisierungen, als Relationsgegenstände,
oder als ideelle Gegenstände im platonischen Sinn - solche
.
81
Unterschiede verschwinden gegenüber der selbstverständlichen Gemeinsamkeit der Haltung in der mathematischen
Praxis: Bei ihr blickt der Mathematiker auf die Gegenstände
hin - nicht als auf reale physische, aber doch als auf daseiende Objekte, die - ganz gleich ob vom menschlichen
Geist geschaffen oder nicht - sich als von dem auffassenden Geist unabhängig darstellen. Gegenstände, die nicht
real, aber doch seiend sind, die »entdeckt ( und erforscht werden können, ohne in der Realität eine Stätte zu haben solche Gegenstände jedoch gibt es nur innerhalb der Strukturantik der unmittelbaren Einstellung.
So zeigt die Betrachtung der Struktur der Mathematik,
daß die ihr adäquate Einstellung die unmittelbare ist. Gegenüber dieser direkten Analyse der Struktur können Überlegungen anderer Art, darüber, welches die adäquate Einstellung der Mathematik wohl sein möge, nur nachträglich
bestätigenden, aber niemals wirklich beweisenden Charakter
tragen. Zu solchen indirekt beweisenden Überlegungen gehört folgender Gedankengang: Die naturalistische Einstellung kennt nur physische und psychische Gebilde. Wäre die
Mathematik eine Wissenschaft aus naturalistischer Einstellung, so müßte sie entweder eine Wissenschaft von physischen Gegenständen, also eine Art angewandter Physik oder
eine Wissenschaft von psychischen Gegenständen, also eine
Art angewandter Psychologie sein. Die Mathematik ist jedoch
weder das eine noch das andere.
Bestimmte Richtungen des Empirismus sind jedoch aus
dem Bestreben, die naturalistischen Einstellungen unter allen
Umständen aufrecht zu erhalten, nicht weit davon entfernt,
die Mathematik zu einer Realwissenschaft physikalischen
oder psychologischen Gepräges zu machen.
So hat man vor allem die Mathematik zu einer Wissenschaft von physischen Gegenständen stempeln wollen: Der
historische Ursprung der Geometrie aus der Feldmeßkunde
scheint für diese Auffassung zu sprechen; die Dreiecks- und
82
Vierecksgestalten, die von dieser ursprünglichen Geometrie
untersucht wurden waren sicherlich als Form der auszumes'
.
senden Grundstücke reale Gestalten. Ahnliches gilt für die
Tatsachen, an denen die geometrischen Sätze im individuellen Leben bekannt werden: \Venn der Anfänger die Sätze
über die Winkelsumme im Dreieck, über den Flächeninhalt
von Rechtecken kennenlernen soll, so läßt man ihn zunächst
Dreiecke und Rechtecke auf dem Papier ausmessen und
führt ihn erst allmählich zu den allgemeinen Sätzen.
Eine noch nähere Verbindung besteht zwischen Arith3 = 5 wird uns immer aufs neue
metik und Realität: 2
deutlich, wenn wir an einem Haufen realer Gegenstände erfahren, daß zwei Gegenstände und drei Gegenstände fünf
Gegenstände sind, daß etwa zwei Kieselsteine und drei Kieselsteine dasselbe sind wie fünf Kieselsteine. So sind für John
St. Mill auch die arithmetischen Gesetzmäßigkeiten (ebenso
wie die logischen) sehr frühe Verallgemeinerungen aus der
Erfahrung der Realität, und hieraus erklärt sich für ihn auch
der hohe Sicherheitsgrad, der solchen Gesetzmäßigkeiten
zukommt. Von hier aus betrachtet, scheint die Mathematik
nichts anderes zu sein als eine Lehre von physischen Objekten, von demselben Typus etwa wie die Lehre von der
Wärme oder von der Elektrizität, die ja ebenfalls durch die
Verallgemeinerung (und Idealisierung) empirischer Tatbestände ihre Gesetzmäßigkeiten ableiten.
Frege hat sich in seinen Schriften ausführlich mit dieser
Auffassung der Arithmetik beschäftigt und diese >Kieselsteinund Pfefferkuchenarithmetik ~, wie er sie nennt, bekämpft.
Es ließe sich über seine Argumente hinaus noch mancherlei
gegen die Millsche Anschauung von der realistischen ~tru~­
tur der Arithmetik und der Geometrie anführen. Allem wtr
dürfen uns hier p ri n z i p i e 11 nicht auf die Diskussion der
empiristischen Argumente einlassen. Wenn wir es täten, so
machten wir ihnen damit das Zugeständnis, daß überhaupt
aus genetischen Überlegungen irgendwelcher Art etwas über
+
83
die Struktur der Mathematik entschieden werden könnte. In
Wahrheit jedoch kann die immanente Struktur der Mathematik einzig durch die direkte Betrachtung der V orfindlichkeit dieser Struktur selbst aufgeklärt werden, und eine solche
Betrachtung zeigt· einwandfrei, daß die Mathematik eine
Wissenschaft aus unmittelbarer Einstellung ist.
Die empiristische Philosophie hat zuweilen freilich den
Spieß umgekehrt: Da aus genetischen (und sonstigen) Gründen die Mathematik eine Wissenschaft sei, die aus der Abstraktion und Idealisation realer Tatsachen herstamme, so
müsse sie auch in diesem Sinn begründet werden. Die üblichen Begründungen seien demgemäß, wenn auch nicht gerade falsch, so doch unvollständig. So darf man nach dieser
Ansicht in der Geometrie nicht etwa von dem Begriff des
Punktes, der weder Länge noch Breite noch Tiefe hat, ausgehen, sondern man muß von physischen Punkten den Ausgang nehmen, die nach allen Richtungen hin ausgedehnt
sind; und von da aus darf man erst allmählich durch Abstraktion und Idealisierung zu dem ideellen Punkte hingelangen.
, Die erfolgreiche Anwendung, welche die Geometrie
fortwährend in den Naturwissenschaften und im praktischen
Leben erfährt, beruht jedenfalls nur darauf, daß die geometrischen Begriffe ursprünglich genau den empirischen Objekten entsprechen, wenn sie auch allmählich mit einem Netz
von künstlichen Begriffen übersponnen werden, um die theoretische Entwicklung zu fördern: Und indem man sich von
vornherein auf denempirischen Kern beschränkt, bleibt
der Geometrie der Charakter der Naturwissenschaft
erhalten. c (Pasch, Vorlesungen über neuere Geometrie,
Vorwort zur 1. Aufl.). Für Pasch sind demgemäß die, Punkte c
physische Objekte, deren Teile vernachlässigt werden sollen.
Die gerade Strecke hat demgemäß nur eine endliche Zahl
von Punkten; zwei Punkte dürfen nicht zu nahe aneinanderrücken, wenn sie noch eine Gerade bestimmen sollen usw.
usw. Es werden also die uns bekannten Eigenschaften und
Sätze der geometrisehen Gebilde aus >Vernachlässigungen c
gewonnen; im Grunde finden nur Annäherungen an die Sätze
der Geometrie statt; alle Geometrie ist in Wahrheit nur
Approximationsgeometrie.
Eine solche empiristische Begründung der Geometrie ist
gerade das, was wir eine Wissenschaftsverlagerung nannten.
Man kann gewiß auf dieWeise des Empirismus eine Wissenschaft der Geometrie aufbauen; eben die Approximationsgeometrie, die ihren großen Wert hat. Allein die Geometrie
und die Mathematik, wie sie die großen Mathematiker aufgebaut haben, kommt auf dieseWeise nicht zustande. Diese
echte Mathematik ist ohne Interesse ftir den Zusammenhang
ihrer Gebilde, ihrer Zahlkörper, ihrer Funktionen, ihrer Geometrien mit der Realität; es ist völlig gleichgültig, ob ihre
Gebilde ein Maß an der Realität besitzen oder nicht; die
Quaternionen sind ihnen prinzipiell nicht weniger wesentlich
als die natürlichen Zahlen, und irgendwelche nicht-euklidischen
Geometrien nicht weniger als die euklidische. Das macht
gerade den strukturellen Unterschied von der Physik aus:
eine Physik, die etwa der Wärme Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten zuschriebe, die die reale Wärme nicht besitzt,
hätte bloßen Phantasiewert. Die Mathematik hingegen kümmert sich um die Realitätsbedeutung ihrer Gebilde nie und
nirgends.
Nicht weniger verfehlt sind jene Theorien, die sich auf
die andere Seite der naturalistischen Alternative physischpsychisch bewegen und etwa die Zahlen zu psychischen
Gebilden zu stempeln suchen; sie berufen sich darauf, daß
die Zahlen im Zählensakt entstehen oder doch zum mindesten sich erst durch das Bewußtsein und im Bewußtsein
konstituieren. Ganz gleich, ob diese Anschauungen genetisch
sachlich im Recht sind; sie treffen so wenig den strukturellen
Charakter der mathematischen Gebilde, wie jene Lehren, die
die Gedichte als psychische Gebilde zu deuten versuchen,
ss
weil sie im Bewußtsein entstehen und für Menschen mit
Bewußtsein vorhanden seien.
Allein, wenn auch alle genannten Anschauungen nichts
dazu beitragen, die Struktur der mathematischen Gebilde
aufzuklären, weil sie mit genetischen und indirekten Gesichtspunkten an ein Problem herangehen, das nur durch direkte
Strukturanalyse geklärt werden kann, so machen sie doch
auf zwei Probleme aufmerksam, die auch dann noch bedacht
werden müssen, wenn feststeht, daß die Mathematik eine
Wissenschaft aus unmittelbarer Einstellung ist.
I . Wie ist es möglich, daß eine Wissenschaft wie die
Mathematik im Laufe der Geschichte ihren Charakter vollständig wandeln konnte, so daß die Geometrie aus der Feldmeßkunde, also einer Realwissenschaft zu einer Idealwissenschaft wurde, und in derselben Weise die Zahlenlehre aus
einer Lehre von den Zahlgesetzmäßigkeiten der realen
Gegenstände zu einer Wissenschaft, die auf Reales keinen
Bezug mehr nimmt? Hat damit die Mathematik nicht zugleich
ihre Einstellung geändert, oder wie ist diese Änderung sonst
aufzufassen?
2. Die Mathematik ist nicht nur eine Hilfswissenschaft,
sondern eine Grundwissenschaft der exakten Naturwissenschaften. Nun wurde festgestellt: Die Mathematik ist eine
Wissenschaft aus unmittelbarer Einstellung, mit den immanent strukturontischen Grundlagen der Wissenschaften aus
unmittelbarer Einstellung; die exakten Naturwissenschaften
·dagegen entstammen der naturalistischen Einstellung. Wie
ist es möglich, daß eine Wissenschaft mit der Struktur einer
bestimmten Einstellung Grundwissenschaft einer Wissenschaft sein kann, die eine durch eine andere Einstellung bestimmte Struktur besitzt?
Den Schlüssel für die Beantwortung dieser Fragen gibt
die neutralistische Haltung: Als ideale Gegenstände sind
die mathematischen Gegenstände in der Tat einzig der unmittelbaren Einstellung zugänglich, aber al:s Gestalten realer
86
Gegenstände sind sie gegen die Einste1lungen solange indifferent, als nicht spezifische Einstellungsprobleme ins
Spiel treten; so bedarf es keinesWechselsder Einstellung
beim Übergang von physischen realen Gegenständen zu idealen Gegenständen oder umgekehrt. pie Einstellung der
Feldmeßkunde ist neutralistisch; beim Ubergang zur Mathematik als Idealwissenschaft ist nur eine Präzisierung der Einstellung, keine Umwandlung vonnöten. Und andererseits,
wenn die Mathematik auf reale Probleme angewandt wird,
etwa die Lehre von den regulären Körpern auf die Bestimmung von Kristallformen, so geht umgekehrt die unmittelbare Einstellung in die neutralistische, nicht in die naturalistische Haltung über. Daß das Weltbild der exakten Naturwissenschaft im ganzen naturalistisch ist, ist für das konkrete Einzelproblem belanglos.
Damit ist zugleich auch die prinzipielle Frage beantwortet,
wie die Mathematik Grundwissenschaft der exakten Naturwissenschaft sein könne. Die Frage ist falsch gestellt, wenn
sie sich auf die Mathematik als Idealwissenschaft bezieht. Die
Mathematik als Idealwissenschaft ist gar nicht Grundwissenschaft der Naturwissenschaft. Es ist in der Tat unmöglich, daß eine Idealwissenschaft Grundwissenschaft einer
Realwissenschaft sein könne (wenn man unter Grundwissenschaft eine Wissenschaft versteht, die die tragenden Fundamente der Gegenstände der Realwissenschaft behandelt). So
gefaßt sind Fundamente der physischen Realitäten bestimmte
mathematisch faß bare Gestalten, Bewegungsformen, Relationen usw., die selbst real sind. Diese seihen mathematischen Gestalten usw. sind dagegen für die Mathematik nicht
real, sondern Sonderfalle einer idealen Gegenstandswelt. Aus
einer unendlichen Menge von Zahlmöglichkeiten sind die Zahlen der Arithmetik ein Spezialfall; aus der unendlichen Menge
von Geometrien ist die physikalisch realisierte Geometrie ein
SpezialfalL Es ist ein ähnliches Verhältnis wie zwischen einem
Bauwerk, das der Architekt in der Vorstellung entwirft, und
87
dem Bauwerk, das er in die Wirklichkeit hineinstellt. Der
Sachgehal t ist derselbe; aber das eine Bauwerk ist ein mentaler, das andere ein realer Gegenstand. So ist die Zahl 6
der Mathematik ein idealer Gegenstand; in der Anzahl: , sechs
Kieselsteine« dagegen die Sechs eine reale Gegenstandsbestimmtheit von gleichem Sachgehalt wie der ideale Gegenstand Sechs der Mathematik. Das Absinken in die Realität bedeutet hier nicht einenWechselder Einstellung, sondern einen
Wechsel der Gegenständlichkeit. Oder vielmehr: die unmittelbare Einstellung den idealen Gegenständen gegenüber wird
neutralistisch den physischen Gegenständen gegenüber. (Die
Besprechung der eigentlichen Schwierigkeiten der neutralistischen Haltung muß dem letzten Kapitel des Buches vorbehalten bleiben.)
Für den lebendigen Betrieb der Mathematik ist die Gefahr des Naturalismus niemals ernstlich akut geworden; nur
gelegentlich haben naturalistisch voreino-enommene Theorien
die Mathematik als naturalistische Wiss~nschaft interpretiert,
ohne dadurch an der Behandlung aktueller Probleme höherer
mathematischer Gebiete irgend etwas zu ändern: Nur in dem
Streit um die Grundlagenforschung, die in neuester Zeit so. viel Staub aufgewirbelt hat (Hilbert, Brouwer VVeyl) spielen
. G egensätze der Einstellung gelegentlich, 'wenn auch
'
dIe
verschränkt und in schwer zu entwirrender Weise hinein: Aber
auch diese Diskussionen haben die mathematische Einzelforschung kaum beeinflußt. Diese Einzelforschung wird viel
zu sehr durch die den Problemen selbst innnewohnende Stoßkraft in ihrer Richtung und Methodik bestimmt, als daß hier
philosphisch orientierte methodische Erwägungen etwas
ändern könnten.
3· Psychologie.
Die dauernde Methodenkrise der Psychologie - sie existiert nicht erst seit dem Auftauchen der heutigen Gegensätze innerhalb der psychologischen Forschung, auch nicht
88
erst seit Willys gegen Wundt gerichtetem Buch , Die Krisis
in der Psychologie« (1 889), sie lebt in Herbarts Kampf gegen
die Vermögenspsychologie, ja bereits in des Aristoteles Auseinandersetzung mit den vorangegangenen psychologischen
Auffassungen - diese dauernde Methodenkrise hat ihren
tiefsten, wenn auch nicht ihren einzigen Untergrund in dem
Gegensatz der beiden Einstellungen. Es müßte unverständlich erscheinen, daß eine Wissenschaft, deren Tatsachenbereich so offen daliegt, so zugänglich für jedermann ist,
wie das der Psychologie, zu solch heftigen Kontroversen
über die Methode ihrer Behandlung Anlaß geben konnte,
wenn nicht schon in der Formung der Tatsachen selbst die
Gegensätze sich offenbarten. In der Tat bestehen solche
Gegensätze der Formung: es gibt eine Betrachtung der
psychischen Tatsachen aus unmittelbarer, und es gibt eine
Betrachtung aus naturalistischer Einstellung.
Die Psychologie steht damit im Gegensatz zu allen anderen Wissenschaften: die meisten unter ihnen besitzen eine
adäquate Einstellung, die ihnen durch ihr Gegenstandsgebiet eindeutig vorgeschrieben wird und wenn auch für die
exakte Naturwissenschaft (in ihrem realen Betrieb) eine
solche adäquate, unbedingt geforderte Einstellung fehlt, so
erwachsen ihr keine Schwierigkeiten hieraus, sie zieht nur
Vorteil aus diesem Umstand. Denn wo die Strukturantik des
Wissenschaftsgebietes indifferent ist gegenüber der Einstellung, die man zu ihr einnimmt, fallen auch all die Mißhelligkeiten weg, die durch inadäquate Einstellung entstehen könnten - Mißhelligkeiten, die sich bereits bei der Mathematik
andeutungsweise zeigten, und die bei Logik, Ethik, Ästhetik
(wie noch darzutun sein wird) bis zur Verwirrung der Wissenschaften sich steigern.
Für die Psychologie hat das Fehlen einer adäquaten Einstellung eine von Grund aus andere Bedeutung als ftir die
Naturwissenschaften. Denn ihr Gebiet ist nicht indifferent
gegenüber den Einstellungen; man gelangt nicht etwa von
beiden Einstellungen her zu denselben Ergebnissen. Das
psychische Gebiet und seine Probleme erhalten vielmehr,
wenn sie von den verschiedenen Einstellungen her bearbeitet
werden, ein völlig anderes Gepräge; die Ergebnisse differieren in weitem Maße. Naturalistische und unmittelbare Einstellung ergeben eine jeweils verschiedene Psychologie. Die
Versuchung liegt in diesem Falle nahe, für denjenigen, der
sich über den Unterschied der Einstellungen nicht klar ist,
aus verschiedenen Einstellungen stammende Ergebnisse zu
einer Einheit zu verarbeiten und ungeklärt Tatsachen verschiedenen strukturontischen Hintergrundes durcheinanderzuwerfen. So wird das Fehlen einer adäquaten Haltung dem
psychischen Gebiet gegenüber nicht zu einer Quelle der
Kraft für die Psychologie, sondern der Schwierigkeiten, der
Krisen, der Schwäche.
Wie ist eine solche Diskrepanz der Einstellungen und
demgemäß der Ergebnisse aufzufassen? Lassen sich alle
psychologischen Probleme sowohl von der einen als auch
von der andern Einstellung aus behandeln? Oder existiert
vielleicht eine Scheidung nach Problemgruppen derart, daß
für manche Problemgruppen die unmittelbare, ftir andere
die naturalistische Einstellung die adäquatere ist?
In der Tat ist im wesentlichen das letztere der Fall.
Es gibt drei Arten von Problemen: solche, ftir die die naturalistische Einstellung die adäquate ist; solche, für die es nur
Sinn besitzt, sie aus unmittelbarer Einstellung heraus zu behandeln; und endlich solche, die eine Behandlung von beiden
Einstellungen her zulassen.
a) Überall dort ist innerhalb des psychologischen Problemkreises die naturalistische Einstellung die gegebene, wo
bereits durch die Fragestellung der Weg von außen nach
innen gewiesen ist: so finden alle psycho-physiologischen
Fragen ihre natürliche Antwort innerhalb der naturalistischen
Einstellung: Naturalistisch konzipiert sind etwa solche Fragen: Wie macht sich die Verschiedenheit der Wellenlängen
90
der Lichtstrahlen im Bewußtsein von der Farbe, in den >Farbempfindungen c bemerkbar? Wie ist der Weg beschaffen, der
von der linearen Anordnung der Lichtstrahlen zum dreidimensionalen Farbkörper führt? Oder: welche psychische
Rückwirkung, welche Bewußtseinsveränderungen entstehen
durch die Wirkungen von Alkohol oder anderen Giften auf
das Gehirn? Wie wirken körperliche Krankheitsprozesse, wie
wirken Gehirnverletzungen auf die Psyche? In all diesen
Fällen muß man das Schicksal der äußeren Vorgänge ~ der
Lichterregungen, der Gifte - durch den Körper hindurch
zum Gehirn und von da aus zur Psyche verfolgen - die
naturalistische Einstellung ist hier unbedingt gefordert.
Für einen anderen Typus naturalistisch zu behandelnder
Probleme sei das genetische Problem des » Raumbewußtseins « als Beispiel angeführt: In der Außenwelt werden dreidimensionaler Raum und dreidimensionale Raumgebilde als
wirklich vorausgesetzt; auf der andern Seite werden auch in
meinem Bewußtsein Gegenstände als dreidimensional aufgefaßt: es befinden sich in meinem Bewußtsein Vorstellungen dreidimensionaler Gebilde. Allein der dreidimensionale Raum, die dreidimensionale Anordnung der Gegenstände
wandert nicht einfach in mein Bewußtsein hinüber, wie etwa
ein feierlicher Aufzug, der draußen, außerhalb des Festsaals,
in der gewünschten Anordnung aufgestellt wird und nun in
der festgelegten Zugfolge in den Festsaal hineinmars-::hiert.
Vielmehr löst sich die Dreidimensionalität der äußeren Gegenstände bei der Zuleitung zum Körper wieder auf; sie wird
als Projektion zweidimensional auf die Netzhaut übertragen
wie auf eine photographische Platte; und die vorher dreidimensionalen Gegenstände sind nun zweimensional zusammengepreßt. Die Auflösung schreitet noch weiter fort; denn
die Zuleitung von der Netzhaut zum Gehirn bewahrt nicht
einmal die zweidimensionale Anordnung des Netzhautbildes;
das steht fest, wie man sich diesen Prozeß auch im einzelnen
vorstellen mag.
91
Bei der Lektüre psychologischer - mehr noch physiologischer Bücher und Abhandlungen - hat man zuweilen
den Eindruck, als ob die V erfass er sich über diese erneute
Auflösung nicht klar wären. Das sei an einem oft diskutierten Problem als einem Beispiel für viele gezeigt:
Nach physikalischen Gesetzen wird das Bild eines Gegenstandes bei seiner Projektion auf die Netzhaut auf den Kopf
gestellt; was in Wirklichkeit oben ist, ist auf der Netzhaut
unten, und umgekehrt. Da wird nun oft die Frage gestellt:
Wie kommt es, daß wir trotzdem die Gegenstände aufrecht
sehen?
In dieser Frage gehen eine Reihe von Mißverständnissen
durcheinander:
1. Man macht sich nicht deutlich, daß die zweidimensionalen Netzhautbilder nicht etwa einfach so, wie sie sind, ins
Gehirn wandern; gewiß steht obige Fragestellung nicht
mehr auf dem Standpunkt der Demokritischen Eidolatheorie,
nach der sich Bilderehen von den Gegenständen ablösen,
aber doch unbewußt auf dem Standpunkt einer modifizierten Eidolatheorie, als ob die Bilderehen der Netzhaut
ins Gehirn übertragen werden. Die Auflösung der Zweidimensionalität bei der Zuleitung zum Gehirn tritt nicht in
den Gedankenkreis des betreffenden Forschers.
2. Man geht noch weiter: Man nimmt an, daß das Bewußtsein nicht nur das Netzhautbild so erfassen müßte, wie
es ist, sondern man gebärdet sich auch so, als ob im Gehirn
ein Beobachter säße, der unmittelbares Bewußtsein von der
realen Außenwelt habe. Denn die Frage: wie kommt es, daß
wirtrotz der Umkehrung im Netzhautbild die Gegenstände
aufrecht sehen? setzt voraus, daß wir »eigentlich« von dem
~Auf-dem-Kopf-stehen c ein Bewußtsein haben. Dazu wäre
notwendig, daß wir gleichzeitig mit dem Netzhautbild auch
die reale Außenwelt erfaßten, sonst könnte es keinen Eindruck des Verhältnisses der Lage des Netzhautbilds zur
realen Außenweltsanordnung geben. Es wird hier also die
92
unmittelbare Einstellung (direktes Erfassen der Außenwelt)
und die naturalistische Einstellung (Übermittlung durch kausale Prozesse) durcheinandergeworfen; ohne diese V ermengung hat die angeführte Frage überhaupt keinen Sinn.
So werden hier einmal die beiden Einstellungen ineinandergemischt, und es fehlt außerdem das Bewußtsein, daß
bei der Zuleitung zum Gehirn nicht einmal die Zweidimen- .
sionalität des Netzhautbildes gewahrt bleibt.
Für die richtige genetisch orientierteFragestellunglautet
das Problem der Raumvorstellung: Wie kommt es, daß die
Dreidimensionalität J> draußen« zur Dreidimensionalität , drinnen c wird, obwohl alle Zwischenglieder keinen dreidimensionalen Gehalt aufweisen? Das ist rein naturalistisch gefragt:
Der Raum kommt doppelt vor: , draußen\[ und , drinnen c;
und es wird ein kausaler Prozeß vom äußeren Gegenstand
bis zum Psychischen hin verfolgt.
Da die psycho-physiologischen Fragen ihre Beantwortung
von der naturalistischen Einstellung her verlangen, ist es
wohl verständlich, daß die experimentelle Psychologie in
der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts als naturalistische
Psychologie ihren Anfang nahm: sie war von Physikern wie
Fechner, von Physiologen wie Helmholtz, Wundt und Lotze
geschaffen worden, denen die naturalistische Einstellung von
Haus aus nahe lag; man war von Fragen der Sinnesphysiologie zu den psychologischen Problemen und demgemäß
gerade zu den naturalistisch zu behandelnden fortgeschritten;
und endlich mußte auch die -von den exakten Naturwissenschaften übernommene - Bevorzugung der experimentellen
Methoden zur naturalistischen Psychologie führen. Nicht als
ob nur vom naturalistischen Standpunkte aus experimentiert
werden könnte. Die experimentellen Arbeiten des letzten
Vierteljahrhunderts haben gerade vom Standpunkt der unmittelbaren Einstellung aus fördernde Arbeit geleistet (Achs
Untersuchung der Willensvorgänge, Bühlers Denkexperimente, Jaenschs Eidetik u. a. m.); allein wenn man psycho93
logisch zu experimentieren beginnt, ist es am naheliegendsten und einfachsten zu fragen, in welchen Empfindungen
sich bestimmte Reize äußern, und welche Veränderungen in
den Empfindungen durch die Veränderung der Reize bewirkt
werden; - es ist also das Gegebene, an Problemen der
Sinnespsychologie naturalistisch einzusetzen.
Für diese naturalistische Behandlung psychologischer Probleme besteht eine Schwierigkeit, die zu mancherlei Komplikationen geführt hat - eine Schwierigkeit, die tief im
Wesen der naturalistischen Einstellung begründet liegt. Strukturontisch stehen für die naturalistische Einstellung Psychisches und Physisches gleichwertig nebeneinander; methodisch - so wurde gezeigt - wird das Physische bevorzugt.
Man geht vom Physischen aus: man verfolgt etwa einen
Lichtstrahl bis zum Gehirn, bis in die molekularen Vorgänge des Gehirns - wenn es möglich ist. Allein auch
wenn es möglich wäre, auch wenn das Gehirn so groß
wäre wie ein Haus, so vermöchte man nichts von einer
Farbenempfindung darin zu entdecken (Leibniz). Es bedarf
eines Wechsels der Sichtnahm e, um das Psychische zu
finden: Die Farbenempfindung wird von der subjektiven
Seite her erlebt, die nun ihrerseits unmittelbar nichts vom
Gehirn weiß. Es ist wie bei einer Tunnelbohrung, bei der
von beiden Seiten her in den Berg vorgestoßen wird bis
zur Mitte, nur daß hier - im Gebiet des Psychophysischen
- niemals ein Durchschlag erfolgt. Diese Tatsache der
gegenseitigen Unzugänglichkeit des Physischen und des
Psychischen ist es ja gerade, die die Theorie des Parallelismus hat entstehen lassen, indem sie die gegenseitige Unzugänglichkeit zum metaphysischen Prinzip - zum mindesten
zum methodischen .- erhebt. Diese Unzugänglichkeit ist es,
die dem metaphysischen Weltbild solche großen Schwierigkeiten bereitet, indem sie das Psychische als Fremdkörper
in den geschlossenen Kosmos des Physischen eindringen
läßt. Sie ist es auch, die - und das ist in diesem Zusammen94
hang einzig von Interesse - die E?twicklung d~r naturalistischen Psychologie in mehr als emem Punkte m falsche
Bahnen gedrängt hat. Denn wen~ die Psychologie den J?hys.iologischen Prozeß bis zum Geh1rn verfolgt hat, so w1rd 1hr
der Wechsel der Sichtnahme, der nötig ist, um das Psychische festzustellen, nicht nur zum erkenntnistheoretischen sondern auch zum methodischen Hemmnis. Denn
da sich 'nicht von außen etwas über das Psychische feststellen läßt da niemand über die Empfindungen Auskunft
geben kan~ als der Mensch selbst, der diese E~pfi~dung~n
erlebt so entsteht hier eine widerspruchsvolle S1tuat1on: D1e
natur~listische Einstellung untersucht prinzipiell die Welt
vom Objekt her, auch das Psychische soll von außen her als
ein mit den Gehirnvorgängen in die äußere Natur verflochtenes Geschehen begriffen werden; erfahren jedoch wird
das Psychische nur aus subjek~iver Sichtnahme heraus: D~s
ist ein Schlag für den Naturahsmus, der alles auf objektiv
festlegbare Tatsachen zurückführen möcht~. Wie soll man
da mit :. objektiven« Methoden das Psychische behandeln
können, jene objektive Exaktheit erreichen, die das ~iel d~r
Wissenschaft ist? Nicht einmal die schlichte Tatsächhchke1t
des psychischen Geschehens kann durch eine Sichtnahme vom
1 Objekt aus konstatiert werden, um wieviel weniger können
·diese Tatsachen objektiv exakt fixiert werden. Da nur dem
einzelnen, die psychischen Tatsachen erlebende? Me~schen
die psychischen Tatsachen unmittel~ar z~gänghch smd, so
fehlt die direkte Kontrolle durch d1e Mitmenschen, durch
den Psychologen. Die beliebteste (zuerst von Münster~erg
aufgestellte) Definition des Psychischen benutzt gerad; d1ese
für den Naturalismus fatale Eigenschaft des Psychischen:
das Psychische sei dasjenige, was nur einem Subjekt zugänglich sei.
.
. .
An und für sich wäre es für d1e naturahst1sche Psychologie das Gegebene gewesen, diesen Wechsel der Sichtnahme einfach hinzunehmen, ihn ohne Bedenken anzuerken-
95
nen und konkrete Probleme unbefangen in dieser Weise zu
behandeln. Denn strukturell ist ja -naturalistischPsychisches und Physisches gleichberechtigt. Allein methodisch ist die naturalistische Einstellung vielzusehr in der
Sichtna~me vom Physischen her befangen, als daß sie sich
ohne wet~eres dazu hätte ~ers~ehen können. Das Übergewicht
des Physischen machte steh Immer wieder bemerkbar. Bald
wurde- wie etwa in der ursprünglichen Fassung der Y oungHelmholtzschen Farbentheorie- das Psychische in seiner
Ei.genart nicht bei der Aufstellung der physiologischen Theorie
mttverwertet, sondern die physikalischen Tatsachen bei den
Deutungen bevorzugt, bald wurde die Gesamtheit des Psychischen auf , Empfindungen« reduziert weil man so am besten
glaubte, die Analogie zu den physiscl~en Tatsachen herstellen
zu können, bald wurden die Gesetzmäßigkeiten des Psychischen so gefaßt, daß sie möglichst den Gesetzen der äußeren
Natur an~eglic~en wurden (Assoziationspsychologie) 1 .
Am ~tßtramschsten war man gegen diejenige Erkenntnisquelle, dte den Ausdruck des Wechsels der Sichtnahme bedeu~ete:. gegen die Selbstbeobachtung. Daß die Mißhelligkeiten der Selbstbeobachtung zwar nicht ganz aufgeh?ben, aber doch auch vom naturalistischen Standpunkt
emgeschränkt werden könne (Schulung des Beobachters
Häufung der Zahl der Versuchspersonen usw.) wollte ma~
lange Zeit nicht gelten lassen. Nicht die In e x ~ k t h e i t war
es letztlich, die man so sehr beanstandete, sondern die
Sei bstbeobach tung als Ganzes: daher immer wieder die
Versuche zu einer objektiven Psychologie zu gelangen (Bechtere~), daher ~ie bereits erwähnten Versuche, Psychologie in
Gehirnanatomie und Physiologie aufzulösen, daher auch das
Interesse der naturalistischen Psychologen für objektiv festlegbare Reaktionen. So etwa wurde in den ersten Jahrzehnten
der ~sychologie bei der Untersuchung des Vergleichseindrucks
zweter Strecken einzig Wert darauf gelegt, wie oft mit
1
Vgl. Das Unbewußte und die psychische Realität.
I
~
I'
) gleich«, >ungleich«, >>unentschieden c usw. reagiert wurde;
denn diese Reaktionen waren objektiv faßbar. Dagegen
wurde kaum gefragt, welche Er 1e b n i s s e diese Reaktionen
begleiteten, oder welche subjektiven Prozesse gerade zur
Abgabe dieses und keines anderen Vergleichsurteils geführt
haben, oder wie überhaupt der seelische Prozeß beschaffen
ist, der zur Abgabe von Vergleichsurteilen führt usw. Es bedurfte erst einer langen Entwicklung, bis man sich auch ftir
die begleitenden Erlebnisse interessierte.
Es gibt ein Teilgebiet der Psychologie, bei dem die Ausschaltung der Selbstbeobachtung zur Notwendigkeit wird:
die Tierpsychologie. Hier muß unter allen Umständen
nach objektiven Kriterien gesucht werden, um Aufschluß
über das seelische Leben zu gewinnen; das Tier selbst vermag keine Auskunft über sein Seelenleben zu geben. Da
nur das Verhalten der Tiere studiert werden kann, so bleibt
der Rückschluß von diesem V erhalten auf das Psychische,
dessen Ausdruck das V erhalten ist, prekär - um so prekärer, je weiter das beobachtete Tier in der T~erreihe v?m
Menschen absteht: Wir konstatieren etwa aus emwandfre1en
Experimenten, daß die höheren Tiere Farben unter~cheid~n
können· allein ob ihnen die Farben genau so .erschemen w1e
uns - 'ob sie auf bestimmte Wellenlängen des Lichtes mit
denselben Farbenempfindungen reagieren wie wir, läßt
sich niemals mit völliger Gewißheit feststellen. Ja, in vielen
Fällen läßt sich umgekehrt direkt durch neue Experimente
dartun daß die aus der Analogie zu unserem eigenen Seelenleben ~aheliegendste Deutung des Verhaltens der Tiere nicht
zutrifft: eine Katze, der man in ihrer Abwesenheit von ihren
sechs Jungen eines weggenommen hat, wird den Verlust
sofort bemerken wenn sie wiederkommt. Die Deutung liegt
nahe daß sie ih~e Jungen gezählt habe. Es läßt sich nachweis~n daß diese Deutung falsch ist. Es ist die Verschiedenheit d~s konfiguralen Gesamteindrucks, was ihr die veränderte , Anzahl« zu bemerken erlaubt.
97
Es sind jedoch nur glückliche Ausnahmefälle, in denen
wir konstatieren können, ob der Schluß von unserem eigenen Seelenleben auf das der Tiere berechtigt ist oder nicht;
in vielen Fällen fehlt uns die menschliche Analogie (wie beim
Orientierungssinn der Brieftauben), und wenn man zu den
Ameisen und Bienen herabsteigt, werden die Schlüsse auf
die Art ihres Seelenlebens immer zweifelhafter. (Der Streit
zwischen Wasmann und seinen Gegnern, ob die Insekten
überhaupt ein Seelenleben besitzen, hat die Schwierigkeit
der Entscheidung über das Psychische, die aus dem Wechsel
der Sichtnahme entsteht, aufs deutlichste dargetan.)
Aus dieser Not macht der in Amerika weitverbreitete
>Behaviorismus« eine Tugend. Zunächst stellt er nur die
Forderung, sich aller Rückschlüsse auf das Seelenleben der
Tiere zu enthalten und sich auf das Konstatierbare, auf die
Feststellung des Verhaltens der Tiere zu beschränken. In der
zweiten Phase wurde er kühner: Jetzt dekretiert er das Prinzip,
daß wir kein Recht hätten, dasjenige, was wir nicht objektiv
beobachten können, überhaupt als existierend anzunehmen.
Aus dem methodischen Prinzip der Beschränkung auf das
Beobachtbare wurde das existentielle Prinzip der Nichtexistenz des Nichtbeobachtbaren: ein Bewußtsein der Tiere
existiert nicht, wurde behauptet. Zugleich wurde das Prinzip
auf den Menschen übertrage~. Auch beim Menschen läßt sich
.immer nur konstatieren, welche Reaktionen auf gegebene
Reize eintreten; das Seelenleben eines anderen Menschen ist
nicht konstatierbar und nicht objektiv beobachtbar. Deshalb
sei es unnötig, dem Menschen ein Bewußtsein zuzuschreiben
(wie schon William James aus anderen Gründen behauptet
hatte). Es gibt keine einfachere Methode, den Standpunktswechsel beim Übergang zum Psychischen unschädlich zu
machen: Indem man die Existenz des Bewußtseins leugnet,
entfallen alle Schwierigkeiten 1 •
1 Eine andere weitverbreitete Methode, sich der Schwierigkeiten zu entziehen, die das Psychische der naturalistischen Einstellung bereitet, ist der
b) Die unmittelbare Einstellung in der Psychologie beginnt erst dann, wenn erstens das Psychische nicht mehr von
der Außenwelt her untersucht wird, sondern man die Subjekt-Objektstellung in subjektivistischer Haltung einnimmt,
wenn das Subjekt von seinem Ich aus die Welt und das
Psychische betrachtet; und zweitens das Interesse an psychophysischen Zusammenhängen von dem Interesse an den
wirklich psychischen Zusammenhängen verdrängt wird.
In diesem Sinn ist bereits alle vorwissenschaftliche Psychologie der Dichter und Historiker Psychologie aus unmittelbarer Einstellung: Dichter und Historiker versetzen sich in
die Seele ihrer Helden und deren Gegenspieler und verstehen
von dort aus das Gegeneinander der Menschen und Geschehnisse. Auf den gleichen Bahnen bewegen sich die aphoristische Psychologie Pas c a I s und Niet z s c h es, die Realpsychologie von Novalis, Kierkegaards existentielle
Psychologie, die Psychologie der Mystik, in heutiger Zeit
die Psychologie von Litt und Spranger, von Jaspers und
den Phänomenologen. Die sinnespsychologischen Fragen
sind aus ihren Arbeiten völlig verschwunden, aber die
Probleme des Verstehens, der Einfühlung, der Stellungnahmen, der Motivationszusammenhänge, des Erlebens von
Sinn und Wert nehmen einen breiten Raum ein. Es ist unmöglich, ein Buch wie Jaspers' Psychologie der Weltanschauungen in die Begriffe der naturalistischen Psychologie zu
pressen. Oder man versuche einmal, den Nietzsche-Aphorismus: >Wer sich selbst verachtet, achtet sich doch immer noch
dabei als Verächter« naturalistisch zu interpretieren. Oder das
Adlersehe Problem der Entstehung der Neurosen durch Organminderwertigkeit oder das Problem des Erlebens des Tragischen und vieles anderes mehr. Das Erleben des Tragischen
z. B. wird bis zur Unkenntlichkeit entstellt, wenn man es als
Materialismus: Wenn nur das Physische existiert, so brauchen wir keine zweite
Realit.ätssphäre. Das Problem, weshalb gerade an bestimmten Punkten der
psychischen Welt diese zweite Realitätssphäre sich vorfindet, besteht nicht; der
Standpunktswechsel ist vermieden -, alles ist wunderbar einfach.
99
~
eine psychische Reaktion auf die etwa von der Bühne her auf
Auge und Ohr wirkenden und zum Gehirn fortgeleiteten
Sinneseindrücke auffaßt; es wird nur verstanden, wenn man
es als eine Erlebnisstellungnahme zu dem geistig-seelischen
Gehalt der unmittelbar erfaßten Vorgänge begreift.
Es waren ehemals zwei verschiedene vom Subjekt ausgehende Haltungen (innerhalb der unmittelbaren Einstellung)
unterschieden worden: die subjektivistische Haltung und
die Gegebenheitsbaltung. Aus ihnen entspringen zwei
Arten von psychologischen Problemen und demgemäß zwei
Formen von Psychologien aus unmittelbarer Einstellung: die
dynamische Subjektspsychologie unddieanalytischgenetische Gege benhei tsps ychologie.
Weshalb fällt mir etwa mitten in einer Unterredung über
wissenschaftliche Dinge eine belanglose Begebenheit aus
meiner Studentenzeit ein? Welches sind überhaupt die Faktoren, die das Subjekt dazu bringen, in einem Momente dieses,
im anderen jenes aus dem Vorrat seiner Erinnerungen herauszuholen? Das sind Fragen der dynamischen Psychologie. Wie bei aller subjektivistischen Haltung wird hier die
Objektwelt in ihrer Realität hingenommen und die Beziehung des Subjekts zur Objektwelt (nach der psychischen
Seite hin) untersucht. Die Erinnerung fungiert hierbei als
Funktion; sie wird als Tatsache anerkannt, und es wird
nur gefragt: wann erinnere ich mich? wessen erinnere ich
mich? usw. Hingegen kann man auch die Erinnerung selbst
in ihrer Gegebenheit analysieren: Wir hatten bereits
bei der Analyse der Gegebenheitshaltung selbst die Erinnerung als Beispiel herangezogen: wie sieht irgend ein Ereignis
meiner Studentenzeit für meine Erinnerung aus? Ist es sinnlich anschaulich gegeben oder nur vage, in leeren Intentionen?
Welches ist überhaupt der prinzipielle Gegebenheitscharakter
der Erinnerung? Wie ist in ihr der Hinweis auf das , Frühere
gegeben? Solche Untersuchungen gehören in die Gegebenheitspsychologie.
IOO
Prinzipiell gesprochen: in der d y n ~ m i s. c h e n ~sycho­
logie wird das Subjekt in der J?ynamik ~emer Bez1~hung
zur Welt und der inneren Entwicklung semes psychischen
Ablaufs untersucht: Der Nachdruck liegt auf der Dynamik
des Zusammenhangs: Was bestimmt das Wollen? Wie
wirkt das Wollen auf den Ablauf des Seelischen? Wie beeindruckt das Äußere das Subjekt, und wie reagiert das
Subjekt auf solche Eindrücke? Das Subjekt wird als ein
Zentrum angesehen, auf das Wirkungen ausgeübt werden,
das mit Akten der Stellungnahme, des W ertens, des Auffassens des Fühlens Denkens, W ollens reagiert, mit Zuständli~hkeiten und Befindlichkeiten aller Art, die nun ihrerseits im Subjekte weiter wirken. So ist der Nietzschische
Begriff des Ressentiments ein dy~ami~cher .Begriff. ~es­
sentiment ist eine dynamische F unktwn; auf seme Schwache
und das Gefühl der Minderwertigkeit, das in der Schwäche
liegt, reagiert das Subjekt mit einer Umwertung: d~s ~e~d,
die Schwäche das aus der Schwäche stammende M1tle1d 1st
das eigentlich Wertvolle für das ~ubj~kt, das in de~ Weise
des Ressentiments erlebt. Ob, w1e N 1e t z s c h e memt, das
Christentum als Sklavenaufstand in der Moral aus dem Ressentiment stamme oder nicht- oder ob, wie Scheler in
Umkehrung der Nietzeschen Auffassung beha?ptet, gerade
die demokratischen und liberalen Aufklärungs1deen Ressentimentgewächse sind- das sind ~ragen der ang~wand ten
_ dynamischen Psychologie. Ferner 1st F reuds Begnff der Verdrängungdynamisch wie die gesamte Psychoanalyse. ~her
auch Untersuchungen derart: wie Haß auf Menschen w1rkt,
etwa derart daß er den Hassenden selbst depraviert usw.
Hingegen sind es Fragen der Gegebenh~it.sps~ch.ologie: wie
sieht die Gegebenheit des Hasses aus, w1e 1st d1e mnere Stellung des hassenden Menschen zu. denjenigen, ~ie er ~aßt,
beschaffen? Sind Haß und Liebe emfach kontrad1ktatonsche
Akte sind sie mit , GeHihlen c, wie Freude ihrem Gegebenheits~harakter nach in eine Reihe zu stellen? Oder eine anIOI
d.ere -~egebenheitsfrage: in welchen Gegebenheiten bauen
steh außere Gegenstände für mich auf? Niemals ist ihre
~olle Drei~ime~sionalität sinnlich anschaulich gegeben: Das
a~ßere Dmg. wtrd stets nur von bestimmten Seiten her er~hckt, und die ~oll: Erfüll~ng .der auf einen Gegenstand ger~~hteten Intention Ist nur ~n emem gesetzmäßig zusammenhang:nden Ablauf von Ansichten möglich (Busserl) usw. usw.
Dte Gegebenheitspsychologie hat ihren ersten konsequenten Vertreter i? H um e gefunden, nachdem Locke
und Be r k e I e y zu thr den Weg gebahnt hatten. Die von
den Naturwissenschaften beeinflußte aber nicht rein naturalistisch or~entierte psychi.sche Eleme~taranalyse des 19 .Jahrhunderts Ist Gegebenhettspsychologie, meist mit recht unzulänglich:n Mitteln (Wund t z. B. in den Grundzügen der
Psychologie), der Neopositivismus Machs (Analyse der
Empfin.dungen), ?ie Psycholog~e der Selbstbeobachtung
(~h. Ltpps, der Je~o~~ Im Begnff der Einfühlung ein dynamisches Moment emfuhrt), Brentano ist Gegebenheitspsychologe, vor allem aber hat Husse r1 bewußt und methodisch gegebenheitspsychologische Untersuchungen des
G.~genstan~~aufbaues und de: Er~enntnisakte vorgenommen,
wah:en~ Pfander andererseits die Gegebenheitsanalyse der
Mottvat10?en und der Gesinnungen meisterlich durchführte.
. Sachlich g~hören dynamische Psychologie und Gegebenheitspsychologte zusammen; sie streiten nicht miteinander
sondern sie ergänzen einander: Zu einer durchgeführte~
Analys: des W ollens z. B. gehört die Durchforschung seiner
Dynamik, der Kräfte, die zum Wollen fuhren und der Wirk~ngen, die von ihm ausgehen, so gut wi~ die Analyse
semer Gegebenheit. Der Gegensatz der Psychologie aus unmittelbarer und
n~turalistischer Einstellung war seit langem latent. Allein
wte. überhaupt die naturalistische Einst e 11 u n g in der Ge~
schtchte des Geistes bis zur Mitte des 1 9· Jahrhunderts stets
102
nur ein Zwischenspiel gewesen ist, so auch die naturalistische
Psychologie. Da sie überdies noch meist verquickt war
mit dem metaphysischen Materialismus (Demokrit, Epikur,
La Mettrie), so wurden ihre Einbrüche fast immer theologisch, metaphysisch, moralisch abwertend beantwortet.
Nicht aber ließ man sich auf eine psychologische Diskussion
ein, geschweige denn, daß man die naturalistische Psychologie aus dem Gegensatz der Einstellungen heraus zu verstehen suchte. Erst das Erstarken der naturalistischen Psychologie um die Mitte des vorigen Jahrhunderts hat das
Problem des Gegensatzes naturalistischer und nichtnaturalistischer Psychologie ernstlich aktuell werden lassen. So
alleinherrschend war- nun für mehr als eine Generation hindurch die naturalistische Psychologie, daß es eines langen
Weges von gegenseitigen Mißverständnissen und methodischen Fehlansätzen bedurfte, ehe eine neue Psychologie
der unmittelbaren Einstellung sich von der naturalistischen
Psychologie loslösen konnte. Auch heute ist das tatsächliche
Geschiedensein der beiden Problemgruppen weiter fortgeschritten als das methodische Bewußtsein ihrer Abhebung.
Die Unduldsamkeit auf beiden Seiten läßt es schwer dazu
kommen, auch ftir die andere Seite Verständnis zu gewinnen.
Es gehörte die ganze Weite eines Geistes wie Dilthey dazu,
neben der , beschreibenden Psychologie«, der Psychologie
aus unmittelbarer Einstellung, der sein Herz gehörte, noch
eine , erklärende« Psychologie gelten zu lassen. (Es ist hier
gleichgültig, ob der Gegensatz der beiden Arten von Psychologien von Dilthey mit diesen Adjektiven klar und richtig
charakterisiert worden ist.) Diltheys Gegner Ebbinghaus
fehlte diese Weite, für ihn gab es letztlich nur die naturalistische Psychologie; und wenn er auch vielfach in seinen
einzelnen Argumenten gegen Dilthey im Recht war, so
übersah ·er doch, daß er von der Basis aus, von der er focht,
niemals an dies Prinzipielle der Diltheyschen Scheidungen
herankommen konnte- es verhielt sich hier, wie so oft in
103
Wissenschaft und Philosophie: Wer keine verschränkte
Problematik sieht, wird das innerhalb seiner Linie Liegende
deutlicher erkennen als derjenige, dem sich die Gegenstände
in vielen Beleuchtungen zeigen. Aber er wird auch blind sein
für all das, was bei der ihm allein zugänglichen Beleuchtung
nicht erblickt werden kann.
c) Eine Reihe von Problemen der Psychologie liegt jenseits der beiden Einstellungen, weil es ftir die Struktur des
zu erforschenden Tatbestandes im Effekt gleichgültig ist, ob
man von der naturalistischen oder der unmittelbaren Einstellung aus an sie herantritt. Zu solchen Problemen gehört z. B.
das Problem der Untersuchung des Gedächtnisses (solange
man sich nicht auf physiologische Erklärungsversuche einläßt): Die Wirkung der Einprägung einer Reihe von sinnlosen Silben, die Untersuchung der Wiederholungszahl, die
notwendig ist, um sie fehlerfrei herzusagen, oder die Untersuchung der Art und Weise, in der die einmal gelernte Reihe
allmählich abklingt, für all solche Probleme macht es keinen
Unterschied, ob man sie naturalistisch oder unmittelbar anfaßt. Dennoch läßt sich in diesen Fällen nicht schlechtweg
von einer neutralistischen Haltung sprechen wie bei der
Bearbeitung der Mehrzahl der Probleme der exakten Naturwissenschaften. Bei den Naturwissenschaften war es ohne
Belang, von welcher Einstellung man ausging, weil das
physische Gebiet beiden Einstellungen gemeinsam ist. Hier
dagegen würden die Einstellungen verschiedene Deutungen
des Tatbestandes ergeben, wenn man die Deutungen von
den Einstellungen aus wirklich ins einzelne durchführte.
Allein das Interesse, das man an diesen Tatsachen und Gesetzmäßigkeiten nimmt, reicht nicht so tief, daß diese verschiedenen Deutungen von Belang werden. Bei der Deutralistischen Haltung war die Beschränkung, die man sich auferlegte, extensiv: man interessierte sich nicht für dasjenige,
was außerhalb des physischen Bereichs lag. Hier dagegen
ist die Beschränkung intensiv: man dringt gar nicht bis zu
104
den Tiefen vor, in denen die Gegensätze der Einstellungen
wirksam werden.
Man untersuche etwa, nach wieviel Lesungen eine Reihe
sinnloser Silben (unter bestimmten Umständen) lückenlos
reproduziert werden kann, und stelle fest: nach 20 Lesungen
gelingt die lückenlose Reproduktion. Hier ist es irrelevant,
ob man nach naturalistischer oder nach unmittelbarer Einstellung deutet: naturalistisch interpretiert werden die sinnlosen Silben zu , äußeren Reizen c, die Häufung der Lesungen
der Reihe zu einer Häufung der Reize und die frei reproduzierte Reihe, die durch die Wiederholung der Reize erzeugte
Vorstellungswirkung. Man wird also zu formulieren
haben: die zwanzigfache Wiederholung der äußeren Reize
bewirkt (unter bestimmten Umständen), daß die ihr entsprechenden Vorstellungen in lückenloser Aufeinanderfolge ins Bewußtsein treten und demgemäß lückenlos in
dieser Reihenfolge hergesagt werden können. Die Lesungen
werden als Reize aufgefaßt; das Reproduzieren als eine Verdopplung des Gegenstandes in der Vorstellung. Von der
unmittelbaren Einstellung aus hingegen interpretiert man:
Die Reihe wird zwanzigmal hintereinander lesend er faßt;
solange bis die Reihe lückenlos vergegenwärtigt werden
kann. Die Unterschiede der Interpretation sind belanglos.
Die schlichte Formulierung der Gesetzmäßigkeit: bei zwanzigfacher Wiederholung der Reihe ist die Versuchsperson
imstande, sie lückenlos zu reproduzieren, läßt nichts von
den Unterschieden der Deutung erkennen.
Während in diesen und ähnlichen Fällen die Unterschiede der Deutung unwichtig, zum mindesten uninteressant sind, verändert in anderen Fällen die Deutung das
Bild des Gesamtergebnisses. Hierher gehören z. B. die mit
dem Webersehen Gesetz zusammenhängenden Fragen. Dem
Entdecker des Gesetzes, dem Physiologen Ernst Heinrich
Weber, konnte überhaupt keine andere Deutung in den
Sinn kommen als die naturalistische; und die experimentelle
105
Psychologie, die sich später mi~ diesen !'r~gen ~es~häf­
tigte, war ebenfalls von vornherem naturahsttsch orientiert.
So war es selbstverständlich für sie, daß die Fragestellung
des Wehersehen Gesetzes interpretiert wurde: Wie macht
sich der Reizzuwachs in dem Zuwachs der zugehörigen
Empfindungen bemerkbar? Wenn es sich etwa um das
Verhältnis der mit physikalischen Mitteln herzustellenden
Lichtintensität zu dem Helligkeitseindruck, oder um
das Verhältnis der physikalischen In t e n s i t ä t eines Tons
zu der gehörten ,Lautheitc: dreht, ist in der Tat die naturalistische Interpretation näherliegend Denn hier wird ein physikalischer Tatbestand zu einem heterogenen psychischen
in Beziehung gesetzt. Allein es gibt Fälle, in denen die naturalistische Deutung direkt gezwungen wirkt. Bei Untersuchungen über den Vergleich von Raumstrecken wird man
wohl am natürlichsten formulieren: Wie groß muß der Unterschied zwei er Strecken sein, damit er vom Beschauer b emerkt wird? Man wird also das bloße Sein der Strecken
von derri Bemerken ihres Unterschiedes scheiden und
nicht etwa naturalistisch formulieren: Weiche Strecken muß
man auf das Auge der Versuchspersonen wirken lassen,
damit sie in der Versuchsperson das Bewußtsein eines
Unterschiedes erzeugen? Solche Formulierung klingt gezwungen.
Das Problem wird hier also am besten als die Frage nach
dem Verhältnis der wirklichen und der aufgefaßten, bemerkten Größenunterschiede,derwirklichen Gegenstände
und der Gegenstände, wie sie vermeint sind, gefaßt; eine
Interpretation, die keine Verdopplung des Gegenstandes
kennt, sondern nur einen Gegenstand, einmal wie er ist,
und einmal, wie er aufgefaßt wird. Es ist keinesweg_s gleichgültig, ob man also das Webersehe Gesetz als reme Aussage über das Verhältnis von Reizzuwachs zu E~pfindu~gs­
unterschied oder als Aussage über das Verhältms von wirklichen und bemerkten Unterschieden formuliert. Trotz des
106
gleichen Sachgehaltes präsentieren sich die Probleme und
die Ergebnisse völlig verschieden 1 .
4· Die Logik.
Während die Mathematik durch den Gegensatz der Einstellungen niemals im Innersten berührt worden ist, ist in
der Nachbarwissenschaft der Mathematik, in der Logik, der
Streit um die Strukturantik weniger harmlos geblieben.
Dieser Streit beginnt erst im Laufe des I 9· Jahrhunderts.
Noch im letzten Drittel des I 8. Jahrhunderts konnte Kant
seine berühmte Behauptung aufstellen, daß die Logik »seit
dem Aristoteles keinen Schritt rückwärts hat tun dürfen c.
Nicht als ob ihre Aufgabe von jeher ganz eindeutig bestimmt
gewesen wäre. Bacos erkenntnismethodisch gemeinte Logik
der Induktion hatte z. B. völlig andere Zielsetzungen als des
Aristoteles metaphysisch gedeutete Logik; allein diese
Gegensätze bewegten sich doch innerhalb eines strikt abgegrenzten Umkreises: Eine wesentliche Übereinstimmung
aller Logiker bis zu Kants Zeiten bestand darin, daß sie die
Logik als Einzeldisziplin behandelten (auch wenn sie ihr
metaphysische Bedeutung zuschrieben). Die Logik hatte
schlicht die logischen Formen des Schließens zu untersuchen,
das Gesetz des Widerspruchs, das Urteil, den Begriff usw.
Wenn man auch weiterhin noch die Bedeutung dieser formallogischen Tatsachen für die Erkenntnis klarzustellen
suchte, so bildete doch den Untergrund stets die formale
Logik.
Gerade von Kant wurde der Schritt >rückwärts~ getan.
Im Zusammenhang seiner Philosophie wurde die Logik aus
1 Der Gegensatz der beiden Einstellungen steht überall im Hintergrunde
meiner Arbeiten über Psychologie. In den »methodologischen und experimentellen Beiträgen zur Quantitätslel-tre• (Leipzig, Engelmann 1907) wurde gerade
am Beispiel des Webersehen Gesetzes deutlich gemacht, wie verschiedenartig das Ergebnis ist, je nachdem man die eine oder die andere Einstellung
einnimmt. In dem öfters zitierten »Fragment über das Unbewußte und die
psychische Realität« 1921 wurde innerhalb des Wollensproblems gegen den
Naturalismus und für die unmittelbare Einstellung Partei ergriffen.
107
einer formalen Einzeldisziplin zu einem Teil der Philosophie. Er fragte in seiner transzendentalen Logik nach
dem philosophischen Ursprung der logischen Beziehungen
und Begriffe. Die Logik blieb nicht länger in ihrer einzelwissenschaftlichen Abgelöstheit betrachtet, sondern wurde
von ihm und seinen Nachfolgern, wie auch von dem gesamten Neukantianismus in die Verwehung philosophischer Fragestellungen hineingezogen.
Diese philosophische Begründung der Logik - die Aufweisung ihrer Konstitution im Bewußtsein, die Frage nach
ihrer metaphysischen Stellung, nach ihrer inhaltlich weltgestaltenden Bedeutung usw. -ist gewiß eine fundamentale Aufgabe philosophischen Denkens. Ihr darf jedoch in
diesem Zusammenhang nicht unser Interesse gehören; die
Strukturontik der Logik als einer Einzelwissenschaft, als
formaler Logik ist unser Problem.
Diese formale Logik ist nach zwei grundverschiedenen
Richtungen hin ausgebaut worden: Die formale Logik ist
eine Wissenschaft anderen Gepräges innerhalb der von Aristoteles herkommenden Tradition einerseits und innerhalb der mathematischen Logik andererseits.
Die von Aristoteles herkommende Tradition interessiert
sich für die logischen Beziehungen und Tatbestände, wie sie
vom aktuellen Denken als >logisch« (was das heißt, soll hier
nicht untersucht werden) eingesehen werden können; daß
die Schlußform:
Alle S sind P,
Q ist einS
Q ist P
richtig ist, läßt sich ohne weiteres einsehen.
Ein ganz anderes Gesicht zeigt diejenige Form der Logik, die sich - nach einzelnen vorgreifenden Versuchen bei
Leibniz - seit dem letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts
als mathemathische oder symbolische Logik entwikkelt hat. Hier handelt es sich nicht nur darum, die logischen
108
Schlußweisen und Bezeichnungen, soweit es möglich ist, zu
formalisieren und zu symbolisieren, sondern auch I. die komplizierten Beziehungen - more geometrico - aus einfachen
Beziehungen abzuleiten und 2. mit möglichst wenig Bezeichnungen und Grundbegriffen auszukommen; so läßt sich z. B.
zeigen, daß der Begriff >oder< (im Sinn des lateinischen vel)
immer ersetzt werden kann durch die Kombination anderer
Grundbegriffe der Logik: >nicht«, >folgte usw. Wenn man
diese Ersetzung vornimmt, so erhält man Formeln, mit denen
der menschliche Geist nichtdirekt eine logische Bedeutung
verbindet, aus denen jedoch Formeln abgeleitet werden
können, die solche logische Bedeutung haben. Es ist ähnlich
wie in der Mathematik: Es ist sehr wohl möglich, die Zahlbeziehungen aus Beziehungen abzuleiten, die als solche keine
Zahlbedeutung mehr haben (man vergleiche z. B. wie Peano
die Zahl I logistisch herleitet), die unmittelbar nichts zu tun
haben mit den Regeln, deren sich das aktuelle Zählen der
Zahlen bedient. Versteht man unter Zahlenlehre die Lehre
von den im Zählen realisierten Zahlbeziehungen, so ist
die Lehre, die die den Zahlen zugrunde liegenden Relationen
erforscht, keine Zahlenlehre mehr. Versteht man jedoch
darunter einen systematischen Aufbau der einfachsten Beziehungen und Sätze, aus denen sich die aktuellen Zahlbeziehungen ableiten lassen, so darf man auch eine solche
formalistische Lehre als Zahlenlehre bezeichnen.
Genau so bei der Logik: Logik als Lehre von tatsächlichen logischen Beziehungen zwischen Begr.iffen und Gegenständen ist formale Logik in üblicher Bedeutung, ftir die
mathematische Logik hingegen ist es nicht wichtig, ob
die Beziehungen und Sätze, mit denen sie es zu tun hat,
unmittelbar logischen Sinn haben oder nicht; es wird von
ihr einzig verlangt, daß sich die unmittelbar logischen
Beziehungen daraus ableiten lassen.
·
Dieser kurze Hinweis über den Unterschied der reinen
formalen Logik und der mathematischen Logik war notI()()
wendig, um das Gebiet der Logik für den Zusammenhang
der hier vorliegenden Probleme abzustecken: Mathematische Logik ist entweder Mathematik eines bestimmt
gearteten Gebietes, Mathematisierung der Logik - oder
sie ist (wie sie Russell und seine Schule ansieht) Logik, eine
Logik, deren Teil oder Anwendungsgebiet die Mathematik ist. Nach beiden Auffassungen muß die Logik Wissenschaft aus unmittelbarer Einstellung sein. Als Mathematik
aufgefaßt, teilt sie selbstverständlich die Einstellung aller
Mathematik; ist die Mathematik hingegen einT eil der Logik,
so kann die Logik als Ganzes ebenfalls keine andere Ein
stellung haben als die Mathematik als ein Teil dieser Logik;
daß sie Wissenschaft aus unmittelbarer Einstellung ist, bleibt
also auch in diesem Fall außer Frage.
Im äußersten Gegensatz zu dieser Verdopplung von Mathematik und Logik steht die Auffassung der psychologischen Logik, die Mathematik und Logik weit auseinanderreißt. Die Mathematik ist eine apsychologische Disziplin daran pflegt auch die psychologische Logik nicht zu rütteln;
indem jedoch die Logik und Mathematik als . Disziplinen
grundverschiedenen Charakters angesehen werden, ist nun
Raum geschaffen für eine völlig veränderte Auffassung der
Logik: Die Logik ist nun p s y c h o I o g i s c h e Disziplin: ein
Teilgebiet oder Anwendungsgebiet der Psychologie. Die
Mathematik hat mit der Wissenschaft der Logik nichts mehr
zu tun. Demgemäß wird die psychologische Logik zwar die
Möglichkeit einer mathematischen Logik anerkennen, aber
sie als bloße Spielerei zur Seite schieben, sie zum mindesten
als wissenschaftlich wertlos aus dem Kreis ihrer Betrachtungen verbannen.
Die Auffassung der Logik als einer psychologischen Disziplin ist heute überholt. Husserl hat es im I. Band seiner
Logischen Untersuchungen theoretisch dargetan und Alexander Pfänder in einer ausgeführten Logik praktisch gezeigt,
daß die Gegenstände, mit denen es die Logik zu tun hat: BeI IO
deutung, Urteil, Schluß, Relation, Ding, Eigenschaften usw.
als solche weder physische noch psychische Gegenstände
sind· es kann heute kein Zweifel mehr darüber herrschen,
daß' die psychologische Auffassung der logischen Gegenstände den Akt des Schließens z. B. mit dem Schluß,
die Relationsauffassung mit der Relation usw. verwechselt. Wie man etwa den Satz des Widerspruchs auch als
formal-logischen Satz auffassen mag: ,a und non a sind an
demselben Gegenstand in derselben Hinsicht unvereinbar«,
oder :.von zwei kontradiktorisch entgegengesetzten Urteilen kann nur eines wahr sein« oder wie sonst, in jedem
Fall spricht die Logik keineswegs von- psychischen oder
physischen - Tatbeständen, die in eine naturalistisch geformte Welt hineingehören, sondern von Gegenstandsbereichen, die in unmittelbarer Einstellung erfaßt werden
müssen.
Das Verhältnis zwischen reiner und psychologischer Logik
ist nicht dadurch ausgeschöpft, daß man nachweist, daß die
beiden Disziplinen im Gegensatz zueinander stehen. Nur die
negative Seite des Problems Logik-Psychologie ist damit begriffen. Es gilt umgekehrt, sich ebenso über die Verbindun g beider Gebiete klar zu werden; denn die Verwechslung von psychologischer Untersuchung logischer Tatsachen
und reiner Logik hat einen sachlichen Hintergrund. Es genügen für unsere Zwecke einige Andeutungen:
Nicht nur von bestimmten philosophischen Fragestellungen aus (Konstitution des Logischen im Bewußtsein) wird
man auf psychologische Probleme gestoßen, sondern auch
von der Logik als Einzelwissenschaft her ergibt sich ein
solcher Zusammenhang, und zwar in doppelter Weise: Einmal: Das Logische ist nicht bloß ein Gebiet ideeller Gegenstände· das Urteil nicht bloß ein gegenstandsbezogener,
bewuß~seinsunabhängiger Tatbestand; die Schlüsse nicht
bloß abstrakte Zusammenhänge von Urteilen, sondern all
das hat seine Bedeutung im aktuellen Leben des DenI I I
kens. Die Begriffe, das Urteil, der Schlußmögen an sich
ideelle Gebilde sein; das Interesse, das wir an ihnen nehmen, stammt aus der lebendigen Wirklichkeit unseres
Denkens. Im Begriff, im Urteil bemächtigt sich das Ich der
Wirklichkeit, im Schluß erweitert es seine Erkenntnis des
Seienden. Begriff, Urteil, Schluß funktionieren in der
lebendigen Tätigkeit des Individuums; sie kristallisieren sich
im Kampfe des Individuums um die Wirklichkeit heraus; sie
sind in die psychische Wirklichkeit des Denkens verflochten.
Von der Aktualität des Lebens aus betrachtet, ist das Logische in seiner idealen Form ein NiederschIa g dieses
Lebens.
Das Logische hat jedoch zugleich noch eine zweite Beziehung zum Psychischen, die wissenschaftstheoretisch fast
immer in den Vordergrund gerückt wird: Die Gesetze der
Logik bedeutenNormen für das Denken, und das Denken
verfährt in einer - in der Psychologie noch nicht restlos
aufgeklärten Weise - ihnen gemäß, wenn es richtig denkt.
Dennoch sind die logischen Gesetze, auch wenn man sie in
ihrer Beziehung zu den Tatsachen des Denkens betrachtet,
nicht schlechtweg als psychische Gesetze aufzufassen. Niemand, der die Sterblichkeit des Sokrates als Tatsache behauptet, weil nun einmal alle Menschen sterblich sind, vollzieht im aktuellen Denken den Schluß nach der berühmten
Schlußformel; und wer jemals versucht hat, irgend einen auch
nur etwas komplizierteren Satz wie etwa: , Ich muß heute Besuch von der Bahn abholen, daher kann ich nicht pünktlich
um 8 Uhr zum Essen zu Hause sein« in schulgerechte
Schlüsse zu übersetzen, wird sofort sehen, daß eine solche
Auseinanderlegung gar nicht einfach ist, und daß das wirkliche Denken weit entfernt ist, sich an die logischen Formeln
zu halten.
Die formalen Gesetze der Logik setzen sich also nicht
einfach ins Psychologische um, wenn gemäß ihrer gedacht
wird. Daher besteht auch nicht die Möglichkeit, umgekehrt
112
die logischen Gesetze aus dem psychischen Ablauf des Denkens herauszudestillieren. Es ist ein doppeltes Mißverständnis, das der psychologischen Logik unterläuft. Einmal: die
logischen Gesetze sind als solche keine p s y c h i s c h e n Gesetze; andererseits sind sie auch nicht abgeleiteterweise
psychische Gesetze, nicht Gesetze, nach denen das Denken
verläuft, wenn es richtig denkt, wie die ganze psychologische
Logik (Lipps, Heymans usw.) glaubt.
Es wäre eine reizvolle Aufgabe, einesteils dem tatsächlichen
Ineinander des Logischen und Psychischen nachzugehen, und
andererseits nachzuspüren, welche Seiten dieses Ineinander
es waren, die die Logik für den Psychologismus zu einer psychologischen Disziplin werden ließen (auch durch Husserls
Logische Untersuchungen ist erst ein Anfang in der Aufklärung dieser Beziehungen gemacht). Hier jedoch interessiert weniger das Ineinander von Psychischem und Logischem als das Ineinander der beiden Eins teil u n gen
in n er h a I b der psychologischen Logik.
Es liegt nahe zu glauben: die formale Logik ist Logik
aus unmittelbarer Einstellung, die psychologische Logik
ist Wissenschaft aus naturalistischer Einstellung. Allein
so einfach liegen die Verhältnisse nicht. Für die formale
Logik, so sahen wir, trifft es zwar zu, daß sie in unmittelbarer Einstellung betrieben werden muß; die psychologische
Logik hingegen ist ein viel zu kompliziertes Gebilde, als daß
man sie einfach auf diese Weise erklären könnte.
So viel ist jedoch an dieser schlichten Gegenüberstellung
richtig: daß der Irrweg der psychologischen Logik im I 9. Jahrhundert sich ausbilden und populär werden konnte, so daß
er von der Mehrzahl der Logiker als etwas Selbstverständliches hingenommen wurde, rührt in der Tat zum großenTeil
daher, daß die zweite Hälfte des I 9· Jahrhunderts die Zeit
der natl}ralistischen Einstellung war. Sie prävalierte so sehr,
daß sich ihre Gedankengänge und Einteilungen unbewußt
noch mehr als bewußt eindrängten: So kannte man als Wis113
sensehaften nur Realwissenschaften, und zwar nur Realwissenschaften physischer oder psychischer Struktur. Die Logik
ist sicherlich keine physische Realwissenschaft, also ist sie
eine psychische Wissenschaft, eine Wissenschaft von den Gesetzen des Denkens -das war die naheliegende Folgerung.
Die meisten Schwierigkeiten und Verwechslungen der psychologischen Logik sind durch die naturalistische Einstellung
a priori an sie herangetragen, nicht so sehr aus dem Nachdenken über den Gegenstand der Logik selbst erwachsen.
So darf es z. B. - darauf wurde bereits hingewiesen von dieser Einstellung aus, Begriffe, Schlüsse, Urteile usw.
als vom Subjekt unabhängige geistige Gebilde überhaupt
ni eh t geben; nicht weil man Schluß und Schließen, Urteilen
und Urteil zusammenwarf, kam man zum Psychologismus,
sondern umgekehrt, weil die naturalistische Einstellung eine
Logik verlangte, die sich in der Analyse psychischer Geschehnisse erschöpfte, mußte man Schluß und Schließen,
Urteilen und Urteil durcheinanderwerfen, mußte man die
Allgemeingültigkeit der logischen Gesetze in die komparative Allgemeinheit psychischer Gesetze umdeuten.
Der Neukantianismus, der die Verfehltheit des Psychologismus einsah, war nicht imstande, die psychologistische
Logik zu widerlegen, da er sich sofort in die philosophische
Untersuchung des >Ursprungs c des Logischen hineinwarf
und die formale Logik als solche nicht absonderte. Ganz abgesehen davon, daß ihn sein idealistisches Glaubensbekenntnis in den Einzelausführungen oft bedenklich nahe an den
Psychologismus heranftihrte. Auf jeden Fall mußte die philosophisch-idealistische Grundlegung der Logik ihm den Weg
zur klaren Herausarbeitung des apsychologischen Charakters
der Logik als Einzelwissenschaft versperren. Dieser apsychologische Charakter konnte nur begründet werden, wenn man
sich strikt aller philosophischen Ursprungsüberlegungen enthielt. Erst als Husserl im Anschluß an Bolzano und Frege
im 1. Band seiner Logischen Untersuchungen sich die formale
I I
4
Logik als Einzelwissenschaft vornahm, und die Logik aus
der naturalistischen Einstellung in die unmittelbare zurückdrehte, sprang der Gegensatz zwischen Akten des Schließens und Schluß, zwischen psychologischen und logischen
Gesetzen klar heraus; die durch den Naturalismus (und doch
zum Teil auch durch den Kantianismus) verlorengegangene
Tradition der klassischen Logik konnte wiederhergestellt,
den logischen Gegenständen ihr Recht als idealen Gegenständen wieder verschafft werden.
So ist von dieser Seite her gesehen die psychologische
Logik das typische Beispiel einer Wissenschaftsverlagerung: Die logischen idealen Gegenstände werden von einer
ihnen inadäquaten Einstellung her gefaßt, in deren Sinn als
psychologische Gegenstände umgebaut, und demgemäß wird
mit der Logik im echten Sinn der formalen Logik die an sich
berechtigte psychologische Disziplin, die die Akte des Schließens, Begriffebildens usw. untersucht, verwechselt, eine Disziplin, die den Namen der Logik nicht verdient. Diese Wissenschaftsverlagerung hat während mehrerer Jahrzehnte die
Logik in Unordnung gebracht, ihre Probleme verschoben,
ihre Methodik verunstaltet.
Die naturalistische Grundtendenz war - das wurde bereits betont- das wesentlichste Motiv, das die Behandlung
der Logik ins psychologistische Fahrwasser trieb. Daneben
haben freilich Einzelargumente herhalten müssen, um den
psychologischen Charakter der Logik darzutun, um der psychologischen Logik das gute Gewissen zu verschaffen, dessen
sie bei ihrer Ablehnung der formalen Logik bedurfte. Allein
nachdem erst einmal der psychologische Charakter der Logik
feststand, wurde in sehrvielen Fällen die naturalistische Grundtendenz, die zum Psychologismus geführt hatte, vergessen,
und nun die Logik als psychologische Disziplin von dem Standpunkt aus bearbeitet, der für das gerade vorliegende Problem
der al1gemessenste erschien. Das war aber in den meisten
Fällen nicht die naturalistische Einstellung, sondern die sub115
jektivistische Haltung der unmittelbaren Einstellung.
Prinzipiell ist z. B. die natürlichste Interpretation der »Induktion« diejenige, die von der subjektivistischen Haltung
der unmittelbaren Einstellung ausgeht: Aus der unmittelbaren Erfassung einer Reihe sich wiederholender objektiver
Zusammenhänge heraus verallgemeinert das Subjekt ein allgemeines Gesetz: Es hat beobachtet, daß an bestimmten
Tagen des Mai Kälterückschläge sich einzustellen pflegen,
es verallgemeinert daher, daß die drei Eisheiligen in jedem
Jahr Kälte bringen werden. Von naturalistischer Einstellung
ist hier keine Rede mehr. Hierdurch kam es, daß auch dort,
wo im Prinzip von der Logik die naturalistische Einstellung eingenommen wurde, man die Induktion doch immer aus
unmittelbarer Einstellung interpretiere. Dasselbe gilt auch
für die übrigen Erkenntnismethoden: Die logische Methode
der Deduktion findet ja ihren naheliegendsten Anwendungsbereich bei den mathematischen Gegenständen, die sich
schwer anders denn als ideale Gebilde aus unmittelbarer
Einstellung deuten lassen. So hat man sehr selten in der
psychologischen Logik die naturalistische Einstellung völlig
rein durchgdührt; es sind eigentlich nur unbedeutendere
Autoren, die die volle Konsequenz der naturalistischen Einstellung auf sich nahmen.
Weit öfters wird nur derHintergrundder Logik naturalistisch gesehen; man baut auf eine allgemein naturalistische
· Strukturantik die allgemeinen Ausführungen, benutzt jedoch
bei den einzelnen !Problemen diejenige Einstellung, die für
das betreffende Problem am geeignetsten ist.
So lauten z. B. die Eingangsworte der Logik von Lotze
rein naturalistisch: ~Auf Anregungen der Sinne entstehen
uns fast in jedem Augenblick unseres wachen Lebens verschiedene Vorstellungen zugleich oder in unmittelbarer Abfolge. Von ihnen haben manche ein Recht, in unserm Bewußtsein so zusammenzutreffen, weil auch die Wirklichkeit,
116
r
aus der sie stammen, ihre veranlassenden Ursachen immer
zugleich erzeugt oder aufeinanderfolgen läßt. c Verfolgt man
jedoch die Ausführungen seiner Logik ins einzelne, so wird
man viele Auseinandersetzungen antreffen (in der Lehre von
den Schlüssen, von den Erkenntnismethoden usw.), die sich
nur schwer mit einer naturalistischen Strukturantik vereinen
lassen.
Ähnliches gilt überall: Es gibt einesteils Probleme, die
indifferent dagegen sind, von welcher Einstellung aus man
sie behandelt - sie wird die naturalistisch orientierte Logik
mit Vorliebe naturalistisch deuten. Vom » Wahrheitsbegriffe
wurde bereits in früheren Auseinandersetzungen gezeigt,
daß er sowohl eine Interpretation aus unmittelbarer, wie
auch aus naturalistischer Einstellung zuläßt, und so finden
sich denn auch in den Kapiteln, die mit dem Wahrheitsbegriff zusammenhängen, die verschiedenartigsten Ausführungen innerhalb der psychologischen Logik - von der
extremsten naturalistischen Wahrheitsinterpretation der Abbildtheorie bis zur subjektivistisch orientierten der Deckungstheorie -je nachdem, welche Probleme in den Vordergrund
treten.
Die Unstimmigkeiten, die sich in der Behandlung der
Logik durch den Wechsel der Einstellung ergeben, würden
den psychologistischen Logikern wohl deutlicher zum Bewußtsein gekommen sein, wenn ihnen nicht ein nach allen
Einstellungen hin schillernder Begriff zu Hilfe gekommen
wäre und ihnen diese Unstimmigkeit verdeckt hätte. Es ist
der Begriff der »Vorstellung~. Von der großen Zahl seiner
Bedeutungen kommen für dies Ineinanderschieben der Einstellungen vor allem drei in Betracht:
1. Für die naturalistische Einstellung ist alles Wahrgenommene Wahrnehmung eines vorstellungsmäßig >in
mir« Vorhandenen. Die Sinne erzeugen die > Vorstellunge
des Hauses (vgl. die zit. Stelle aus Lotze); vom realen Haus
wissen wir unmittelbar nichts.
117
Von der unmittelbaren Einstellung aus läßt sich
der Gegenstand als Vorstellung bezeichnen, wenn man die
Gegebenheitseinstellung einnimmt und sie idealistisch interpretiert: ~Ich sehe ein Haus. « Das besagt: Es ist mir ein
Haus im Sehen gegeben. Deutet man das Gegebensein idealistisch, so wird man dieses Gegebensein ausdrücken: »Ich
habe eine Hausvorstellung. « Spricht man jedoch diesen Satz
für sich allein aus, ohne daß andere Aussagen präzisieren,
welche Einstellung man einmmmt, so läßt sich ihm nicht
ansehen, ob er naturalistisch gemeint ist (es ist von den
Sinnen in mir eine· Hausvorstellung erzeugt worden) oder
idealistisch im Sinne der Gegebenheit (in meinem Bewußtsein ist eine Hausvorstellung). Es eignet sich also eine solche
Art der Ausdrucksweise besonders gut dazu, die Gegensätze
der Einstellungen zu verschleiern.
3· Endlich schillert die »Vorstellung« eines Hauses in
der psychologischen Logik in einer Weise, die in der Literatur bei anderen Gelegenheiten (z. B. von Th. Lipps, Husserl)
schon öfters hervorgehoben ist: >Vorstellung« ist einmal
p s y c h i s c h gefaßt: die Vorstellung des Hauses ist eine
Hausvorstellung (so hatten wir in den beiden vorangegangenen Fällen interpretieren müssen); oder man versteht unter
der Vorstellung des Hauses das vot:"gestellte Haus, den
Gegenstand selbst - so wie man in einer Ausstellung der
Ausgrabungen die ausgegrabenen Gegenstände ausstellt. Dadurch, daß man Vorstellung in diesem gegenständlichen Sinne nimmt, ist der Vorstellungsbegriff auch für die
subjektivistische Haltung verwendbar. (Es sei daran erinnert,
daß subjektivistische Haltung bedeutet, daß die Haltung
vom Subjekt ausgeht, nicht aber subjektivistisch in dem
Sinne ist, daß ihr die Gegenstände zu subjektiven Inhalten
werden. Im Gegenteil: In der subjektivistischen Haltung der
unmittelbaren Einstellung weiß man die Objekte als real
sich gegenüber.)
Am leichtesten läßt sich ein solcher schillernder Vor2.
r
I
8
r
stellungsbegriff verwenden, wenn man die Gegebenheitshaltung einnimmt und die Welt als einen Inbegriff mir gegebener Vorstellungen auffaßt; denn die idealistische Deutung der Gegebenheitshaltung ist einerseits eine Unterform
der unmittelbaren Einstellung; andererseits faßt sie die
Gegenstände als >Vorstellungen für ein Ich«, ähnlich wie
es in der Konsequenz der naturalistischen Einstellung liegt.
So hat denn die psychologische Logik die idealistische Gegebenheitshaltung bevorzugt, wo es nur irgend ging: Das
Urteil: der Schnee ist weiß, wird von hier aus zu einerSynthese von Vorstellungen gestempelt, obwohl weder der
Schnee, noch das Weißsein eine Vorstellung ist.
In diesen Teilen ist die psychologische Logik nicht mehr
eine Wissenschaftsverlagerung, sondern gehört zum h ybriden Wissenschaftstyp; statt der subjektivistischen Haltung wird auf unangemessene Tatbestände die idealistische
Gegebenheitseinstellung angewandt. (Erst bei der Untersuchung der Erkenntnismethoden, die das Gegenüber von
Subjekt- und realer Objektwelt verlangen wie Induktion und
Deduktion, tritt dann mit Vorliebe die subjektivistische Haltung wieder in ihr Recht, indem man den Vorstellungsbegriff
im dritten Sinn [Vorstellung als vorgestellter Gegenstand)
verwendet.)
So gesellt sich denn als Drittes zur naturalistischeh und
subjektivistischen die idealistische Gegebenheitsauffassung
logischer Probleme. In den meisten Fällen (siehe das Beispiel von der Induktion) wäre die Deutung aus der subjektivistischen Haltung die naheliegende, bei der die Gegenstände
als Gegenstände erscheinen und nicht als Vorstellungen.
Nachdem aber erst einmal das naturalistische Vorurteil sich
eingenistet hat und die Gegenstände als Vorstellungen be
zeichnet werden, tritt die analytische Gegebenheitspsychologie in den Vordergrund.
Von den führenden psychologischen Logikern findet man
sie vor allem bei Sigwart bevorzugt: Die Logik wird ihm
I i
9
dadurch im wesentlichen zu einer analytischen Gegebenheitspsychologie, während Mill z. B. stärker die rein subjektivistische Haltung mit ihrer Anerkennung von Gegenständen
einnimmt.
*
*
Diese Beispiele des Gegensatzes und des Ineinandergreifens der Einstellungen, der Verwendung adäquater und
inadäquater Strukturantik mögen genügen: Die Probleme,
die Wissenschaftsverlagerungen und Irrtümer wiederholen
sich je nach der .(\rt der Wissenschaften. Es bedürfte eines
näheren Eingehens auf die Strukturen der Wissenschaften
selbst, um diese Verhältnisse klarzustellen.
So liegen die Probleme etwa bei der Ästhetik ähnlich wie
bei der Logik, nur daß hier historisch die falsche__ naturalistische Einstellung innerhalb der psychologischen Asthetik
weit größeren Einfluß gewonnen hat 1 .
Komplizierter ist der Tatbestand der Ethik nach der
Seite der Einstellung hin zu kennzeichnen. Schon die Unmöglichkeit, ein einheitliches Gebiet aufzufinden, das alle Ethiker
als das eigentlich Ethische anerkennen (Glückslehre, Lehre
vom sittlichen Handeln, der ethischen Gesinnung usw.), verwirrt und verschränkt die Problematik.
Wie in den philosophischen Einzeldisziplinen wiederholen
sich die Verkennungen der Einstellungen bei allen Geistes-
wissenschaften. Sie alle haben zur Grundlage Gegenstände,
die nur von unmittelbarer Einstellung her gewonnen werden
können (Recht, Staat, Wirtschaft, Religion usw.); sie alle
enthalten Grenzprobleme, die mit der naturalistischen Einstellung zusammenhängen; sie alle um greifen Problemgruppen, die von subjektivistischer, und solche, die von objektivistischer Haltung her zu bearbeiten sind. Und bei ihnen
allen hat sich immer wieder die Tendenz zu Wissenschaftsverlagerungen gezeigt, zur psychologistischen Auflösung der
realen geistigen oder idealen Gegenstände, mit denen es die
Wissenschaft zu tun hat - aus inadäquater Einstellung heraus. Bei ihnen allen werden immer wieder die legitimen
psychologischen Probleme, die innerhalb dieser Wissenschaften tatsächlich bestehen, als die Probleme der betreffenden Wissenschaft überhaupt angesetzt.
1 Diese Wissenschaftsverlagerung der Ästhetik nach der naturalistischen
Einstellung hin - um so erstaunlicher, da das Kunstwerk in noch höherem
Maße nur aus subjektivistischer Haltung zu verstehen ist als die Gegenstände
der Logik- erklärt sich wohl aus dem Einfluß G. Th. Fechners, des Begrün. ders der psychologischen Ästhetik im 19.}ahrhundert. So kommt es, <!.aß z. ~­
Volkelt mit einer Direktheit den psychologischen Charakter der Asthet1k
durch naturalistische Argumentationen begründet, wie man sie entsprechend in
der psychologischen Logik nirgends findet. »So gewiß es ist, daß Farbe und
Ton erst durch das emofindende Bewußtsein zustande kommt, so gewiß ist es
auch, daß alle Natur- und Kunstgestaltungen erst durch das empfindende Bewußtsein ästhetischen Charakter erhalten. Denselben Grad von Wahrheit, der
dem Satze zukommt: In der transsubjektiven Welt gibt es nichts an sich Farbiges und Tönendes, kommt auch dem anderen Satze zu: Die~_ranssubjektive
Welt fällt nicht unter ästhetische Bezeichnungen.« (System der Asthetik I S. 6.)
Im weiteren Verlauf seiner Ästhetik stellt sich hingegen Volkelt immer mehr
auf den Boden der analytischen Gegebenheitspsychologie.
120
121
5.KAPITEL
DIE PHILOSOPHISCHEN EINZELPROBLEME
UND DIE EINSTELLUNGEN
WenndieEinstellungenim Vorausgegangenenalswissenschaftliche Einstellungen betrachtet wurden, als Haltungen,
die ausschlaggebend sind ftir die Strukturontik der Einzelwissenschaften, so liegt solche Einschränkung auf die Wissenschaft nicht im Wesen der Einstellung. Die Einstellungen
sind vielmehr Vorgriffe gegenüber der Struktur der Realität
überhaupt -. Vorformungen, die sich die Wissenschaft
zwar zunutze macht, die jedoch überall ins Spiel treten, wo
Probleme der Realität in Angriff genommen werden: im gewöhnlichen Leben, so gut wie bei der Behandlung philosophisch-metaphysischer Einzelprobleme, wie auch beim Aufbau ganzer metaphysischer Systeme.
Hier möge zunächst von einer Reihe philosophischer Einzelprobleme gesprochen werden, deren historisches Schicksal
eng verknüpft ist mit dem Kommen und Gehen der Einstellungen.
Es gibt eine große Zahl philosophischer Einzelprobleme
(wie etwa die Frage nach der Existenzart der Univers a Ii e n,
nach dem Bestehen oder Nichtbestehen der Willensfreiheit u. a. m.), bei denen gerade der Gegensatz der Einstellungen, von denen aus sie betrachtet werden, dafür verantwortlich zu machen ist, daß trotz endloser Diskussionen kein
Lösungsfortschritt erzielt werden konnte. Wo bei den Denkern verschiedenster Zeiten die gleichen Einstellungen eingenommen werden, da tauchen scheinbar längst widerlegte
Argumente immer wieder auf: zuweilen in neuer Gestalt,
meist aber im uralten Gewand. Ja, die entgegengesetzt ein122
gestellten Denker verstehen oft nicht einmal, was der Gegner
mit seinen Argumenten eigentlich will. Es ist ein oft eingeschlagener (aber doch etwas kläglicher Ausweg), das gegenseitige Nichtverstehen der Argumente, die Unversöhnlichkeit der Lösungen auf die geistige Schwerfälligkeit und Borniertheit der Opponenten zu schieben. Allein in Wahrheit sind
die Einzelargumente, die zur Verteidigung der Problemlösungen angeführt werden, gar nicht das Letzte, nicht das
Begründende der Stellungnahme, sondern sie sind nur der
Ausdruck der vorgefaßten Einstellungen, die bestimmte
Lösungen präjudizieren, zum mindesten zu ihnen hindrängen.
Aus diesen vorgreifenden Einstellungen stammt das gesamte
Rüstzeug der Diskussion; die entgegengesetzten Strukturon tiken schreiben en tgegengesetzteArgumentationen zwangsläufig vor. Es ist daher nicht verwunderlich, daß sie von der
jeweils opponierenden Einstellung her nicht widerlegt, nicht
einmal begriffen werden können.
Die Wirkung der Einstellungen greift jedoch noch weiter:
Es gibt nicht nur Lösungen von Problemen, sondern sogar
Probleme selbst, die nur von einer der beiden Einstellungen
her verständlich sind, von der entgegengesetzten Einstellung
und ihrer Strukturontik her in nichts zerfallen.
1.
Der Zusammenhang von Leib und Seele.
So ist z. B. das Problem des Zusammenhanges von Leib
und Seele- in der üblichen Weise gestellt, als Problem
des Zusammenhanges von Gehirn und Seelischem nur sinnvoll vom Standpunkt der naturalistischen Einstellung
aus (darauf wurde bereits bei der Analyse der naturalistischen
Strukturontik aufmerksam gemacht). Von der naturalistischen
Einstellung aus gesehen ist das Problem, wie die beiden
Realitäten des Physischen und Psychischen kausal und substantiell zueinander stehen, ein Fundamentalproblem der
Philosophie: So hat in Zeiten naturalistischer Einstellung
123
-zur Zeit des Beginns der neueren Philosophie (Descartes),
vor allem aber in der naturwissenschaftlich orientierten Philosophie in der 2. Hälfte des I 9· Jahrhunderts - das Problem
des Verhältnisses von Physischem und Psychischem eine
Hauptrolle gespielt und - darauf wurde bereits früher hingewiesen- auch das damit zusammenhängende Problem,
ob Physisches und Psychisches sich in einer letzten tragenden Substanz zusammenfinden.
Gerade in den populären philosophischen Vorstellungen
dieser Zeit bei Vogt, bei Moleschott, bei Haeckel und vielen
anderen ist der ganze metaphysische Problemkreis auf diese
eine Frage zusammengeschrumpft.
Für die unmittelbare Einstellung hingegen besteht das
Problem in dieser Form überhaupt nicht. Das Verhältnis von
Subjekt und Objekt hat mit dem Verhältnis von Physischem und Psychischem, von leiblicher Ursache und
seelischer Wirkung u n m i tt e I bar nichts zu tun. Das zentrale Verhältnis ist hier das einer direkten Beziehung zwischen Subjekt und Objekt: Das Subjekt erfaßt das Objekt;
~er Körper ist dabei vom Standpunkt des erfassenden Subjekts aus conditio sine qua non der Erfassung, notwendige
Hilfe (worauf schon hingewiesen wurde). Damit aber verschwindet auch das Problem des Zusammenhangs von Physischem und Psychischem, wie es von der naturalistischen
Einstellung aus gesehen wird, als ein Zusammenhangsproblem zwei er korrespondierender Realitäten; und als Folge
hiervon verliert das Problem, ob dem Psychischen und Physischen nicht vielleicht ein Drittes, eine beides umfassende
und sie neutralisierende Substanz zugrunde liege, für die
unmittelbare Einstellung seine Bedeutung. Doch kennt sie
wenigstens ein Analogon dieses Problems: Auch bei der
Strukturantik der unmittelbaren Einstellung bestehen zwei
»Realitäten' Subjekt und Objekt; und so läßt auch hier sich
fragen, ob letztlich metaphysisch diese beiden Momente bestehen bleiben, oder ob sie sich nicht auf eine Identität
I24
zurückführen lassen. Gerade dieses Problem hat den deutschen Idealismus von Fichte bis Hegel (absolutes Ich, Identität von Realem und Idealem, objektiver Geist usw.) beschäftigt. Dies Problem aus unmittelbarer Einstellung ist
jedoch völlig verschieden von dem Problem der metaphysischen Beziehung des Physischen und Psychischen; die > Identitätsphilosophie « hat nicht das mindeste mit dem , psychophysischen Monismus« zu tun.
Wenn so das Problem des kausalen Zusammenhangs
von Leib und Seele durch das Gehirn hindurch für die unmittelbare Einstellung keinen rechten Sinn hat, so ist es
wohl verständlich, daß diesProblern als ein Zentralproblem
der Philosophie im Altertum und Mittelalter nicht gekannt
wurde (bei dem naturalistisch eingestellten Demokrit geht
es in der naturalistischen Endlösung unter). Ebenso ist nach
der letzten naturalistischen Periode der Philosophie mit der
Zurückdrehung der Philosophie zur unmittelbaren Einstellung
um I 9 I o demgemäß das Leib-Seeleproblem wieder aus dem
Mittelpunkt der Philosophie verschwunden, in dem es seit
I 8 so gestanden hat, und seine üblichen Lösungen: materialistische Kausalität, Parallelismus, Wechselwirkungstheorie
usw. werden kaum mehr ernstlich diskutiert. Man wird sich
vergebens beim Neukantianismus oder bei Husserl, bei
Scheler, Spranger oder Nie. Hartmann nach einer ausführlichen Behandlung des Leib-Seeleproblems im alten Sinne
umsehen. Im Gegenteil: Die psychophysische Einheit der
Person wird mit Vorliebe betont (Scheler, \V. Stern).
In Wahrheit verschwindet freilich auch für die unmittelbare Einstellung dieser Denker das Leib-Seeleproblem metaphysisch nicht völlig; es erfahrt nur eine andere Wendung.
Bei der Diskussion der Wahrnehmung zeigte sich, daß die
Stellung des Seelischen zum Leib noch in verschiedenen
Weisen von der unmittelbaren Einstellung aufgefaßt werden
kann: Der Leib ist das Werkzeug ·der Seele, die Seele die
vitale Kraft des Leibes usw. Hierdurch aber erhält der Leib
innerhalb der physischen Welt eine Ausnahmestellung:
Alles andere, das zur physischen Natur gehört, ist bloßes
Objekt; der Leib ist ein Vermittlungsorgan, er ist im spezifischen Sinne >mein«. Und so wird die Frage von Wichtigkeit, ob auch metaphysisch dem Leib eine Ausnahmestellung zukommt, ob er eine besondere Affinität zur Seele besitzt, die größer ist als die zu anderen physischen Objekten.
Demgemäß entsprechen dem einen Problem des Verhältnisses vom Physischen und Psychischen, wie es sich im
Naturalismus zeigt, zwei Probleme in der Strukturantik der
unmittelbaren Einstellung: Das Problem Subjekt-Objekt
und das Problem Subjekt(Seele)-Leib. Das zweite dieser
Probleme ist rein methodisch dem ersten untergeordnet, denn
der Grundgegensatz ist der von Subjekt und Objekt; aber
aus sekundären Gründen rückt oft gerade dieses zweite Problem in den Mittelpunkt: Gehören Seele und Leib untrennbar zusammen oder können sie sich voneinander lösen? Ist
die Seele an einen bestimmten Leib gebunden (Aristoteles),
oder kann sich dieselbe Seele in wechselnden Leibern inkorporieren (Plato, Seelenwanderungslehre)?
Seele und Leib sind bei solchen Fragestellungen nicht
die einzigen Bestandteile der Welt (wie beim Naturalismus
Physisches und Psychisches). Sondern Seele und Leib befinden sich in der Welt der Objekte- die Frage ihrer Beziehung ist zwar existentiell-metaphysisch wichtig; aber es
soll nicht die gesamte Strukturantik der Welt durch Seele
und Leib erschöpft werden, wie durch die Einteilung PhysischPsychisch bei der naturalistischen Einstellung.
Mehr aus ethischem und religiösem Interesse als aus
theoretischem werden diese Fragen oft genug zum Mittelpunkt von Metaphysiken aus unmittelbarer Einstellung: Die
Lösung wird demgemäß nicht von einer rein metaphysischen
Systematik her gegeben, sondern, wie im Mittelalter, wie
bei den orientalischen Religionen, aus metaphysisch religiöser Spekulation.
126
Eine eigenartige Sondergestaltung niinmt das Problem
des Zusammenhangs zwischen Physischem und Psychischem
an, wenn man es erkenntnistheoretisch-metaphysisch
formuliert. Dann gewinnt dies im allgemeinen rein naturalistisch gesehene Problkm Bedeutung vom Standpunkt der
unmittelbaren Einstellung: Gehen wirvon derGegebenheitshaltung in idealistischer Formung aus: dann ist die ganze
Welt Vorstellungsinhalt, also :. psychisch«. Daneben steht
für manche metaphysische Anschauungen auch eine gesonderte :.reale« Welt der materiellen Natur. Und nun taucht
die Frage auf: Wie kommt die Erkenntnis dieser realen
Welt zustande, wenn doch Vorstellungswelt und reale Welt
streng getrennt sind? So wird hier die Frage des Zusammenhangs von Physischem und Psychischem von der Erkenntnisseite her zum Problem ftir die unmittelbare Einstellung.
In dieser Weise hat Spinoza das Problem gesehen. Die
Frage des Zusammenhangs von Physischem und Psychischem
war Spinoza von Descartes überkommen, der in diesem
Teile seines Systems (influxus physicus) naturalistisch dachte.
Spinoza übernahm das Problem, aber ohne den naturalistischen Hintergrund. Auch von der unmittelbaren Einstellung
aus konnten ein physisches und ein psychisches Gebiet als
zwei gesonderte Gebiete des Vor gefundenen anerkannt
werden. Von dieser Seite her beschäftigte ihn - wie den
Naturalismus -das metaphysische Problem ihres Zusammenhangs; aber niemals taucht bei ihm die Frage des Zusammenhangs von Physischem und Psychischem im Gehirn
auf; immer nur das metaphysische Problem ihres Zusammenhangs fesselt ihn. Er fand die Lösung in einer Projizierung dieser beiden Gebiete in eine göttliche Substanz
als deren Attribute.
Im Verlauf der >Ethikc tritt jedoch das substantiellmetaph"ysische Problem in den Hintergrund, und die völlig
unnaturalistisch gesehene Erkenntnisfrage: Wie kommt es,
daß die Welt im Erkennen und die Welt im Sein überein-
stimmen? wird in den Zusammenhängen der beiden Attribute
- neben dem ethischen Verhältnis der beiden Attribute wichtig: Die Antwort lautet, daß ordo et connexio idearum
idem ordo et connexio rerum: aus dem Parallelismus der
Attribute folgt ein Parallelismus des Erkenntnisablaufs mit
dem Weltablauf. So verschmelzen bei der Konzeption
Spinozas Probleme, die sonst nur Sinn zu haben pflegen,
wenn man von der einen zur anderen Einstellung übergeht.
Es wirren sich also bei der Frage des Zusammenhangs
von Leib und Seele folgende Probleme ineinander:
1. Zusammenhang von Physischem und Psychischem? (naturalistische Strukturontik).
2. Metaphysischer Dualismus von Physischem und Psychischem oder Monismus? (naturalistische Strukturontik).
3· Metaphysischer Dualismus von Objekt und Subjekt,
oder Identität? (Strukturontik der unmittelbaren Einstellung).
4· Zusammenhang von Seele und Leib, die in eine objektiveWeit hineingestellt sind? (unmittelbare Einstellung).
5. Metaphysische Begründung des Erkenntniszusammenhanges zwischen einer als psychisch aufgefaßten gegebenen Welt und der realen Welt (Spinoza, unmittelbare Einstellung).
2.
Das Universalienproblem.
Während das Problem des Zusammenhangs von Physischem und Psychischem im wesentlichen seine Prägung
von der naturalistischen Einstellung empfängt, gibt es eine
Anzahl anderer Probleme, die als Probleme beiden Einstellungen gemeinsam sind, deren Lösungen jedoch von
der jeweiligen Strukturantik her ein verschiedenes Gesicht
erhalten.
Das Wahrnehmungsproblem - und ebenso das
Wahrheitsproblem- wurden bereits bei der Einführung
128
der Einstellungen als Beispiel herangezogen: die Verdopplung oder Nichtverdopplung des Gegenstandes je nach der
Einstellung bestimmte die Unterschiede der Theorien: der
Abbildtheorie, der Korrespondenztheorie einerseits, der
Deckungstheorie andererseits.
Ein weiteres Beispiel eines Problems, bei dem die Einstellungen die Lösungen, wenn auch nicht präjudizieren, so
doch in ihrer Richtung beeinflussen, ist das Problem der
Universalien.
Unter , Universalien ( wird mancherlei keineswegs Zusammengehöriges verstanden: Begriffe, Wesen, allgemeine
Gegenstände, Wortbedeutungen, Allgemeinvorstellungen
usw. Hier eine tiefere Scheidung vorzunehmen kann nicht
die Aufgabe dieser bloß beispielhaften Behandlung der Universalienfrage sein. Vielmehr werden wir uns im folgenden
des Wortes , Universale« in der Vagheit bedienen, in der es
innerhalb der philosophischen Diskussionen eine Rolle zu
spielen pflegt.
Die naturalistische Einstellung führt unter allen Umständen zum Nominalismus. Zwei Momente sind hierbei
ausschlaggebend:
I. Die naturalistische Einstellung kennt nur physische
oder p s y c h i s c h e Gegenstände.
2. Es existieren für sie nur Einzeldinge und Einzelgeschehnisse mit individuellem Gehalt in Raum und Zeit;
die naturalistische Einstellung ist individualistisch. Welchen Sinn kann es für einen solchen Individualismus haben
von Gesetzen, Begriffen, Ideen im platonischen Sinn, Wesen,
allgemeinen Gegenständen als daseienden oder gar als existierenden zu sprechen? Von Gegenständen, die beanspruchen, weder physisch noch psychisch zu sein und die
den Charakter des Nichtindividuellen, des Allgemeinen an
sich tragen?
Nur in psychischer Form können die Universalien für
die naturalistische Einstellung existieren; denn physische
129
Gegenstände sind sie auf keinen Fall -Begriffe begegnen
uns niemals in der realen Außenwelt.
Innerhalb des Rahmens dieser Anschauung entwickeln
sich noch verschiedene Theorien der Universalien, deren
Etappen als Verschmelzungstheorie, Repräsent a t i o n s t h e o r i e d er Vors t e 11 u n g und als s i g n i t i v e
Repräsentationstheorie unterschieden werden mögen:
Am einfachsten ist die Verschmelzungstheorie: Die
Universalien sind das Erzeugnis der öfteren Wiederholung
ähnlicher Reize: Der Begriff b Mensch« entsteht, wenn sich
im Gedächtnis die Bilder der einzelnen Menschen übereinander lagern. Es verwischt sich hierbei das Individuelle der
Vorstellungen, und es bleibt eine verschwommene » allgemeine Vorstellung« des Menschen erhalten. Die naturalistische Psychologie und Philosophie hat in ihren Anfangstagen diese Anschauung strikte vertreten (G. E. Müller);
auch heute wird sie noch gelegentlich hervorgeholt.
Weit öfters erklärt sich die naturalistische Einstellung für
jene Abart des Nominalismus, die keine unbestimmten Allgemeinvorstellungen kennt, sondern an der anschaulichen
Bestimmtheit der Einzelvorstellung festhält; sie läßt eine
einzelne Vorstellung nur dadurch allgemein werden, daß sie
eine große Anzahl ihr gleichartiger repräsentiert. Die Vorstellungen der einzelnen Menschen, die im Zusammenhang
mit dem Gehirn entstehen, verschmelzen also nach dieser
Auffassung nicht, sondern sie bleiben als einzelne erhalten.
Allein es kann geschehen, daß eine einzelne Vorstellung des
Menschen die anderen Vorstellungen in latenter assoziativer
Bereitschaft hält; dann wird eine einzelne Vorstellung des
Menschen repräsentativ für alle anderen. (Es ist dies eine
Anschauung, die unter dem Einfluß Humes in weiten Kreisen
der Psychologie herrschend geworden ist. Obwohl Hume die
unmittelbare und nicht die naturalistische Einstellung einnimmt, darf jene Anschauung aus Gründen, die bald deutlich
werden, auch in diesem Zusammenhang angeführt werden.)
130
Am häufigsten jedoch führt der Naturalismus die Allgemeinheit der Begriffe usw. nicht auf die Repräsentativfunktion der Einzelvorstellung, sondern der Wörter zurück:
Wörter erhalten allgemeine Bedeutungen, indem sie sich
mit einer großen Zahl gleichartiger Vorstellungen assoziieren.
Sie sind daher auch imstande, alle diese Vorstellungen, mit
denen sie assoziiert sind, zu repräsentieren. Diese signitive
Repräsentationstheorie verdient im eigentlichen Sinn
die Bezeichnung »Nominalismus«.
Prinzipiell besteht kein Unterschied zwischen den verschiedenen auf naturalistischem Boden sich bewegenden
Lösungen des Universalienproblems. Sie treiben zwang~­
läufig im nominalistischen Fahrwasser; die echte naturahstische Einstellung wird überhaupt niemals begreifen können,
wie man zum Realismus der Universalien kommen konnte.
Komplizierter liegt der Sachverhalt für die u n mit t e Ibare Einstellung: Von vornherein neigt sie zum Realismus
oder besser gesagt: Ontologismus der Universalien (d. h. sie
wird die Universalien nicht ohne weiteres als real, aber doch
als )seiend« annehmen). Da sie neben dem physischen und
psychischen Gebiet noch andere Seinsgebiete kennt, ist der
Weg ftir die Annahme eines universalistischen Seinsreiches
für sie nicht a priori verlegt. Darüber hinaus jedoch besitzt
die unmittelbare Einstellung positive Anhaltspunkte zur Annahme der Universalien: Für das aufnehmende Subjekt sind
allgemeine Sätze, Bedeutungen von Worten,
esen und
Begriffe Gegenstände, die sich als unabhäng1!5 von d~m
Menschen darstellen der sie auffaßt. (Gerade dte Begnffe
'
.
hatten wir ja früher als Beispiele ftir subjektsunabhängige
Gegenstände im Sinne der unmittelbaren Einstellung angeführt.) Anerkennung der Universalien als subje}.<.tsunabhängiger Gegenstände ist jedoch gerade dasjenige, was als
»Realismus c als »Ontologismus « bezeichnet wird.
' Mißverständnis zu glauben, daß die unmttte
. 1Es wäre ein
bare Einstellung ebenso unter allen Umständen zum Realis-
'J!
131
mus .füh:en müs.se, ~ie die naturalistische Einstellung zum
Nommahsmus hmtreibt. Auch die unmittelbare Einstellung
hat - ohne gewaltsame Umbiegung ihrer Prinzipien Zugang zum Nominalismus (und noch leichter zum Konzeptualismus).
. Wenn auch di~ Alternative, daß die Universalien physische oder psychische Gegenstände sein müssen für sie
nicht existiert, so ist doch die zweite Tendenz, di~ bereits
bei der naturalistischen Einstellung ein Motiv für die Annah~e der nominalistischen Begriffslehre war, auch in der
u~mitte!baren Ei~stellung wirksam: Der ontologische Individualismus, die Behauptung, daß nur ,. Einzelnes« da
sei, existieren könne.
. Zunächst ist dieser Individualismus für die objektivistische Haltung wesentlich: In der objektivistischen Haltung geht man von einer Welt von Objekten aus in die die
Subjekte hineingestellt sind. Die Objektwelt ist' eine Welt
einzelner Objekte, die Subjekte sind einzelne. So bleibt kein
Platz mehr für Universalien, für Bereiche allgemeiner Gegen·
stände.
Es entsteht so für die unmittelbare Einstellung in diesem
Falle ein Dilemma: Die Tatsache, daß allgemeine Gegenstände dem Subjekt als seiende, von ihm unabhängige Gegenstände g ~geben s.ind, wird sie nicht abfeugnen wollen;
a~dererseits sollen Jedoch nur reale Einzelobjekte (physi:che und geistige) existieren. Der Ausweg ist vorgezeichnet:
Die Unabhängigkeit vom Subjekt ist nur scheinbar. In Wahrheit sind die Universalien mentale Objekte. Auf Grund
einer begriffsschaffenden Fähigkeit werden die Universalien
die Begriffe als , Gegenstände~ aus dem Subjekt heraus~
gesetzt; sie sind dadurch von ihm abhängig: sie sind ,conceptus mentis ~, der Konzeptionalismus ist die Konsequenz
einer solchen Ausdeutung. Die subjektivistische Haltung kann zu ähnlichen Ergebnissen gelangen, zumal wenn sie sich mit erkenntni~132
theoretisch-empiristischen Gedankengängen verbindet.
Denn das ist gerade eines der wesentlichen Momente des
Empirismus (im üblichen Sinne), daß er das Einzelne und
nur das Einzelne als existierend anerkennt. (Doch verbindet
sich der Individualismus der unmittelbaren Einstellung nicht
notwendigerweise mit empiristischen Überzeugungen.)
So sagte bereits Antisthenes: Ich sehe ein Pferd und
keine Pferdheit. Ähnlich der mittelalterliche Nominalismus:
Er ist nirgends ernstlich naturalistisch; seine nominalistischen
Ergebnisse sind die Konsequenz eines strikten Individualismus der Gegenstände, der ihn häufig genug mit dem Trinitätsdogma in Konflikt führte. Das Wort des Roger Bacon:
Singulare melius est quam universale weist deutlich auf die
individualistische Tendenz dieses Nominalismus.
Im englischen Empirismus des I8.Jahrhunderts, soweit
er auf dem Standpunkt der unmittelbaren Einstellung steht
(Berkeley, Hume), bricht neben dem Individualismus eine
neue Tendenz auf, die ebenfalls zum Nominalismus führt:
Die Haltung ist nicht mehr rein subjektivistisch im allgemeinen Sinn, sondern sie ist die Gegebenheitshaltung.
Es ist ein Vorurteil der meisten, die die Gegebenheitshaltung
einnehmen, daß nur sinnlich-anschauliche Momente als
Gegebenheiten auftreten (ein Vorurteil, das noch in die Anschauung Kants hineinwirkt: die , Materie der Empfindungc
als das Gegebene). Und dieses Vorurteil wird zu einer Triebfeder, zum Nominalismus überzugehen: Denn die Gruppe
der Universalien enthält zwar eine Reihe von Unterarten,
die sehr wohl als anschaulich bezeichnet werden können:
die Ideen Platos, die Wesen z. B. ; allein die Begriffe und
die abstrakten Momente sind sicherlich nicht anschaulicher
Natur - der Begriff , Mensch« ist nicht anschaulich faßbar.
Und da die moderne Philosophie unter den Universalien die
Begriffe in den Vordergrund stellt, ja oft allein berücksichtigt, so müssen (wenn man nur Anschauliches als Gegebenheit gelten lassen will) die Begriffe als Gegebenheiten er133
setzt werden durch gewisse anschauliche Momente, denen auf
irgendeine Weise begriffliche Funktion zuwächst.
Wenn man den Versuch macht, solche Ersetzung vorzunehmen, so bieten sich ähnliche Theorien an wie für den
Naturalismus.
DieVerschmelzungstheorie des Naturalismus ist freilich für die unmittelbare Einstellung nicht brauchbar. Die Verschmelzungstheorie setzt voraus, daß Vorstellungen oder
Ein drücke verschmelzen, nicht die subjektsunabhängigen
Gegenstände. Dazu ist es notwendig, daß sich zwischen
Gegenstand und Subjekt Vorstellungen dazwischen schieben, was nach der naturalistischen Anschauung in der Tat
der Fall ist. Bei der unmittelbaren Einstellung hingegen
erfaßt das Subjekt unmittelbar die Gegenstände; es gibt
keinen Sinn davon zu sprechen, daß die Gegenstände
der realen Welt verschmelzen und dadurch Begriffe gebildet
werden.
Das Analogon der Verschmelzungstheorie ist auf dem
Gebiet der unmittelbaren Einstellung die Abstraktionstheorie: Das Allgemeine, die allgemeine Vorstellung
Mensch, der Begriff Mensch wird nach ihr gewonnen, indem
man beim Ergreifen der Gegenstände von den Verschiedenheiten absieht (daß der Mensch Peter oder Paul, groß oder
klein, männlich oder weiblich ist) und so nur das , Allgemeine« im Geiste festhält. Schon Locke hatte trotz seines
naturalistischen Ausgangspunktes (den er übrigens keineswegs streng festhält) eine solche Auffassung vertreten.
Weit häufiger finden sich die Repräsentationstheorien in der unmittelba.ren Einstellung vertreten- sei es die
Repräsentationstheorie der Vorstellung, sei es die
signi tive Repräsentationstheorie: Die Allgemeinheit
der Universalien kommt nach ihnen dadurch zustande, daß
entweder eine Vorstellung für eine große Zahl von Gegenständen repräsentativ wirkt, oder daß ein Zeichen, ein Wort
diese repräsentative Funktion übernimmt. Hier· ist kaum
134
mehr ein Unterschied zwischen naturalistischer und unmittelbarer Einstellung zu bemerken (nur daß bei der naturalistischen Einstellung die Vorstellungen und Worte Vors t e 11u n g e n repräsentieren, bei unmittelbarer Einstellung ?agegen die Vorstellungen und Worte Repräsentanten smd
für Gegenstände, die unmittelbar erfaßt werden).
So treiben ganz verschiedene Motive zum Nominalismus:
Die naturalistische Einstellung, die nur psychisch und
physisch Reales anerkennt; der ontologische Individualismus derdienaturalistischeStrukturontikvölligbeherrscht,
und dodh auch innerhalb der Strukturantik der unmittelbaren
Einstellung eine große Rolle spielt; und endlich die Behauptung eines großen Teils derjenigen, die von. der <?-ege_benheitseinstellung ausgehen, daß nur anschaulich- smnltche
Momente gegeben seien. Daher begegnen sich in der nominalistischen Anschauung (Nominalismus im weitesten Sinne
genommen) Forscher, die sonst nicht viel Gemeinsames
haben: Die ontologischen Individualisten des Mittelalters, der
Terminismus der Spätscholastik, der Gegebenheitsempirismus
Berkeleys und Humes, der naturalistische Empirismus der
meisten Experimentalpsychologen, die Immanenzphilosophie
um I 8go, der subjektivistische Empirismus Mills und seiner
Anhänger, der analytische Psychologismus der psychologischen Logiker, der empirische Realismus von Männern wie
Helmholtz und Schlick, der Pragmatismus in all seinen F ormen usw.
Es sind heute im wesentlichen nur die vom mittelalterlichen Denken becinflußten Philosophen (Geyser z. B.), die
von Lotze herkommenden Logiker (Rickert), die Gruppe der
Brentanoschüler und der Phänomenotogen (Busserl, Meinong,
Scheler Piehier Linke) und einige wenige andere, die aus
ihrer s~bjektivistischen Haltung heraus überindividuelle
Gegenstände als Vorfindlichkei1:en anerkennen.
So umfaßt also die unmittelbare Einstellung Anschauungen, die von dem extremsten platonischen Realismus bis
135
zum extremsten Nominalismus reichen; im Gegensatz zur
naturalistischen Einstellung, die nur mit dem Nominalismus
vereinbar ist.
3· Determinismus und Indeterminismus.
Reiner als die Lösungen des Universalienproblems erhalten die Gegensätze des Determinismus und Indeterminismus ihre Prägung von den beiden Einstellungen her;
nur daß man auch wirklich die im Problem der Willensfreiheit selbst liegenden Gedankenmotive herausschälen muß
um die Gegensätze in ihrer Reinheit zu erhalten, und alle~
auszuschalten hat, was von außen her in die Diskussion der
Willensfreiheit hineinwirkt. Die historische Entwicklung der
Philosophie weiß freilich von solcher Reinheit der Motive
nichts; sie wird in ihr verdunkelt durch die meta p h y s isehen und theologisch'en Weltanschauungen, die das
Problem der Willensfreiheit nur innerhalb einer Gesamtsynthese zu sehen vermögen: Die Frage der Willensfreiheit
Gottes im Verhältnis zu der des Menschen, die Probleme der
Erbsünde, der Prädestination, der Präszienz Gottes spielen
von theologischer Seite in die Lösungen des Problems der
Willensfreiheit hinein, die Gegensätze des Rationalismus und
Irrationalismus von weltanschaulicher Seite. Doppeldeutigkeiten (wie die Verwechslung von Wahlfreiheit und Freiheit
des Wollens), vorgreifende Definitionen des Freiheitsbegriffs
. (wie etwa: »Frei sein heißt derVernunft gehorchen« oder
~frei sein heißt seinen persönlichen Impulsen folgen c) verwirren das Problem noch weiterhin.
~ieht man von ail diesen Problemverschlingungen und
Abbtegungen ab, geht man auf die Urmotive zurück, die
überhaupt zu gegensätzlichen Stellungnahmen im Problem
der Willensfreiheit führen, so bleiben zwei solcher Motive
als diejenigen übrig, die den Ansatz des Problems rein als
solche bestimmen: Der Gedanke der durchgängigen
136
Weltkausalität und das Motiv, den Täter auch wirklich
für seine Tat verantwortlich machen zu wollen - ein
theoretisches und ein ethisches Motiv.
Der Gedanke der durchgängigen Kausalität, die notwendige Voraussetzung des - nicht theologisch gefärbten D e t er mini s m u s, ist eine unumgängliche Forderung der
naturalistischenEinstell ung. Vom naturalistischen Standpunkt aus ist eine Durchbrechung der Naturkausalität- an
welcher Stelle auch immer- unmöglich: eine Sonderstellung
des Willens anzunehmen ist nicht nur nicht erlaubt, sondern
es besteht ftir die naturalistische Einstellung Uberhaupt kein
Motiv, den menschlichen Willen derart wichtig zu nehmen,
daß für ihn eine Durchbrechung der allgemeinen Naturkausalität erfolgen dürfe. DasWollen ist genau so im Zusammenhang mit dem Gehirn entstanden wie Vorstellung und Gefühl, wie der Denkprozeß und die Triebe. Weshalb soll das
Wollen anders zu behandeln sein als diese anderen psychischen Geschehnisse? Das Sichverantwortlichfühlen ist ein
»Gefühl«, ein Erlebnis wie jedes andere auch, in die psychische Kausalität hineingestellt und aus der psychischen
Kausalität heraus zu erklären. Demgemäß konnte naturalistischen Zeiten das Problem der Willensfreiheit niemals als
ernst zu nehmendes Problem erscheinen. Sie vermochten nur
zu lächeln über das ~Gerede von der Willensfreiheit«. Niemals schien daher das Problem der Willensfreiheit weniger
Problem als am Ende des 1 g. Jahrhunderts.
Umgekehrt folgt die Annahme der Verantwortlichkeit
als einer realen Tatsache nur aus der subjektivistischen
Haltung der unmittelbaren Einstellung. Diese Annahme
stammt.· aus der Reflexion des Ich über seine Taten und
Gesinnungen: Das Subjekt fühlt sich für seine Taten verantwortlich, es macht andere für ihre Taten verantwortlich.
Es erlebt diese Verantwortlichkeit als etwas Reales. Eine
solche Realität der Verantwortlichkeit aber besteht nur,
wenn die Tat nicht allein Ausfluß, nicht allein Ausdruck des
137
Ich ist (oder gar aus Gehirnvorgängen stammt, die das Psychische nur begleiten), sondern wenn die Kausalreihe im Ich
ihren Anfang nimmt. Ist das Ich nur Durchgangspunkt
der Kausalität, so ist der Mensch für seine Taten ebensowenig
verantwortlich zu machen, wie der Ziegel dafür, daß er vom
Dache fällt und einen Menschen erschlägt.
Auch hier wieder rückt die objektivistische unmittelbare
Haltung das Problem näher an die naturalistische Ei?stellung
heran. Wird die Welt vom Objekt aus gesehen, so hegt auch
für die objektivistische Haltung der Gedanke nahe, daß durch
dieobjektive Weltdas SubjektinseinerStellungnahme zwan~s­
läufig eindeutig bestimmt werde. Dennoch bes~e~t hter
ein entscheidenderUnterschied gegenüber der naturahsttschen
Lösung des Problems der Willensfreiheit; solcher De~er­
minism us derobjektivistischen Haltung hat emen
anderen Hintergrund als der naturalistische. Für den Naturalismus ist das Ich ein Objekt unter anderen Objekten und
nicht anders kausiert als ein Stein, der fällt, oder die Elemente die sich zu einer chemischen Verbindung zusammenfinden: Man würde hier daher besservon derLehredes Kausalismusals von der des Determinismus sprechen.
Völlig anders ist die Lage für die objektivistisch-unmittelbare Haltung. Das Subjekt bleibt als Subjekt f~r sie erhalten als ein Subjekt, das in Wechselwirkung mit den Objekten
steht. Auch das wird von der objektivistischen Haltung nicht
bestritten, daß das Subjekt sich selbst entscheidet. Allein die
>Freiheit« seiner Entscheidung braucht nicht , Willküre zu
bedeuten. Die Motive, die vom Objekt her auf es einwirken,
bestimmen es mehr oder weniger: Die T ode&,androhung mehr
als der Wunsch eines Fet:nstehenden, die Angst vor dem Gesetz stärker als bloße Ermahnung.
. Ein Grenzfall ist die vollständige eindeutige Bestimmung der Willensentscheidung durch die objektiven Faktoren. In der Tat wird diese Anschauung durch manche Anhänger der , Milieutheorie« vertreten (die sich zwar natura-
listisch gebärdet, aber im allgemeinen die objektivistische
HaltungderunmittelbarenEinstellungeinnimmt): Dieäußeren
Faktoren, zu denen auch die vererbte Anlage des Subjekts
gehört, bestimmen eindeutig die Willensentscheidung. Im
Effekt gelangt dieser Grenzfall zu demselben Ergebnis wie
die naturalistische Einstellung: Es existiert keine Willensfreiheit. Allein die strukturontischenVerhältnisse liegen anders
als bei der naturalistischen Einstellung. Hier ist bei der durchgängigen Naturkausalität die Wahlfreiheit ein sinnloser Begriff; bei der unmittelbaren Einstellung hingegen besteht die
theoretische Möglichkeit der Wahlfreiheit; allein sie ist ftir
die unmittelbare Einstellung, wenn sie deterministisch denkt,
durch ein Gesetz der durchgängigen Bestimmtheit alles Seins
und Geschehens aufgehoben. Der Unmöglichkeit der
Wahlfreiheit bei der naturalistischen Einstellung steht hier
die Aufhebung der Wahlfreiheit gegenüber. Nur hier bei der unmittelbaren Einstellung - ist der Ausdruck >Determinismus c am Platz; aus ihr allein ergibt sich eine Lehre
von dem eindeutigen Bestimmtwerden des Wollens.
So findet sich z. B. in der Stoa eine Mischung von Kausalismus und Determinismus. In den Teilen ihres Systems,
in denen die naturalistische Grundeinstellung im Vordergrund
steht, wird das Subjekt, als ein Teil der materiellen Welt wie
jeder andere, auch als ebenso notwendig kausiert angesehen
wie jedes andere Objekt. Allein zu dieser materialistischen
Anschauung will ihre ethische Grundhaltung wenig passen.
Die ethische Grundfrage: Wie soll das Subjekt sich zu der
Welt verhalten? weist auf die unmittelbare Einstellung. Und
von der ethischen Seite her wird demgemäß von der Stoa
die Unfreiheit desWillens als Zwang,nichtalsNotwendigkeit gefaßt: Wenn für sie die Götter nolentem ducunt, volentum trahunt, so verrät sich hierbis in die Fassung hinein
die umriittelbare Einstellung. Von , Führen c und >Zwingen c
kann nur bei unmittelbarer Einstellung die Rede sein.
Der Indeterminismus Epikurs nimmt die gleiche Pro139
blemhaltung ein, nur mit umgekehrtem Vorzeichen. Die Stoa
fUhlte sich verantwortlich und doch zugleich abhängig vom
Weltgrund, bestimmt - eindeutig bestimmt durch den
Weltgrund. Epikur fllhlt sich nicht verantwortlich; nicht
in dem Sinne, daß er auf die Naturkausalität alle , Verantwortung« abschiebt, sondern weil er sich ,freie -frei im
Sinne ·der Willkür - fühlt. Er fühlt sich nicht gezwungen
durch die Objektwelt, und deshalb ist sein Indeterminismus
das genaue Gegenstück des Determinismus der Stoa. Das
Subjekt will sich seine Willkür nicht rauben lassen, die Freiheit der Laune haßt deterministische Eingeschränktheit.
Daß letztlich, ganz konsequent gedacht, die beiden Einstellungen zu entgegengesetzten Lösungen des Problems der
Willensfreiheit fUhren - naturalistische Einstellung zum
Kausalismus, unmittelbare Einstellung zum Indeterminismus
(mit dem Grenzfall des Determinismus) - wird nirgends
deutlicher als in Kants System. Seine Grundeinstellung in
der Kritik der reinen Vernunft ist kompliziert und an dieser
Stelle nicht zu erörtern; jedenfalls aber ist sein Kausalitätsbegriff an der Newtonsehen Physik orientiert und führt ihn
demgemäß zu einer durchgängigen Naturkausalität ;. der Wille
als Natur unterliegt dem Gesetz der kausalen Bestimmtheit wie jedes andere Naturgeschehen. In der zweiten Kritik
hingegen ist die Willensfreiheit ein Postulat der praktischen
Vernunft, weil ohne sie keine echte ethische Verantwortlichkeit bestehen könnte; in der Kritik der praktischen Vernunft
führt die ethisch-unmittelbare Einstellung daher geraden
Wegs zum Indeterminismus.
Wie läßt sich beides vereinen? Nur, wenn man an der
Gegensätzlichkeit der Einstellungen selbst ansetzte, sie metaphysisch auflöste, ließe sich zu einer wirklichen Entscheidung kommen. So radikal geht Kant nicht vor: Der Knoten
wird von Kant nicht gelöst, sondern durchhauen. Die Kausalität bleibt in Geltung für das Reich der Erscheinungen,
die Freiheit verweist er in das Reich der Dinge an sich selbst.
Gerade dadurch, daß Kant der Gegensätzlichkeit der Probleme, die auf Entscheidung drängen, unvoreingenommen
ins Auge sieht, wird die Kluft zwischen den Gegensätzen
in Wahrheit unüberbrückbar, solange man die entgegengesetzten Einstellungen - jede fllr die Gruppe von Problemen, für die sie zuständig ist - indiskutiert beibehält.
4· Das Problem der Unsterblichkeit.
Tiefer noch als das Universalienproblem und das Problem
der Willensfreiheit fUhrt die Frage der Unsterblichkeit in
metaphysisches Gebiet. Auch bei ihr ist die Lösungsrichtung
durch die jeweilige Einstellung vorgezeichnet.
Die naturalistische Einstellung besitzt kein Organ fUr
das Unsterblichkeitsproblem; kein naturalistisches Gedankenmotiv führt zur Annahme einer persönlichen Unsterblichkeit.
Das Psychische - jene Realität zweiten Grades für die
naturalistische Einstellung, jene in dem Zusammenhang des
Physischen bloßnachträglicheingeschobene Realität-müßte
bei der Annahme der Unsterblichkeit über die naturalistischprimäre, die physische Realität hinausgehoben werden. Damit wäre die ursprüngliche Rangordnung innerhalb der
naturalistischen Strukturantik umgekehrt. Deshalb liegt von
Hause aus dem Naturalismus eine , Unsterblichkeit des
Stoffes« nahe, nicht aber eine Unsterblichkeit der Seele.
Mit dem Materialismus ist die Unsterblichkeit der Seele überhaupt unvereinbar; der Parallelismus führt, ins Kosmische
erweitert, zu einer Allbeseelung, nicht aber zu einer persönlichen Unsterblichkeit. Nur die Wechselwirkungslehre
läßt die Möglichkeit der Unsterblichkeit wenigstens offen;
wenn auch die Annahme der Unsterblichkeit der naturalistischen Wechselwirkungslehre recht wenig angemessen ist:
Die enge Beziehung, in die das Psychische zum Physischen
durch alle Ausprägungen der naturalistischen Strukturantik
gesetzt wird, macht die Annahme einer Ablösung des See-
lischen vom Körper auch für die Wechselwirkungslehre
äußerst prekär.
So würde die naturalistische Einstellung niemals von sich
aus zur Unsterblichkeit der Seele gelangen; es bedarf eines
Einbruchs von Motiven fremden Ursprungs (von religiösen
Motiven vor allem), damit die naturalistische Einstellung sich
zur Umbiegung ihres eigenen Standpunktes entschließt; und
zwar ist diese Umbiegung- wie gezeigt- innerhalb der
naturalistischen Strukturantik nur mit der Wechselwirkungslehre vereinbar. Nur dann kann der Naturalismus sich ohne
allzu große Verrenkungen zur Unsterblichkeit bekennen,
wenn auch im Tode Leib und Seele nicht getrennt werden;
wenn - wie in vielen Religionen angenommen wird - der
Mensch a 1s Ganzes , als Einheit von Leib und Seele, in
einer jenseitigen Welt weiterlebt.
Umgekehrt drängen starke Gedankenmotive innerhalb
der unmittelbaren Einstellung zur Annahme der Unsterblichkeit. Das Subjekt erlebt sich als existent; der Gedanke
seiner Nichtexistenz ist ihm unfaßbar. Es kann rückwärtsschauend nicht begreifen, daß die Welt bestanden haben
solle, ehe es selbst existierte -. noch weniger kann es vorwärtsblickend sich damit abfinden, daß die Welt weiter
existieren solle ohne seine eigene Gegenwart: es kann sein
eigenes Nichtexistieren nicht ernstlich denken.
Nach derselben Richtung greifen ethische Motive, die
aus der unmittelbaren Einstellung stammen; das Subjekt hat
durch seine Taten in dieser Welt Strafe oder Lohn verdient (auch der Begriff des , Verdienstes« ist nur von der
subjektivistischen Haltung aus verständlich). Die 'Sittliche
Weltordnung« verlangt, daß das Subjekt diese Strafe oder
diesen Lohn erhält, wenn nicht im Diesseits, so doch im
Jenseits. Die Unsterblichkeit ist ein Postulat der praktischen
Vernunft. Kant hat mit dieser Behauptung eine Wahrheit ausgesprochen- wenn auch vielleicht keine Wahrheit über die
Realität der Unsterblichheit, - so doch eine Wahrheit
über ein psychologisches Motiv, das zur Setzung der
Unsterblichkeit in den Anschauungen der Menschen in der
Religion und der Ethik führt.
Allein, wenn die Unsterblichkeit auch nur aus der unmittelbaren Haltung Sinn und Möglichkeit gewinnt, so ist
sie doch kein notwendiges Ergebnis der unmittelbaren Einstellung:
Die Strukturwelt der unmittelbaren Einstellung kennt
Objekte und Subjekte; die Objekte können ohne Subjekte
weiterexistieren. Es ist rein objektivistisch betrachtet kein
Grund zur Annahme der Unsterblichkeit vorhanden, freilich
auch kein Grund, die Unsterblichkeit zu leugnen.
So ist auch beim Unsterblichkeitsproblem und seineo.
Lösungen der Gegensatz der Einstellungen ausschlaggebend.
Von der naturalististischen Einstellung her führt kein Motiv
zur Unsterblichkeit; noch mehr: sie ist mit der naturalistischen
Einstellung kaum vereinbar. Umgekehrt drängen von der
subjektivistischen Haltung aus starke Motiv~ zur Setzung
der Unsterblichkeit: Die Unbegreifiichkeit, die für das Subjekt in der Annahme seines Zerstörtwerdens liegt: dasPostutat der. Bestrafung und Belohnung nach Verdienst. Die objektivistische Haltung hingegen kennt weder Motive, die die
Unsterblichkeit fordern, noch solche, die sie verneinen. So zeigen alle 4:1ngeführten Beispiele, wie die metaphysischen Einzelprobleme in Fragestellung und -Iösung mit den
Strukturontiken der Einstellungen zusammenhängen. Die
Beispiele· ließen sich häufen; es gibt kein metaphysisches
Einz~lproblem, das indifferent den Einstellungen gegenüber
ist. Doch ist bei den. meisten dieser Probleme der Zusammen•
bang nicht so einfach erkennbar wie etwa bei dem Problem
der Willensfreiheit oder der Unsterblichkeit. Gesichtspunkte
anderer Art drängen sich vor, und es bedürfte ausführlicher
Analysen, um die Wirkung der Einstellungen bloßzulegen.
Deshalb mögen die angeführten Beispiele genügen.
143
6.KAPITEL
METAPHYSIK UND EINSTELLUNG
1.
Die philosophischen Systeme.
Nicht nur die vorwissenschaftliehen Anschauungen, nicht
nur die Einzelwissenschaften und nicht nur die philosophischen Einzelprobleme erhalten die Grundierung ihrer
Realitätsbasis durch den Gegensatz der beiden Einstellungen,
sondern was entscheidender ist, die philosophischen Gesamtsysteme werden in ihren fundamentalen Lösungsrichtungen
von den Einstellungen her vorgeforrnt. Mit anderen Worten:
die immanente Strukturontik, wie sie durch die Einstellung
gegeben wird, wird determinierend für die transzendente
Strukturantik - und hebt damit deren Charakter als einer
in sich ruhenden, autonomen, von allen Vorgriffen befreiten
metaphysischen Grundlage auf.
Es ist schließlich im Prinzip nichts anderes, als was der
Szientifismus tut, nur auf breiterer Basis. Der Szientifismus
verallgemeinert die Ergebnisse, die auf Grund einer bestimm·
ten vorausgesetzten Strukturantik gewonnen sind, zu einer
transzendenten Metaphysik; bei ihm wird nicht nur die immanente Strukturantik selbst in ihrer Grundform ins Transzendente gesteigert, sondern zugleich werden auch die auf
dem Hintergrund der immanenten Strukturantik eingezeichnetenErgebnissezur transzendenten lnhal ts bestimmung
des letzten Seienden.
Der Szientifismus ist nach einer Richtung hin unvorsichtiger als solche Verabsolutierungen immanenter Strukturantiken; denn er nimmt neben der Strukturantik selbst auch
noch die wissenschaftlichen Ergebnisse mit hinüber ins Transzendente. Möglicherweise ist jedoch gerade diese unvorsich144
f
tige Hinübernahme der Wahrheit näher kommend. Denn wenn
etwa bei einem einwandfreien Vorstoß ins Transzendente eines
der beiden Momente fallen müßte, so ist es wahrscheinlicher,
daß die Strukturantik dasjenige Moment ist, auf das Verzicht
zu leisten ist. In den wissenschaftlichen Ergebnissen als solchen, so dürfen wir annehmen, liegt doch wohl ein Hinweis
auf die letzte Realität, während möglicherweise die strukturontische Einkleidung nichts als eine Vordergrundsformung
bedeutet.
Solche Überlegungen überschreiten jedoch bereits den
Rahmen der hier gesteckten Aufgabe. Sie sollten nur einen
Fingerzeig daftir geben, daß eine Metaphysik, die von den
üblichen Einstellungen ausgeht, damit noch nicht prinzipiell
weiterführend sein muß, als der primitive Szientifismus. Durch die ganze Geschichte der Metaphysik läßt
sich diese vorgreifende Bedeutung der Einstellungen verfolgen: wo die naturalistische Einstellung eingenommen
wird, wird die Willensfreiheit verneint, da liegt die Leugnung
der Unsterblichkeit nahe, da bekennt man sich zum Nominalismus, da herrscht eine starke Tendenz zum Materialismus oder doch wenigstens zum Parallelismus, seltener zur
W echselwirkungstheorie. Alle naturalistische Philosophie ist
realistisch. Fast eintönig wiederholt die Philosophie derjenigen, die von der naturalistischen Einstellung ausge~.en, dieselben Argumente, dieselben Grundanschauungen. Uber die
Jahrhunderte weg zieht sich eine gerneinsame Linie von Demokrit und Lukrez über La Mettrie und Holbach zu den
naturalistisch gerichteten Materialisten und Monisten der
jüngst vergangenen Zeit. Die Variationen sind gering, nur
daß die jeweilig herrschenden naturwissenschaftlichen Einzelanschauungen die immer gleiche Grundfläche der naturalistischen immanenten Strukturantik anders ornamentieren.
Differenzierter und verästeher sind die Systeme, in denen
sich die unmittelbare Einstellung niedergeschlagen hat.
Nicht als ob die unmittelbare Einstellung nicht ebenfalls die
145
letzte Realität mit ihren immanent-strukturontischen Voraussetzungen durchsetzte, allein, wie an den Beispielen der philosophischen Einzelprobleme gezeigt wurde, gibt die unmittelbare Einstellung innerhalb der Grenzen ihrer immanenten
Strukturontik mehr Raum für verschiedenartige Lösungen;
sie ist biegsamer gegenüber den Forderungen der Einzelprobleme.
Die Unterarten der unmittelbaren Einstellung- die objektivistische, die subjektivistisshe und die Gegebenheitshaltung - verstärken. noch durch ihre Umformung und
wechselnde Pointierung der Strukturontik in ihrer Wirkung
auf die Gestaltung der Metaphysik die Buntheit des Bildes,
so daß doch letztlich die unmittelbare Einstellung den Inhalt
der Metaphysik weniger im voraus festlegt als die naturalistische Einstellung.
Es wurde bereits früher daraufhingewiesen: objektivistische und subjektivistische Haltung fuhren zu einer
realistischen Strukturontik. Die Existenz einer realen
Welt ist bei beiden vorausgesetzt; werden sie metaphysisch
verallgemeinert, so erweitert sich die immanente zu einer
transzendenten Realität. Andererseits trägt die Gegebenheitshaltung durch ihr Betonen der Gegebenheit
für ein Subjekt idealistischen, ja solipsistischen Charakter, wenn man sie zu einer Welthaltung erweitert: So
entstehen innerhalb der Metaphysik der unmittelbaren Einstellung solch entgegengesetzte Systeme wie die von Plato,
von Aristoteles und von Hume.
Bei Pla to prävaliert die subjektivistische Haltung: Schon
sein starkes Interesse ftir die Wissenschaftstheorie (Politeia),
ftir die Frage, wie das Subjekt sich in der Wissenschaft zum
Objekt hindurcharbeitet, ist ein Zeichen hierftir. Ebenso
lassen sich die ethischen Dialoge der Frühzeit, Protagoras und
Gorgias, ebenso wie die erkenntnistheoretischen der späteren
Zeit, Theätet und Sophistes kaum anders als in subjektivistischer Haltung verstehen. Seine Seelenmetaphysik als solche
146
ist indifferent gegenüber den Haltungen; allein die Art der
Konzeption dieser Metaphysik, das Ausgehen von der Erkenntnis apriorischer mathematischer Gesetzmäßigkeiten
und ihre Begründung auf die Anamnesis im Meno, die Konzeption des großen Seins der schauenden Seele, des Erkenntniswegs dieser schauenden Seele, aufsteigend vom Einzelnen
bis zum Allgemeinsten und Metaphysischen im Phaidros und
Symposion, setzt die Sichtnahme vom Subjekt her voraus.
Nur der Timaios mit seiner Weltschöpfungslehre hält den
rein objektivistischen Standpunkt fest: Hier wird von dem
Objekte ausgegangen, von der nach den Prinzipien der
Vollkommenheit geschaffenen Welt.
Wie wir schon bei der Geschichtswissenschaft gesehen
haben, daß objektivistische und perspektivisch subjektivistische Haltung sich ohne Widerspruch verbinden können,
so schlingen sich auch bei Plato diese beiden Haltungen
ineinander; doch überwiegt bei ihm der Ausgang von der
subjektivistischen-Haltung.
Es konnte Plato gelingen, die subjektivistische Haltung
relativ· rein durchzuführen, weil in seiner Lehre die naturwissenschaftlichen Probleme zurücktraten. Der naturwissenschaftlich interessierte Aristoteles hingegen mußte die objektivistische Haltung bevorzugen. Die Stufenfolgevon Form
und Stoff, einheitlich auf die ganze Welt angewandt, von der
niedersten Stufe, der Materie, bis zur höchsten, der Gottheit aufsteigend, ist objektivistisch gedacht. V9m Objekt
her wird die Entwicklung gesehen, auch die Seele ist ein
Stück der Objektwelt, von den gleichen Prinzipien durchwaltet wie alle anderen , Objekte c.
Noch merkwürdiger ist es, daß der Gegensatz der Haltungen die so .eng verwandten Systeme Platos und des Neuplatonismus scheidet. Hier wird der Timaios des Plato
wirksamer als alle seine anderen Dialoge insgesamt. Indem
für den Neuplatonismus das Hervorgehen der Welt aus Gott
zum vornehmsten Gegenstand der Metaphysik wird, erhalten
147
Begriffe, Kategorien, Systemelemente und Systemrelationen
Platos einen neuen objektivistischen Sinn: Die Seele ist
eine Stufe im Hervorgehen der Welt aus Gott; eine Sonderstellung besitzt sie nicht auf Grund dieser Stufenfolge, sondern höchstens auf Grund bestimmter, sie auszeichnender
Qualitäten. Schon in dieser Grundkonzeption zeigt sich die
objektivistische Haltung; denn für die subjektivistische Haltung ist die zentrale Stellung des Subjekts im Weltall unaufhebbar. Erst in der Ethik, bei dem Problem des Rückganges der Seele zu Gott gewinnt innerhalb der neuplatonischen Gedankenwelt die subjektivistische Haltung wieder
das Übergewicht.
Dieselbe Verbindung aus subjektivistischer und objektivistischer Haltung ist nun auch für das Mittelalter charakteristisch. Der in den ersten Jahrhunderten neuplatonische,
späterhin aristotelische Hintergrund der eigentlichen Metaphysik verlangt die objektivistische Haltung: Zwischen Scotus Eriugena und Thomas von Aquino, zwischen Meister
Eckhart und Duns Scotus ist kein prinzipieller Unterschied;
für sie alle ist zunächst objektivistisch die Seele in die Objektwelt hineingestellt, nur eine Form, eine Stufe unter
anderen.
Metaphysisch ist die Betrachtungsweise des Mittelalters objektivistisch; allein der religiöse Ausgangspunkt
ihres Denkens verlangt ebenso energisch die subjektivistische
Haltung; das Wissen der Seele von ihrer Einzigkeit, das Bewußtsein von Sünde und Verantwortlichkeit, das Ringen um
Erlösung ist prinzipiell subjektivistisch konzipiert (Augustin).
Jener Konflikt der mittelalterlichen Philosophie, auf den man
oft hingewiesen hat, der Gegensatz des doch letztlich pantheistischen Hintergrunds ihrer philosophischen Systematik
mit ihrer religiösen Grundeinstellung ist zugleich ein Konflikt der objektivistischen Haltung, für die die Seele ein Objekt unter Objekten ist, mit der subjektivistischen Haltung,
der das Subjekt das Zentrum der Welt bedeutet (wenn auch
148
nicht notwendigerweise ein Zentrum im Sinne des modernen
Perspektivismus).
Man wird dies Vorherrschen der objektivistischen Haltung im Hochmittelalter, das ein Abweichen von den Wegen
Augustins bedeutete, verstehen, wenn man daran denkt, daß
im Mittelpunkt des mittelalterlichen Denkens die religiöse
Erkenntnis stand, die Beziehung des Subjekts auf einen
dogmatisch festgelegten (nicht aus den Perspektiven eines
Subjekts herausgearbeiteten) Realitätsinhalt; nicht aber subjektivistische Probleme der persönlichen Heilssuche usw. Zu
der Auffassung der Erkenntnis, wie sie das Hochmittelalter
brauchte, führte aber nur die objektivistische Haltung.
Die Existenz von Objekten und Subjekten steht für die
objektivistische Haltung von vornherein fest; das Vorhandensein der Erkenntnis wird nicht bezweifelt. Das ganze Erkenntnisproblem reduziert sich letztlich auf die Frage: Wie
sieht der Weg aus, auf dem das Subjekt zu den Objekten
hingelangt? Es liegt keine Spur von Skepsis in der objektivistischen Haltung; es ist alles von vornherein festgegründet: Objekt, Subjekt und Erkenntnis. Nur über das
Wie der Erkenntnis kann man im Zweifel sein, nicht über
ihr Daß. Wieweit trägt die Ratio? fragt man. Wieviel von
der religiösen Tatsachenwelt, zu der die Offenbarung direkten
Zugang verschafft, ist die Ratio ihrerseits imstande beizubringen? Der ontologische Gottes"> Beweis c ist nicht ernstlich ein Beweis für etwas, dem man sonst nicht beikommen
könnte, wie es bei einem mathematischen Beweis der Fall
wäre, sondern die Eröffnung einer neuen Zufahrtstraße
zu einem Ort, der auch sonst längst bekannt ist.
Hier liegt die große Wendung zu Beginn der Neuzeit:
Die objektivistische Haltung wurde im wesentlichen aufgegeben; man entfernte sich von ihr einerseits zugunsten
der naturalistischen, andererseits zugunsten der subjektivistischen Haltung, die nun schroff und unversöhnt
nebeneinander stehen.
149
Auch für die naturalistische Haltung ist die Erkenntnis
als solche kein Problem (obwohl, wie sich im letzten Kapitel
zeigen wird, die Erkenntnis von Rechts wegen für sie ein sehr
schwerwiegendes Problem sein müßte). Für sie ist von
vomherein alles festgelegt: Die Existenz der physischen
Objektwelt, die Existenz des Psychischen; nur der Zusammenhang zwischen beiden macht noch Schwierigkeiten.
Die subjektivistische Haltung hingegen ist die eigentlich »erkenntnistheoretische' Haltung. Die Existenz der
\V e 1t steht freilich auch hier außer Zweifel, aber sie fragt:
Wie bemächtige ich mich der Welt? Gibt es überhaupt
einen Zugang zu ihr? Man hat oft darauf hingewiesen, daß
der antike Skeptizismus (der die subjektivistische Haltung
einnimmt) eigentlich die Existenz einer Außenwelt nicht
prinzipiell leugne, sondern nur ihre Erkennbarkeit für uns.
Noch weniger ist der methodische Zweifel Descartes'
skeptisch. Er ist , erkenntnismethodisch c gemeint. Wie kanil
ich, das Subjekt, von der Perspektive meines Sehens aus zur
Welt kommen? Das Problem ist das Problem der erkenntnism(i!thodischen Grundlegung für das Subjekt, nicht
das bloße Problein des Zugangs zum Objekt, wie für das
Mittelalter; Es ist das Problem: Wie gelange ich von meiner
Perspektive aus dazu, die Welt in ihrer Objektivität zu erfassen? Vielleicht überhaupt nicht- so mag die Antwort
lauten - , vielleicht nur teilweise in unendlicher Annäherung
- so behauptet die Wissenschaft-, vielleicht nur in Formen,
die das Subjekt liefert, so sagt Kant - vielleicht mit Hilfe
der Ratio oder der intellektuellen Anschauung usw., so sagen
Descartes, Spinoza, Leibniz, so sagen die Idealisten des
19. Jahrhunderts.
Von diesem Standpunkte Descartes' aus hat auch der ·
ontologische Gottesbeweis eine völlig andere Bedeutung als.
bei Anselmus; er will von der Perspektive des Subjekts aus
an das Objekt, Gott (an dem er ernstlich nicht. zweifelt),
herankommen. So ist auch in den Gedankengängen, die zum
ISO
cogito ergo sum führen, Descartes' System der reinste Ausdruck des Denkens aus unmittelbarer subjektivistischer Einstellung. Das zeigt sich schon in diesem Ansatzpunkt des
cogito ergo sum. Jede rein durchdachte subjektivistische
Haltung muß sich zur Selbstgewißheit als dem Quellpunkt
ihrer ganzen Systematik bekennen, als dem sichersten Ausgang alles ihres Denkens (wenn auch nicht alle Systeme aus
subjektivistischer Haltung sich dieser ihrer Voraussetzung
bewußt geworden sind). Und methodisch noch tiefer: Jene
Verankerung des Weltverständnisses in der Ratio, jener
methodische Idealismus Descartes', auf den der Neukantianismus so großen Wert gelegt hat, ist gerade das aus
der subjektivistischen Haltung stammende Neue in der Philosophie Descattes'.
Deshalb hat auch alle , Erkenntnistheorie c, d. h. alle
Grundlegung der Objektivität von der Perspektive des Subjekts aus sich Descartes und ebenso den andem Denkern
aus subjektivistischer Haltung Plato, Leibniz, Kant verwandt
gefühlt (wie der Marburger Neukantianismus), während sie
mit den Objektivisten Aristoteles, dem Mittelalter, Spinoza
nichts anzufangen wußte.
Es ist eigenartig, aber verständlich, daß in dem Augenblick, wo für die Philosophie das d o g m a tisch-religiöse
Problem zurücktritt -. in der Philospphie der Neuzeit -·,
die subjektivistische. Haltung in den Vordergrund rückt,· die
doch den religiösen Problemen näherzustehen scheint als die
Haltung des Objektivismus. Es ist verständlich, weil f'ür das
Mittelalter es im Lauf der Zeit immer mehr darauf ankam, die
Objektivität ihrer Metaphysik, ihrer dogmatischen Realität
gesichert zu wissen, alsdie subjektiv-religiösen Probleme
philosophisch zu fundieren. Mehr und mehr wurde die Erlösung nicht in erster Linie etwas, das seinen Schwerpunkt
in einem um Erlösung ringendem Subjekt hatte, sondern
sie wurde zu einer objektiven Tatsache- zu einer Beziehung zwischen Gott, Kirche und Mensch, die daher auch
objektiv zu begründen war. Auch der nur :.methodisch«
gemeinte Zweifel bedeutete bereits ein auf das Subjektstellen der Erkenntnis und der Erkenntnismöglichkeit; die
ganze subjektivistische Haltung der nun heraufkommenden
Philosophie - nicht bloß die zufällige Wendung, die ihr
Descartes gab - mußte von dem Objektivismus der Kirche
abgelehnt werden. Allein Descartes' System hat neben dem subjektivistischen Ausgangspunkt noch eine andere Seite: Die Lehre
von den zwei Substanzen ist ganz naturalistisch gesehen: Die Auffassung der Tiere als Automaten, die Scheinlösung des Zusammenhanges von Leib und Seele durch den
influxus physicus im Gehirn (schon der Ausdruck influxus
physicus - nicht etwa influxus psychicus - weist auf die
Richtung vom Physischen zum Psychischen) ist Naturalismus reinster Prägung. So stoßen bei Descartes die beiden Tendenzen der neuen Zeit- naturalistische Einstellung
und subjektivistische Haltung - fast unvermittelt aufeinander· und damit ist der Auftakt für die moderne Philoso'
..
phie gegeben: Der Gegensatz lautet nun in erster Ltme
nicht mehr subjektivistische oder objektivistische Haltung,
die doch beide noch innerhalb der unmittelbaren Einstellung sich bewegen, sondern, wie bei Desccartes, subjektivistische Haltung oder naturalistische Einstellung.
Bei dem philosophisch primitiveren Locke werden die
Strukturantiken der verschiedenen Haltungen nicht mehr,
wie bei Descartes, zu einem einheitlichen System zusammengeschweißt, bei dem nur an den Übergängen von einer
Strukturantik zur anderen die Uneinheitlichkeit sichtbar
wird, sondern die Strukturantiken werden innerhalb derseihen Problemen vermischt. Bei ihm sind jedoch die kontrastierenden Haltungen nicht mehr die naturalistische und
die subjektivistische Haltung, sondern die naturalistische
und die Gegebenheitshaltung, die hier erst in die Philosophie eingeführt wird. Der allgemeine strukturontische
Hintergrund seiner Anschauungen ist naturalistisch:
Gegenstände, die durch die Sinne hindurch Vorstellungen
in uns erzeugen. Seine methodische Einsatzposition hingegen ist die Gegebenheitshaltung: Um entscheiden zu
können, wieweit unsere Erkenntnis trägt, zergliedert er die
Gegebenheiten unseres Bewußtseins und faßt sie als Vorstellungen. Allein er bleibt nicht konsequent in dieser bewußtseinsanalytischen Position: Sein naturwissenschaftliches
Wissen macht ihm - wie so vielen seitdem -- einen Strich
durch die Rechnung: Die Ideen, ursprünglich als Inhalt unseres Bewußtseins das einzige, von dem wir wissen können,
werden nun auf einmal als von den Sinnen bewirkte Nachwirkungen der äußeren Gegenstände angesehen. Nachdem
erst einmal diese Vermischung der Haltungen sich eingenistet, bleibt sie typisch für Lockes weitere Behandlung der
philosophischen Probleme.
In seinen Nachfolgern trennen sich die Einstellungen wieder: Der naturalistische Zug seines Wesens wirkt nach Frankreich hinüber und gelangt im Sensualismus Co n d i 11 a c s
(sein Beispiel von der Statue, auf die nach und nach die
Sinneseindrücke Einfluß gewinnen, ist rein naturalistisch konzipiert), im Materialismus von La Mettrie und Holbach
zu reinem Ausdruck. Von seinen englischen Nachfolgern
Be r k e 1e y und H um e hingegen wird gerade diese Seite
seines Wesens unterdrückt.
Berkeley führt als Erster den Gegebenheitsstandpunkt
strikte durch und gelangt, indem er die Gegebenheitshaltung
idealistisch deutet, zu jenem rein subjektiven Idealismus, der überhaupt einzig und allein vom Gegebenheitsstandpunkt möglich ist. Denn selbst die skeptische Lösung
der subjektivistischen Haltung kann immer nur zu einem
non liquet kommen; sie kann immer nur behaupten: Wir
wissen nicht, ob jenseits der perspektivisch gesehenen Reali·
tät noch eine andere objektive existiert. Für den subjektiven
Idealismus der philosophisch- verabsolutierten Gegeben153
heitshaltung hingegen steht es von vornherein fest:
Alles Gegebene ist mein Bewußtseinsinhalt, und jenseits des
Gegebenen kann nichts existieren. Der subjektive Idealismus
der Gegebenheitshaltung ist, wenn er konsequent denkt,
positiver Skeptizismus der transsubjektiven Welt gegenüber; er bezweifelt sie nicht bloß; er weiß, daß sie nicht
existieren kann.
Gegenüber dieser Gegebenheitshaltung von Berkeley
und Hume bedeutet Kants Stellung, im Großen gesehen,
eine Wiederaufnahme der subjektivistischen Haltung. Gerade
deshalb gehört er zu Descartes (dem Descartes des cogito
ergo sum) und zu Leibniz, nicht zu Locke und Hume. Trotz
seiner Übernahme mancher naturalistischer Gedankengänge
aus der Newtonsehen Physik- sein Kausalitätsbegriff wurde
bereits erwähnt- ist seine Gesamtlösung nur aus einer konsequenten unmittelbaren su bj ekti vis tischen Eins t e 11 u n g zu verstehen.
··
Nicht von einer realen Welt in Raum und Zeit wird von
Kant ausgegangen, in die das Psychische eingegliedert wird,
sondern vom Erfaßtwerden des Objekts durch ein Subjekt. Das ist es gerade, was seine kopernikanische Wendung
bedeutet: die Ablehnung jeglichen prinzipiellen Naturalismus, ja auch jeglicher objektivistisch-unmittelbaren Einstellung. Nur von der subjektivistischen Einstellung aus hat es
Sinn, Raum und Zeit als apriorische Anschauungsformen aufzufassen, unter denen allein uns Gegenstände gegeben werden können, und die Kategorien als apriorische Formen des
Verstandes, die zum Aufbau der Gegenstandswelt erforderlich sind. Nur von der subjektivistischen Einstellung aus ist
der transzendentale Gesichtspunkt möglich, die synthetische
Einheit der Apperzeption, die Diskussion der Antinomien usw.
Aber auch die Lehre von ,den Dingen an sich selbstc
ist ein Ergebnis der ins Metaphysische gesteigerten subjektivistischen Haltung. Der Perspektivismus verlangt zunächst,
daß die Perspektiven eben Perspektiven einer an sich
154
seienden objektiven Realität sind, und so sind die :.Dinge
an sich selbst« gerade für Kant diese an sich seiende Realität, die dem Subjekt unter der Perspektive der Anschauungsformen und der Kategorien erscheinen. Auf höherer Stufe
des Perspektivismus läßt man diese letzte objektive Realität
aus dem Zusammenklang der verschiedenen Perspektiven
konstituiert (Scheler) oder sie selbst wieder von dem Subjekt gesetzt werden (Fichte) - davon wurde bereits früher
gesprochen.
Kants Nachfolger sind ihm im wesentlichen auf der Linie
der unmittelbaren subjektivistischen Einstellung gefolgt:
Ihr Idealismus ist - wie aller Idealismus, der nicht Gegebenheitsidealismus ist - nur von ihr aus verständlich
(doch sind gerade innerhalb der nachkantischen Philosophie [in Schellings Naturphilosophie, in der Identitätsphilosophie z. B.] die einzigen Systeme aus neuerer Zeit zu finden, die der objektivistischen Haltung Einlaß gewähren).
Ist es nicht ftir diese Herrschaft der unmittelbaren Einstellung bezeichnend, daß Fichte dort, wo er die möglichen
Ausgangspunkte der Philosophie schildert (erste Einleitung
in die Wissenschaftslehre 1 79 7), er nur den ob j e k t ivistisch orientierten Dogmatismus und den subjektivistisch orientierten Idealismus einander gegenüberstellt,
aber vom Naturalismus schweigt, oder ihn vielmehr mit dem
Objektivismus zusammenwirft? Wirklich zugänglich ist ihm
von seiner unmittelbaren Einstellung aus nur die Wechselbeziehung von Objekt und Subjekt; selbst der Materialismus
wird so gedeutet, als ob er einer objektivistischen unmittelbaren Einstellung entstammte. Niemals hätte der Zusammenbruch der Hegels c h e n Phi 1o so p h i e in dieser katastrophalen Weise sich
vollziehen können, wenn nicht mit der Zuwendung zu den
Naturwissenschaften zugleich auch ein prinzipieller Wechsel
der philosopbischen Einstellung erfolgt wäre. Für die jetzt
alleinherrschende n a tu r a li s t i s c h e E b s t e 11 u n g waren
155
-------
nicht nur die Lösungen, sondern selbst die Probleme der
unmittelbaren Einstellung sinnlos geworden. Das Subjekt
wurde im Sinne psychischer Erlebnisse umgedeutet;
was sollten da nochalldie Probleme des >Subjekts als Substanz c:, der , transzendentalen Apperzeption«, des >Selbstbewußtseins c, des > An-und-ftir-sich-Seins c - lauter Probleme, die die unmittelbare Haltung voraussetzen? Die naturalistische Haltung, die für Hegel nur ein untergeordnetes,
aufzuhebendes Moment gewesen war, konnte nun ihrerseits
den Hegeischen Standpunkt aufheben, aber nicht mehr selbst
aufgehoben werden.
Nichts ist bezeichnender für das Unverständnis, das man
jetzt der subjektivistischen Einstellung entgegenbrachte, als
die Art, in der man Kant naturalistisch umdeutete - und
dennoch glaubte Kantianer zu sein. Der naturalistischen Einstellung mußte das , Ding an sich« zur raumzeitlichen
Atomwelt werden, denn diese Atomwelt ist die letzte
Realität der naturalistischen Einstellung. Damit aber wurde
die Kautische , Welt der Erscheinungen c: (die ftir das
Subjekt geformte empirisch-reale Welt) mit der psychischen V arsteil ungswel t identisch, die die Atomwelt
in uns erzeugt; das unmittelbare Affiziertwerden
des Gemütes durch die objektive Welt der Dinge an
sich wurde zum kausalen Bewirktwerden der Vorstellungen durch den psychophysischen Prozeß. Dieser
ganze kausale psychophysische Prozeß, der ftir Kant eine Art·
- gelegenheit innerhalb der Erscheinungswelt war, wurde
zum eigen t I ich e n kosmischen Geschehen: Weiterhin: bereits der Naturalismus Lackes hatte Descartes' Ideae innatae
als , angeborene Ideen c: aufgefaßt. Ähnlich interpretiert jetzt
der Naturalismus Kants a priori. Das Apriori, das die Form
bedeutet, durch die die Erfahrung möglich gemacht wird,
wird nun zum Angeborensein im Sinn der psychophysischen Organisation (Johannes Müller, Fr. Alb. Lange)
-konsequent gedacht im Sinne des Naturalismus, dem ein
I
56
-----------------
u n mit t e I bares Erfassen des Objekts unverständlich sein
mußte. Schon bei Schopenhauer finden sich groteske Vermischungen der beiden Einstellungen: So bezeichnet er naturalistisch den Intellekt als Produkt des Gehirns und die Kategorien als Gehirnfunktionen, andererseits läßt er aber im
Sinne der Kantischen unmittelbaren Einstellung die ganze
Erscheinungswelt (einschließlich des Gehirns) durch die Kategorien geformt sein.
Die letzten zwanzig Jahre haben eine erneute Rückkehr
zur unmittelbaren Einstellung gebracht. Sie war vorbereitet durch die erkenntnistheoretische Bewegung in
ihren späteren Phasen.
Ursprünglich war die , Erkenntnistheorie c ftir den naturalistischen Szientifismus nichts als ein Mittel, die Philosophie
unschädlich zu machen. Die Erkenntnis des Wirklichen behielten sich die Wissenschaften vor, die Philosophie hatte
keine andere Aufgabe mehr, als die Erkenntniswege und Erkenntnismethoden der Wissenschaft zu untersuchen, nachzudenken, was die Wissenschaft ihr vor-getan hatte.
Allmählich jedoch ging diese Erkenntnistheorie weiter.
Sie analysierte die Erkenntnis als solche, selbständig, ohne
Rücksicht auf die Wissenschaften; sie fragte, welcherTatbestand in der , Erkenntnis c vorliege, wie Erkenntnis , gegeben c: sei (psychologische Erkenntnistheorien, phänomenologische Erkenntnisanalysen).
Und endlich suchte sie noch die Bedingungen der Erkenntnis überhaupt aufzuspüren, forschte ihren Ursprüngen
nach und stellte sich jenseits der wissenschaftlichen Erkenntnis, indem sie diese wissenschaftliche Erkenntnis zu begründen und zu rechtfertigen unternahm (Neukantianismus).
Die beiden letzten Richtungen der Erkenntnistheorie gingen von der unmittelbaren Einstellung bald in Gegebenheitshaltung, bald in subjektivistischer Haltung aus, und so war
hier die Wendung zur unmittelbaren Einstellung bereits in
der naturalistischen Epoche wieder vollzogen.
157
1
Au~h als i? der neuesten Phase der Philosophie die Erkenntnistheorie zurücktrat und die Metaphysik sich wieder
zu r:gen began~, blieb es d~ch immer eine Metaphysik aus
unmittel~arer Emstellung -Je nachdem: idealistisch phänomenologisch, existenziell orientiert. So stark hat si~h diese
Tendenz zur unmittelbaren Einstellung durchgesetzt daß
?eute sc?on wi~der die umgekehrte Gefahr besteht, ~ie zu
Jener Zei~, da die Hegeische Philosophie unterlag: daß vergessen wird, d~ß auch die naturalistische Einstellung und die
e::'ak~e Naturwissens~?aft der Philosophie Probleme stellen,
die mcht dadu~ch gelost v:erden, daß man sie ignoriert (wie
es z. B. von sexten der Existenzphilosophie geschieht).
7.KAPITEL
DIE
METAPHYSISCHE VERABSOLUTIERUNG
DER EINSTELLUNGEN
Die Einstellungen
und das Problem der Verabsolutierung.
I.
So ist heute die Situation ii:n tieferen Sinn noch die gleiche
wie fast zu allen Zeiten seit den Tagen Descartes': Metaphysiken aus subjektivistischer Haltung - meist idealistisch
orientiert - stehen neben einem einseitigen Naturalismus.
Wie soll die Entscheidung getroffen werden? Es genügt nicht,
sich einfach für eine der Haltungen zu entschließen; es geht
nicht an, mit Fichte zu sagen: , Was für eine Philosophie
man hat, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist« und
dann für den Idealismus und damit für die subjektivistische
Einstellung zu optieren.
Ebensowenig darf man die beiden Haltungen miteinander
verbinden: Das Beispiel von Descartes und Locke hat allzu
sehr Schule gemacht: Wo man die Probleme des Entstehen s der Sinnesempfindungen, die Wirkung der äußeren
Welt auf das Seelische behandelt, pflegt man ohne Bedenken
die naturalistische Strukturantik zu verwenden; dort, wo man
die Welt vom Subjekt aus sieht, die subjektivistisch unmittelbare Einstellung. Solche Vermischung der Haltungen und
damit der Strukturantiken läßt sich bei fast allen Philosophen der Gegenwart nachweisen, auch wenn sie noch so
sehr auf die Einheitlichkeit ihres Standpunktes pochen - es
sind auch in der Philosophie nicht alle frei, die ihrer Ketten
spotten.
I
59
Die Aufgabe~ die adäquate Einstellung der Metaphysik zu finden, ist weit schwieriger als die gleiche Aufgabe bei den Einzelwissenschaften. Die Einzelwissenschaft
nimmt diejenige Einstellung an, die der Strukturantik ihres
bereits vorgegebenen Tatsachengebiets adäquat ist. Dieser
Weg ist der Metaphysik verschlossen. Ihr Gebiet ist nur
formal bestimmt: es ist das letzte Sein. Von dieser formalen
Bestimmung erhält man keine Auskunft über die Strukturantik des Gebiets der Metaphysik und damit über die ihr
adäquate Einstellung. So wissen wir von der adäquaten Einstellung der Metaphysik nichts weiter, als daß sie imstande
sein muß, das letzte Sein zu erfassen.
Es bestehen nur zweiMöglichkeiten weiterzukommen; von
ihnen wurde bereits in der Einleitung gesprochen. Entweder
man erhebt sich über die beiden Einstellungen von einem
Standpunkt aus, der die beiden Einstellungen kritisch prüft
und zu überwinden imstande ist. Eine solche Überwindung
durch einen Sprung in eine höhere Sphäre ist nur möglich,
wenn man den höheren metaphysischen Standpunkt, den wir
suchen, bereits besitzt. Es liegt jedoch nicht auf unserem
Wege, einen solchen Standpunkt prinzipiell - abseits von
den Wissenschaften - zu begründen.
Oder - das ist die zweite Möglichkeit - man bleibt
jeweilig innerhalb einer Einstellung und versucht, inwieweit
sich ihre Strukturantik widerspruchslos zu einer transzendenten Strukturantik erweitern läßt. Diese Möglichkeit
soll weiterhin diskutiert werden.
Es ist nicht a priori gewiß, daß > Widerspruchslosigkeit«,
die wir von der transzendenten Strukturantik verlangen, eine
Forderung bedeutet, die an die letzte Strukturantik gestellt
werden darf. Alle dialektisch, alle antinomisch orientierten
philosophischen Systeme verneinen sie. Allein soviel darf gesagt werden: DieForderung der Widerspruchslosigkeit muß
als regulatives Prinzip die metaphysische Forschung beherrschen. Es muß versucht werden, soweit es irgend geht,
160
auftauchende Widersprüche aufzulösen. Erst wenn sich zeigt,
daß die Widersprüche nicht auflösbar sind - am besten,
wenn man zu zeigen imstande ist, daß sie ihrer Natur nach
nicht aufgelöst werden können - , darf man den Widerspruch als konstitutives Moment der Strukturantik anerkennen. Wohin käme man auch, wenn man von vornherein auf
die Forderung der Widerspruchslosigkeit verzichten wollte?
Jedes in sich widerspruchsvolle System wäre mit jedem anderen gleichberechtigt. Es ist kein , Rationalismus c, der sich
hinter der methodischen Forderung der Widerspruchslosigkeit verbirgt, sondern die Forderung eines Leitfadens,
auf den nicht verzichtet werden kann und auch niemals ernstlich verzichtet worden ist.
So ist wenigstens der erste Anfang des Weges vorgezeichnet, den wir zu verfolgen haben: Man gehe jeweils von
einer der beiden Einstellungen aus und verabsolutiere hre
Strukturantik Gelingt es, sie über den Bereich der Gegenstände hinaus, für die sie zunächst bereitgestellt wurden,
widerspruchslos auf alle Gegenstände anzuwenden, so
ist wenigstens die primitivste Forderung, die an ihre metaphysische Brauchbarkeit gestellt werden kann, erfüllt. (Dafür,
daß die betreffende Strukturantik nun auch wirklich die
meta physische Strukturantik ist, ist die Tatsache ihrer
Widerspruchslosigkeit freilich noch nicht beweisend.) Erfüllt
die Strukturantik die Forderung der Widerspruchslosigkeit
jedoch nicht, so scheidet sie von vornherein als metaphysische
Strukturantik aus - es sei denn, daß man positive Gründe
hat, den Widerspruch für im Metaphysischen selbst verankert
zu halten.
Es sind also zunächst die beiden Einstellungen zu verabsolutieren und die Konsequenzen aus solcher Verabsolutierung· zu ziehen.
161
2.
Die Verabsolutierung der naturalistischen
Strukturon tik.
Es ist _unmögli~h, die n a tu r a 1ist i s c h e Einstellung zur
~etaphystschen Emstellung zu erweitern; ihre Verabsolutterung stößt auf Widersprüche:
Die Gru?dvoraussetzung der naturalistischen Einstellung
besteht darm, daß das Subjekt von der realen Außenwelt
weiß; es nimmt in der naturalistischen Einstellung von dieser
realen Welt seinen Ausgang; seine Sichtnahme ist von dieser
realen Welt her. Allein als K o n s e q u e n z der naturalistischen
Einstellung ergibt sich andererseits, daß das Subjekt nicht
von der realen Welt weiß und nicht von ihr wissen kann.
Denn nach der naturalistischen Einstellung wirkt die
A~ßenwelt a~f d~s Gehirn und verschafft sich in Verbindung
~mt dem Gehtrn em Bewußtsein, ein Abbild, ein Symbol
threr selbst.
Diese Vermittlung kann parallelistischgedachtwerden.
d.
m~n nimmt an, daß die physische und die psychisch~
Rethe emander parallel laufen. Wie sollte es nach dieser Annahme jedoc~ möglich s:in, daß die psychische Reihe jemals
erfahre, was. m der phystsche? vorgeht, ja, daß das Subjekt
v~n der Extstenz emer phystschen Reihe überhaupt wisse?
~~~ Wahrne~mungsvorstellung einesfahrenden Wagens etwa
tstthrem phanomenalen Charakter nach das Bild eines fahrenden Wagens; sie ist nach der parallelistischen Auffassung
außerdem noch das reale Abbild eines fahrenden Wagens:
der Wagen fährt tatsächlich in der realen Welt. Dennoch
kann ich, der ichnurdie Vorstellung des fahrenden Wagens
h~be, nie~als wi.ss~n, daß der Tatbestand, daß der Wagen
fahrt, reahter :xtsttert. J?azu wäre es nötig, daß ich von der
Vorstellungsreihe auf dte Weltreihe überspringen könnte·
aber gera~e das _ist. nach Voraussetzung ausgeschlossen. '
Auch dte momsttsche Lösung Spinozas schiebt die Schwierigkeit nur um eine Stufe weiter zurück, aber löst sie nicht:
?·
162
Die beiden Reihen sind Attribute derselben Substanz; dieselbe Gesetzmäßigkeit der Aufeinanderfolge, die in der psychischen Reihe der , Gedanken c herrscht, muß auch in der
physischen Reihe zu finden sein, da die Gesetzmäßigkeit der
göttlichen Substanz beide Attribute durchwaltet. Für Spinoza
hat es daher zwar keine Schwierigkeit, die Ordnung in der physischen Reihe zu verstehen - sie ist aus der parallelen psychischen Reihe bekannt, wenn erst einmal die Existenz des
physischen Attributes sichergestellt ist. Woher aber soll das
psychische Attribut von seinem Schwesterattribut, dem physischen, wissen?
In Wirklichkeit bekennt sich in den späteren Teilen der
Ethik Spinoza zu einer Auffassung des Parallelismus, die die
naturalistische Einstellung weit hinter sich läßt. Parallel gehen
ihm nun nicht mehr Physisches und Psychisches, wie es der
Umbildung der Lehre Descartes' entsprechen würde, sondern
Denken und Sein: Das Erfassen des Fahrens des Wagens
und das Fahren des Wagens selbst. Hiermit ist der naturalistische Parallelismus verlassen, der in diesem Zusammenhang einzig in Frage steht, und ein Parallelismus in seine
Lehre hineingekommen, der aus der unmittelbaren Einstellung stammt. (Der Gegensatz des naturalistischen Parallelismus [Psychisches-Physisches] und des Parallelismus aus
unmittelbarer Einstellung [Denken-Sein] zeigt sich deutlich
in Folgendem: Nach dem psychophysischen Parallelismus
laufen seelisches Geschehen und Gehirnvorgänge parallel;
für den Parallelismus, der vom Gegensatz Denken und Sein
ausgeht, laufen einander parallel: Denken und Sein, das Denken, das Erfassen eines Geschehens und das Geschehen
selbst. Nur die letzte Art des Parallelismus hat Spinoza in
diesen Teilen seines Systems im Auge; sein Parallelismus
unterscheidet sich daher prinzipiell der Strukturontik nach
von dem Parallelismus Fechners und Haeckels.)
Die kausale Auffassung des psychophysischen Zusammenhangs führt auf dieselben Antinomien: Das Haus in der
Außenwelt erzeugt auf dem Wege über das Gehirn dieVor~tel~ung de:,; Hauses. vyas also dem Bewußtsein gegeben ist,
tst memals das Haus, die Welt selbst, sondern nur die Vorstellung von ihnen. Woher erlangt das Bewußtsein trotzdem das Wissen von der realen Außenwelt? Der konsequente
Naturalismus muß die Antwort hierauf schuldig bleiben. Das
Bewußtsein kann nichts von der realen Außenwelt wissen,
~eil :s -gerade nach den naturalistischen Anschauungenm seme Vorstellungen eingeschlossen ist, wie in ein Grab.
Es fuhren alle Spuren , in die Höhle des Löwen« keine aus
ihr zurück: Der Weg fuhrt aus der realen Welt i~ die Vorstellungswelt, aber nicht zurück von der Vorstellungswelt in
die reale Welt.
So hebt auch der kausale psychophysische Naturalismus sich selbst auf: Er geht von der realen Außenwelt aus·
aber die Konsequenz ist, daß das Subjekt von der Existen~
einer solchen realen Außenwelt nichts wissen kann. Die naturalistische Strukturontik ist so ihrem Wesen nach widerspruchsvoll.
Zuweilen ist- wenn auch nicht der volle Ernst des Widerspruchs gesehen wurde - so doch eine gewisse Schwierigkeit
darin erblickt worden, wie man von den im Zusammenhang
mit dem Gehirn erzeugten Vorstellungen im Wissen den Weg
zu der realen Welt finden könne. Die Lösung, die gegeben
wurde (Helmholtz, Schopenhauer) ist folgende: Wir besitzen
die angeborene Fähigkeit des kausalen Schließens, wie auch
.die Notwendigkeit, jedes Gescheben auf eine Ursache zu beziehen. Die Ursache unserer Vorstellungen finden wir nicht
in der Vorstellungswelt, wir beziehen daher die Vorstellungen
auf eine reale Welt als auf ihre Ursache. So ist durch das
Kausalgesetz im Wissen selbst gleichsam die Umkehrung
des realen Wegs gegeben. Kausal war der Weg vom Gegenstand zur Vorstellung; und kausal wird auch umgekehrt die
Vorstellung (in unbewußten Schlüssen) auf den Gegenstand
bezogen.
164
l
Allein auch dieser Ausweg hilft nicht weiter. Vor allem
ist es nur die Unklarheit im Begriff der Vorstellung, die diese
Lösung so einleuchtend erscheinen läßt. Wie ist der Charakter
der Vorstellungen beschaffen, die auf die reale Welt als ihre
Ursache bezogen werden sollen? Entweder diese Vorstellungen enthalten in sich bereits eine Beziehung auf eine immanent-reale Welt: Man weiß also nicht, daß man es mit bloßen
Vorstellungen zu tun hat, man glaubt, wenn man die Wahrnehmungsvorstellung eines fahrenden Wagens hat, daß
man den Wagen wirklich fahren sieht. Wenn man diesen
Glauben hat, ist kein Grund einzusehen, weshalb man hinter
dieser wirklichen Welt, die man zu erfassen meint, noch
einmal eine wirkliebere Welt aufsuchen sollte: eine wirklich
wirkliche Welt, hinter der bloß vermeintlich wirklichen.
Um das tun zu können, müßte man bereits wissen, daß die
vermeintlich wirkllche Welt nicht die wirklich-wirkliche ist.
Woher aber soll man das wissen, wenn man nicht gerade
naturalistischer Philosoph ist?
Oder: Man nimmt an, daß die Vorstellungen nicht nur
realiter Vorstellungen sind; sondern daß .sie auch Vorstellungscharakter haben, d. h. daß man sich ihres bloß psychischen Charakters bewußt ist. Die Wahrnehmung eines
fahrenden Wagens werde also demnach zunächst als psychisches Geschehnis angesehen. Man wisse also stets nur
von seinen eigenen psychischen Geschehnissen und wisse
zugleich, daß sie nur psychisch sind. Wenn man nach Ursachen dieser psychischen Geschehnisse sucht, so '!ird man
sie demgemäß auch nur in anderen psychischen Geschehnissen suchen'. Von einer realen Welt weiß man nichts, nichts
von einer Welt außerhalb der Vorstellungen, und wird auch
nie auf den Gedanken kommen, daß es etwas dergleichen
gäbe. Die Theorie setzt voraus, daß man gleichzeiti~ naives
Subjekt ist, das nur von seinen Vorstellungen weiß, und
naturalistischer Philosoph, der die Vorstellungen von der
realen Welt unterscheiden gelernt hat, und daher von den
I6S
Vorstellungen zur realen Welt mitteist des Kausalgesetzes
durchstößt.
So bleibt also bestehen: Die naturalistische Einstellung
kann ihre eigene Voraussetzung, das Wissen des Subjekts
von einer Außenwelt nicht begreiflich machen. Wenn ihre
Voraussetzung von der Existenz der realen Außenwelt
und ihre Annahme von der Erzeugung der Vorstellungen
richtig sind, so ist die Konsequenz, daß wir niemals zu
diesen Voraussetzungen gelangen können, daß wir nur von
unserer Vorstellungswelt, nicht aber von der realen Außenwelt etwas wissen können. Die naturalistische Einstellung
widerspricht in ihren Konsequenzen ihrem Ausgangspunkt.
Wie kommt es, daß dieser Widerspruch nicht bemerkt
zu werden pflegt? Es sind verschiedene Gründe hierfür verantwortlich zu machen: Einmal, daß man sich naturalistisch
meist daran genügen läßt, denWeg zum Gehirn zu verfolgen,
aber sich um das Problem des Wissens gar nicht kümmert.
Zweitens, daß, wenn man das Wissen zum Problem werden
läßt, man seinen naturalistischen Ausgangspunkt wieder vergißt, einzig vom Subjekt aus die Welt in subjektivistischunmittelbarer Haltung betrachtet.
Am stärksten wirkt aber folgendes Moment darauf hin,
daß der Widerspruch übersehen wird: Der naturalistisch
denkende Naturwissenschaftler oder Philosoph denkt sich
als unbeteiligten Zuschauer des naturalistischen Prozesses:
Er steht außerhalb des Vorgangs; er weiß von der Existenz
der realen Welt, und das genügt ihm; daß das Subjekt, das
er naturalistisch betrachtet, nichts von dieser realen Welt
wissen kann, kümmert ihn nicht. Die Hauptsache ist, daß
er dem Vorgang der kausalen Erzeugung der Vorstellungen
zusieht, daß er nicht selbst »mitspielte. Aber in Wahrheit
spielt doch auch der naturalistische Philosoph mit: Er ist
selbst ein solches Subjekt, das nur von seinen Vorstellungen
weiß, ein Subjekt, das überhaupt von der realen Welt nichts
wissen kann. Der ganze kausale Prozeß, von dem er spricht,
166
die ganze reale Außenwelt, darf als Konsequenz des Naturalismus nicht real, sondern nur seine Vorstellung sein, das
fremde (oder auch das eigene) Gehirn nur seine Vorstellung
und keine Realität usw. usw. Je tiefer man sich in die Konsequenzen hineinzudenken versucht, desto unentwirrbarer wird
das Labyrinth.
Man vergegenwärtige sich z. B. ernstlich ein Beispiel, an
dem der naturalistisch orientierte, psychophysische Parallelismus seine Anschauung zu illustrieren pflegt: Zwei miteinander kämpfende Fechter halten sich ihre Schilde entgegen.
Die Außenseite beider Schilder ist schwarz, die Innenseite
weiß. Jeder sieht vom Schild des anderen nur die schwarze
Außenseite, von seinem Schild nur die weiße Seite. Das
Tertium comparationis ist klar: die schwarze Seite des Schildes symbolisiert die körperlichen Vorgänge des Menschen,
die weiße Seite seine Seele.
In diesem Vergleich ist bereits das Ineinander des unbeteiligten Betrachters und des im Parallelismus stehenden
Subjekts zu finden. Auch von den fremden 'Menschen sieht
man - naturalistisch streng gefaßt- nicht die körperlichen
Vorgänge, sondern man hat nur die Vorstellung ihrer
körperlichen Vorgänge. Der Fechter sieht nicht den schwarzen Schild des anderen, sondern hat nur Vorstellungen des
fremden schwarzen Schildes, die also auf seine weiße, die
psychische Seite gehören. Nur der direkt den Vorgang erfassende Zuschauer sieht von innen her die weiße Seite
des Schildes, von außen her· die schwarze. Aber noch
weiter geht die Kompliziertheit: Auch ftir den Zuschauer
muß die parallelistische Theorie ihr Recht behalten: Daher
darf auch er dieses ganze Schauspiel nur als seine Vorstellung besitzen, den wirklichen Kampf sieht er nicht usw. usw.
Das Durcheinander ist hier, wie überall, wenn man die naturalistische Einstellung ernst nimmt, nicht zu entwirren.
Das Ergebnis der Verabsolutierung der naturalistischen
Einstellung lautet also: Die naturalistische Einstellung ist
167
ungeei~net, zur metaphysischen Einstellung erhoben zu werd;n: Sie verm~g aus dem Weltbild, das sie gibt, sich selbst
mcht verständlich zu machen.
3· Die Verabsolutierung der unmittelbaren
Einstellung.
Die unmittelbare Einstellung befindet sich zunächst in
e~ner gü~st~ger~n Lage als der Naturalismus:. Denn gerade
die ~chwi~n~keit, an ~er die naturalistische Einstellung sich
tothef, existiert !'tir dte unmittelbare Einstellung nicht: Wie
kommt das Subjekt zu den Objekten? ist kein Problem für
die unmittelbare Einstellung; sie konnte nur dort zum Prob~em werden, w? eine Verdopplung vorlag, wo demgemäß
die Vorstellung thren Weg zum Objekt suchen mußte. Für
die unii?ittelbare Einstellung, die diese Verdopplung nicht
kenn~, hegt der Tatbe~tand sehr einfach: Das Subjekt erfaßt
unmttt~l bar das Objekt; der Ausgangspunkt der unmittelbaren ~mstellung birgt zugleich auch die Lösung der für den
Naturaltsmus unüberwindbaren Schwierigkeit. Das was der
schwächste Punkt der naturalistischen Einstellung' war ist
der stärkste Punkt der unmittelbaren: Das Wissen 1des
Subjekts um das Objekt ist die Grundtatsache ihrer
Strukturontik.
Allein die Schwierigkeiten sind in Wahrheit durch diese
einfache Lösung nicht aufgehoben, sondern einzig an eine
andere Stelle gerückt:
• 1. Das Objekt soll nach Anschauung der unmittelbaren
Emstellung ~~r~kt erfaßt wer~en. Die direkte Ergreifung
b;deutet naturhch. auch für dte unmittelbare Einstellung
mcht, daß das Objekt .etwa ohne Vermittlung des Körpers
erfaßt werden kann. Eme solche Anschauung wäre absurd:
Man kann sich jederzeit überzeugen daß wenn man die
Augen schließt, man nicht sieht, wedn ma~ sich die Ohren
verstopft, man nicht hört. Nur soviel behauptet die unmittelI68
bare Einstellung, daß man zwar mit den Augen sieht, mittels
der Augen (vielleicht auch, daß der kausale Prozeß zum
Gehirn hin die Anregung gibt zum Ergreifen des Gegenstandes), aber daß die Erfassung trotzalledem unmittelbar
durch den Raum hindurch den Baum, das Haus, den
Menschen greift. Aber, was das unmittelbare Ergreifen durch
den Raum hindurch bedeutet, bleibt völlig ungeklärt: Wir
sehen etwa den Mond; wir erfassen ihn selbst - es ist der
wirkliche Mond, den wir sehen. Jedoch wir sehen ihn nicht
so, wie er ist; wir sehen ihn nicht als gewaltigen Himmelskörper von kosmischen Dimensionen. Er selbst wird gesehen, aber das Wie seines Seins, soweit es gesehen wird,
ist bloß , subjektiv c, ein bloßes , Bild c des Mondes; nach
unserer früheren Bezeichnung ein mentales Objekt. Wir
erfassen zwar den wirklichen Mond - nur eben nicht so,
wie er wirklich ist. Man muß sich also das Bild gleichsam
dem wirklichen Objekt überlagert denken: Denn das Bild
ist ebenfalls am Himmel, und zwar gerade an der Stelle, an
der auch der wirkliche Mond ist, mit seinen wirklichen
Bestimmtheiten. Es wäre eine völlige Verkennung der Sachlage, wenn man das >Bild des Mondes c als ) im Bewußtsein c
befindlich bezeichnete. Es ist dort, wo auch der wirkliche
Mond ist, nur: es ist nicht real.
So kommt man im Fall der Täuschung doch wieder zur
Verdopplung zurück - nur zu einer viel unverständlicheren
Verdopplung als bei . der naturalistischen Einstellung: Die
Scheibe des Mondes ist ein bloß subjektives Gebilde; aber
sie ist dennoch nicht im Subjekt, sondern am Himmel.
Wie kommt sie dorthin, wenn sie doch bloß subjektiv ist?
Man hilft sich dainit, daß man sagt, sie werde an den Himmel
,verlegte. Aber ist diese Behauptung des > Verlegensc nicht
viel mehr. ein Ausdruck der , Verlegenheit« als die Angabe
eines Tatbestandes? Wie kann das Subjekt etwas an den
Himmel hinbringen?
2. Ebensowenig wie das Hinverlegen eines Subjektiven
169
ari eine entfernte Stelle, ist das Ergreifen eines real Objektiven an dieser entfernten Stelle verständlich. Wie soll es
das Subjekt anfangen, den Berg in der Ferne zu ,greifen«
- ein Objekt, das mehrere Kilometer entfernt ist? Bei der
Täuschung lag. ein Teil der Schwierigkeit darin begründet:
Wie bringt das Subjekt das Bild an das Objekt? bei der
adäquaten Erfassung: Wie bringt das Subjekt den Gegenstand zu sich heran?
Die Lösung darf auch nicht darin gesucht werden, daß
das Subjekt sich nicht den Gegenstand heranhole, sondern
daß es an den Gegenstand, an den Berg, an den Mond herangehe. Das Subjekt ist vielmehr an den Körper gebannt, an
die Erdstelle, an der der Körper existiert.· Wie soll man es
sich daher vorstellen, daß das Subjekt von hier aus über den ·
gesamten Raum greift?
Dieselbe Schwierigkeit tritt bei der Zeit in Erscheinung;
auch hier wird sie klarer, wenn man sie sich an großen Zeiträumen vergegenwärtigt: Ein Stern, dessen Licht I o Millionen Jahre braucht, um zu unserer Erde zu gelangen, möge
vor 9 Millionen Jahren erloschen sein. Wir aber sehen ihn
noch immer. Was soll das heißen: wir sehen ihn, ihn selbst?
Die naturalistische Einstellung hat es leicht, daraufAntwort
zu geben: Wir sehen ihn jetzt, bedeutet, ·'daß erst jetzt auf
Grund physikalischer Bedingungen die Wahrnehmung
dieses Sterns in uns erzeugt wird. Wenn dagegen das Objekt
direkt erfaßt werden soll, wie es sich die unmittelbare Einstellung denkt, so wird im Fall des Erloschenseins des Sterns·
das Erfassen sinnlos: Der Stern ist jetzt nicht mehr vorhanden und kann daher auch nicht erfaßt werden. Man muß
also sagen: Wir erfassen nicht den Stern selbst, sondern
ein Bild des Sterns.
Was hier an extremen Beispielen deutlich wird, gilt stets:
Es besteht eine zeitliche Differenz zwischen dem Sein und
dem Erfaßtwerden: Sie kann nur dadurch überbrückt werden, daß man annimmt, daß nicht der Gegenstand, sondern
170
das Bild des Gegenstands erfaßt werde. Damit taucht aufs
neue die Frage auf: Wie kommen wir vom Bild zum wirklichen Gegenstand? (genau so wie bei der naturalistischen
Einstellung gefragt werden mußte, wie kommen wir von der
Vors teil un g zum Gegenstand?). . .
. .
.
Es scheint einen Ausweg aus dtesen Schwtengketten zu
geben. Die Möglichkeiten der Verabsolutierung d~r unmittelbaren Einstellung sind noch nicht ausgeschöpft; dte Strukturantik, die jene Unverständlichkei~en d;s J?-rfassens. de~ ?~­
jekte aufweist, ist die Strukturonttk, wte ste der objektr~rtstl­
schen und der subjektivistischen Haltung zugrunde hegt:
Die Welt ist ftir sie Wechselspiel zwischen Objekt und Subjekt; das Objekt wirkt auf das Subjekt. und das Subjekt
erfaßt das Objekt. Von der Gegebenbettshaltung wurde
in diesen Zusammenhängen noch nicht gesprochen. Deren
Verabsolutierung jedoch zeigt eine völlig andere Strukturantik: Nimmt man das Gegebensein alles Seins ftir ein Objekt als letzte Welttatsache ~n, so komm~ man zu e~ner
idealistischen Gegebenhettsmetaphystk: Das Objekt
wird dann entweder zu einem Bewußtseinsinhalt oder doch
zu einer Setzung des Subjekts.
Diese idealistische Gegebenheitsmetaphysik läßt sich
leicht derart formulieren, daß die beiden Schwierigkeiten
in Wegfall kommen, die bei den anderen H~ltungen dad~rch
entstehen daß ein Objekt durch das Subjekt erfaßt wtrd:
Die Schwierigkeit des 1> Verlegens « des Bildes an den Gegenstand hin (im Falle der Täuschung) und das Erfassen des
Objekts über Raum- und Zeitentfernungen hinweg. . . .
Der Gegebenheitsidealismus, wie ihn der NeoposttlViSmus ausgebildet hat, kennt nur Eindrücke als Gegebenheiten und sonst nichts: Eindrücke von Farben und Tönen,
von Raum- und Zeitgestalten usw. Wenn man von einem realen Gegenstand spricht, den man nicht wahrnimmt, so liegt
ftir ihn immer eine , Hilfskonstruktion c vor: Der gerade von
mir jetzt nicht gesehene Baum auf dem Berge wird nur desI7I
halb als wirklich bezeichnet: weil eine Reihe von Eindrücken
zu ihm hinführen könnte, der Eindruck der Treppe des
Gartens usw. Ebenso ist der Mond als Gegenstand vo~ der
Größe eines Himmelskörpers eine Konstruktion: Der Eindruck der Mondscheibe ist das Gegebene; er ist das unmittelbar Wirkliche. Um den Mond als einen Gegenstand
mit festen dauernden Eigenschaften festhalten zu können
schreibe ich ihm eine , wirkliche Größe c zu, wie sie di~
Astronomie berechnet. Allein dieser Begriff von Realität ist
ein völlig anderer als der Begriff des Wirklichen im Sinne
?es un~it!elbar Wahrgenommenen. Das wirkliche esse liegt
Im percipi, das wahrgenommene Sein ist das eigentlich
Wirkliche. So ist denn auch nicht das ,Bild c des Mondes
als Scheibe dem wirklichen Mond überlagert, man könnte
eher umgekehrt sagen: Der ,wirkliche« Mond ist dem wahrgenommenen Mond untergelegt, um von 11demc Mond,
um von 11 derc Größe des Mondes sprechen zu können· oder
die Behauptung, der Stab sei gerade, auch wenn ~r ins
Wasser getaucht ist, legt dem wahrgenommenen Stab, der
gebr.ochen ist, einen wirklichen Stab unter, der gerade ist.
Ahnlieh ist es vom Gegebenheitsidealismus aus gesehen
um die objektive Zeit und den objektiven Raum bestellt. Es
besteht der ,Eindrucke des »Frühere, des »Nähere und
,Entfernter«, aber der Raum, die Zeit als objektive Ordnungen sind Konstruktionen. Die verschiedenen Zeit- und
~au.meindrücke werden auf einen künstlich hergestellten obJektiven Raum, auf eine künstlich hergestellte objektive Zeit
bezogen. Daher ist es auch sinnlos zu sagen, man erfasse
d~n Gegenstand im Sehen durch den , objektiven Raum c
hmdurch, den erinnerten gestrigen Spaziergang in der ,objektiven Zeit c. Es sind nichts als die Eindrücke vorhanden
die den Baum bilden, und ein Eindruck der Entfernung de~
Baumes von meinem Körper, nichts als die Erinnerungseindrücke, die mir den Eindruck , gestern c übermitteln.
So gibt es weder ein , Verlegen c des Bildes in den Raum
172
hinein (im Falle der Täuschung), noch ein Erfassen des Objekts durch den Raum hindurch; noch auch endlich einen
Gegensatz zwischen wirklichem Gegenstand und seinem
Bild; es gibt überhaupt nur Bilder, nur Eindrücke, die dem
Subjekt gegeben sind.
Diese Verabsolutierung der Gegebenheitseinstellung beseitigt alle Schwierigkeiten, aber um welchen Preis? Es seien
alle metaphysisch tiefergehenden Einwände beiseite gelassen;
es möge nur mit den Aussagen des Gegebenheitsidealismus
in seinem Sinne Ernst gemacht werden. Da zeigt sich: Von
diesem Standpunkt aus darf nicht behauptet werden, wie
man es sonst tut: Der ,frühere als gerade gesehene Stab
stelle sich ,jetzt«, ins Wasser getaucht, als gebrochen dar.
Der Gegensatz »früher c und , jetzt c, wie er hier angewandt
wird, setzt eine objektive Zeit voraus, von der aus man
die beiden Gegebenheiten vergleicht: Man dürfte nur sagen,
meine Erinnerungsgegebenheit zeigt mir einen früheren Zeitpunkt, indem der Stab gerade aussah, der unmittelbare Eindruck hingegen einen gebrochenen Stab.
Man darf auch nicht von dem Baum auf dem Berge als
Realität reden, sondern von der Folge von Eindrücken,
Treppe, Garten, Tür, Weg usw., an deren Enden, wie man
überzeugt ist, der Eindruck des Baumes auf dem Berge
steht. Man ist in einer Welt der subjektiven Gegebenheiten, in einer Welt von Erinnerungsgegebenheiten, Erwartungsgegebenheiten und unmittelbaren Eindrücken eingeschlossen. Man ist nicht nur Solipsist - das Sein der
anderen besteht auch nur fn Eindrücken - , man hat auch
die Zeit und den Raum nur als in das momentane Bewußtseinsganze eingeschlossene Eindrücke.
Allein - darauf wurde hingewiesen - , auch der Gegebenheitsidealist redet von realen Objekten, von der objektiven Zeit und dem objektiven Raum. Nur daß sie für
ihn bloße Hilfskonstruktionen sind. Woher nimmt er das
Recht zu solchen Hilfskonstruktionen? etwa zur Annahme
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von Objekten, von dem Baum auf der Spitze des Berges,
oder dem Mond als Hirntrielskörper? Er hat das Recht hierzu,
weil es einen gesetzmäßigen Ablauf der Eindrücke gibt,
weil Gesetze existieren, die ich kenne, nach denen der Ablauf der Eindrücke erfolgt. Wenn man den Weg durch den
Garten nimmt, dann zur Rechten und immer geradeaus geht,
den Berg hinansteigt (es sei darauf verzichtet, den ganzen
Ablauf in >Eindrücke« zu übersetzen), so hat man den Eindruck des Baumes. Oder wenn man von der anderen Seite
· her auf den Berg steigt, so hat man wiederum diesen Eindruck. Beim Mond dagegen kann man den Eindruck seiner
>wirklichen" Größe niemals unmittelbar haben; aber alle
Berechnungen erlauben die Fiktion, so zu tun, >als ob« da
ein wirklicher Mond wäre.
Genau dasselbe gilt für die objektive Zeit und den objektiven Raum. Die gesetzmäßige Abfolgeordnung der Eindrücke erlaubt es, sie auf einen objektiven Raum und eine
objektive Zeit zu beziehen. Folgten die Eindrücke regellos aufeinander, tauchte jetzt plötzlich der Wahrnehmungseindruck des Baumes auf und ein anderes Mal in ganz anderem Zusammenhang wiederum, wären die Eindrücke des
>Frühere und ,Später«, des >Entfernter< und >Nähere: regellos mit den Eindrücken der Geschehnisse und der Gegenstände verbunden, so wären die Hilfskonstruktionen des
realen Objekts mit festen Eigenschaften, der objektiven Zeit
und des objektiven Raums unmöglich. Dann besäßen wir in
unserem Bewußtsein nichts als disjecta membra von Entfernungseindrücken, Zeiteindrücken usw. Der Gegebenheitsidealismus setzt also bei seinen Hilfskonstruktionen stets
voraus, daß Gesetze der Abfolge der Eindrücke wirklich
existieren; er muß die Realität, die Objektivität der
Gesetze von Abfolgen der Eindrücke bei seinen Hilfskonstruktionen voraussetzen. Diese Gesetze treten als reale
Gesetze der Abfolge der Eindrücke an Stelle der r e a I e n
Gegenstände und der objektiven Zeit und des objek-
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tiven Raumes. An Stelle des Gegenstandsrealismus tritt
also ein Gesetzesrealismus, der dem extremsten Begriffsrealismus des Mittelalters in nichts nachsteht.
·
Es wurde dieser Versuch der Lösung der Schwierigkeiten der mittelbaren Einstellung herangezogen, weil er
einen viel begangenen Weg verfolgt. In Wirklichkeit gehört
jedoch dieser Versuch nicht zu den Ve~absolut~erungen d~r
Gegebenheitsontik, sondern bedeutet em Her~mtr.agen, ~m
Hineindeuten metaphysischer Gesichtspunkte m dte an steh
weder reaUstisch, noch idealistisch zu bewertende Gegebenheitsontik. So wird auch die Schwierigkeit mit einer ganz
neuartigen Strukturantik zu überwinden gesucht, durch eine
metaphysische Ontik, für die die Welt aus gegebenen
Eindrücken besteht, die realen Gesetzen gehorchen.
Bleibt man in der in den Wissenschaften zutage tretenden
Strukturantik der unmittelbaren Einstellung, so lassen sich
die Schwierigkeiten, die im Erfassen des Objektes liegen,
nicht. beseitigen. Die unmittelbar: Einstellung ste~t als_? v~r
ganz ähnlichen Unstimmigkeiten Ihrer Strukt?ronttk ~te d~e
naturalistische Einstellung. Für den Naturaltsmus hteß dte
Schwierigkeit: Wie kommt die Vorstellung zum Gegenstand?
Bei der unmittelbaren Einstellung war die unmittelbare Erfassung des Gegenstandes durch das Subjekt vorausgesetzt.
Allein es zeigte sich, daß in dieser unmittelbaren Er~assung
selbst die Schwierigkeiten stecken. Und so lautet hter das
ungelöste Problem: Wie ist es möglich, daß das Subjekt
das Objekt erfaßt, daß das Subjekt zum Obj:kt komm~?
Auch hier wieder mag man erstaunt sem, daß dtese
Schwierigkeiten in der unmittelbaren Einstellung für gewöhnlich ebensowenig gesehen werden wie die entspreche?den
der naturalistischen Einstellung. Die Gründe sind ähnhcher
Natur: Das unmittelbare Wissen, das Erfassen des Objekts
wird meist einfach als Tatsache hingenommen; man analysiert das Wissen nicht, sondern beruhigt sich dabei, daß man
das Objekt direkt erfasse.
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Aber· auch wenn man sich für die Analyse des Wissens
um die Objekte interessiert, so pflegt man meist nicht so
vorzugehen, daß man fragt: Was ist im unmittelbaren Ergreifen der Objekte mit an Voraussetzungen enthalten? sondern statt die Analyse des Wissens selbst zu untersuchen
fragt man: Wie kommt das Wissen zustande? und verfolgf
den Prozeß der Entstehung der Vorstellung des Objekts
auf naturalistische Weise.
Aber, auch wenn gelegentlich die Schwierigkeit des Erfassens durch Raum und Zeit hindurch bemerkt wurde hat
man sich über diese Unstimmigkeiten im Ergreifen des' Objekts mit einem vagen Idealismus hinweggeholfen: Raum und
Zeit bestünden nur in meiner Vorstellung, seien nicht objektiv real; und deshalb liege in diesem Übergreifen über Raum
und Zeit hinweg kein Problem.
Gerade der Umstand, daß sich beide Einstellungen nicht
restlos durchführen lassen, ohne zu Unstimmigkeiten zu
fUhren, ist der G~~nd dafür, daß Philosophen und Logiker,
Psychologen und Asthetiker so oft die Strukturantiken beider
Einstellungen ineinanderfließen lassen (wie wir es an mehr
als einem Beispiel gezeigt haben). Instinktiv wird den Schwierigkeiten und Widersprüchen aus dem Wege gegangen. Hat
man es mit Problemen zu tun, die von außen nach innen
führen, so benutzt man die naturalistische Einstellung und
läßt die Sinne die Vorste11ungen in uns erzeugen. Bei Problemen, bei denen vom Subjekt ausgegangen wird, stellt
man sich auf den Standpunkt der subjektivistischen Haltung
und läßt das Objekt unmittelbar erfaßt werden. Der vieldeutige Begriff der , Vorstellung«, so sahen wir, hilft dazu,
den Ubergang zu verschleiern, im unklaren zu lassen, ob
das gegebene Objekt oder die durch die Sinne erzeugte
Vorstellung gemeint sei. Selbst ein im allgemeinen so konsequenter Denker wie Hume, der im Prinzip nur impressions und ideas als Gegebenheiten kennt, spricht gelegentlich davon, daß die impressions of sensationdurch die Sinne
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!
in uns erzeugt würden, und gibt damit der naturalistischen
Einstellung Raum.
Besonders aber wird die Vermischung der Einstellungen
dadurch erleichtert, daß die physische Welt indifferent
ist gegenüber den Einstellungen, und daher die größte Zahl
der Probleme der exakten Naturwissenschaften in neutralistischer Haltung behandelt werden können.
Die Ergebnisse der Naturwissenschaft sind nicht abhängig
davon, ob man sich die einstellungsindifferenten Tatbestände
in die unmittelbare oder die naturalistische Strukturantik hineingestellt denkt. Treten jedoch Probleme in Erscheinung, bei
denen die Einstellung nicht mehr gleichgültig ist, so pflegen
dennoch die Naturwissenschaften nicht allzu ängstlich zu sein,
welche Einstellung sie verwenden. Sie nehmen diejenige Einstellung an, die ihnen gerade ftir das betreffende Problem näher
liegt. Derselbe Physiologe, der selbstverständlich naturalistisch denkt, wenn er mit inhaltlichen Problemen zu tun hat,
der, wenn er die Netzhauterregung und ihre Fortpflanzung in
den Nerven untersucht, streng daran festhält, daß draußen im
Raum nichts sich befindet als Lichtwellen, und daß die Farbe
erst als Empfindung im Zusammenhang mit dem Gehirn entsteht - derselbe Physiologe legt einen Nervenschnitt unter
das Mikroskop und ist überzeugt, nicht bloß eine , Vorstellung c vor sich zu haben, sondern den Schnitt unmittelbar zu
erfassen. Es ist nicht nur hier, sondern überall, für den Mann
der Naturwissenschaft gerade wie für den Laien, bei der Erfassung der Welt die unmittelbare Einstellung die selbstverständliche. Der Chemiker, der eine Reaktion beobachtet,
der Astronom, der einen Sterndurchgang fixiert, der Botaniker, der eine Blattform feststellt- sie alle sind überzeugt,
die Wirklichkeit zu ergreifen und nicht in das Reich ihrer
Vorstellungen eingeschlossen zu sein. Funktionell-methodisch gehen die Naturwissenschaften von der unmittelbaren
Einstellung aus, inhaltlich ist ihre Welt die der naturalistischen Strukturantik Dieser Widerspruch wird nicht bemerkt,
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weil die Beobachtung von der unmittelbaren Einstellung aus
nicht mit der naturalistischen Gegenständlichkeit in Konflikt
kommt- die Beobachtung ist Sache des Forschers, die
naturalistische Strukturantik Sache des erforschten Gegenstands. AufErgebnissekommtesdenNaturwissenschaften
an, und da die Ergebnisse nicht dadurch berührt werden, daß
der Beobachter eine andere Haltung einnimmt, als die ist, die
der Strukturantik der Ergebnisse entspricht, so brauchen
sich die Naturwissenschaften um diesen Widerspruch nicht zu
kümmern. Wie sollten sie auch? Sollten sie etwa mit ihren
Untersuchungen warten, bis die Metaphysik eine einheitliche
widerspruchsfreie Einstellung herausgearbeitet hat? Wobei
es noch fraglich ist, ob die Strukturantik der Metaphysik die
naturwissenschaftlichen Probleme in derForm bestehen läßt,
wie sie die Naturwissenschaften einzig stellen können.
Der Logiker, Ästhetiker, Ethiker, Geisteswissenschaftler
ist nicht in einer so günstigen Lage, sich ein Ineinander von
Haltungen leisten zu dürfen: Die Gegenstände der Logik
usw. sind nicht einstellungsindifferent, sie bedürfen - so
fanden wir - der adäquaten Einstellung, und so rächt sich
hier jegliche Inadäquatheit der Einstellung: Die Ergebnisse
werden falsch; es treten Wissenschaftsverlagerungen auf,
hybride Wissenschaften entstehen.
Am verhängnisvollsten jedoch wirkt sich eine Vermischung
der Einstellungen in der Philosophie aus. Die Vermischung
der Einstellungen schafft hier ein zusammengeflicktes Seinsgefüge, ein Konglomerat von verschiedenen Strukturantiken
- während doch gerade Einheitlichkeit die erste Anforderung eines Weltbildes sein sollte.
Allein auch die Reinheit der Einstellung genügt nicht
fti.r die Philosophie. Nicht nur eine ein h e i t 1ich e Einstellung wird gesucht, sondern die adäquate Einstellung. Und
da steht es von vornherein gar nicht fest, ob überhaupt eine
der beiden betrachteten Einstellungen die adäquate Einstellung der Metaphysik sein müsse. Daß es nur zwei wissen
schaftliehe Einstellungen gibt, besagt nicht, daß eine von
ihnen nun auch als die Einstellung der Metaphysik zu gelten
habe und nicht vielleicht eine dritte nichtwissenschaftliche.
I~ Gegenteil: es zeigte sich, daß d~e Struktu~onti~ je~ er
der beiden Einstellungen, ins Metaphysische erweitert, m steh
unstimmig ist: Keine der beiden Einstellungen ist also ohne
weiteres geeignet, zum Range einer metaphysischen Einstellung erhoben zu werden.
Aus doppelten Gründen ist also der Szientifismus- selbst
in seiner weitesten Form- im Unrecht mit seiner Annahme,
daß man von der Wissenschaft aus unmittelbar zur Metaphysik kommen könne. Einmal: es gibt zwe_i Str~kt~ron~iken
der Wissenschaft, nicht eine: Selbst wenn Jedem steh widerspruchslos wäre, so widersprechen sie doch einander: W, el~he
von beiden soll man also als diejenige betrachten, dte ms
Metaphysische erhoben werden darf? Fernerhin: Die Voraussetzung, die Strukturantiken seien in sich wi~erspruchslos,
ist unrichtig. Jede von beiden, als metaphystsc~e St~uk­
turontik gesetzt, ist in sich widerspruchsvoll, - dte bet?en
Strukturantiken sind zwar als Grundlage des vorletzten Sems,
des Seins der jeweiligen Wissenschaft, aber nicht als Grundlage des letzten Seins, des Seins der Metaphysik geeignet.
Die Metaphysik darf gewiß die Hinweise auf das le~zte
Sein die in der wissenschaftlichen Wirklichkeit enthalten smd,
nich~ vernachlässigen; allein den Aufbau ihrer Struktur~ntik
muß sie aus eigener Kraft, nach eigenen Methoden letsten
nicht durch Verallgemeinerung der wissenschaftlichen Strukturantik Eine selbständige, nicht von den Wissenschaften
ausgehende Metaphysik ist gefordert - so lautet das Ergebnis all unserer Untersuchungen ..
4· Das Erkenntnisproblem.
Die Strukturantiken beider Einstellungen scheiterten an
der Aufgabe, eine widerspruchslose und in sich haltbare
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Fundierunß" derTatsachedes Wissens, der Erkenntnis zu
geben; beide heben sich selbst auf, wenn sie Rechenschaft
geben sollten, wie Erkenntnis von Objekten auf ihrer Grundlage möglich sei.
Daß gerade die Erkenntnis es ist, die dem Aufbau der
Strukturantik solche Hindernisse in den Weg legt ist kein
Zufall. Die Gründe sind mehrfacher Art:
'
1. Zunächst: Auf die Anerkennung der Realität der Erkenntnis kann innerhalb keiner Strukturantik verzichtet werd:n. Es kann nic?t etwa Erkenntnis - nicht irgendeine
emzelne Erk~nntms, sondern Erkenntnis überhaupt -als
bloße Erschemung, als Schein, als irreal in irgendeiner Philosophie (wie es bei sonst jeder anderen Tatsache möglich ist)
abgetan werden. Denn alle Philosophie ist Erkenntnis. Wenn
die Philosophie sich nicht selbst aufgeben will, so muß sie
an der Realität der Erkenntnis festhalten. Vielleicht existiert solche Realität der Erkenntnis in Wahrheit nicht· so
gibt es auch keine Philosophie, aber auch keine Wissenschaft
- wir können nichts tun als schweigen. Solange wir Philosophie treiben, muß die Erkenntnis als reale Tatsache
anerkannt werden.
2. Erkenntnis ist zugleich Funktion und Sein. Ich sehe
eine Blume, ich erkenne ein Gesetz, ich verstehe einen fremden Menschen. So lebe ich im Erkennen: Das Erkennen
funktioniert, es ist nicht Gegenstand. Hingegen: dies
Sehen, dies Erkennen, dies Verstehen ist andererseits eine
Tatsache (die als Tatsache ihrerseits erkannt wird). Die
Schwierigkeiten der Einstellungen lagen darin begründet
daß die Erkenntnis, das ~Bewußtsein von« als Funktio~
in der Einstellung benutzt wird und andererseits in der
Strukturantik als Tatsache auftritt, die in ihrer Eigenart
sich aus der vorausgesetzten Strukturantik ergeben soll.
Durch diese Doppelseitigkeit der Erkenntnis ist die Aufgabe klar vorgezeichnet, die die metaphysische Strukturantik gegenüber der Erkenntnis zu erfüllen hat: Die meta-
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physische Strukturo~tik muß derart g~staltet sein, daß Erkenntnis als Funktwn und Erkenntms als Tatsache, als
Sein sich nicht widersprechen, sondern sich stützen; daß
die Funktion der Erkenntnis durch die Strukturantik verständlich gemacht wird. Gerade hierin versagten die beiden
Einstellungen: Erkenntnis als Funktion verlangte im Natu, ralismus. daß wir die Welt als reale zu erfassen imstande
sind; all~in für diese Funktion war in der Strukturantik des
Naturalismus kein Platz; in ihr gibt es nur Erkenntnis von
Vorstellungen. In der Strukturantik der unmittelbaren
Einstellung andererseits wurde das Erfassen der realen Welt
unproblematisch hingenommen, allein es ist nicht verständlich wie die Funktion des Erfassens sich über Raum und
Zeit' hin ausweiten soll.
Durch diese Notwendigkeit: Erkennen als Funktion und
Erkennen als Sein miteinander in Einklang zu bringen, rückt
nun das Erkenntnisproblem, oder in einem weiteren Sinn
genommen, das Bewußtseinspro~lem. (denn all.es Bewußtsein ist kognitiv) in einem neuen Smn m den Mittelpunkt
der Metaphysik.
Das Problem der Erkenntnis hatte in einer vergangenen
Generation aus sehr verschiedenen Gründen im Zentrum der
Philosophie gestanden:
1. Weil man der Philosophie nur noch die Berechtigung
zugestand, die Erkenntnismethoden der Wissenschaften. zu
untersuchen, die die Wissenschaften ausgebildet hatten (hierauf wurde bereits hingewiesen).
2. Weil man der Anschauung war: Sein sei , Setzung im
Denken« (Cohen), so daß also das Denken und Erkennen
erst das Sein zu schaffen habe (erkenntnistheoretischer Idealismus).
3. Weil man - an Locke sich anschließend - überzeugt
war daß man nicht eher imstande sei, die Tragweiten und
Mö~lichkeiten des Erkennens zu übersehen, ehe m~n das
Erkennen selbst geprüft habe. Das Instrument, m1t dem
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man die Welt zu erkennen gedachte, sollte erst untersucht
werden, ehe man es verwenden wollte. Nur so glaubte man
die Widersprüche philosophischer Systeme lösen zu können.
Von diesem Standpunkt aus schien Kants Vorgehen vorbildlich, wenn er die Möglichkeit einer Metaphysik als Wissenschaft dadurch zu entscheiden unternahm, daß er die Erkenntnismethoden der Wissenschaft untersuchte.
Von all diesen drei Auffassungen der Bedeutung der
Erkenntnisuntersuchung für die Philosophie rücken wir hier
ab. Für die erste und die dritte angeführte erkenntnistheoretische Richtung liegt der Nachdruck auf der Erkenntnis
als Funktion, als Werkzeug- Erkenntnis als Seinstatsache fällt außerhalb ihres Gesichtskreises· für die zweite
·'
Anschauung, für die Sein Setzung im Denken
ist fallen
metaphysische und funktionelle Bedeutung der Erkenntnis zusammen.
Für uns hier bleiben dagegen Erkenntnis als Funktion
und Erkenntnis als Sein getrennt. Die Beziehung zwischen
beiden herzustellen ist gerade eine der grundlegenden Aufgaben der Metaphysik: Die Strukturantik des letzten Seins
muß so beschaffen sein, daß aus ihr Erkenntnis als Funktion verständlich wird. Umgekehrt muß die Erkenntnistheorie ihrem Forschen einen solchen funktionellen Erkenntnisbegriff zugrunde legen, daß sich aus ihm ein Sein
als Gegenstand des Erkennens ergibt, das eben dieses
Erkennen wiederum als Teilfaktum in sich enthielte: Die
Erkenntnis als Funktion muß zu einer Auffassung des Seins
hinführen, aus der die Erkenntnis-Funktion als Seinstatsache
verständlich wird.
Von hier aus gesehen sind Metaphysik und Erkenntnistheorie nur zwei Aspekte, unter denen derselbe Tatbestand beleuchtet werden kann: Man kann vom Sein ausgehen und die Erkenntnis des Seins verständlich machen
und man kann von der Erkenntnis ausgehen und das Sei~
der Erkenntnis verständlich machen. In diesem Sinn machen
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wir uns hier das Wort Nicolai Hartmanns zu eigen: , Erkenntnistheorie setzt Metaphysik ebenso voraus, wie Metaphysik Erkenntnistheorie c •
*
*
*
An dieser Stelle müssen wir Halt machen: Diese metaphysische Untersuchung der Erkenntnis ist nicht mehr unsere
Aufgabe. Es kam einzig darauf an, zu zeigen, daß die beiden
Einstellungen der Wissenschaften und ihre ~trukturontiken
nicht ausreichen, um die Metaphysik zu begründen. Freilich
hat dieses Versagen bei beiden Einstellungen verschiedenes
Schwergewicht: Die naturalistische Einstellung führt zu wirkli c h e n Widersprüchen; es ist keinWeg denkbar, der von der
Vorstellungswelt, in die das Subjekt nach ihr eingeschlossen
ist zur wirklichen Welt zurückführt - zur wirklichen Welt,
die' doch Voraussetzung der naturalistischen Einstellung ist.
Es sind nicht eigentliche Widersprüche, sondern bloße
Unverständlichkeiten, Unstimmigkeiten, die uns nötigten, die
VerabsolutierUng der unmittelbaren Einstellung aufzugeben.
Es ist nicht einzusehen, wie bei der Täuschung das Bild des
Gegenstandes an den Gegenstand selbst hinkommt, oder wie
es geschehen kann, daß das Subjekt das Objekt durch Raum
und Zeit hindurch angreift. Sollte es nicht möglich sein, die
unmittelbare Einstellung so zu modifizieren, daß diese Unstimmigkeiten wegfallen? Sollte nicht bei ihr- und. nicht bei
der naturalistischen .Einstellung - der Ansatzpunkt liegen,
um weiter zu kommen, um eine in sich haltbare Strukturantik der Metaphysik aufzubauen?
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