Werkstoffe Fest oder flüssig auf Befehl Smarte Flüssigkeiten haben eine besondere Eigenschaft: Sie werden beim Anlegen von elektrischer Spannung oder Magnetfeldern innerhalb von Sekundenbruchteilen fest. Das macht sie für zahlreiche Anwendungen interessant. Sie ermöglichen verschleißarme Bremsen oder Kupplungen, adaptive Dämpfersysteme, leistungsfähige hydraulische Anlagen, neue telemedizinische Verfahren und haptische Displays. Sorgfältig tastet der Arzt den Unterleib ab. Nach der kurzen Untersuchung steht die Diagnose: Die Leber ist geschwollen. Dabei liegt vor dem Mediziner auf dem Untersuchungstisch nur eine Puppe aus Kunststoff. Der eigentliche Patient ist 500 Kilometer entfernt. Mit Ultraschall hat sein Hausarzt den schmerzenden Bauch untersucht. Das Spezialgerät erkennt, wo das Gewebe verhärtet ist. Diese Daten werden direkt an die Klinik weitergeleitet und für den Mediziner an der Kunststoffpuppe tastbar gemacht. Noch ist diese telemedizinische Anwendung eine Vision. Doch einige wesentliche technologische Voraussetzungen sind schon erfüllt. Die Ultraschallelastographie detektiert ortsaufgelöst die Gewebekonsistenz und erfasst lokale Verhärtungen. Die Verhärtungen können über smarte Flüssigkeiten dargestellt und fühlbar gemacht werden. Diese ändern ihre Konsistenz, wenn ein elektrisches oder magnetisches Feld anliegt. Wissenschaftler aus vier Forschungseinrichtungen arbeiten in dem geförderten Projekt HASASEM (siehe Kasten) daran, einen Demonstrator für ein solches haptisches Sensor-Aktor-System aufzubauen. Die hierfür steuerbaren Materialien, die smarten Flüssigkeiten, werden am Fraunhofer-Institut für Silicatforschung ISC in Würzburg entwickelt. »Dass bestimmte Flüssigkeiten fest werden, wenn Strom angelegt wird, ist schon seit 64 Fraunhofer Magazin 2.2003 über 50 Jahren bekannt«, berichtet Dr. Holger Böse, Leiter des Bereichs Disperse Systeme am ISC. In Maisöl wurde einfach Maisstärke gegeben und fertig war eine elektrorheologische Flüssigkeit (Rheologie ist die Lehre vom Fließen). »Schon damals erkannten Experten das große Potenzial der smarten Flüssigkeiten, scheiterten aber an der praktischen Umsetzung«, weiß Böse. Seit Ende der achtziger Jahre wird nun wieder verstärkt an Smart Fluids geforscht. Mit Erfolg: »Jetzt steht die Technologie an der Schwelle zur Anwendung«, schätzt der Experte ein. Die heute eingesetzten elektrorheologischen Flüssigkeiten (ERF) unterscheiden sich in ihrer Zusammensetzung deutlich von den Computer Datenleitung Ultraschallgerät Patient erkranktes Organ Der Plastiktorso ahmt die Gewebefestigkeit nach HASASEM In dem Projekt HASASEM arbeiten vier Forschungsinstitute zusammen. Das Kürzel steht für »Haptisches Sensor-AktorSystem auf der Grundlage der Echtzeitelastographie sowie von elektro- und magnetorheologischen Materialien«. Beteiligt sind das Fraunhofer-Institut für Silicatforschung ISC in Würzburg, die Ruhr Universität Bochum, das Institut für Mikrotechnik Mainz und die Fachhochschule Regensburg. Das Projekt soll die Grundlagen für eine neue telemedizinische Anwendung legen: Die Abtastung von Patienten aus der Ferne via Datenleitung. Die Idee: Die Ultraschallelastographie erfasst Gewebeveränderungen – etwa einen Knoten. Dieser Knoten wird mithilfe von elektro- und magnetorheologischen Materialien für den Mediziner fühlbar gemacht. Auch wenn er Kilometer weit entfernt ist und den Patienten nicht persönlich abtasten kann. Das Bundesforschungsministerium BMBF fördert das Forschungsprojekt mit etwa 2 Mio Euro. Diagnose auf Entfernung: Smarte Flüssigkeiten machen Gewebeveränderungen ertastbar, auch wenn der Patient hunderte Kilometer entfernt ist. Quelle: © Focus Diagnosepuppe ersten ERF. In einer hochisolierenden Flüssigkeit – wie z. B. Silicon- oder Mineralöl – sind Polymerteilchen oder anorganische Partikel mit einem speziell eingestellten Polarisationsvermögen fein verteilt. Stabilisatoren verhindern, dass die Partikel absinken. Innerhalb von Millisekunden erstarrt die Flüssigkeit Die Milliarden von elektrisch polarisierbaren Teilchen sind in dem Öl gleichmäßig verteilt, dispergiert. Das ändert sich, sobald Spannung angelegt wird. In einem elektrischen Feld bilden die Partikel Dipole mit Plus- und Minus-Ladungen und verbinden sich zu langen Ketten. Die Flüssigkeit zwischen den Elektroden wird fest. »Das Ganze geht sehr schnell. Innerhalb von Millisekunden sind die Teilchen polarisiert und die Suspension erstarrt zu einem zähen Gel«, beschreibt der ISC-Wissenschaftler den Effekt. Schaltet man den Strom ab, ist die Suspension wieder flüssig. Ähnlich funktionieren auch die magnetorheologischen Flüssigkeiten (MRF). Sie enthalten magnetisierbare Partikel. Legt man ein Magnetfeld an, richten sich diese Teilchen aus, wie Eisenspäne zwischen den Polen eines Hufeisenmagneten. Die Suspension erstarrt. Wird das Magnetfeld ausgeschaltet, zerfallen die Partikelketten und die Suspension ist wieder flüssig wie zuvor. »Zur Zeit sind die magnetorheologischen Flüssigkeiten in der Anwendung weiter als ihre elektrorheologischen Schwestern«, beschreibt Böse den Stand der Entwicklung. Die amerikanische Firma Lord bietet bereits erste Produkte an, die mit magnetorheologischen Flüssigkeiten arbeiten. Die smarten Flüssigkeiten dämpfen Fahrersitze in Lastwagen oder dienen als Bremsen in Fitnessgeräten. Seit vergangenem Jahr setzt General Motors sie sogar in Stoßdämpfern von Autos ein. In Deutschland entwickelt das ISC mit Partnern gegenwärtig ein adaptives Motorlager, das den Fahrkomfort mithilfe einer MRF erhöht. Damit sind die Einsatzmöglichkeiten der magneto- und elektrorheologischen Flüssigkeiten bei weitem noch nicht erschöpft. »Die smarten Flüssigkeiten lassen sich für zahlreiche neue Aktoren nutzen – etwa für verschiedene adaptive Dämpfungssysteme in der Verkehrstechnik oder im Maschinenbau oder für haptische Aktoren«, zählt Böse weitere Anwendungsfelder auf. Der Vorteil: Sie sind elektrisch steuerbar und stufenlos zu verstellen. Das Unternehmen Flu- dicon arbeitet zum Beispiel an einem neuen Stoßdämpfer für Mittelklassewagen. Der Stoßdämpfer soll sich so einstellen lassen, dass er den Reifen immer optimal auf den Untergrund drückt. Unebenheiten federt er weich ab, aber nach der Bodenwelle drückt er den Reifen wieder fest auf die Fahrbahn. Elektrorheologische Systeme arbeiten schnell genug, um den Stoßdämpfer innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde an Unebenheiten anzupassen. Interessant sind die smarten Flüssigkeiten auch für hydraulische Anlagen. Sie können die verschleißanfälligen, mechanischen Ventile ersetzen, die bislang den Fluss des Hydrauliköls verengen, um Druck aufzubauen. Bei elektrorheologischen Verfahren ist die Flüssigkeit selbst das Ventil. Wird Spannung angelegt, verstopft sie wie ein Pfropf – und das bis zu 500 Mal pro Sekunde. Neue Möglichkeiten eröffnen die smarten Flüssigkeiten auch in der Virtuellen Realität. Sie können computergenerierte Welten fühlbar machen. Der Benutzer erhält dann nicht nur einen visuellen und akustischen Eindruck, sondern er kann virtuelle Objekte auch ertasten. »Er spürt zum Beispiel, wenn er gegen eine Autotür stößt«, so Böse. Digitale Informationen zum Anfassen ISC-Forscher haben bereits ein erstes haptisches Display entwickelt. Hierbei wird die Bewegung des Cursors auf dem Bildschirm mit einer Art Joystick gesteuert. Sensoren erfassen die jeweilige Position des Stabes und übertragen diese an den Rechner. Eine spezielle Software regelt situationsabhängig die Spannung und damit den Widerstand, den die Flüssigkeit gegenüber der Bewegung des Stabes ausübt. »Erreicht der Cursor zum Beispiel ein Befehlsfeld, ist der Widerstand am größten«, erklärt Holger Böse. Solche »Bildschirme mit Gefühl« können künftig sehbehinderten oder blinden Menschen die Arbeit am Computer erleichtern. Das »virtuelle Fühlen« kann auch in Computerspielen wertvolle Dienste leisten oder als Positionierhilfe eingesetzt werden, etwa bei einer Maschinensteuerung oder bei Robotergreifarmen. Die smarten Flüssigkeiten können vielfältig eingesetzt werden. Das hat auch die Industrie erkannt. Bis allerdings auch in Deutschland erste Produkte auf den Markt kommen, werden noch einige Jahre vergehen. Birgit Niesing Fraunhofer Magazin 2.2003 65