Therapiekonzept der Hellweg-Klinik Oerlinghausen Fachklinik für Psychotherapie und Suchtmedizin März 2009 2 Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept Vorwort Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, vor Ihnen liegt die aktuelle Fassung des Therapiekonzeptes der Hellweg-Klinik Oerlinghausen, Fachklinik für Psychotherapie und Suchtmedizin. In dem vorliegenden Therapiekonzept wird die ärztlich-therapeutische Arbeit der Mitarbeiter der Hellweg-Klinik Oerlinghausen beschrieben. Dazu werden zunächst die wissenschaftlichen Grundannahmen beschrieben, auf denen das Krankheits- und Therapiekonzept beruht. Die ausführliche Darstellung findet sich in der angegebenen Literatur. Unser Therapiekonzept ist das Ergebnis aus einem fortlaufenden Diskussions- und Verbesserungsprozess. Als Grundlage dient unsere über 40-jährige Erfahrung in der stationären Entwöhnungsbehandlung, die ergänzt wird durch die aktuellen Forschungsergebnisse aus dem Bereich der Grundlagenforschung und den aktuellen Therapieleitlinien. Ganz wertvolle Hinweise für das Therapiekonzept ergaben sich aus dem kontinuierlichen Diskussionsprozess mit Fachleuten aus den verschiedensten Bereichen der Suchtkrankenhilfe. Weitere wichtige Unterstützung erhalten wir durch die in der Hellweg-Klinik Oerlinghausen verbindlich eingeführten Gesprächsrunden mit unseren Patienten. Die regelmäßigen Treffen mit der Suchtselbsthilfe runden diesen Prozess ab. Das vorliegende Konzept stellt die Langfassung dar, die im intensiven kollegialen Austausch mit den Mitarbeiterinnen der Deutschen Rentenversicherung Bund in Berlin entstanden ist. Unser Dank gilt allen Kolleginnen und Kollegen, die sich mit unseren Fragen und Antworten konstruktiv kritisch auseinandergesetzt haben, und selbstverständlich den Patienten der Hellweg-Klinik Oerlinghausen, die durch ihr mutiges Beispiel zur Entwicklung dieses Therapiekonzeptes beigetragen haben. Der Autor dieses Therapiekonzeptes fasst die Erfahrungen und Kompetenzen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Hellweg-Klinik Oerlinghausen zusammen, denen der Dank für diese Arbeit und für die alltägliche Arbeit mit den Suchtpatienten gilt. Der persönliche Dank des Autors gilt Frau Marita Mathias und Frau Angela Tegeler, die in mühevoller Arbeit die umfangreichen Schreibarbeiten und wiederholten Korrekturen mit Optimismus ausgeführt haben. Oerlinghausen, Juni 2008 Dr. med. Dipl.-Psych. Thomas-Gerhard Redecker Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Facharzt für Psychotherapeutische Medizin Diplom-Psychologe Ärztlicher Direktor Vor wor t 3 Inhaltsverzeichnis Vorwort 3 I. Die Hellweg-Klinik Oerlinghausen II. Wissenschaftliche Grundannahmen des Therapiekonzeptes II. 1 Kurzer Überblick über den derzeitigen Forschungsstand 7- 8 9- 28 9 II. 1.1 Medizinischer Forschungsstand 10 II. 1.2 Psychologisch-psychotherapeutische Theorien 11 über die Abhängigkeitserkrankung II. 2 Persönlichkeitsmodelle bzw. Erklärungsmodelle 12 menschlichen Verhaltens III. II. 3 Erklärungsmodell der Abhängigkeitserkrankung 16 II. 4 Entwicklung der Abhängigkeitserkrankung 22 II. 5 Therapeutische Maßnahmen 26 Definition, Symptome und Folgen 29-37 der Abhängigkeitserkrankung III. 1 IV. Indikationsspektrum der Hellweg-Klinik Oerlinghausen Therapie der Abhängigkeitserkrankung im Behandlungsverbund 4 I n h alt s ver zeich n is 32 37-41 Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept V. Therapiekonzept der Hellweg-Klinik Oerlinghausen 41-71 V. 1 Organisationsstrukturen 41 V. 2 Therapieziele 44 V. 3 Therapiebausteine 49 V. 3.1 Suchtmedizinische Behandlung 51 V. 3.2 Psycho-Soziotherapie 52 V. 3.1 Bezugstherapeutensystem 53 V. 3.3 Handlungsorientierte Therapie 61 (arbeitsbezogene medizinische Rehabilitation) V. 3.4 Diakonische Begleitung 65 V. 3.5 Rückfallkonzept (während der stationären Behandlung) 65 V. 3.6 Ganztägig ambulante Beendigung 67 V. 4 68 Kombitherapien V. 4.1 Zusammenarbeit mit Selbsthilfegruppen 71 VI. Kommunikationsstrukturen der Klinik 73-74 VII. Qualitätsmanagement 75-76 VIII. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter 77 IX. Entscheidungsstrukturen 79 X. Raumsituation XI. Therapie- und Hausordnung XII. Literaturverzeichnis I n h alt s ver zeich n is 79-80 81 82-83 5 6 Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept I. Die Hellweg-Klinik Oerlinghausen Die Hellweg-Klinik Oerlinghausen ist eine Fachklinik für Psychotherapie und Suchtmedizin und stellt 120 stationäre und 5 teilstationäre Behandlungsplätze zur medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter zur Verfügung. Träger der Fachklinik ist das Ev. Johanneswerk e.V., einer der großen diakonischen Träger Europas mit Sitz in Bielefeld. Der federführende Leistungsträger ist die Deutsche Rentenversicherung Bund, mit dem ein steter Kommunikationsprozess zur Modernisierung und Verbesserung der stationären medizinischen Rehabilitation in unserer Klinik erfolgt. In der Hellweg-Klinik Oerlinghausen begann 1966 die therapeutische Arbeit. Sie liegt in landschaftlich reizvoller Lage am Rande des Teutoburger Waldes und gehört zum Kreis Lippe. Die Kreisstadt Detmold ist ca. 20 km entfernt und die Stadt Bielefeld ca. 15 km. In näherer Umgebung befinden sich die Städte Gütersloh, Herford und Paderborn. Es besteht ein Behandlungsangebot für entgiftete alkohol- und medikamentenabhängige Männer. Polytoxikomane Patienten, bei denen die Einnahme von illegalen Drogen (Heroin i.v.) nicht im Vordergrund steht, können nach Abklärung durch ein Vorgespräch ebenfalls aufgenommen werden. In bestimmtem Umfang können gleichzeitig bestehende psychiatrische Komorbiditäten mitbehandelt werden. Auch hier kann im Rahmen eines Vorgespräches mit einem der Psychiater der Klinik festgestellt werden, ob die Voraussetzungen für die Rehabilitation in der Hellweg-Klinik Oerlinghausen gegeben sind. Kontraindikationen für die stationäre medizinische Rehabilitation ergeben sich durch schwere körperliche und psychiatrische Erkrankungen, die eine Akutbehandlung in einem somatischen Krankenhaus oder in einer psychiatrischen Klinik erforderlich machen. Durch enge Absprache mit den Zuweisern und durch ein Vorgespräch mit den Ärzten der Klinik kann entschieden werden, ob eine Therapiemöglichkeit besteht. Kap it el I : Die Hellweg-Klinik Oerlinghausen 7 Derzeit werden in der Hellweg-Klinik Oerlinghausen nur männliche Patienten behandelt. Aus diesem Grunde sind Therapieangebote entwickelt worden, die das biologische und soziokulturelle Geschlecht (Gender) berücksichtigen. Das Therapieangebot ist geeignet für Patienten im Alter von 18 bis 65 Jahren. Ältere Patienten können nach einem Vorgespräch und nach Abklärung der Therapieziele ebenfalls aufgenommen werden. Die Therapiezeit ist individuell und wird durch den Behandlungsauftrag und die individuellen Therapieziele festgelegt. Die Hellweg-Klinik Oerlinghausen ist der stationäre Baustein eines regionalen Behandlungsverbundes, so dass zunehmend mehr Kombinationsbehandlungen durchgeführt werden können. Für überregionale Patienten sind die speziellen Indikationsgruppen (Sucht und Angst, Sucht und Depression) von großer Bedeutung. Die Behandlungszeit beträgt zwischen 8 und 16 Therapiewochen. Für die Therapiegruppe der jungen erwachsenen Männer beträgt die Behandlungszeit aufgrund des komplexen Störungsbildes 16 bis 24 Wochen. Die 120 Therapieplätze verteilen sich auf eine Aufnahmestation und drei Abteilungen. Das Klinikgelände liegt am Rande des Naturerholungsgebietes Senne und umfasst ca. 9,37 ha. Die Klinik ist umgeben von umfangreichen Waldgebieten am Fuße des Teutoburger Waldes. Der weiche Senneboden ist besonders geeignet für lange Spaziergänge und das Ausdauerlaufen. Die Patienten wohnen in Einzel- und Doppelzimmern, die sich auf zwei Häuser verteilen (Haus Hellweg und Haus Waldhof). Vor dem Hintergrund ihrer wissenschaftlichen Grundannahmen hat die Klinik besondere Therapieschwerpunkte entwickelt. Diese sind: • Sucht und Angst (2 Therapiegruppen) • Sucht und Depression (2 Therapiegruppen) • Junge erwachsene polytoxikomane Männer • Altersgeschlechtlich gemischte Therapiegruppe. Patienten mit einem psychischen Trauma in der Vorgeschichte können in der Therapiegruppe „Sucht und Angst“ im Haus Hellweg mitbehandelt werden. Hauptbeleger der Hellweg-Klinik Oerlinghausen sind die Deutsche Rentenversicherung Bund und die Deutsche Rentenversicherung Westfalen. Darüber hinaus wird die Hellweg-Klinik Oerlinghausen belegt von der Deutschen Rentenversicherung Nord, der Deutschen Rentenversicherung Rheinprovinz, der Bundesknappschaft und der Postbeamtenkrankenkasse sowie verschiedenen Krankenkassen. Die Klinik ist Mitglied des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe (buss) e.V. und Mitglied des Gesamtverbandes für Suchtkrankenhilfe im Diakonischen Werk der evangelischen Kirche (GVS). Seit dem Jahre 2004 hat die Hellweg-Klinik Oerlinghausen ein anerkanntes Qualitätsmanagementsystem und ist zertifiziert nach DIN ISO 9000, Fassung 2001. 8 Kap it el I : Die Hellweg-Klinik Oerlinghausen Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept II. Wissenschaftliche Grundannahmen des Therapiekonzeptes In diesem Abschnitt werden die theoretisch-wissenschaftlichen Grundannahmen dargestellt, aus denen sich das Behandlungskonzept der Klinik herleiten und begründen lässt. Zunächst soll ein kurzer Überblick über die derzeitigen Forschungskenntnisse gegeben werden. Danach wird das zugrundeliegende Persönlichkeitsmodell bzw. Erklärungsmodell von menschlichem Verhalten und Erleben dargestellt. Die angegebene Literatur dient als Hinweis für die Informationsquellen, die wir genutzt haben, um unsere Grundannahmen vor dem Hintergrund des aktuellen Kenntnisstandes abzuleiten. Im Anschluss daran wird das Entstehungsmodell der Abhängigkeitserkrankung erläutert, aus dem sich das Suchtverständnis der Hellweg-Klinik Oerlinghausen herleiten lässt. Abschließend werden die daraus resultierenden therapeutischen Maßnahmen vor dem Hintergrund des derzeitigen evidenzbasierten Forschungsstandes beschrieben. Dabei werden die aktuellen medizinischen Leitlinien der Postakutbehandlung (stationäre medizinische Rehabilitation) und die Behandlungsleitlinien der Deutschen Rentenversicherung berücksichtigt. II. 1 Kurzer Überblick über den derzeitigen Forschungsstand Die Abhängigkeitserkrankung stellt ein komplexes und mehrschichtiges Störungsbild auf körperlicher, psychischer und sozialer Ebene dar. Aus diesem Grund spricht man von einem bio-psychosozialen Störungsbild. Als Einrichtung der Diakonie ergänzen wir diese drei Hauptaspekte durch eine spirituelle Komponente. Sucht ist somit bio-psycho-sozial-spirituell bedingt. Kap it el I I : W is sen s ch af t liche Gru ndannahmen 9 II. 1.1 Medizinischer Forschungsstand Durch die neuen Forschungsmethoden (bildgebende Verfahren, Neurotransmitterbestimmung) haben sich umfassende Kenntnisse zu den neurobiologischen Grundlagen der Abhängigkeitserkrankung entwickelt. Einigkeit besteht heute darüber, dass es eine genetische Disposition zur Entstehung der Abhängigkeitserkrankung gibt, die sich in einer erhöhten Vulnarabilität gegenüber dem Suchtmittel und der Entwicklung der Abhängigkeitssymptome zeigt. Das Risiko für ein Individuum, suchtmittelabhängig zu werden, ist erhöht, wenn ein Elternteil oder andere Familienmitglieder abhängigkeitserkrankt sind. Diese genetische Vulnarabilität als Risikofaktor wird jedoch erst im Zusammenhang mit anderen Risikofaktoren wirksam. Diese Kenntnisse sind besonders wichtig für die Prävention und Frühintervention. Die neuen Forschungsergebnisse aus dem Bereich der neurobiologischen Grundlagenforschung ergeben Hinweise auf pathologische Veränderungen in Stoffwechselprozessen im Hirnstamm und anderen subcorticalen Hirnarealen. In diesem Zusammenhang sind das „Suchtgedächtnis“ und die Auswirkungen des regelmäßigen Suchtmittelkonsums auf das „Belohnungszentrum“ zu nennen. Die damit verbundenen Veränderungen der Transmitteraktivitäten und Rezeptorveränderungen an den Membranen der Nervenzellen sind zunehmend belegt und haben deutlich gemacht, dass verschiedene Neurotransmitter an dem Prozess der Entstehung und Aufrechterhaltung der Abhängigkeitserkrankung beteiligt sind (Dopamin, Glutamat, Serotonin, GABA). Die Erkenntnisse der neurobiologischen Grundlagenforschung verbessern das Verständnis von psychovegetativen Symptomen und geben wichtige Hinweise auf den Aufbau von Verhaltensänderungen im Sinne eines „Umlernens“ durch verhaltenstherapeutische Maßnahmen. Die von der Pharmazie entwickelten pharmakotherapeutischen Strategien werden bei Indikation in der Hellweg-Klinik Oerlinghausen berücksichtigt. So werden Anticravingsubstanzen eingesetzt, wenn ein Patient unter immer wieder auftretendem Suchtdruck leidet, den er mit den therapeutischen Interventionsstrategien nicht erfolgreich vermindern kann. Aufgrund der modernen psychiatrischen Forschungsergebnisse über den Zusammenhang zwischen Sucht und Komorbidität werden nach einer entsprechenden Diagnostik bei vorliegender Indikation Psychopharmaka verabreicht. Das trifft z.B. zu, wenn eine komorbide depressive Störung oder Angststörung vorliegt und eine auslösende oder aufrechterhaltende Bedingung für die Abhängig- 10 Kap it el I I : W is sen s ch af tliche Grund annahmen Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept keitserkrankung darstellt. Die dazu notwendige Entscheidung wird vom behandelnden Psychiater getroffen und im therapeutischen Team reflektiert. Die modernen Forschungserkenntnisse aus dem Bereich der somatischen Grundlagenforschung (Innere Medizin, Ernährung, Neurologie etc.) werden von den Fachärzten der Klinik im Behandlungsplan der Patienten berücksichtigt. Im ärztlichen Gespräch und in Informationsveranstaltungen (Medizinischer Unterricht) werden diese Ergebnisse den Patienten vermittelt, mit dem Ziel einer abstinenten und ganzheitlich gesunden Lebensweise, insbesondere im Bereich Ernährung, Bewegung und Konsum anderer schädlicher Suchtmittel (z.B. Nikotin). II. 1.2 Psychologisch-psychotherapeutische Theorien über die Abhängigkeitserkrankung Es gibt eine Vielzahl von psychologisch-psychotherapeutischen Theorien über die Abhängigkeitserkrankung, die häufig schulenspezifisch sind und sich in ihren therapeutischen Grundannahmen unterscheiden. Keine der vorliegenden Theorien hat bisher eine universelle Gültigkeit gefunden, was vor dem Hintergrund der Komplexität auch nicht zu erwarten ist. In evidenzbasierten Untersuchungen haben sich besonders verhaltenstherapeutische und tiefenpsychologische Grundannahmen bestätigt. Wir gehen davon aus, dass sich die Abhängigkeitserkrankung vor dem Hintergrund einer genetischen Disposition bzw. Vulnarabilität entwickelt, die zu neurobiochemischen Veränderungen führt. Diese Vulnarabilität kommt zum Ausbruch, wenn sie durch bestimmte Lebensereignisse (persönliche, familiär geprägte, wirtschaftliche und/oder politische Faktoren) ausgelöst wird. Das zugrundeliegende Menschenbild in unserer Suchtkrankenarbeit ist geprägt durch unser diakonisches Leitbild und durch eine ressourcenorientierte Betrachtungsweise. Dabei sehen wir den suchtkranken Menschen als von Gott gewolltes Individuum mit Stärken und Schwächen, mit effektiven und ineffektiven Problemlösestrategien, das unter bestimmten Bedingungen eine Abhängigkeitserkrankung entwickeln kann. Durch die Forschungsergebnisse von Prohaska und DeClemente angeregt, gehen wir von einem dynamischen Prozess der Veränderungsbereitschaft aus, der durch die Methoden der motivierenden Gesprächsführung (Müller und Rollnik) gesundheitsfördernd beeinflusst werden kann. Aufgrund des vielschichtigen Störungsmodells der Abhängigkeitserkrankung sind eine Reihe von therapeutischen Interventionsansätzen entwickelt und empirisch überprüft worden. Neben suchtmedizinischen und psychotherapeutischen Ansätzen sind auch sozialtherapeutische Gesichtspunkte zu berücksichtigen, wie z.B. durch Behandlungsansätze aus dem Bereich der handlungsorientierten Therapie (Krea- Kap it el I I : W is sen s ch af t liche Gru ndannahmen 11 tivtherapie, Arbeitstherapie, Körpertherapie), deren Stellenwert sich besonders im Bereich der arbeitsbezogenen medizinischen Rehabilitation zeigt. Der „Streit“ zwischen dem medizinischen Krankheitsmodell und einem sozialwissenschaftlichen Krankheitsmodell hat zu einer konstruktiven Integration der o.g. Ansätze geführt. Aus diesem Grunde ist ein multiprofessionelles Behandlungsteam erforderlich, um den suchtkranken Menschen auf dem Weg aus der Abhängigkeit zu begleiten. Bei der Entwicklung unseres Therapiekonzeptes standen wir vor dem Problem, uns aus der Vielzahl der Erklärungsansätze für eine festgelegte Richtung zu entscheiden und diese Entscheidung möglichst „eindeutig“ zu begründen. Die Ergebnisse der evidenzbasierten Therapieforschung haben letztendlich dazu geführt, einen integrativen Therapieansatz zu wählen, der die modernen Forschungsergebnisse berücksichtigt. Diese stimmen zum großen Teil mit unseren Erfahrungen aus 42 Jahren stationärer Entwöhnungsbehandlung in der Hellweg-Klinik Oerlinghausen überein. II. 2 Persönlichkeitsmodelle, bzw. Erklärungsmodelle menschlichen Verhaltens Dem Therapiekonzept der Hellweg-Klinik Oerlinghausen liegt ein verhaltensmedizinisch orientiertes Konzept zugrunde. Dabei spielt die Funktionalität des Suchtmittels im Rahmen der Lerngeschichte und in der aktuellen Situation des betroffenen Individuums eine wesentliche Rolle. Problemverhalten bzw. Krankheitsverhalten wird als erlerntes Verhalten vor dem Hintergrund somatischer und biologischer Wirkfaktoren betrachtet. Dabei spielen praedisponierende, auslösende und aufrechterhaltende Faktoren eine wichtige Rolle. Die Faktoren selbst lassen sich in individuelle und soziale Faktoren aufteilen. Menschliche Verhaltensweisen entstehen aus dem Zusammenwirken situativer Faktoren, kognitiver Prozesse (Erwartungen, Oberpläne) und der Wirkung bestimmter Lernprinzipien (respondentes Lernen, operantes Lernen, Modell-Lernen, zustandsabhängiges Lernen). So haben sich in den letzten Jahren zunehmend sozial-kognitive Ansätze entwickelt. Menschliches Verhalten wird dabei als gelerntes Verhalten angesehen, das unter bestimmten Bedingungen erlernt worden ist und auch wieder verlernt werden kann. Dabei spielen kognitive Aspekte und das vorhandene Verhaltensrepertoire eines Menschen eine wichtige Rolle. Problemverhalten entsteht 12 Kap it el I I : W is sen s ch af tliche Grund annahmen Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept häufig durch ineffektive Problemlösestrategien vor dem Hintergrund inadäquater kognitiver Prozesse. Durch das Zusammenwirken der aufgezählten Faktoren entwickelt sich ein Individuum mit Fähigkeiten und Stärken sowie mit Schwächen und Defiziten. Dabei verfügen Individuen über kurz- und langfristig effektive Problemlösestrategien sowie über kurzfristig effektive und langfristig ineffektive Bewältigungsstrategien. Menschliches Problemverhalten entsteht häufig dann, wenn kurzfristig effektive Problemlösestrategien angewandt werden, die langfristig aber negative Konsequenzen für das Individuum haben. Dazu zählt auch das Problemverhalten des exzessiven Trinkens, bzw. der Alkoholabhängigkeit. Durch die neuen bildgebundenen Verfahren können diese Prozesse im Gehirn sichtbar gemacht werden und bestätigen die Erfahrungen der in der Praxis tätigen Therapeuten. Somit kann das exzessive Trinken im Rahmen der Alkoholabhängigkeit als erlerntes Verhalten beschrieben werden, welches den allgemein gültigen Lernprozessen unterliegt. Krypsin-Exner schreibt dazu: „... exzessiver Alkoholkonsum wird demnach als erlerntes Verhalten aufgefasst, das den allgemein gültigen Lernprozessen unterliegt und von der Persönlichkeitsausgestaltung, den Lebensumständen und Sozialisationsbestimmungen bestimmt wird. Neben klassischem Konditionieren ... wird vor allem die entlastende und damit belohnende Wirkung des Alkohols betont (Spannungsreduktionshypothese im Sinne einer negativen Verstärkung) ... In den Forschungsarbeiten seit Ende der 70er werden daher - parallel zu den kognitiven Ansätzen in der Psychologie insgesamt auch in der Alkoholismusliteratur Einstellungen und Erwartungen in den Vordergrund gestellt. Dazu existieren eine Reihe von experimentellen Arbeiten, die zeigen, dass der pharmakologische Effekt des Alkohols, von kognitiv vermittelten subjektiven Erwartungen gesteuert, angesehen werden kann, und dass die von einer Person in den Alkohol gesetzte Erwartung für die subjektiv empfundene Wirkung von Alkohol mitbestimmt ist ... Im Sinne der Hervorhebung alkoholspezifischer Erwartungshaltungen hat Marlatt ein sozial kognitives Modell des Trinkverhaltens und der Alkoholabhängigkeit abgeleitet: Demnach ergibt sich die Wahrscheinlichkeit des Alkoholkonsums in einer Stresssituation, in Abhängigkeit von dem in dieser Situation subjektiv wahrgenommenen Stress, dem Repertoire an Bewältigungsfertigkeiten, der Einschätzung persönlicher Kontrollfähigkeit, bzw. der Verfügbarkeit des Alkohols und Erwartung der Effektivität des Alkoholkonsums zur Stressbewältigung ...“. Vor dem Hintergrund dieses Erklärungsmodells ist menschliches Verhalten individuell zu betrachten und im Rahmen der funktionalen Bedingungsanalyse darzustellen. Der ausgewählte verhaltensmedizinische Ansatz beeinflusst im Wesentlichen das psychotherapeutische Grundkonzept der Hellweg-Klinik Oerlinghausen. Er hat aber Kap it el I I : W is sen s ch af t liche Gru ndannahmen 13 auch Einfluss auf die anderen therapeutischen Bereiche, wie z. B. die handlungsorientierte Therapie. Auch bei der Durchführung dieser therapeutischen Maßnahmen werden die Grundsätze der verhaltensmedizinischen Behandlung berücksichtigt. Wir möchten betonen, dass der verhaltensmedizinische Ansatz eine Beschreibungsmöglichkeit menschlichen Verhaltens darstellt. Es gibt wissenschaftlich nachgewiesene Erklärungs- und Interventionsstrategien anderer therapeutischer Richtungen, die mit der ausgewählten verhaltensmedizinischen Grundausrichtung kompatibel sind. Wir haben in unserem Therapiekonzept vor dem Hintergrund der verhaltensmedizinischen Grundkonzeption weitere wissenschaftlich begründete Ansätze integriert, die im Kapitel V ausführlich beschrieben werden. Der von uns gewählte integrative Ansatz bezieht sich im Wesentlichen auf zwei Betrachtungsebenen: II. 2.1 Integration verschiedener psychotherapeutischer Erklärungsbzw. Interventionsstrategien Wir verweisen an dieser Stelle auf die umfangreiche Fachliteratur, um zu begründen, dass z.B. analytische und verhaltenstherapeutische Erklärungs- und Interventionsstrategien kompatibel integriert werden können. In den Fallbesprechungen wird die integrative Betrachtungsweise praktisch umgesetzt, indem der Bezugstherapeut seinem Patienten und dessen Suchtmitteleinnahme vor dem Hintergrund seiner individuellen Lebensgeschichte darstellt. Wir benutzen die analytisch-tiefenpsychologische Betrachtung, um das Störungsbild des Patienten zu verstehen. Diese Betrachtungsweise hilft uns vor allen Dingen unter diagnostischen Gesichtspunkten. Die verhaltenstherapeutische Betrachtungsweise ist für uns nützlich, um vor dem Hintergrund der funktionalen Bedingungsanalyse das aktuelle Problemverhalten des exzessiven Trinkens zu verstehen und erfolgversprechende Veränderungen gemeinsam mit dem Patienten zu planen und durchzuführen. Dabei liegt unser Interesse vor allen Dingen darin, dem Patienten effektive Problemlösestrategien zu vermitteln, damit er in Zukunft emotionale oder andere Stresssituationen ohne Einsatz von Suchtmitteln bewältigen kann. Die systemische Betrachtungsweise ist hilfreich, wenn wir den Patienten im Rahmen seiner sozialen Bezüge betrachten und Hypothesen entwickeln, welche Konsequenzen die individuellen Veränderungen des Patienten für sein soziales System haben werden. Auch bei der Planung und Durchführung der Paargespräche bzw. Angehörigenseminare ist die systemische Betrachtungsweise hilfreich. 14 Kap it el I I : W is sen s ch af tliche Grund annahmen Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept Zusammenfassend haben wir uns im psychotherapeutischen Bereich für eine verhaltensmedizinische Grundausrichtung entschieden und diese ergänzt durch kompatibel tiefenpsychologische und systemische Erklärungs- und Interventionsstrategien. II. 2.2 Integration verschiedener Behandlungsansätze Unser integratives Behandlungskonzept berücksichtigt noch einen weiteren wichtigen Aspekt, nämlich die Integration von verschiedenen Behandlungsansätzen: die Integration von medizinischer Behandlung, Psychotherapie, Soziotherapie, handlungsorientierter Therapie und diakonischer Begleitung. Aufgrund des komplexen und mehrschichtigen Störungsbildes der Abhängigkeitserkrankung sind wir fest davon überzeugt, dass diese verschiedenen Behandlungsansätze kombiniert bzw. integriert werden müssen. Dabei muss im Einzelfall sorgfältig abgeklärt werden, wie viel aus jedem Behandlungsbereich für den entsprechenden Patienten angemessen ist. Wir werden dieses Integrationskonzept im Rahmen unseres „Vier-Säulen-Modells“ der Therapie (s. Kapitel V) erläutern. Kap it el I I : W is sen s ch af t liche Gru ndannahmen 15 II. 3 Erklärungsmodell der Abhängigkeitserkrankung Das zugrundegelegte Verständnis der Abhängigkeitserkrankung geht ebenfalls von der Annahme aus, dass es sich bei der Entstehung und Aufrechterhaltung der Abhängigkeitserkrankung um ein multifaktorielles Bedingungsgefüge handelt. Alle bisherigen Versuche, die Abhängigkeitserkrankung monokausal zu beschreiben, sind unserer Ansicht nach unzureichend, um die Komplexität der Abhängigkeitserkrankung adäquat zu erfassen. Außerdem ist es schwer, die Folgen und Ursachen zu trennen, zumal auch die Konsequenzen der Alkoholeinnahme häufig Auslöser für die erneute Einnahme des Suchtmittels sein kann. Um die multifaktorielle Entstehung und Aufrechterhaltung der Abhängigkeitserkrankung zu verstehen, sollen zunächst die drei Hauptwirkfaktoren nach Feuerlein beschrieben werden: 1. Die spezifische Wirkung der Droge (Suchtmittel), die zur Abhängigkeit führt 2. Die spezifische Eigenschaft des konsumierenden Individuums 3. Die Besonderheiten des Sozialfeldes 2) Individuum 1) Suchtmittel 3) Sozialfeld Zu 1) Die spezifische Wirkung der Droge (Suchtmittel) Bei jedem Suchtmittel muss das spezifische Abhängigkeitspotential beachtet werden (psychotrope Wirkung, dispositionelle und funktionelle Toleranz, etc.) und die Verfügbarkeit und Bewertung im sozialen Umfeld. So ist z.B. anxiolytische Wirkung von Bromazepam stärker und verlässlicher als die anxiolytische Wirkung von Alkohol. Alkohol ist unter wesentlich anderen Bedingungen verfügbar als Heroin oder andere illegale Drogen. An dieser Stelle kann nicht das psychotrope Wirkungsspektrum jedes Suchtmittels (Droge) dargestellt werden. Wichtig ist es unserer Ansicht nach zu erwähnen, dass jedes Suchtmittel erwünschte (kurzfristig) und unerwünschte (langfristig) Wirkungen hat. Der drogenkonsumierende Mensch sucht zunächst die kurzfristig erwünschten Wirkungen (z. B. Euphorie, Entspannung, Angstreduktion, etc.) und missachtet die langfristig negativen Konsequenzen (Krankheit, Entzug, Verlust der Partnerschaft und/oder Arbeitsstelle, etc.). 16 Kap it el I I : W is sen s ch af tliche Grund annahmen Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept Zu 2) Die spezifischen Eigenschaften des konsumierenden Individuums Das Individuum, welches Suchtmittel konsumiert, wird unter verschiedenen Aspekten betrachtet. Es gibt eine umfangreiche Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen, die Einzelaspekte des Individuums (genetische Disposition, Persönlichkeitsstruktur, Lerngeschichte, etc.) ergründet haben. Ergebnis dieser Untersuchungen ist, dass verschiedene Wirkfaktoren für das Modell der Abhängigkeitserkrankung berücksichtigt werden müssen, die im Folgenden kurz dargestellt werden. Bei Untersuchungen zur Vererbung wurde festgestellt, dass eine genetische Disposition angenommen werden kann, die bei der Entstehung der Abhängigkeitserkrankung wirksam werden kann. Das Ausmaß der genetischen Disposition ist nicht eindeutig zu quantifizieren. Sie kommt dann zum Ausbruch, wenn zusätzliche Ursachenfaktoren hinzukommen. Die Existenz eines einfachen Vererbungsmechanismus konnte nicht nachgewiesen werden. Die pharmakologische Untersuchung über die Wirkungen von Alkohol hat gezeigt, dass es eine individuelle Toleranz gegenüber dem Suchtmittel Alkohol gibt, die sich in einer unterschiedlichen pharmakologischen Verarbeitung zeigt. So unterscheidet sich z. B. die Toleranz von Männern und Frauen gegenüber Alkohol. Aber auch die intraindividuelle, pharmakologische Toleranz gegenüber Alkohol ist unterschiedlich und muss im Einzelfall bei der Entstehung und Aufrechterhaltung der Abhängigkeitserkrankung berücksichtigt werden. Eine Reihe von pharmakologischen und neurobiologischen Untersuchungen haben die Wirkung des Alkohols auf verschiedene Rezeptorsysteme untersucht und dabei die Bedeutung verschiedener Neurotransmittersysteme im Hirnstamm, dem mesolimbischen System und präfrontalem Cortex nachgewiesen. Die neurobiologische Forschung arbeitet mit der Annahme eines Dopamin-gesteuerten Belohnungs- bzw. Erwartungssystems und setzt dabei ein sogenanntes Suchtgedächtnis voraus. Dieses Suchtgedächtnis nimmt subkortikal Einfluss auf Entscheidungs- und Handlungsprozesse und muss bei der Auslösung und Aufrechterhaltung der Abhängigkeitserkrankung berücksichtigt werden. Forschungsergebnisse im Tierversuch und neuere bildgebende Verfahren haben nachgewiesen, dass durch den Aufbau abstinenter Verhaltensweisen ein Umlernen möglich ist, so dass suchtspezifische Hinweisreize im Verlauf des therapeutischen Prozesses ihren auslösenden Charakter verlieren können. Dabei ist unbestritten, dass bei Vorhandensein einer Abhängigkeitserkrankung ein kontrolliertes Trinken nicht mehr das Ziel einer suchtmedizinischen Behandlung sein kann. Kap it el I I : W is sen s ch af t liche Gru ndannahmen 17 Es hat viele Versuche gegeben, die prämorbide Persönlichkeitsstruktur der Abhängigkeitserkrankung zu finden und zu beschreiben. Das Ergebnis dieser Untersuchungen ist, dass es keine eindeutige prämorbide „Suchtpersönlichkeit“ gibt. Unserer Ansicht nach gibt es klinisch und testpsychologisch beschreibbare Persönlichkeitsanteile, die als Prädisposition bei der Entstehung und Entwicklung der Abhängigkeitserkrankung Bedeutung haben und berücksichtigt werden müssen. Es kann an dieser Stelle nicht die Entstehung der komplexen Persönlichkeitsstörungen beschrieben werden. Anhand des Buches von Riemann lässt sich zeigen, dass die unterschiedliche Ausprägung der Persönlichkeit eines Menschen in ein und derselben Situation zu einer anderen Bewertung, Erwartung oder Verhalten führen kann. So reagiert z. B. der Mensch mit „zwanghaften“ Persönlichkeitsanteilen ängstlich auf Veränderungen in seiner Lebenssituation, während der Mensch mit „akzentuierten“ Persönlichkeitsanteilen diese Veränderung sucht und den Stillstand als bedrohlich und beängstigend erlebt. Aus diesem Grunde ist es wichtig, die Persönlichkeitsanteile, die wesentlichen Einfluss auf das menschliche Verhalten haben, im diagnostischen Prozess zu erfassen und bei der Therapieplanung zu berücksichtigen. Dies geschieht durch psychiatrische und testpsychologische Untersuchungen. Für die Abhängigkeitserkrankung bedeutet es, dass bei der Therapie eines Individuums z.B. mit narzisstischen Persönlichkeitsanteilen in bestimmten Bereichen andere Interventionstechniken angewandt werden müssen als bei einem Individuum mit ängstlich-depressiven Persönlichkeitsanteilen. Die Funktionalität des Suchtmittels spielt bei den beiden beispielhaft genannten Patienten eine andere Rolle. Während der ängstlich-depressive Patient z. B. Selbstsicherheit und Selbstachtung lernen muss und Defizite im Bereich bestimmter Problemlösestrategien hat, wird der narzisstisch gestörte Patient die therapeutisch begleitete Erfahrung machen müssen, dass Schwächen und Niederlagen nicht so bedrohlich sind und die ganze Person in Frage stellen, wie er es immer wieder antizipiert hat. Während beim ängstlich-depressiven Patienten der Alkohol als „soziales Schmiermittel“ eingesetzt werden kann, dient es beim narzisstisch gestörten Menschen zur Aufrechterhaltung seines inadäquaten hohen Selbstbildes. Diese beiden Beschreibungen sollen an dieser Stelle exemplarisch für die Möglichkeiten der Wirksamkeit von Persönlichkeitsanteilen verwendet werden. 18 Kap it el I I : W is sen s ch af tliche Grund annahmen Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept Eine ganz wesentliche Bedeutung haben lebensgeschichtliche Ereignisse (life events), die im Rahmen des diagnostischen Prozesses (biographische Anamnese) erfasst werden. Neben traumatischen Erlebnissen (beispielsweise Trennung von den Eltern, Verlust durch Tod und Krankheit oder Unfälle) haben auch „kleinere“, sich ständig wiederholende Verletzungen (Ablehnung, Vermittlung von Unerwünschtsein und Inkompetenz, Zurückweisung, etc.) eine wichtige Bedeutung. Diese lebensgeschichtlichen Ereignisse werden vom Patienten zu einer individuellen „Lebenserfahrung“ verarbeitet, die sich durch bestimmte Lebensregeln (kognitive Regeln) beschreiben lassen. So entwickelt jeder Mensch seine „Lebensregeln“, die einen wesentlichen Einfluss auf sein Verhalten haben. Häufig anzutreffende Lebensregeln bei Suchtkranken sind: „Ich bin ein Versager, ich bin nichts wert, das schaffe ich ja doch nicht, ich halte das nicht durch, ich bin unfähig“. Diese Lebensregeln (Kognitionen) sind häufig mit negativen Gefühlen gekoppelt (Angst, Unsicherheit, Trauer, ...), die dann zunehmend und oft unangemessen auftreten und somit eine negative Wirkung auf das Individuum haben. Dies zeigt sich in ineffektiven Problemlösestrategien und inadäquaten Attribuierungsprozessen. Die Lerngeschichte des Individuums in Bezug auf die Einnahme von Suchtmitteln in Verbindung mit dem sozialen Umfeld ist wichtig. Hier gilt es in der biographischen Anamnese, den Beginn der Suchtmitteleinnahme zu erfassen. Hier spielen auch Vorbilder und Modelle eine wichtige Rolle. Im Rahmen des diagnostischen Prozesses werden die zuvor beschriebenen Aspekte des Individuums erhoben und in den therapeutischen Prozess eingearbeitet. Zu 3) Die Besonderheiten des sozialen Umfeldes Das Sozialfeld hat einen erheblichen Einfluss auf die Entstehung und die Aufrechterhaltung der Abhängigkeitserkrankung. Dabei müssen Herkunft und kultureller Hintergrund beachtet werden. Bei den sozio-kulturellen Bedingungen hat das Trinkverhalten der Gesellschaft eine wichtige Bedeutung. In Deutschland existiert unserer Ansicht nach eine permissive Trinkkultur, in der Alkoholgenuss erlaubt ist, Trunkenheit und andere pathologische Erscheinungen des Alkoholkonsums jedoch abgelehnt werden. Weiterhin spielen die allgemein wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen (wie z.B. Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Bedrohung durch die wirtschaftliche und kriegerische Ereignisse) eine suchtunterstützende Rolle. Kap it el I I : W is sen s ch af t liche Gru ndannahmen 19 Das Familiensystem, in dem das Individuum aufgewachsen ist und dort meistens seine ersten Erfahrungen mit Suchtmitteln macht, ist von besonderer Bedeutung. Viele Untersuchungen haben gezeigt, dass das Risiko für eine spätere Abhängigkeitserkrankung wesentlich erhöht ist, wenn der Vater und/oder die Mutter selbst abhängig sind. Auch das kontinuierliche Fehlen einer Bezugsperson (z.B. ein Elternteil) stellt einen nicht unerheblichen Risikofaktor dar. Der Stellenwert des Suchtmittels im Familiensystem bekommt somit eine wichtige Rolle, da bei der Einnahme von Suchtmitteln das Modell-Lernen eine große Bedeutung hat. Bei Jugendlichen und Heranwachsenden verlieren die Eltern als Modell ihre Wirksamkeit. An ihre Stelle treten Mitglieder aus der Clique bzw. „Vorbilder“ aus der Musikszene oder dem Sport. Diese „Vorbilder“ müssen in der Anamnese erfasst werden, und ggf. im therapeutischen Prozess „korrigiert“ werden. Anhand des Dreiecks-Modells von Feuerlein sind die wesentlichen Faktoren aufgezählt worden, die bei der Genese der Abhängigkeitserkrankung eine wichtige Rolle haben (siehe folgende Abbildung). Eine bedeutende Rolle spielen dabei die gesellschaftliche Diskussion und Abhängigkeitserkrankung Suchtmittel Individuum Sozialfeld Wirkung Genetische Disposition Verfügbarkeit Persönlichkeitsstruktur Abhängigkeitserkrankungen naher Bezugspersonen Bewertung Individuelle Toleranz Bewertung der Suchtmittel durch die Gesellschaft Lerngeschichte bezügl. Suchtmittel Trinkverhalten der Gesellschaft Frühkindliche Entwicklung Psychische Erkrankung Körperliche Erkrankung Soziale Bedingungen Wirtschaftliche Bedingungen Fehlen von Bezugspersonen die Bewertung durch die Gesellschaft. Hier kann durch die Politik positiver Einfluss ausgeübt werden. Dies hat sich an dem Beispiel der Steuererhöhung bei Alkopops gezeigt. Auch die Warnhinweise auf Zigarettenschachteln, und in Zukunft auch – wie in anderen EU-Ländern bereits vorhanden – auf Flaschenetiketten, machen eine gesundheitspolitische Haltung sichtbar, die im Sinne der Prävention wirkt und den Heilungsverlauf suchtkranker Menschen unterstützt. 20 Kap it el I I : W is sen s ch af tliche Grund annahmen Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept Osterhues beschreibt in seinem Übersichtsartikel, dass es 38 Suchttheorien mit insgesamt ca. 150 Erklärungsvariablen gibt „ ... Suchterkrankungen sind aus meiner Sicht die Folge eines Ungleichgewichts zwischen Innenwelt und Außenwelt, nämlich den Bedürfnissen, Fähigkeiten und Vorstellungen des Betroffenen und den Anforderungen, Möglichkeiten und Sachverhalten der Umwelt. Dieses Ungleichgewicht führt zu psychischen Missstimmungen wie Unzufriedenheit, Depression, Ängsten, Stress, usw. Wer versucht, diese Missstimmungen mit Bewusstseinsveränderungen und Substanzen zu bekämpfen, läuft Gefahr abhängig zu werden. Dabei gibt es weder ein spezifisches Ursachenbündel, was das Ungleichgewicht zwischen Innenwelt und Außenwelt auslöst, noch ist der Suchtmittelmissbrauch die einzig mögliche Reaktion auf dieses Ungleichgewicht. Denkbar wären z. B. psychogene Kriminalität, psychosomatische Krankheiten oder realitätsangepasste Versuche, das Ungleichgewicht zu überwinden.“ Die jeweils gewählten Ansätze mögen in bestimmten Bereichen und in der Nomenklatur unterschiedlich sein. Wesentlich ist aber, dass deutlich wird, dass die Entstehung der Abhängigkeitserkrankung mehrschichtig betrachtet werden muss, und dass bei dieser mehrschichtigen Betrachtung sowohl medizinische wie auch psychologisch-psychotherapeutische und sozialtherapeutische Aspekte berücksichtigt werden müssen. Jede Vernachlässigung der einen Komponente führt dazu, dass wesentliche Informationen in Vergessenheit geraten, die bei einer adäquaten Therapie berücksichtigt werden müssen. Wie bereits in Abschnitt II. 2 beschrieben ist, haben wir uns für eine verhaltensmedizinische Betrachtung der Abhängigkeitserkrankung als Grundlage für unser Therapiekonzept entschieden. Dabei ist exzessiver Alkoholkonsum ein erlerntes Verhalten, welches den allgemein gültigen Lernprozessen unterliegt. Hier müssen bei der Entstehung und Aufrechterhaltung der Abhängigkeitserkrankung weitere Aspekte, wie z. B. soziokulturelle Lebensumstände, Persönlichkeitsausgestaltung, soziale und wirtschaftliche Bedingungen berücksichtigt werden. Kap it el I I : W is sen s ch af t liche Gru ndannahmen 21 II. 4 Entwicklung der Abhängigkeitserkrankung Nachdem nun die multifaktorielle Genese der Abhängigkeitserkrankung beschrieben worden ist, soll in den folgenden Abschnitten auf die Entwicklung der Abhängigkeitserkrankung eingegangen werden. Da ein wesentlicher Unterschied zwischen der Entwicklung der Alkoholabhängigkeit und der Medikamentenabhängigkeit besteht, wird die jeweilige Entwicklung für sich beschrieben. Bei der Entwicklung der Alkoholabhängigkeit wird von einem langjährigen, schleichenden Verlauf ausgegangen. In der Regel erstreckt sich die Entwicklung vom sozialen Trinken bis zu den deutlichen Zeichen der chronischen Abhängigkeit auf einen Zeitraum zwischen 10 und 20 Jahren. In den einzelnen Entwicklungsphasen der Alkoholabhängigkeit wirken die zuvor beschriebenen Faktoren in unterschiedlicher Ausprägung und an unterschiedlichen Stellen. Das Auftreten und die Wirkung der einzelnen Faktoren ist individuell und muss für jeden einzelnen Abhängigkeitserkrankten im Rahmen des diagnostisch-therapeutischen Prozesses erkannt werden. Diese Individualität soll anhand einiger Beispiele erläutert werden: So wird nicht jedes Individuum mit zwanghaften Persönlichkeitsanteilen suchtmittelabhängig. Auch der Verlust eines Elternteiles oder Partners führt nicht zwangsläufig zur Alkoholabhängigkeit. Ebenso die Tatsache, dass der Vater oder andere Familienmitglieder suchtmittelabhängig gewesen sind, hat nicht zwangsläufig eine Abhängigkeitserkrankung zur Folge. Es ist vielmehr wichtig, im diagnostischen Prozess die Funktionalität des Suchtmittels in Bezug auf bestimmte Ursachenfaktoren herzustellen. Wenn der Alkohol eine wichtige Bedeutung (Funktionalität) bekommt, um die Auswirkungen eines bestimmten Faktors, z. B. Verlust eines Elternteiles zu kompensieren, dann ist dies ein wichtiger Hinweis für die Entstehung der Alkoholabhängigkeit. Diese Erkenntnis kann dann für den therapeutischen Prozess nutzbar gemacht werden, indem die Trennungserlebnisse therapeutisch bearbeitet werden, so dass sie ihren destruktiven Einfluss auf das Individuum, bzw. den Patienten verlieren. Viele Menschen sind als „soziale Trinker“ (risikoarmer und riskanter Konsum) einzuschätzen. Dazu zählen ca. 94% aller Bürger in Deutschland, da nach neuesten statistischen Ergebnissen nur 6 % der deutschen Bevölkerung abstinent lebt. Von diesen 94 % wird ein Teil der Menschen (ca. 4-5 %) die Kriterien der Abhängigkeitserkrankung erfüllen. 22 Kap it el I I : W is sen s ch af tliche Grund annahmen Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept Die Alkoholabhängigkeit entwickelt sich dann über die Zwischenschritte wie Erleichterungstrinken, Konflikttrinken, Problemtrinken in Richtung der chronischen Abhängigkeit, die sich nach einem mehrjährigen Verlauf mit den Symptomen des Kontrollverlustes, der Abstinenzunfähigkeit und des morgendlichen Trinkens zeigt. Gleichzeitig werden die durch den jahrelangen Alkoholgenuss hervorgerufenen körperlichen, psychischen und psychosozialen Schädigungen sichtbar. Jellinek hat versucht, aufgrund seiner empirischen Untersuchungen verschiedene „Trinker-Typen“ zu klassifizieren. Sie sollen im Folgenden kurz beschrieben werden: Der Alpha-Trinker zeigt einen vorwiegend psychologisch motivierten Trinkstil mit zunehmenden Trinkmengen in psychischen Stresssituationen (Probleme am Arbeitsplatz, Beziehungsprobleme, finanzielle Probleme, etc.). Die Funktionalität des Alkoholtrinkens dient u. a. der Angstreduktion und der Erleichterung. Dieser Trinktyp zeigt zumeist die Zeichen einer psychischen Abhängigkeit ohne Kontrollverlust oder Abstinenzunfähigkeit. Der Beta-Trinker passt seine Trinkgewohnheiten an seine soziale Umwelt an und übernimmt die Trinksitten seiner psychosozialen Umgebung. Eine andere Beschreibungsform ist der Begriff des Gelegenheitstrinkers, bei dem die psychische Abhängigkeit eine untergeordnete Rolle spielt. Der Gamma-Trinker ist gekennzeichnet durch Zeichen der psychischen Abhängigkeit mit zunehmenden Kontrollverlusten und Versuchen, abstinent zu leben. Zeiten exzessiven Trinkens wechseln sich ab mit Zeiten, in denen der Patient wenig Alkohol zu sich nimmt. Neben der psychischen Abhängigkeit entsteht auch eine körperliche Abhängigkeit mit den bekannten körperlichen Entzugssymptomen. Umgangssprachlich bezeichnet man diesen Suchtkranken häufig als „süchtigen Trinker“. Der Delta-Trinker ist gekennzeichnet durch eine über den Tag relativ regelmäßig verteilte Einnahme von Alkohol, so dass er einen bestimmten „Spiegel“ ständig erreicht. Sinkt der Alkoholspiegel unter die individuelle Norm, so kommt es zum Auftreten von unangenehmen Entzugserscheinungen. Das Symptom des Kontrollverlustes findet sich erst im Spätstadium. Der Epsilon-Trinker (Quartalstrinker) ist gekennzeichnet durch ein phasenhaft auftretendes Trinken mit dazwischenliegenden Abschnitten geringerer oder fehlender Alkoholeinnahme. Im Verlauf einer chronischen Alkoholabhängigkeit mischt sich der Gamma- und der Delta-Trinktyp, so dass sie nach einem mehrjährigen Verlauf nicht mehr zu unterscheiden sind. Die zuvor beschriebenen fünf Typen der Alkoholabhängigkeit sind empirisch von Jellinek erfasst worden und stellen aus unserer Sicht eine in der Praxis gut anwendbare Klassifikation dar. Diese Klassifikation ist eine wichtige Orientierung bei der Beurteilung der Ausprägung der Alkoholabhängigkeit. Daraus ergeben sich dann bestimmte Therapieziele, die mit dem Patienten festgelegt werden. Kap it el I I : W is sen s ch af t liche Gru ndannahmen 23 An einem Beispiel könnte man dies folgendermaßen erläutern: Die Therapieziele bei einem Patienten, der die Symptome des Erleichterungstrinkens zeigt, sind häufig auf eine adäquate Stressbewältigungsstrategie ausgerichtet. Die angewandten therapeutischen Maßnahmen sollen ihm helfen, effektive Stressbewältigungsstrategien ohne Einsatz von Suchtmitteln zu entwickeln. Bei einem Spiegeltrinker im chronischen Stadium reichen Problem- und Stressbewältigungsstrategien alleine nicht mehr aus. Die Therapieziele müssen aufgrund der Ausprägung und des Fortschrittes der Alkoholabhängigkeit durch zusätzliche ergänzt werden wie z. B. Stabilisierung des Selbstbewusstseins, Einübung von Alkoholablehnungstraining, Wiederentdeckung alter Fähigkeiten, Zulassen und Erleben eigener Gefühle, etc. Neben der Beschreibung der Typologie von Jellinek ist auch die zeitliche Entwicklung der Abhängigkeitserkrankung wichtig. Jellinek hat eine zeitliche Aufeinanderfolge von insgesamt 42 Symptomen vorgenommen, die im wesentlichen für den Gamma-Trinker angewendet werden können. Diese werden in vier Phasen eingeteilt: • die praealkoholische Phase • die Prodromalphase • die kritische Phase • die chronische Phase. Die praealkoholische Phase ist gekennzeichnet durch die „positiven Wirkungen“ des Alkohols, z.B. als „soziales Schmiermittel“ und zur Angstreduktion. Die „positive Wirkung“ des Alkohols wird in immer mehr Situationen benutzt, und es kommt schnell zu einer Generalisierung. Es gibt eine Reihe von Patienten, die von dieser „schönen Zeit“ während der Therapie schwärmen und die für sich häufig noch das geheime Therapieziel des „kontrollierten Trinkens“ haben. Die Prodromalphase ist dadurch gekennzeichnet, dass der Alkohol einen immer breiteren Raum im Leben des Patienten einnimmt. Der Patient beginnt das heimliche Trinken, hat Schuldgefühle wegen des Trinkens und entwickelt Strategien des Alkoholtrinkens, um nicht in seiner sozialen Umgebung aufzufallen. In der kritischen Phase häufen sich Kontrollverluste und Abstinenzversuche. Der soziale Druck der Umwelt nimmt zu und der Patient sucht immer neue Ausflüchte, um sein Trinken aufrechterhalten zu können. Es kommt zu Veränderungen der Persönlichkeit, zur Instabilität seiner sozialen Beziehungen und zum Abbau kognitiver und emotionaler Prozesse. Im sozialen Bereich ist der Arbeitsplatz häufig gefährdet, und in der Partnerschaft entstehen große Probleme bis hin zur Scheidung. Es existieren die deutlichen Zeichen der körperlichen Abhängigkeit mit entsprechenden Entzugssymptomen und 24 Kap it el I I : W is sen s ch af tliche Grund annahmen Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept medizinischen Erkrankungen (z. B. Delirium tremens, Entzugskrampfanfälle). Der Zeitraum der kritischen Phase wird von Jellinek zwischen sechs Monaten bis zu fünf Jahren angegeben. In der chronischen Phase finden wir alle Symptome der chronischen Alkoholabhängigkeit auf körperlichem, psychischem und psychosozialem Gebiet. Der Patient zeigt eine körperliche Verwahrlosung, soziale Isolierung und den zunehmenden Abbau ethischer und moralischer Wertvorstellungen. Je weiter die Alkoholabhängigkeit fortgeschritten ist, desto umfangreicher und weit gefächerter müssen die therapeutischen Interventionen geplant werden. Während in der Prodomalphase psychologisch-psychotherapeutische Interventionsschritte im Vordergrund stehen können, müssen in der chronischen Phase zunehmend suchtmedizinische und soziotherapeutische Interventionen einbezogen werden. Die Entwicklung der Medikamentenabhängigkeit benötigt einen wesentlich kürzeren Zeitraum. Je nach Wirkstoff können die ersten Zeichen der Abhängigkeit schon nach mehreren Wochen bis Monaten festgestellt werden. Häufig erhalten Menschen in psychischen Krisensituationen psychotrope Medikamente mit beruhigender, euphorisierender oder anxiolytischer Wirkung. Auch die Einnahme von Schmerzmitteln ist häufig mit einer psychischen Wirkung verbunden, wie z.B. eine Euphorisierung oder Sedierung, die vom Patienten missbraucht wird. Nach wenigen Wochen kann sich schon aufgrund der hohen und verlässlichen Wirkung des Medikamentes eine psychische und physische Abhängigkeit entwickeln. Der ursprüngliche Grund für die Medikamenteneinnahme spielt dann keine wesentliche Bedeutung mehr, sondern die Medikamente werden kurzfristig wegen ihrer „positiven Wirkung“ und langfristig zur Vermeidung des Entzugssyndroms eingenommen. Wie bei der Alkoholabhängigkeit finden wir auch hier Zeichen der Toleranzentwicklung und eine ausgeprägte Entzugssymptomatik. In aller Regel ist das Entzugssyndrom beim Absetzen von psychotropen Medikamenten, wie z. B. Benzodiazepinen, wesentlich ausgeprägter und gefährlicher für die Patienten, so dass hier ein schrittweises Absetzen indiziert ist. Wir sehen zunehmend häufiger Patienten in der stationären Entwöhnungsbehandlung, bei denen gleichzeitig eine Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit besteht. Nach unseren Ergebnissen ist das derzeit in ca. 10 % der von uns behandelten Patienten der Fall. Kap it el I I : W is sen s ch af t liche Gru ndannahmen 25 II.5 Therapeutische Maßnahmen Bevor die therapeutischen Maßnahmen der stationären Entwöhnungsbehandlung ausführlich beschrieben werden, ist festzustellen, dass je nach Ausprägung, Dauer und Schweregrad der Suchterkrankung die Entwöhnungsbehandlung ambulant, ganztägig ambulant (teilstationär) oder stationär erfolgen kann. Von zunehmender Bedeutung sind die Kombinationstherapien, bei denen passgenau die einzelnen Therapiebausteine aufeinander abgestimmt werden. Die Kombinationsbehandlungen setzen eine gute Kommunikation zwischen den therapeutischen Mitarbeitern im ambulanten und stationären Sektor voraus. Von der Deutschen Rentenversicherung sind Indikationskriterien entwickelt worden, die u.a. folgende Aspekte berücksichtigen: • Partnerschaft • Arbeitssituation • Gesundheitlicher Zustand • Kognitive Leistungsfähigkeit • Zusätzliche Komorbidität • Distanzfähigkeit von Suchtmitteln • Milieuspezifische Aspekte • ... Das Therapiekonzept zur stationären medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter der HellwegKlinik Oerlinghausen beruht auf dem 4-SäulenModell. Dieses besteht aus der • suchtmedizinischen Behandlung • Psycho-Soziotherapie • Handlungsorientierte Therapie • Diakonische Begleitung. Je nach Ausmaß und Stadium der Abhängigkeitserkrankung kommt eine Kombination verschiedener therapeutischer Maßnahmen aus den o.g. Bereichen zur Anwendung. Der Therapieplan für jeden einzelnen Patienten wird vom Bezugstherapeuten im Zusammenhang mit dem multiprofessionellen therapeutischen Team festgelegt. Dazu wird im Rahmen des diagnostischen Prozesses vom Bezugstherapeuten die funktionale Bedingungsanalyse für die Abhängigkeitserkrankung seines Patienten erstellt. In dieser funktionalen Bedingungsanalyse werden die auslösenden Faktoren, situative Faktoren, Variablen des Individuums, Kognitionen und Erwartungen sowie aufrechterhaltende Bedingungen erfasst. Gemeinsam mit dem Patienten wer- 26 Kap it el I I : W is sen s ch af tliche Grund annahmen Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept den die Therapieziele festgelegt und die dazu notwendigen therapeutischen Interventionen besprochen und durchgeführt. Nach der Durchführung der ersten therapeutischen Maßnahmen erfolgt die Überprüfung der eingangs festgelegten Therapieziele und je nach Verlauf findet eine Modifizierung und Erweiterung des Behandlungsplanes statt. Dieser Prozess wird kontinuierlich begleitet vom multiprofessionellen Behandlungsteam und supervidiert durch einen ärztlichen und therapeutischen Leiter. An dieser Stelle werden zusammenfassend die Hauptbausteine der therapeutischen Maßnahmen beschrieben: 1. Suchtmedizinische Behandlung Die wesentlichen diagnostischen therapeutischen Maßnahmen der Suchtmedizin sind: • Diagnostik von somatischen Begleiterkrankungen • Neurologische und psychiatrische Diagnostik • Medikamentöse Therapie • Bei Indikation ärztliche Psychotherapie • Individuelle ärztliche Beratung • Psychoedukative Informationsveranstaltungen mit Schwerpunktthema Gesundheit, Ernährung, Bewegung • Physikalische Behandlung bei gleichzeitig bestehender somatischer Erkrankung durch den Mitarbeiter der physikalischen Abteilung. Die Maßnahmen erfolgen in der ärztlichen Sprechstunde durch das ärztliche Gespräch, die Zimmervisite und bei den ärztlich geleiteten Informationsveranstaltungen. Mitarbeiter des Pflegedienstes werden je nach Ausbildungsstand mit in die Behandlung einbezogen. (Informationsveranstaltungen, Einzelberatung und Ohr-Akupunkturbehandlung). 2. Psycho-Soziotherapie Dieser Bereich umfasst folgende therapeutische Angebote: 2.1 Behandlungsmaßnahmen aus dem psychologisch-psychotherapeutischen Bereich: • Einzelgespräche • Einzelpsychotherapie • Gruppenpsychotherapie • Indikationsgruppen • Therapeutische Expositionsübungen • Angehörigengespräche • Partnerseminare • Testdiagnostik Kap it el I I : W is sen s ch af t liche Gru ndannahmen 27 2.2 Behandlungsangebote aus dem sozialtherapeutischen Bereich: • Einleitung von Maßnahmen zur Erhaltung und Wiedererlangung des Arbeitsplatzes • Beratung und Einleitung von Maßnahmen bei juristischen Komplikationen • Unterstützung bei der Schuldenregulierung • Durchführung gruppentherapeutischer Maßnahmen • Sozialberatung bei finanziellen Angelegenheiten • Beratung bei sozialen Angelegenheiten 3. Behandlungsangebote aus dem handlungsorientierten Bereich: • Ergotherapie mit Schwerpunkt der arbeitsbezogenen medizinischen Rehabilitation • Kreativtherapeutische Prozesse durch anerkannte Ergotherapeuten • Körpertherapie. Aus unserer Erfahrung stehen zu Therapiebeginn zunächst suchtmedizinische und motivationsfördernde Maßnahmen im Vordergrund. Im weiteren Verlauf werden dann psychologisch-psychotherapeutische, sozialtherapeutische und ergotherapeutische Behandlungsmaßnahmen in sinnvoller Weise miteinander kombiniert. Der integrative Ansatz bezieht sich nicht nur auf die angewandten psychotherapeutischen Maßnahmen, sondern auch auf die Kombination von verschiedenen Therapieschwerpunkten. So werden in der Hellweg-Klinik Oerlinghausen psychotherapeutische Maßnahmen in Einzel- und Gruppenform kombiniert mit kreativtherapeutischen und arbeitstherapeutischen Maßnahmen sowie mit medizinischen Behandlungen und Körpertherapie. Aus unserer Sicht kann der multifaktoriellen Genese der Abhängigkeitserkrankung nur durch ein weitgefächertes Therapieangebot adäquat begegnet werden. Dabei darf nicht ein „Gemischtwarenladen“ entstehen, aus dem wahllos verschiedene therapeutische Interventionen zusammengestellt werden. Vielmehr müssen die ausgewählten therapeutischen Interventionsmaßnahmen in einem sinnvollen, theoriegeleiteten Zusammenhang stehen. Der Prozess der Therapiesteuerung ist ein wichtiger Bestandteil des Qualitätssicherungssystems und wird durch den ärztlichen und therapeutischen Abteilungsleiter im Rahmen der regelmäßig stattfindenden Fallbesprechungen kontrolliert und supervidiert. Die bei diesen Fallbesprechungen gewonnenen Erkenntnisse werden dann gemeinsam vom Bezugstherapeuten mit seinem Patienten in den therapeutischen Alltag der Hellweg-Klinik Oerlinghausen und bei Expositionsübungen außerhalb der Klinik umgesetzt. 28 Kap it el I I : W is sen s ch af tliche Grund annahmen Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept III. Definition, Symptome und Folgen der Abhängigkeitserkrankung Es gibt eine Reihe von Definitionen zur Abhängigkeitserkrankung, die jeweils vom ausgewählten Krankheitsmodell beeinflusst sind. Da die Begriffe „Alkoholismus“ und „Sucht“ relativ unpräzise zu definieren waren, hat die WHO 1964 vorgeschlagen, die Begriffe Abhängigkeit und Missbrauch zu verwenden. Diese Trennung in Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit hat sich bewährt. Später wurde zwischen der Alkoholabhängigkeit und den alkoholbedingten Folgeschädigungen im körperlichen, psychischen und psycho-sozialen Bereich unterschieden. Neben der körperlichen Abhängigkeit, die durch das Auftreten von entsprechenden Entzugserscheinungen (psycho-vegetative Symptome, Toleranzentwicklung) gekennzeichnet ist, wird die psychische Abhängigkeit unterschieden. Nach einer älteren Definition der WHO wird unter psychischer Abhängigkeit das „unwiderstehliche Verlangen nach einer weiteren oder dauernden Einnahme der Substanz, um Lust zu erzeugen, oder Missbehagen zu vermeiden“ verstanden. Die neueren Klassifikationssysteme psychischer Störungen stellen eine Weiterentwicklung dar. Im Folgenden soll die Betrachtungsweise des Internationalen Klassifikationssystems psychischer Störungen (ICD 10) dargestellt werden. Die Abhängigkeitserkrankung wird im Kapitel „Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen“ (F 10 – F 19) beschrieben. Es gelten folgende Zuordnungen: F10 - Störung durch Alkohol F11 - Störung durch Opioide F12 - Störung durch Cannabioide F13 - Störungen durch Sedativa oder Hypnotika F14 - Störungen durch Kokain Kap it el I I I : Def in it ion , S ymptome und Folgen d er Ab hängigkeitserkran kung 29 F15 - Störungen durch sonstige Stimulantien, einschließlich Coffein F16 - Störungen durch Halluzinogene F17 - Störungen durch Tabak F18 - Störungen durch flüchtige Lösungsmittel F19 - Störungen durch multiplen Substanzgebrauch und Konsum sonstiger psychotroper Substanzen. Im ICD 10 werden außerdem sechs diagnostische Leitlinien verwandt: 1. Ein starker Wunsch oder eine Art Zwang, psychotrope Substanzen zu konsumieren. 2. Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Konsums. 3. Ein körperliches Entzugssyndrom (...) bei Beendigung oder Reduktion des Konsums, nachgewiesen durch die Substanz spezifischer Entzugssymptome oder durch die Aufnahme der gleichen oder einer nahverwandten Substanz, um die Entzugssymptome zu mildern oder zu vermeiden. 4. Nachweis einer Toleranz, um die ursprünglich durch niedrige Dosen erreichten Wirkungen der psychotropen Substanz hervorzurufen, werden zunehmend höhere Dosen erforderlich. 5. Fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügen oder Interessen zugunsten des Substanzkonsums, erhöhter Zeitaufwand, um die Substanz zu beschaffen, zu konsumieren oder sich von den Folgen zu erholen. 6. Anhaltender Substanzkonsum trotz Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen, wie z. B. Leberschädigung durch exzessives Trinken, depressive Verstimmung infolge starken Substanzkonsums oder drogenbedingte Verschlechterung kognitiver Funktionen. 7. Es sollte dabei festgestellt werden, dass der Konsument sich tatsächlich über Art und Ausmaß der schädlichen Folgen im Klaren war, oder dass zumindest davon auszugehen ist. Bei der Betrachtung der Abhängigkeitserkrankung sind auch die Folgeschäden von wichtiger Bedeutung. Die suchtmittelbedingten Folgeschädigungen zeigen sich im körperlichen, psychischen und psycho-sozialen Bereich. In der anschließenden Darstellung sollen beispielhaft für die Alkoholabhängigkeit die Folgeschäden aufgezeigt werden. Alkohol ist ein Zellgift, das jede Körperzelle schädigen kann. Aus diesem Grunde gibt es eine Vielzahl von somatischen Begleiterkrankungen, die bei der stationären Entwöhnungsbehandlung berücksichtigt werden sollten. Diese sind: • Internistische Folgeerkrankungen • Neurologische Folgeerkrankungen • Orthopädische Begleiterkrankungen • Psychiatrische Komorbidität. 30 Kap it el I I I : Def in it ion , Symptome und Folgen der Abh ängigkeitserkrankung Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept Durch die medizinische Behandlung können die somatischen Folgeerkrankungen gemildert oder geheilt werden. Die psychiatrische Komorbidität hat einen besonderen Stellenwert. Zum psychopathologischen Bild der Abhängigkeitserkrankung gehören z.B. mangelndes Selbstwertgefühl, mangelnde soziale Kompetenz, Ängste und depressive Verstimmungen. Im Rahmen einer sorgfältigen psychiatrischen Differentialdiagnostik nach der Entzugsbehandlung ist es notwendig, die psychiatrische Komorbidität festzustellen und in den Therapieplan mit einzubeziehen. Oft ist es nach dem langjährigen Krankheitsverlauf nicht mehr sicher festzustellen, ob zuerst die Abhängigkeitserkrankung bestanden hat und sich dann die psychische Erkrankung entwickelt hat oder umgekehrt. Häufig ist der Suchtmittelkonsum ein ineffektiver Selbstheilungsversuch der primär bestehenden psychiatrischen Störung. Auf jeden Fall ist es erforderlich, dass beide Störungsbilder (Abhängigkeitserkrankung, psychiatrische Erkrankung) im Rahmen der stationären psychotherapeutischen Entwöhnungsbehandlung Berücksichtigung finden. Dies geschieht in der Hellweg-Klinik Oerlinghausen in den Therapiegruppen „Sucht und Angst“ oder „Sucht und Depression“. Darüber hinaus findet sich eine Vielzahl psychosozialer Probleme im Rahmen der langjährigen Abhängigkeitsentwicklung. Diese zeigen sich vor allen Dingen in folgenden Bereichen: • Trennung oder instabile Partnersituation • Drohender Arbeitsplatzverlust oder Arbeitslosigkeit • Führerscheinverlust mit juristischen Komplikationen • andere juristische Komplikationen durch Gewaltdelikte oder Eigentumsdelikte • Schuldenproblematik • Drohender Verlust der Wohnung oder sogar Obdachlosigkeit • Soziale Isolation • Inadäquate Freizeitgestaltung • Fehlende Tagesstruktur Kap it el I I I : Def in it ion , S ymptome und Folgen d er Ab hängigkeitserkran kung 31 III. 1 Indikationsspektrum der Hellweg-Klinik Oerlinghausen Vor dem Hintergrund des Internationalen Klassifikationssystems psychischer Störungen (ICD 10) kann das Indikationsspektrum der Hellweg-Klinik Oerlinghausen folgendermaßen beschrieben werden. Zur stationären Entwöhnungsbehandlung aufgenommen werden können suchtkranke Männer, bei denen eine Abhängigkeit besteht von: • F 10 Störung durch Alkohol • F 12 Störung durch Cannabinoide • F 13 Störung durch Sedative und Hypnotika • F 17 Störung durch Tabak • F 19 Störung durch multiplen Substanzgebrauch. Eine relative Behandlungsindikation ergibt sich für Patienten mit einer Abhängigkeit von: • F 11 Störung durch Opioide • F 14 Störung durch Kokain • F 15 Störung durch sonstige Stimulantien • F 16 Störung durch Halluzinogene • F 18 Störung durch flüchtige Lösungsmittel. Wenn diese in Verbindung mit den zuvor genannten Suchtmitteln stehen, kann bei Unklarheiten in einem Vorgespräch die Aufnahmemöglichkeit überprüft werden. Patienten, die vor Jahren von illegalen Drogen abhängig gewesen sind und bei denen jetzt die Alkoholabhängigkeit im Vordergrund steht, können aufgenommen werden. Vor dem Hintergrund einer langjährigen Erfahrung mit komorbiden psychiatrischen Störungen können Patienten mit einer psychiatrischen Erkrankung, die sich in einem kompensierten Stadium befindet, aufgenommen werden. Bei psychotischen oder affektiven Störungen kann ein psychiatrisches Vorgespräch hilfreich sein. Die Hellweg-Klinik Oerlinghausen verfügt über Erfahrungen in der Behandlung folgender psychiatrischer Begleiterkrankungen: • F 20 Schizophrenie • F 25 Schizo-affektive Störung • F 31 Bipolare affektive Störung • F 34 Zyklothymie. 32 Kap it el I I I : Def in it ion , Symptome und Folgen der Abh ängigkeitserkrankung Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept Die von auswärtigen Fachärzten vorgenommene Psychopharmakotherapie wird in der Hellweg-Klinik Oerlinghausen fortgesetzt, kontinuierlich überwacht und ggf. verändert. Neue wissenschaftliche Untersuchungen belegen die hohe Komorbidität zwischen der Alkoholabhängigkeit und Angststörungen und depressiven Störungen. Wir verweisen hier auf die Forschungsergebnisse und wissenschaftliche Fachtagung der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DGSS). Diese Krankheitsbilder sind nach dem ICD 10: • F 32 Depressive Episode • F 33 Rezidivierende depressive Störung • F 40 Phobische Störung • F 41 Sonstige Angstreaktion • F 43 Reaktion auf schwere Belastungs- und Anpassungsstörung • F 45 Somatoforme Störung • F 48 Sonstige neurotische Störung • F 43.1 Posttraumatische Belastungsstörung. Zur Behandlung dieser psychiatrischen Krankheitsbilder hat die Hellweg-Klinik Oerlinghausen seit 1992 spezielle Therapiegruppen entwickelt und mit dem federführenden Leistungsträger, Deutsche Rentenversicherung Bund (vormals Bundesversicherungsanstalt für Angestellte Berlin) abgesprochen. In manchen Fällen entwickelt sich die Alkoholabhängigkeit vor dem Hintergrund einer Persönlichkeitsstörung und Verhaltensstörung, die als Mediatorvariable eine wichtige Bedeutung bei der Entstehung und Aufrechterhaltung der Abhängigkeitserkrankung hat. Unser Therapiekonzept berücksichtigt diese Auswirkungen, wenn entsprechende Persönlichkeitsanteile vorhanden sind. Die Funktionalität dieser Persönlichkeitsanteile wird bei der Diagnostik und Therapieplanung berücksichtigt: • F 60.3 Emotional instabile Persönlichkeitsstörung • F 60.4 Histrionische Persönlichkeitsstörung • F 60.5 Anankastische Persönlichkeitsstörung • F 60.6 Ängstliche Persönlichkeitsstörung • F 60.8 Sonstige näher bezeichnete Persönlichkeitsstörungen. Patienten mit einer hirnorganischen Leistungsstörung (F 0) können nur dann am Therapiekonzept der Hellweg-Klinik Oerlinghausen teilnehmen, wenn die kognitive Leistungsminderung nicht zu sehr ausgeprägt ist. Es erfolgt in diesen Fällen eine psychiatrische und testpsychologische Differentialdiagnostik auf der Aufnahmestation, um die Therapiefähigkeit zu überprüfen. Häufig handelt es sich um eine alkoholtoxisch bedingte hirnorganische Leistungsminderung, die sich unter Abstinenz bessert. Kap it el I I I : Def in it ion , S ymptome und Folgen d er Ab hängigkeitserkran kung 33 Aufgrund der Häufigkeit werden die internistischen Begleiterkrankungen besonders erfasst. Dies sind: • Lebererkrankungen • Bauchspeicheldrüsenerkrankungen mit Diabetes Mellitus • Erkrankungen des Magen-Darmtraktes • Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems. Im Rahmen der ärztlichen Sprechstunde und Visite werden ausführliche Gespräche geführt, um das Gesundheitsverhalten der Patienten zu verbessern. Darüber hinaus finden regelmäßige psychoedukative Informationsgruppen statt. Auf orthopädischem Fachgebiet werden häufig Beschwerden aus dem Bereich der degenerativen Erkrankungen des HWS- und LWS-Bereiches sowie der großen Gelenke im Schultergürtelbereich und der unteren Extremität berichtet. Häufig kommen die Patienten mit Spätfolgen oder Restsymptomen nach traumatischer Verursachung. Die daraus resultierenden chronischen Schmerzsyndrome werden ärztlich, psychotherapeutisch und physikalisch behandelt. Dazu wird in der Hellweg-Klinik Oerlinghausen ein physikalisches Behandlungsprogramm angeboten und mehrmals wöchentlich kommt ein Krankengymnast in die Klinik, um mit den Patienten aktive Übungsprogramme zu absolvieren. Die meisten somatischen Erkrankungen werden von den Fachärzten der Klinik, vom Pflegedienst und den Physiotherapeuten behandelt. Darüber hinaus gehende Erkrankungen werden niedergelassenen Fachärzten vorgestellt. Aufgrund der Gender-Thematik widmen wir uns aktiv den Erkrankungen des männlichen Urogenitalsystems (Prostatabeschwerden, Potenzbeschwerden), die durch die niedergelassenen Urologen mitbehandelt werden. Mit den umliegenden somatischen Krankenhäusern in Detmold und Bielefeld bestehen vertrauensvolle Kooperationsbeziehungen, die durch die jahrelange Zusammenarbeit entstanden sind. Die Hellweg-Klinik Oerlinghausen verfügt im Rahmen ihres Qualitätsmanagementsystems über ein Notfallmanagement. Der nächste Rettungswagen des MalteserHilfsdienstes ist nur ein Kilometer entfernt von der Klinik stationiert. Kontraindikationen ergeben sich für folgende akute Erkrankungen: • Akute somatische Erkrankungen, die eine stationäre Behandlung erforderlich machen. 34 Kap it el I I I : Def in it ion , Symptome und Folgen der Abh ängigkeitserkrankung Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept • Akute oder dekompensierte psychiatrische Erkrankungen, die eine stationäre Krankenhausbehandlung erforderlich machen. • Akute Selbst- oder Fremdgefährdung • Ausgeprägte hirnorganische Leistungsminderung • Körperliche Handicaps. Rollstuhlfahrer können z.Zt. wegen der baulichen Gegebenheiten nicht aufgenommen werden. Bevor nun das Behandlungskonzept ausführlich beschrieben wird, soll erläutert werden welche Vorteile der regionale Behandlungsverbund für die Behandlung abhängigkeitserkrankter Menschen hat. Der Rückfall ist ein Symptom der Abhängigkeitserkrankung und kann behandelt werden Dr. med. Thomas Redecker, Ärztlicher Direktor der Hellweg-Klinik Oerlinghausen Kap it el I I I : Def in it ion , S ymptome und Folgen d er Ab hängigkeitserkran kung 35 36 Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept IV. Therapie der Abhängigkeitserkrankung im Behandlungsverbund Behandlungsverbund AllgemeinKrankenhaus SelbsthilfeGruppe Sucht-Akut qualifizierte Entgiftung Ambulanz Hausarzt Beratungsstelle Ambulante Therapie Betreute Wohngemeinschaft SHG Tagesklinik Nachtklinik Medizinische Rehabilitation Der Königsweg (nach Wienberg), bestehend aus Suchtberatungsstelle, Fachklinik, Selbsthilfegruppe, ist ersetzt worden durch den regionalen Behandlungsverbund. Dieser besteht aus den ambulanten Beratungs- und Behandlungsstellen, den teilstationären und stationären Einrichtungen zur qualifizierten Entzugsbehandlung, mehreren regionalen Fachkliniken zur Entwöhnungsbehandlung und den regionalen Adaptionseinrichtungen. Darüber hinaus hat der Behandlungsverbund intensiven Kontakt zu den Hausärzten und Selbsthilfegruppen. Kap it el I V: Th er ap ie d er Abh ängigkeitserkrankung im Beh andlungsverbund 37 Die Grundidee des Behandlungsverbundes ist es, eine passgenaue und angemessene Behandlungsform für den Patienten zu finden, damit die Bausteine der ambulanten, ganztägig ambulanten (teilstationär) und stationären Entwöhnungsbehandlung optimal und kostengünstig miteinander kombiniert werden können. Dazu ist eine gute Kenntnis und ein enger Kontakt zwischen den therapeutischen Mitarbeitern des Behandlungsverbundes erforderlich, um einen reibungsarmen Fortgang der Therapie zu garantieren. Die Zusammenarbeit der Einrichtungen des regionalen Behandlungsverbundes ist in einem vom Rentenversicherungsträger genehmigten Therapiekonzept geregelt. In diesem Therapiekonzept wird insbesondere die Schnittstellenproblematik bei Wechsel von einer Behandlungsform in die andere geregelt, um eine qualifizierte Fortführung der Entwöhnungsbehandlung zu ermöglichen. Der Informationsfluss wird garantiert durch: • persönliche Übergabegespräche • regelmäßige Telefonate • zeitnahe Therapieberichte über jeden Therapiebaustein • regelmäßige Kooperationstreffen • regionale Fachtagungen. Derzeit ist die Hellweg-Klinik Oerlinghausen nach Rücksprache mit den Leistungsträgern in folgende regionale Behandlungsverbünde integriert: • Behandlungsverbund Paderborn-Höxter • Behandlungsverbund Bielefeld-Gütersloh • Behandlungsverbund östliches Ostwestfalen (im Aufbau). Darüber hinaus findet im Rahmen des Qualitätsmanagementprogramms ein qualifiziertes Aufnahmemanagement und Entlassmanagement statt. Ein wichtiger Bestandteil darin ist der regelmäßige und verbindliche Kontakt zu dem Zuweiser, um diesen über Aufnahme, Therapieverlauf und Entlassungsabsprachen zeitnah zu informieren. Die oben beschriebenen Maßnahmen garantieren unserer Ansicht nach, dass die theoretisch geforderten Bedingungen des regionalen Behandlungsverbundes in die „Tat“ umgesetzt werden. Das Therapiekonzept der Hellweg-Klinik Oerlinghausen ist der stationäre Therapiebaustein im regionalen Behandlungsverbund der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter. 38 Kap it el I V: Th er ap ie d er Abh ängigkeitserkrankung im Behandlungsverbund Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept Darüber hinaus gibt es in der Klinik spezielle Indikationsgruppen, die für Patienten aus dem überregionalen Bereich interessant sind. Vor dem Hintergrund der regionalen Behandlungsverbünde haben sich Kombinationstherapien aus ambulanter, ganztägig ambulanter und stationärer Entwöhnungsbehandlung entwickelt. Im Rahmen der regelmäßigen Fallbesprechungen ist es verbindlicher Bestandteil der Therapiesteuerung, dass nach 8 bzw. 12 Wochen der stationären Entwöhnungsbehandlung festgelegt wird, ob nicht eine Umwandlung in eine ganztägig ambulante oder ambulante Behandlungsform möglich ist. Neben den Therapien im regionalen Behandlungsverbund hat sich in Deutschland eine besondere Form der Kombitherapie entwickelt, die im Folgenden dargestellt wird: IV. 2 Kombinationsmodelle der Deutschen Rentenversicherung Bund In der Hellweg-Klinik Oerlinghausen können nach Vorgabe durch den federführenden Leistungsträger, Deutsche Rentenversicherung Bund, folgende Kombinationstherapiemodelle umgesetzt werden: • 8 Wochen stationäre Rehabilitationsphase mit anschließender ambulanter Rehabilitation (40+4 Therapieeinheiten) • Ambulante Rehabilitation (40+4 Therapieeinheiten), bei Krisensituation Unterbrechung der voll stationären Rehabilitation von maximal 4 Wochen, danach Fortführung der ambulanten Rehabilitation. Diese Kombinationsmodelle werden mit allen von der Deutschen Rentenversicherung Bund anerkannten Suchtberatungsstellen durchgeführt, wenn eine entsprechende Indikation vorliegt, der Patient dieser Umwandlung zustimmt und die weiter betreuende Beratungsstelle ebenfalls aktiv mit in den Entscheidungsprozess einbezogen ist. Über den stationären Therapiebaustein wird ein vorläufiger Entlassungsbericht erstellt. Durch verbindliche Übergabegespräche wird sichergestellt, dass die in der Hellweg-Klinik Oerlinghausen begonnenen Therapieprozesse in der anerkannten Suchtberatungsstelle fortgesetzt werden können und dass die Schnittstellenproblematik verringert wird, so dass ein fast nahtloser Übergang der einzelnen Therapiebausteine erreicht werden kann. Weitere Voraussetzung für die Kombinationstherapien ist, dass die Suchtberatungsstelle innerhalb von 45 Minuten mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreicht werden kann. Der Leistungsträger wird vor dem Wechsel der Behandlungsform über die geplanten Maßnahmen informiert und um Zustimmung gebeten. Kap it el I V: Th er ap ie d er Abh ängigkeitserkrankung im Beh andlungsverbund 39 Im Anschluss an eine 16-wöchige Entwöhnungsbehandlung wird eine ambulante Nachsorge im Umfang von 20+2 Therapieeinheiten bei einer anerkannten Suchtberatungsstelle beantragt, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln in 45 Minuten erreicht werden kann. In Einzelfällen kann nach Rücksprache mit dem Leistungsträger auch ein mehrfacher Wechsel zwischen den ambulanten und stationären Therapiebausteinen durchgeführt werden. Über jede Therapiephase wird ein eigenständiger Therapiebericht zeitnah erstellt. Das Ev. Johanneswerk plant eine ganztägig ambulante Rehabilitation in der Stadt Bielefeld für suchtkranke Männer und Frauen. Ein entsprechendes Therapiekonzept ist bei der Deutschen Rentenversicherung Bund vorgelegt und in den Grundzügen genehmigt worden. Ein Beginn der ganztägig ambulanten Rehabilitation ist für den Herbst 2009 vorgesehen. Der Name lautet: Hellweg-Klinik Bielefeld – Ganztägig ambulante Rehabilitation suchtkranker Menschen. Sucht ist ein bio-psycho-sozial-spirituelles Störungsbild Dr. med. Thomas Redecker, Ärztlicher Direktor der Hellweg-Klinik Oerlinghausen 40 Kap it el I V: Th er ap ie d er Abh ängigkeitserkrankung im Behandlungsverbund Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept V. Therapiekonzept der Hellweg-Klinik Oerlinghausen V. 1 Organisationsstrukturen Die Hellweg-Klinik Oerlinghausen ist eine Fachklinik für Psychotherapie und Suchtmedizin und stellt 120 Therapieplätze für suchtkranke Männer zur Verfügung. Nach dem Indikationsangebot besteht eine Behandlungsmöglichkeit für alkohol- und medikamentenabhängige Männer. Polytoxikomane Patienten (Mehrfachabhängigkeit) können stationär behandelt werden, wenn die Abhängigkeit von illegalen Drogen nicht im Vordergrund steht. Bei Zweifel kann die Behandlungsfähigkeit im Rahmen eines Vorgespräches geklärt werden. Bei Gründung der Hellweg-Klinik Oerlinghausen im Jahre 1966 ergab es sich, in der Einrichtung ausschließlich suchtkranke Männer zu behandeln. Die Argumentationsliste für oder gegen diese Entscheidung ist lang und wird in der Fachwelt immer wieder kontrovers diskutiert. Vor dem Hintergrund der aktuellen Gender-Diskussion haben wir die geschlechtsspezifische Ausrichtung des Therapiekonzeptes verbessert und die Auswirkungen des biologischen und soziokulturellen Geschlechtes in dem Therapieangebot berücksichtigt. Durch die Berücksichtigung des Gender-Aspektes können wir Männern mit bestimmten Problemen und Schwierigkeiten besonders gut helfen. Das Thema der Männerrolle, Sexualität und Aggression kann in bestimmten Indikationsgruppen „unter Männern“ besprochen werden. Wir sind uns bewusst, dass für bestimmte Patienten die getrennt geschlechtliche stationäre Behandlung nicht indiziert ist. Die entsprechende Indikation wird durch den zuweisenden therapeutischen Mitarbeiter und den Leistungsträger dann entsprechend für andere Fachkliniken gestellt. Die 120 Therapieplätze zuzüglich der 5 teilstationären Therapieplätze verteilen sich auf die Aufnahmestation und 3 therapeutische Abteilungen. Die Patienten sind un- Kap it el V: P sych ot h er ap ie und Suchtmedizin 41 tergebracht in zwei Häuserkomplexen (Haus Hellweg und Haus Waldhof). Im Haus Hellweg können 87 Patienten stationär behandelt werden. Hier befinden sich die Aufnahmestation sowie die Abteilungen I und II. Im Haus Waldhof können 33 Patienten stationär betreut werden. Hier befindet sich die Abteilung III. Die Aufnahmestation steht abteilungsübergreifend allen Patienten zur Verfügung. Jeder Patient wird hier aufgenommen und ärztlich und pflegerisch versorgt. Während der Behandlungszeit auf der Aufnahmestation finden die ärztlichen Untersuchungen und die psychiatrische Differentialdiagnostik statt. Der Therapieplan der Aufnahmestation umfasst weiterhin: Einzelgespräche, Gruppengespräche, Abendrunde, Einteilung in die Arbeitstherapie, Sozialberatung, Verwaltungsinformationen. Die Verweildauer beträgt im Durchschnitt 3-5 Tage. Suchtmittelrückfällige Patienten werden ebenfalls zur „Überwachung“ auf die Aufnahmestation verlegt, wenn eine Fortführung der Behandlung in der Hellweg-Klinik Oerlinghausen medizinisch zu verantworten ist. Das therapeutische Team der Abteilungen setzt sich zusammen aus Mitarbeitern aus dem Bereich: • Medizinischer Dienst • Bezugstherapeuten (Einzel- und Gruppentherapeuten) • Ergotherapeuten • Sporttherapeuten • Bei Bedarf Pflegedienst. Geleitet wird die Abteilung von einem ärztlichen und therapeutischen Abteilungsleiter. Die Anzahl in einer Therapiegruppe beträgt zwischen 10 und 12 Patienten. Therapieschwerpunkte der Abt. I sind: • Sucht und Trauma • Sucht und Depression • Sucht und Angst. Therapieschwerpunkte der Abt. II sind: • Junge erwachsene Männer • Therapieerfahrene Patienten • Sucht und Angst / Depression gemischt. Therapieschwerpunkte der Abt. III sind: • Sucht und Depression • Altersgemischte Behandlungsgruppe. 42 Kap it el V: P s ych ot h er apie und Suchtmedizin Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept Ganztägig ambulante Entlassform (ganztägig ambulante Beendigung) Die ganztägig ambulante Entlassform wird in allen 3 Abteilungen durchgeführt, wenn der Patient in einem Zeitraum von 30-45 Minuten von seinem Wohnort die Klinik mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen kann. In Ausnahmefällen kann der Patient nach vorheriger Genehmigung durch den Leistungsträger und nach ärztlicher Einschätzung seinen Privat-Pkw benutzen. Während dieser Entlassform nimmt der Patient komplett am Therapieprogramm teil und übernachtet werktags und am Wochenende zu Hause. Damit hat er die „üblichen Belastungen“ eines Arbeitstages plus Anfahrtsweg. Diese Beendigungsform wird dann gewählt, wenn es für den Patienten sinnvoll erscheint, die im stationären Bereich erlernten Problemlösestrategien intensiv im häuslichen Umfeld zu erproben und eine ambulante Behandlungsform noch nicht ausreichend ist. Die ganztägig ambulante Entlassform setzt eine stabile psychosoziale Situation voraus, die ausführlich mit den Angehörigen vorbesprochen wird. Folgende Rahmenbedingungen werden entsprechend der Vorgaben der Deutschen Rentenversicherung Bund eingehalten: • Der Patient gehört nicht zum Personenkreis nach § 35 BtMG. • Die ganztägig ambulante Entlassform findet in den letzten 4 Wochen der stationären Entwöhnungsbehandlung statt. • Die Gesamtverantwortung für die medizinische Rehabilitation in stationärer und ganztägig ambulanter Form liegt beim Ltd. Arzt der Einrichtung. • Durch die ärztlichen und therapeutischen Mitarbeiter der Hellweg-Klinik Oerlinghausen werden die körperlichen, sozialen und kognitiven Voraussetzungen zur Durchführung der medizinischen Rehabilitation in ganztägig ambulanter Form überprüft und die Abstinenz täglich durch Kontrolle der Atemluft überprüft. • Der Versicherte hat einen festen Wohnsitz/eine eigene Wohnung und die Angehörigen sind in diesen Prozess mit integriert. • Die Hellweg-Klinik Oerlinghausen kann innerhalb von 45 Minuten mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreicht werden. In Einzelfällen kann der Patient nach Zustimmung durch den Leistungsträger seinen Pkw benutzen, wenn entsprechend eine Zustimmung durch die Klinikärzte vorliegt. • Der Patient bleibt integriert in seiner Therapiegruppe und nimmt an allen therapeutischen Veranstaltungen verbindlich teil. Die ganztägig ambulante Entlassform wird in der Hellweg-Klinik Oerlinghausen seit mehr als 10 Jahren erfolgreich durchgeführt. Derzeit behält der Patient „sein“ Zimmer, so dass er entsprechende Möglichkeiten zum Ausruhen, zum Umkleiden und zur Körperpflege zur Verfügung hat. Nach unseren Erfahrungen hat sich diese Entlassform bewährt, wenn die o.g. Bedingungen erfüllt sind und die Patienten können Kap it el V: P sych ot h er ap ie und Suchtmedizin 43 die Erfahrungen dieses therapeutischen Zwischenschrittes nutzen, um dann anschließend im ambulanten Bereich die erzielte körperliche und seelische Stabilität zu erhalten. V. 2 Therapieziele Der Erhalt und die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit ist der gesetzliche Auftrag der medizinischen Rehabilitation. Die Teilhabe am Erwerbsleben ist ein wesentlicher Bestandteil des menschlichen Lebens und hat auch nach dem ICF einen hohen Stellenwert. Das menschliche Leben ist gekennzeichnet durch die Sinnfrage und Sinnsuche, so dass aus diakonischer Sicht die Abhängigkeitserkrankung eine Ausdrucksform der Sinnsuche darstellt. Dieser Aspekt darf bei der medizinischen Rehabilitation berücksichtigt werden und stellt keinen Widerspruch zum gesetzlichen Auftrag dar. Im Rahmen der evidenz-basierten Leitliniendiskussion ist für den Bereich der medizinischen Rehabilitation der Begriff Postakut-Behandlung definiert worden. Er beschreibt die Prozesse der Entwöhnungsbehandlung. Ziel der Postakut-Behandlung ist die Vermeidung oder Minderung der aus den alkoholbezogenen Störungen resultierenden Behinderungen (im Sinne der internationalen Klassifikation of Functioning, Disability und Health der WHO, ICF). Solche Behinderungen umfassen durch die Suchterkrankung bedingte Schädigungen der Körperfunktionen bzw. –strukturen sowie Beeinträchtigung der Aktivitäten und der Partizipation im Kontext Umwelt- und personenbezogener Faktoren. Postakut-Behandlungen zielen demnach auf den Erhalt, die Verbesserung und die Wiederherstellung der Funktions- und Leistungsfähigkeit des chronisch kranken oder behinderten Menschen in Alltag und Beruf. Danach sind behandlungsleitende Ziele: • Sicherung von Selbstbestimmung • Gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft • Wiederherstellung von Arbeits- und Erwerbsfähigkeit. Ziele der Postakut-Behandlungen sind nach den evidenz-basierten Leitlinien in der Suchtmedizin: • Erhaltung oder Wiederherstellung der Teilhabe am Erwerbsleben 44 Kap it el V: P s ych ot h er apie und S uchtmedizin Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept • • • • Erreichen und Aufrechterhaltung der Suchtmittelabstinenz Besserung komorbider psychiatrischer Störungen Besserung somatischer Begleiterkrankung Beseitigung, Reduktion oder Kompensation der somatischen, psychischen und psychosozialen Folgen. Aus Sicht der Sucht-Selbsthilfe wird eine zufriedene Abstinenz erwartet. Prognostisch günstige Faktoren für eine zufriedene Abstinenz sind die Teilhabe am Erwerbsleben, das Vorhandensein von Wohnraum und eine stabile Partnerschaft bei wirtschaftlicher Absicherung. Die allgemeinen übergeordneten Therapieziele können in Unterpunkte differenziert werden. Aus suchtmedizinischer Sicht ist ein wesentliches Therapieziel die Übernahme der Eigenverantwortung und Eigenkontrolle, nachdem sich der Patient aus dem Teufelskreis der Abhängigkeit befreien konnte. Im Verlauf der Suchterkrankung hat der abhängigkeitserkrankte Mensch diese Eigenkontrolle teilweise verloren. Durch die therapeutischen Maßnahmen und durch die Einhaltung der Hausordnung kann er die Eigenkontrolle und Eigenverantwortung im Rahmen der Abstinenz wiedererlangen. Das Therapiekonzept und die Hausordnung sind so aufgebaut, dass ein schrittweiser Abbau der therapeutischen Fremdkontrolle zu Gunsten der Übernahme von Eigenkontrolle und Eigenverantwortung möglich wird. Dazu dienen die Ausgangsregelung und weitere therapeutische Regeln. Um die übergeordneten Therapieziele zu erreichen, sind eine Reihe von individuellen Therapiezielen erforderlich, die gemeinsam mit dem Patienten aus dem komplexen Störungsbild abgeleitet werden können. Die Anzahl und das Ausmaß der individuellen Therapieziele sind im Wesentlichen abhängig von der Dauer und Ausprägung der Abhängigkeitserkrankung und den damit verbundenen Folgeschädigungen. Bei der Festlegung der Therapieziele sind nicht nur die Schwächen und Defizite der Patienten interessant, sondern auch dessen Fähigkeiten und Stärken. Diese Ressourcen können für das Erreichen der Therapieziele konstruktiv genutzt werden. Nach mehrwöchiger Abstinenz können unsere Patienten die Erfahrung machen, dass es ihnen gelingt, alte Fähigkeiten und Stärken wiederzuentdecken. Dieses führt im Sinne einer positiven Verstärkung zu einem motivationsfördernden Therapieprozess mit Verbesserung der Selbstkompetenz und der Selbstwirksamkeitserwartung. Wir legen unserem Therapiekonzept diese ressourcenorientierte Sichtweise zugrunde und verlassen damit das defizit-orientierte Paradigma. Kap it el V: P sych ot h er ap ie und Suchtmedizin 45 Die folgenden Therapieziele sind unserer Ansicht nach erforderlich, um die Suchtmittelabstinenz zu erreichen und zu stabilisieren. Diese ist wiederum eine wichtige Voraussetzung zur Wiederherstellung und zum Erhalt der Erwerbsfähigkeit. Während des individuellen Therapieprozesses werden mit dem Patienten gemeinsam diese Therapieziele festgelegt und die dazu notwendigen Therapieinterventionen geplant und umgesetzt. Im Rahmen der Therapiesteuerung wird dann in den Fallbesprechungen und therapeutischen Besprechungen der Abteilung dieser Prozess begleitet, überwacht und bei Bedarf korrigiert. Im Nachfolgenden ist die Aufzählung und Kategorisierung der häufigsten Therapieziele im Verlauf der stationären medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter dargestellt: 1. Suchtmedizinische Therapieziele: • Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit • Verringerung körperlicher Folgeerkrankungen, wie z.B. Leber-Erkrankungen, Polyneuropathie, • Aufbau einer gesundheitsfördernden Lebensweise bezüglich Essverhalten, Gesundheitspflege, Konsum anderer Suchtstoffe (Nikotin) • Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen • Nikotinentwöhnung • Mitbehandlung der psychiatrischen Komorbidität 2. Therapieziele im psychotherapeutischen Bereich: • Behandlung einer gleichzeitig bestehenden psychischen Komorbidität • Mitbehandlung der Auswirkung gleichzeitig bestehender Persönlichkeitsstörungen • Effektives Rückfallmanagement • Verbesserung der Wahrnehmung von Gefühlen • Adäquater Umgang mit Enttäuschungen und Rückschlägen • Wiederentdeckung von psychischen Stärken und Fähigkeiten • Verbesserung der sozialen Durchsetzungsfähigkeit • Wiederherstellung und Aufbau eines adäquaten Selbstwertgefühles • Erprobung der erreichten Problemlösestrategien im realen Umfeld • Entdeckung und Abbau dysfunktionaler kognitiver Oberpläne. 3. Therapieziele im psycho-sozialen Bereich: • Maßnahmen zur Erhaltung bzw. Wiedererlangung eines Arbeitsplatzes • Unterstützung zur Bewältigung juristischer Komplikationen (Strafprozesse, Verkehrsdelikte) • Verbesserung der Kommunikation mit Sozialpartnern (Ehepartner, Kinder, Vorgesetzte) • Schuldenregulierung • Verbesserter adäquater Umgang mit Ämtern, Sozialamt, Agentur für Arbeit 46 Kap it el V: P s ych ot h er apie und S uchtmedizin Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept • • Adäquates Durchsetzen eigener Interessen in der sozialen Gruppe Übernahme von Verantwortung für andere in der Therapiegruppe. 4. Therapieziele im arbeitstherapeutischen Bereich: • Verbesserung neuro-psychologischer Funktionen, z.B. Aufmerksamkeit • Einübung und abgestufte Belastung zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit • Umgang mit Misserfolgen • Zusammenarbeit mit anderen „Kollegen“ • Angemessener Umgang mit „Kollegen“ und „Vorgesetzten“ • Verbesserung von Ausdauer, Durchhaltevermögen und Flexibilität • Verbesserung berufsbezogener Fertigkeiten • Berufsorientierende Maßnahmen durch interne und externe Belastungserprobung 5. Therapieziele im Bereich der Kreativtherapie und Freizeitgestaltung: • Aufbau und Wiederentdeckung kreativer Fähigkeiten • Bearbeitung dysfunktionaler emotionaler Prozesse zur Verbesserung der Impulskontrolle und Frustrationstoleranz • Wiederentdeckung von Freizeitaktivitäten • Übernahme von Verantwortung im Freizeitbereich. 6. • • • • • • Therapieziele im Bereich der Körpertherapie: Verbesserung der Entspannungsfähigkeit Verbesserung der körperlichen Belastungsfähigkeit Angemessenes sportliches Verhalten Verbesserung der körperlichen Fitness Verbesserung des Ernährungsverhaltens Motivation zur Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen. 7. Therapieziele im Bereich der diakonischen Begleitung: • Wiederentdeckung von Sinn- und Werteorientierung • Nutzung ethischer Prinzipien zur Stabilisierung der Abstinenz. Im Rahmen des hypothesengeleiteten, diagnostischen Prozesses erarbeitet der Bezugstherapeut mit seinen Patienten die zur Bewältigung seiner Abhängigkeitserkrankung erforderlichen Therapieziele. Dann legt er gemeinsam mit dem Patienten fest, welche therapeutischen Maßnahmen (Therapiebausteine) zur Erreichung der festgelegten Therapieziele erfolgversprechend sind. Im Rahmen dieses diagnostisch-therapeutischen Prozesses werden Therapiefortschritte festgestellt und der o.g. Prozess modifiziert. Aufgrund der Erkenntnisse des regionalen Behandlungsverbundes ist es wichtig zu erwähnen, dass nicht alle Therapieziele im stationären Rahmen vollständig erreicht werden können. In vielen Fällen ist die Fortführung des therapeutischen Prozesses Kap it el V: P sych ot h er ap ie und Suchtmedizin 47 im ambulanten Rahmen erforderlich, um die in der Klinik erreichten Problemlösestrategien im Alltag zu stabilisieren. Das Angebot der Kombitherapien ist dafür ein geeignetes Instrument, wenn der begonnene Therapieprozess reibungslos im ambulanten Setting fortgesetzt werden kann. Durch die verbindlichen Absprachen des regionalen Behandlungsverbundes sind die bekannten Schnittstellen und Transferprobleme deutlich verringert worden. Sucht ist eine chronisch rezidivierende Erkrankung, die ein multiprofessionelles Behandlungsteam erfordert Dr. med. Thomas Redecker, Ärztlicher Direktor der Hellweg-Klinik Oerlinghausen 48 Kap it el V: P s ych ot h er apie und S uchtmedizin Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept V. 3 Therapiebausteine In der Hellweg-Klinik Oerlinghausen wird dem Patienten ein integratives Therapieangebot gemacht. Dazu werden die in der modernen stationären Suchtkrankenarbeit angewandten Therapiebausteine angeboten, die sich im Rahmen der evidenzbasierten Suchtmedizin bewährt haben. Sie werden ergänzt durch praxisbewährte Therapieangebote. Die vier Säulen der Therapie sind: • Suchtmedizinische Behandlung • Psycho-Soziotherapie • Handlungsorientierte Therapie • Diakonische Begleitung. Die vier Säulen der Therapie repräsentieren ein weitgefächertes Therapieangebot zur Behandlung der körperlichen, psychischen und psychosozialen Symptome und Folgen der Abhängigkeitserkrankung. Diakonisch Handlungsorientiert Psycho-Sozial Medizinisch Therapieangebote Im Folgenden werden die einzelnen Therapiebausteine, die zur Erreichung der festgelegten Therapieziele eingesetzt werden, beschrieben. Häufig werden mehrere Therapieinterventionen zeitgleich angeboten, um die Therapieziele zu erreichen. Die Umsetzung und Steuerung erfolgt durch den Bezugs- Kap it el V: P sych ot h er ap ie und Suchtmedizin 49 therapeuten, der Unterstützung durch das therapeutische Team erhält. Das Bezugstherapeutensystem ist die Basis unseres Therapieangebotes. Die suchtmedizinische Behandlung dient der Wiederherstellung und Erhaltung der körperlichen Gesundheit, die eine wesentliche Voraussetzung für ein suchtmittelfreies Leben und für die Teilhabe am Erwerbsleben ist. Im Rahmen der Psycho-Soziotherapie werden sowohl Schwierigkeiten in der Person des Suchtkranken als auch die Schwierigkeiten des Patienten in der Interaktion mit anderen Menschen bearbeitet. Dabei spielen Prozesse aus der Vergangenheit (biographische Bearbeitung) ebenso eine Rolle wie auch der Aufbau neuer alternativer Verhaltensweisen, um so Problemsituationen in Zukunft suchtmittelfrei bewältigen zu können. Ziel ist es, inneres und von außen zu beobachtendes Erleben und Verhalten zu verändern. Dahinter steht die Absicht, dysfunktionale Gefühle, Gedanken, Erwartungen und Reaktionen zu verändern und fehlende Bewältigungs- und Regulierungskompetenzen aufzubauen. In diesem Rahmen findet auch die Einbeziehung der Angehörigen statt. Die handlungsorientierte Therapie umfasst eine Vielzahl von praxisorientierten Behandlungsangeboten, die den Patienten bei der Wiederherstellung und Erhaltung seiner Erwerbsfähigkeit unterstützen. Dabei helfen ergo- und kreativtherapeutische Angebote sowie Maßnahmen der Körpertherapie. Zusätzlich erlernt der Patient die Möglichkeiten des Freizeitverhaltens und der konstruktiven Tagesstrukturierung. Die diakonische Begleitung macht sichtbar, dass das menschliche Leben in einem größeren Sinnzusammenhang steht. Die Auseinandersetzung mit der Werteorientierung und die Diskussion von Sinnfragen ist für uns als Einrichtung der Diakonie ein wesentlicher Bestandteil des menschlichen Daseins und wird den Patienten angeboten, um ihre Suchterkrankung spirituell zu verstehen. Die vier Säulen des Therapiekonzeptes der HellwegKlinik Oerlinghausen basieren in der Hauptsache auf den modernen Erkenntnissen der evidenzbasierten Suchtmedizin. Im Rahmen der im Qualitätsmanagement festgelegten Therapiesteuerung wird die Integration dieser Therapiemaßnahmen zur Erreichung der festgelegten Therapieziele optimiert und regelmäßig supervidiert. 50 Kap it el V: P s ych ot h er apie und S uchtmedizin Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept V. 3.1 Suchtmedizinische Behandlung Ziel der suchtmedizinischen Behandlung ist es, die körperliche und psychische Gesundheit zu erhalten oder wiederherzustellen. Es arbeiten in der Klinik Ärzte mit entsprechender Facharztausbildung aus den Bereichen Psychiatrie und Psychotherapie und Allgemeinmedizin / Innere Medizin. In Zusammenarbeit mit dem Pflegedienst werden ärztliche Behandlungen auf psychiatrischem, internistischem und neurologischem Fachgebiet durchgeführt. Dazu dienen die körperliche Untersuchung, das ärztliche Gespräch und die Verordnung entsprechender Medikamente und physikalischer Maßnahmen. Erforderliche diagnostische Zusatzuntersuchungen werden in kooperierenden Arztpraxen und Krankenhäusern durchgeführt. Andere akut oder chronische Erkrankungen werden kooperierenden Fachärzten vorgestellt, die seit vielen Jahren mit der Hellweg-Klinik Oerlinghausen zusammenarbeiten. Deren Therapievorschläge werden nach Absprache mit den Ärzten der Klinik umgesetzt. Entsprechend den Vorschriften des Qualitätsmanagementsystems wird jeder Patient am Aufnahmetag allgemein-körperlich, internistisch, neurologisch und psychiatrisch untersucht. Diese Aufnahmeuntersuchung wird ergänzt durch entsprechende Laboruntersuchungen und durch ein Elektrokardiogramm. Die erforderlichen Medikamente werden durch die Ärzte der Klinik verordnet und durch den Pflegedienst ausgegeben. Erforderliche Zwischenuntersuchungen und Abschlussuntersuchungen finden regelmäßig statt. Täglich, außer sonntags, werden ärztliche Sprechstunden angeboten, die der Patient nach Anmeldung über den Pflegedienst aufsuchen kann. Die Hellweg-Klinik Oerlinghausen verfügt über ein erprobtes Notfallmanagement. Der ärztliche Bereitschaftsdienst findet in Form von Rufdiensten statt. Einbezogen in den Rufdienst sind niedergelassene Fachärzte, die seit Jahren mit der Einrichtung kooperieren. Innerhalb von 30 Minuten sind die Ärzte in der Klinik. Eine notfallmäßige medizinische Versorgung kann durch die Notärzte des zuständigen Rettungsdienstes erfolgen. Der RTW des Malteser Hilfsdienstes ist ein Kilometer entfernt von der Klinik stationiert. Zur Unterstützung der medizinischen Behandlung ist ein Physiotherapeut beschäftigt, der therapeutische Angebote zur Linderung der Beschwerden des Stütz- und Bewegungsapparates macht. Dazu kommen klassische Massagen, Fangopackungen, Entspannungs- und Beruhigungsbäder. Mehrmals wöchentlich ist auch ein Krankengymnast im Hause, der die entsprechenden ärztlichen Verordnungen aktiv mit den Patienten umsetzt. Im Rahmen der ärztlichen Gespräche während und außerhalb der Sprechstunden bzw. im Verlauf der Visiten wird die Verbesserung des Gesundheitsverhaltens vorgenommen. Schwerpunkte der ärztlichen Interventionen sind das Ernährungs- und Bewegungsverhalten sowie der Umgang mit anderen Suchtstoffen, vor allem Nikotin. Die Bearbeitung des Essverhaltens wird unterstützt durch die Mitarbeit der Kap it el V: P sych ot h er ap ie und Suchtmedizin 51 Diätassistentin, die ebenfalls einzel- und gruppentherapeutische Angebote macht. Im Bereich der Lehrküche lernen Patienten die Zubereitung gesunder Speisen. Bei entsprechender medizinischer Indikation erfolgt die Verordnung einer entsprechenden Diät. Durch die Mitarbeiter des Pflegedienstes erhalten die Patienten weitere Gesundheitsinformationen in Bezug auf Ernährung, Blutdruck, Körperbewegung, Suchtmittelkonsum und andere Bereiche des gesunden Verhaltens. Bei entsprechender Indikation wird durch ausgebildete Mitarbeiter eine Ohr-Akupunktur bei auftretenden Entzugssymptomen oder Suchtdruck durchgeführt. Im medizinischen Unterricht (Psycho-Edukation) erhalten die Patienten weitere wichtige Informationen zum allgemeinen Gesundheitsverhalten. Die Mitarbeiter der Hellweg-Klinik Oerlinghausen gehen davon aus, dass Rauchen die Gesundheit in erheblichem Maße schädigt. Aus diesem Grund ist das Rauchen nur an wenigen Orten in der Klinik erlaubt. Innerhalb des medizinischen Unterrichtes finden ausführliche Informationsveranstaltungen über die Folgeschädigungen des Rauchens statt. Die Ärzte unterstützen das Nichtrauchertraining durch Verordnung von Anticraving-Maßnahmen und durch die Ohr-Akupunktur. Die Hellweg-Klinik Oerlinghausen nimmt am Nichtrauchertraining des IFT München teil. V. 3.2 Psycho-Soziotherapie Die Post-Akutbehandlung von Alkoholabhängigen wird in der Regel mit einem integrierten Behandlungsplan umgesetzt, indem psychotherapeutische, soziotherapeutische und suchtmedizinische Interventionen in Kombination angewandt werden. Es ist das Ziel der stationären medizinischen Rehabilitation, Suchtmittelabstinenz zu erreichen und zu erhalten. Dazu dienen motivationsfördernde und kompetenzerhöhende Maßnahmen, um die Abstinenz zu erlangen und langfristig aufrechtzuerhalten. Die umfangreichen Therapieinterventionen aus dem Bereich der Psycho-Soziotherapie beinhalten sowohl evidenzbasierte Maßnahmen als auch Interventionen, deren Wirksamkeit im Einzelnen noch nicht nachgewiesen ist. Die evidenzbasierte Suchtmedizin hat nachgewiesen, dass integrierte Behandlungen wirksamer sind als die Anwendung separater Behandlungskomponenten. Der psycho-soziotherapeutische Prozess ist ein fortlaufender, ineinander verzahnter Prozess, in dem der Bezugstherapeut gemeinsam mit dem Patienten die zentrale Rolle spielt. Die folgende Aufzählung der angewandten Therapiebausteine stellt eine künstliche Trennung dar. Die Elemente können im realen Therapieprozess nicht so deutlich voneinander getrennt werden. Es werden Interventionstechniken der Einzel- und Gruppenpsychotherapien mit Interventionsstrategien der Soziotherapie verbunden. 52 Kap it el V: P s ych ot h er apie und S uchtmedizin Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept V. 3.2.1 Bezugstherapeutensystem Die Basis des psycho-soziotherapeutischen Prozesses ist das Bezugstherapeutensystem. Jeder Patient bekommt bei der Aufnahme in seine Therapiegruppe einen Bezugstherapeuten, der gleichzeitig Einzel- und Gruppentherapeut dieser Therapiegruppe ist. Der Bezugstherapeut ist Hauptansprechpartner des Patienten für alle wesentlichen Belange mit Ausnahme der medizinischen Behandlung. Der Bezugstherapeut arbeitet im multiprofessionellen Abteilungsteam, in denen alle Mitarbeitergruppen der Hellweg-Klinik Oerlinghausen vertreten sind. Durch mehrmals in der Woche stattfindende Abteilungsbesprechungen erhält der Bezugstherapeut wichtige Informationen über die anderen Therapieprozesse. Im Rahmen der Abteilungsbesprechung findet die Therapiesteuerung statt, die ärztlich-therapeutisch begleitet und supervidiert wird. Das Bezugstherapeuten - System BZTS Arbeitstherapie Physikalische Therapie Vorbereitung des Transfers in den häuslichen Bereich, ambulante Nachsorge, Selbsthilfegruppe Therapieziele Expositionsübungen Indikationsgruppen Kreativtherapie PsychoSozioTherapie Gruppentherapie Sporttherapie team- und supervisionsgestützt Einzeltherapie Diagnostik Entspannungsübungen Einzelgespräche Patient BZT Der Bezugstherapeut führt mit seinem Patienten regelmäßig Einzelgespräche, in denen die biographische Anamnese und die Suchtmittelanamnese erhoben wird. Es ergeben sich in diesen Gesprächen Hinweise für frühe Traumatisierungen und wichtige Informationen über die Sozialisationsbedingungen des Patienten und seine entsprechende Lerngeschichte. Im Anschluss daran werden die ersten Hypothesen über das Störungsbild des Patienten gebildet, und es werden gemeinsam mit dem Patienten die ersten Therapieziele festgelegt. Die später beschriebenen the- Kap it el V: P sych ot h er ap ie und Suchtmedizin 53 rapeutischen Angebote werden von Psychologischen Psychotherapeuten, Dipl.Psychologen mit Zusatzausbildung und Dipl.-Sozialarbeitern mit sozialtherapeutischer Weiterbildung durchgeführt. Folgende Interventionsstrategien werden angewandt: • Einzelgespräche/Einzelpsychotherapie • Gruppentherapie • Indikationsgruppen • Expositionsübungen • Sozialtherapeutische Maßnahmen • Milieutherapeutische Elemente • Angehörigenarbeit • Sozialberatung • Psycho-edukative Gruppen. Einzelgespräche – Einzelpsychotherapie Die moderne Therapieforschung hat Ansätze zu einer alkoholismusspezifischen Psychotherapie entwickelt. Diese basiert auf den Erkenntnissen der Motivationsund Veränderungsforschung von Prohaska und Di Clemente (1986). Schwerpunkte einer alkoholismusspezifischen Psychotherapie sind motivationsfördernde und kompetenzerhöhende Maßnahmen zur Erreichung und Aufrechterhaltung der Abstinenz. Dazu wird die motivierende Gesprächsführung nach Miller und Rollnik angewandt, um die vorhandene Ambivalenz des Patienten konstruktiv für die Entwicklung und Aufrechterhaltung der Abstinenz zu nutzen. Im Rahmen der Einzeltherapie kommen die Grundlagen der verhaltensmedizinischen Behandlung zum Tragen. Dazu werden im Wesentlichen kognitiv-behaviorale Ansätze genutzt, die ergänzt werden durch Expositionsübungen mit und ohne therapeutische Begleitung. Neben der Arbeit mit dem Bezugstherapeuten ist die Arbeit in der Therapiegruppe zentraler Bestandteil des Therapieangebotes. Dieser Aspekt wird im nächsten Kapitel beschrieben. 54 Kap it el V: P s ych ot h er apie und S uchtmedizin Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept Gruppentherapeutische Angebote In der Hellweg-Klinik Oerlinghausen wird die Gruppentherapie in Form halboffener Therapiegruppen angeboten, in denen Modelllernen gefördert wird. „Neue Patienten“ können von den „älteren Patienten“ lernen, die kurz vor der Entlassung stehen und die von ihrer erfolgreichen Umsetzung der Bewältigungsstrategien in der Klinik und dem realen Umfeld berichten können. Den zentralen gruppentherapeutischen Prozess führt der Patient in seiner Therapiegruppe durch, in der sein Bezugstherapeut gruppentherapeutisch tätig ist. Die Therapiegruppe findet viermal wöchentlich über 90 Minuten statt. Sie wird im Therapeuten-/Co-Therapeutensystem durchgeführt. Innerhalb der Gruppentherapie werden Interventionsstrategien des sozialen Kompetenztrainings angewendet, um das Erlernen von effektiven Bewältigungsstrategien zu verbessern. Auch die Prinzipien eines erfolgreichen Rückfallmanagementes werden in der Therapiegruppe erarbeitet. In psycho-edukativen Gruppen findet Informationsvermittlung zur Abhängigkeitserkrankung, zum Rückfallmanagement und zum Gesundheitsverhalten statt. Eine wesentliche Besonderheit der Hellweg-Klinik Oerlinghausen ist das Angebot von Therapiegruppen mit besonderen Schwerpunkten. Aufgrund der langjährigen Praxiserfahrung in der stationären Entwöhnungsbehandlung von Suchtpatienten und den modernen Ergebnissen der evidenz-basierten Suchtmedizin entwickelte die Klinik diese Therapiegruppen. Derzeit werden angeboten: • Zwei Therapiegruppen „Sucht und Angst“, eine davon mit Schwerpunkt „Sucht und Trauma“ • Zwei Therapiegruppen „Sucht und Depression“ • Eine Therapiegruppe „Therapieerfahrene Patienten“ • Eine Therapiegruppe „Junge erwachsene Männer“ • Eine Therapiegruppe „Altersgemischte Behandlung“. In der Therapiegruppe „Sucht und Angst“ werden Patienten aufgenommen, bei denen nach entsprechender Diagnostik neben der Suchterkrankung auch eine behandlungsbedürftige Angsterkrankung festgestellt worden ist. Diese Patienten erhalten durch entsprechend ausgebildete therapeutische Mitarbeiter verhaltenstherapeutische Therapieangebote sowohl bezüglich der Abhängigkeitserkrankung als auch in Bezug auf die Angsterkrankung. Dazu werden einzel- und gruppentherapeutische Maßnahmen, ergänzt durch das Selbstsicherheitstraining und die Angstgruppe angeboten. Zusätzlich wird im Rahmen der Körpertherapie das psycho-vegetative System stabilisiert und das Vermeidungsverhalten abgebaut und Entspannungsverfahren zur eigenständigen Durchführung vermittelt. Kap it el V: P s ych ot h er ap ie und Suchtmedizin 55 In der Therapiegruppe „Sucht und Depression“ werden Patienten aufgenommen, bei denen nach entsprechender Diagnostik neben der Suchterkrankung auch eine behandlungsbedürftige depressive Erkrankung festgestellt worden ist. Der Behandlungsansatz beruht auf den Erkenntnissen der Verhaltensmedizin und ist darauf ausgerichtet, dysfunktionale depressive Kognitionen zu identifizieren und umzustrukturieren. Gleichzeitig wird ein Aktivitätsprogramm zur Verbesserung und zur Optimierung von positiven Verstärkern angewandt und ein adäquates Genusstraining und Freizeitverhalten angeboten. In der Therapiegruppe „Therapieerfahrene Patienten“ werden Patienten aufgenommen, die schon eine oder mehrere stationäre Behandlungen absolviert haben oder bei denen der ambulante Therapieprozess ins Stocken geraten ist. Bei diesen Patienten findet sich eine besondere Form des Widerstandes gegen den Therapieprozess. Häufig besteht bei diesen Patienten eine zusätzliche Persönlichkeitsstörung, die einen wichtigen Einfluss auf die Entstehung und Aufrechterhaltung der Abhängigkeitserkrankung hat. Durch evaluierte Interventionstechniken werden die Auswirkungen der Persönlichkeitsstörung auf den Suchtmittelkonsum positiv beeinflusst. In der Therapiegruppe „Junge erwachsene Männer“ werden Männer im Alter von 18-25 Jahren behandelt, die häufig über einen frühen Suchtmittelkonsum im Alter ab 10 Jahren berichten und die erhebliche Sozialisations- und Reifungsdefizite haben. Diese zeigen sich u.a. in fehlender Schul- und Berufsausbildung und juristischen Komplikationen. Häufig besteht ein polytoxikomanes Konsummuster, bei dem der Konsum von Cannabis und anderen illegalen Drogen eine wichtige Rolle spielen. Zur Behandlung dieser schwierigen Patientengruppe bieten wir eine „reine Therapiegruppe“ von jungen Männern und eine altersgemischte Therapiegruppe an. In der altersgemischten Patientengruppe werden die jungen Männer gemischt mit abhängigkeitserkrankten älteren Männern, die früher ein polytoxikomanes Konsummuster gehabt haben. Einmal wöchentlich finden Indikationsgruppen statt die von den therapeutischen Mitarbeitern angeboten werden. Die Zuweisung in diese Gruppen trifft der Bezugstherapeut gemeinsam mit dem Patienten. Der durchführende Therapeut meldet die Ergebnisse und Erfolge der Indikationsgruppen an den Bezugstherapeuten zurück. 56 Kap it el V: P s ych ot h er apie und S uchtmedizin Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept Folgende Indikationsgruppen werden angeboten: • Raucherentwöhnungstraining • Hirnorganisches Leistungstraining • Körpertherapie • Entspannungstraining • Kreativtherapeutische Angebote • Ausdauerlaufen • Bewerbertraining • Probleme am Arbeitsplatz • Sinn des Lebens • Lehrküche • Umgang mit Aggressionen Bei Bedarf können folgende Indikationsgruppen angeboten werden: • Pathologisches Glücksspielen • Sucht und Sexualität • Erwachsenen-ADHS. In der Indikationsgruppe kann der Patient spezielle Therapieziele bearbeiten, die in der Therapiegruppe keinen ausreichenden Platz finden oder die eine spezielle therapeutische Interventionstechnik benötigen. Expositionsübungen Neben der Arbeit in der Therapiegruppe und den Einzelgesprächen mit dem Bezugstherapeuten legen wir therapeutisch viel Wert darauf, dass der Patient Übungen in der realen Lebenssituation (Expositionsübungen) durchführt. Beispiele für Expositionsübungen sind: • Busfahren oder Bahnfahren bei Angstpatienten • Selbstsicherheitsübungen bei Ämtern und Gerichten, Arbeitgebergespräche und vieles mehr. Diese Expositionsübungen werden zunächst mit dem Bezugstherapeuten vorbereitet und in der Therapiegruppe im Rollenspiel eingeübt. Danach führt der Patient entweder in Begleitung des Bezugstherapeuten oder alleine die Expositionsübung durch. Im Einzelgespräch und in der Therapiegruppe werden die Ergebnisse und Fortschritte ausgewertet und notwendige Verbesserungen für weitere Expositionsübungen geplant. Die Expositionsübungen finden sowohl im Klinikumfeld statt als auch während der Familienheimfahrten oder bei gezielten Expositionsübungen außerhalb der Klinik. Kap it el V: P sych ot h er ap ie und Suchtmedizin 57 Unserer Ansicht nach spielen Expositionsübungen bei der Suchterkrankung eine wesentliche Rolle, da Vermeidungsverhalten ein häufiges Symptom der Abhängigkeitserkrankung ist. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Patienten verbal „alles“ können. Es gelingt ihnen jedoch häufig nicht, die verbal geäußerten Fähigkeiten in konkretes Handeln umzusetzen. Aus dieser Erfahrung heraus haben wir den zuvor beschriebenen sozial-kognitiven Ansatz gewählt. Durch die erfolgreichen Expositionsübungen wird das Attribuierungsverhalten positiv verändert. Erfolgreich durchgeführte Expositionsübungen erhöhen die subjektive Selbstkompetenz. Diese erhöhte subjektive Selbstkompetenz ist für den Patienten insofern besonders wichtig, weil er nach der Entlassung in realen Belastungssituationen auf diese positiven Bewältigungserlebnisse zurückgreifen kann. Wissenschaftliche Untersuchungen haben eindeutig gezeigt, dass Patienten mit einer verbesserten subjektiven Selbstkompetenz wesentlich erfolgreicher mit einem drohenden oder tatsächlich durchgemachten Rückfall umgehen können als Patienten mit einer gering ausgeprägten subjektiven Selbstkompetenz und einer gering ausgeprägten Selbstwirksamkeitserwartung. Soziotherapie / Sozialberatung In der Soziotherapie werden vorwiegend die sozialen Belange des Patienten berücksichtigt. Die wissenschaftlichen Ergebnisse haben eindeutig gezeigt, dass suchtkranke Patienten mit Arbeit, Wohnung und stabiler Partnerschaft eine bessere Abstinenzprognose haben als Patienten, die sich in einer wirtschaftlich, beruflich und psychosozial negativen Situation befinden. Gerade am Anfang der stationären Entwöhnungsbehandlung ist die Sozialberatung wichtig geworden, weil durch die modernen Sozialgesetze (SGB IX, Hartz IV) neue sozialrechtliche Probleme entstanden sind, die zeitnah gelöst werden müssen. Ziel der Sozialberatung ist, den Patienten zu befähigen, ungünstige soziale Verhältnisse zu verändern und seine sozialen Belange wieder eigenverantwortlich zu regeln. Dazu gehören folgende Bereiche: • Sicherung des Lebensunterhaltes • Unterstützung bei der Wohnungssuche • Vermittlung juristischer Beratung • Lösung von Problemen am Arbeitsplatz • Lösung von Problemen mit der Agentur für Arbeit • Anleitung zur Schuldenregulierung 58 Kap it el V: P s ych ot h er apie und S uchtmedizin Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept • Unterstützung bei der Beratung finanzieller Angelegenheiten • Vermittlung in Beschäftigungsprogramme. Die Sozialberatung wird zentral von zwei ausgebildeten Dipl.-Sozialarbeitern angeboten, die engmaschig mit den Bezugstherapeuten zusammenarbeiten. Die Sozialtherapie /-beratung findet in Einzel- und Gruppenformen statt und benutzt auch Expositionsübungen am Heimatort, damit der Patient seine sozialen Angelegenheiten mit Hilfestellung eigenverantwortlich regeln kann. Den Patienten steht in der Hellweg-Klinik Oerlinghausen das Internet kostenlos zur Verfügung, um sich entsprechend sachkundig zu machen und Informationen und Hilfsmöglichkeiten vor Ort zu finden. Ein besonderer Schwerpunkt der Sozialtherapie ist die Wiedereingliederung in die Erwerbstätigkeit. Dies ist vor allen Dingen bei langjährig arbeitslosen Patienten erforderlich. Dazu werden Kontakte zur Agentur für Arbeit aufgenommen. Es werden die Möglichkeiten der beruflichen Rehabilitation genutzt. In der letzten Therapiephase findet im therapeutischen Team eine intensive Bearbeitung dieses Themas statt unter Einbeziehung des Bezugstherapeuten, des Ergotherapeuten, des Arztes und des zuständigen Mitarbeiters aus dem Sozialdienst. An dieser Stelle werden sämtliche Kompetenzen des Behandlungsteams genutzt, um mit dem Patienten eine realistische und angemessene berufliche Zukunftsperspektive zu erarbeiten. Weiterhin werden milieutherapeutische Elemente angewandt. So werden dem Patienten Aufgaben übertragen, bei denen er zunehmend mehr Verantwortung für sich und andere übernimmt. Es beginnt damit, dass er selbst für die Sauberkeit und Reinigung seines Zimmers verantwortlich ist. Die von der Therapiegruppe benutzten Gemeinschaftseinrichtungen werden auch gemeinschaftlich gereinigt. Hier entsteht ein wichtiges Übungsfeld für angemessenes soziales Durchsetzungsvermögen und faires Zusammenarbeiten. Verantwortung für die Gruppe kann der Patient in der Funktion des Gruppensprechers übernehmen. In regelmäßigen Treffen zwischen Klinikleitung und Gruppensprecher werden Probleme im Gemeinschaftsleben erörtert und Wünsche der Patienten vorgetragen, diskutiert und wenn sinnvoll und möglich, realisiert. Jede Therapieabteilung führt regelmäßig einmal im Monat ein Abteilungsplenum durch, an dem alle Patienten und therapeutischen Mitarbeiter der Abteilung teilnehmen. Neben organisatorischen werden dort wichtige therapeutische Dinge besprochen, wie z.B. der Umgang mit Rückfällen in der Klinik. Außerdem stellt sich jeder neue Patient im Abteilungsplenum vor, und jeder Patient verabschiedet sich im Abteilungsplenum und berichtet den neuen Patienten über seinen Therapieverlauf mit all den Schwierigkeiten und Chancen. Dadurch findet Modelllernen und Motivationsförderung statt. Kap it el V: P sych ot h er ap ie und Suchtmedizin 59 In der Therapiegruppe werden regelmäßig Gruppenaktivitäten mit und ohne Bezugstherapeuten durchgeführt. Diese fördern ein besseres Verständnis der Gruppenmitglieder untereinander und bieten ein Übungsfeld dafür, dass Freizeitaktivitäten auch ohne Alkohol Spaß machen, so dass auch durch Gruppenaktivitäten verhaltensmedizinisches Umlernen stattfinden kann. Angehörigenarbeit Die Abhängigkeitserkrankung findet häufig im Familiensystem statt, in dem jeder Beteiligte eine bestimmte Rolle übernimmt. Die Angehörigen des Patienten zeigen manchmal ein koabhängiges Verhalten, welches unserer Ansicht nach häufig auf ein behandlungsbedürftiges Krankheitsbild beim Angehörigen hinweist. Wir empfehlen deswegen den Angehörigen, sich Informationen bei der Suchtselbsthilfe, beim Hausarzt und beim niedergelassenen Psychotherapeuten zu holen. Um die Partnersituation zu klären und stabilisieren, werden Paargespräche angeboten. Einmal wöchentlich findet eine Angehörigengruppe statt, zu der alle Angehörigen eingeladen werden. Darüber hinaus finden Angehörigen- / Partnerseminare statt, die über vier Tage an einem besonderen Ort in der Hellweg-Klinik Oerlinghausen durchgeführt werden. In den meisten Fällen gelingt es, die Partnerschaftsbeziehung zu stabilisieren und zu verbessern oder einen angemessenen Weg zu finden, die Partnerschaft in Frieden zu beenden. Günstig ist es auch, wenn Arbeitskollegen und Vorgesetzte aus Betrieben des regionalen Bereiches mit in den Therapieprozess einbezogen werden können. Besonders wichtig ist es, den beruflichen Wiedereinstieg des Patienten vorzubereiten und Ängste in diesem Bereich abzubauen. Dazu bieten wir eintägige Betriebsseminare oder Gespräche mit Vorgesetzten oder Mitarbeitern aus Betrieben an. In Einzelfällen gibt es die Möglichkeit der externen Belastungserprobung im eigenen Betrieb. Von den Ärzten der Klinik wird auch die Möglichkeit geprüft, ob eine stufenweise Wiedereingliederung für den Patienten aus medizinischen Gründen erforderlich ist. 60 Kap it el V: P s ych ot h er apie und Suchtmedizin Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept V. 3.3 Handlungsorientierte Therapie (arbeitsbezogene medizinische Rehabilitation) Diese Form der therapeutischen Arbeit ergänzt das Sprechen über Schwierigkeiten oder Probleme durch aktives Handeln in verschiedenen Aufgabenbereichen. Folgende Beobachtungen liegen diesem Behandlungsansatz zugrunde: Während des mehrjährigen Alkoholkonsums lassen die kreativen Fähigkeiten der Patienten sehr schnell nach, und sie werden von ihren Angehörigen teilweise als „abgestumpft, passiv und ideenlos“ beschrieben. Ihre beruflichen Kompetenzen und Fähigkeiten können die Patienten häufig länger aufrechterhalten. Jedoch kommt es im Laufe des weiteren Suchtmittelkonsums zu einem Verlust der praktischen und theoretischen Fähigkeiten, die sich in mangelnder Arbeitsleistung, häufigen Fehlzeiten und Abmahnungen am Arbeitsplatz zeigen. Diese Misserfolge wiederum führen zu einer Abnahme des Selbstbewusstseins und verstärken häufig den Suchtmittelkonsum. Damit befinden sich die Patienten in einem Teufelskreis von Misserfolg, zunehmender Selbstunsicherheit und Suchtmittelkonsum. Durch eine gezielt angewandte handlungsorientierte Therapie sollen sie in die Lage versetzt werden, alte Fähigkeiten wiederzuentdecken und Erfolgserlebnisse zu erzielen. Damit wird eine Verbesserung der subjektiven Selbstkompetenz erreicht, die sich auch günstig auf den psycho-soziotherapeutischen Verlauf auswirkt. Zentraler Bestandteil der handlungsorientierten Therapie ist die Ergo- und Arbeitstherapie. Die Ergotherapie ermöglicht die Einübung und abgestufte Belastung des Patienten zur Wiederherstellung seiner Arbeitsfähigkeit. Neben der Berufsanamnese wird eine Diagnostik zu den arbeits- und berufsbezogenen Fertigkeiten und Fähigkeiten durchgeführt, um mit diesem Wissen die gezielte Ergo- und Arbeitstherapie in der Hellweg-Klinik Oerlinghausen zu planen und umzusetzen. Bei Indikation kommen diagnostische Verfahren wie z.B. MELBA zum Einsatz. Dazu finden regelmäßige Besprechungen im therapeutischen Team statt. In diesen Besprechungen werden neben den psychotherapeutischen Therapiezielen auch die für die Arbeitswelt bezogenen Therapieziele festgelegt. Die Ergound Arbeitstherapie findet in der Hellweg-Klinik Oerlinghausen in Gruppenformen statt und wird ergänzt durch die Einzelgespräche mit dem zuständigen Ergotherapeuten. Einige Arbeitstherapiebereiche sind den Produktionsabläufen einer Firma angepasst. Die ergotherapeutischen Interventionsstrategien werden indikationsgeleitet eingesetzt und prozessbegleitend dokumentiert. Bei der Einteilung in die Arbeitstherapie werden die medizinischen Vorerkrankungen berücksichtigt und im Abteilungsteam mit dem Arzt besprochen. Kap it el V: P sych ot h er ap ie und Suchtmedizin 61 Folgende Therapieziele können mit Hilfe der Ergo- und Arbeitstherapie erreicht werden: • Übung von Kontinuität und Ausdauer • Erlernen und Umgehen mit Forderung, Über- und Unterforderung • Übernahme von Verantwortung für sich und andere • Erleben und Verarbeitung von Erfolg und Misserfolg • Positiver Umgang mit Fehlern und deren Überwindung • Entwicklung und Stabilisierung eines realistischen Selbst- und Leistungsbildes • Erwerb neuer Problem- und Konfliktlösestrategien • Verbesserung der sozialen Kommunikationsfähigkeit • Verbesserung der körperlichen und psychischen Belastbarkeit • Gewöhnung an regelmäßige Arbeitszeiten • Reaktivierung alter, Erwerb neuer Fähigkeiten • Überwindung von Unlustgefühlen • Diagnostik der real vorhandenen Fähigkeiten und Belastbarkeiten • Verbesserung von Basisfertigkeiten (Pünktlichkeit, Ausdauer). Folgende „Arbeitsplätze“ stehen zur Verfügung: Werkstätten: • Medienwerkstatt: 10 Arbeitsplätze • Schlosserei: 10 Arbeitsplätze • Tischlerei: 10 Arbeitsplätze • Gärtnerei: 10 Arbeitsplätze • Kreativtherapie 20 Therapieplätze Dienstleistungszentren: • Cafeteria 6-8 Patienten • Saaldienst 6-8 Patienten • Freizeitrat 6-8 Patienten • Spüldienst 5-6 Patienten • Info und Service 4-6 Patienten • Mentoren 4-6 Patienten. Bei bestimmter Indikation werden die o.g. Therapieziele im Rahmen einer externen Belastungserprobung vermittelt. Dazu haben wir eine Vielzahl von Betrieben in der Umgebung als Kooperationspartner gewinnen können. Die externe Belastungserprobung wird dann in Anspruch genommen, wenn sie für das Einüben alternativer Verhaltensweisen zur Bewältigung von Problemen am Arbeitsplatz ein reales Übungsumfeld gesucht werden muss. Der Patient führt dann vier Stunden pro Tag die Arbeitstherapie in dem ausgewählten Betrieb durch. Die Einzel- und Gruppentherapie findet weiterhin statt. Die externe Belastungserprobung hat mehrere Funktionen: 1. Überprüfung der Belastbarkeit und der Stressbewältigungskompetenz unter realen Arbeitsbedingungen 62 Kap it el V: P s ych ot h er apie und S uchtmedizin Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept 2. Nach entsprechender therapeutischer Vorbereitung die Konfrontation mit rückfallgefährdenden Situationen, wenn Problemsituationen am Arbeitsplatz in der Lerngeschichte des Patienten eine wichtige Rolle gespielt haben. 3. Kennenlernen von neuen beruflichen Praxisfeldern, wenn z.B. aus medizinischen Gründen eine berufliche Neuorientierung erforderlich ist. Die Ergo- und Arbeitstherapie wird von ausgebildeten Ergotherapeuten durchgeführt. In den Abteilungs- und Fallbesprechungen findet ein intensiver Austausch zwischen dem Bezugstherapeuten, dem Arzt und dem Ergotherapeuten statt, um die erreichten Therapiefortschritte rückzumelden und eine Modifikation des Therapieprozesses unter Supervision vorzunehmen. Ein weiterer wichtiger Bestandteil der handlungsorientierten Therapie ist die Kreativtherapie, die nach entsprechender Indikation 3-4 Wochen lang stattfindet. Die Kreativtherapie findet in Einzel- und Gruppenformen statt. Der Patient wird im Rahmen dieses Therapieprozesses mit nichtsprachlichen Medien vertraut gemacht. Die Kreativtherapie ist eine handlungsorientierte erlebnisintensive Therapieform, in der das Tun im Vordergrund steht und nicht das Werk. Es besteht keine Leistungsanforderung von außen. Der Patient soll da beginnen, wo er steht und so angenommen werden, wie er sich einbringen kann. Dadurch erlebt er positive Kräfte, die er für den gesamttherapeutischen Prozess nutzen kann. Ausgangspunkt der Kreativtherapie ist die Überzeugung, dass kreative Kräfte in jedem Menschen stecken, und dass diese kreativen Kräfte für die Verbesserung und den Neuaufbau des Selbstbewusstseins konstruktiv genutzt werden können. Im Rahmen der Kreativtherapie können erforderliche emotionale Prozesse angestoßen werden, die vom Therapeuten konstruktiv für die weitere Bearbeitung der Therapieziele, wie z.B. Selbstbewusstsein, Verbesserung der Selbstkompetenz usw. eingesetzt werden können. Die therapeutische Arbeit mit den nichtsprachlichen Medien unterstützt den psychotherapeutischen Prozess in der Einzel- und Gruppentherapie und bringt wertvolle Informationen, die dem Patienten manchmal zu Therapiebeginn noch nicht kognitiv oder verbal zugänglich sind. Die Kreativtherapie wird von ausgebildeten Ergotherapeuten durchgeführt. Der dritte Schwerpunkt der handlungsorientierten Therapie ist die Körpertherapie. Diese gliedert sich in zwei Hauptbereiche. Bei Indikation sollen die Patienten ein aktives Entspannungsverfahren erlernen, was sie später eigenständig durchführen können. Dadurch werden die Selbstwirksamkeitserwartung und das Selbstwertgefühl des Patienten positiv beeinflusst. Mit dem Erlernen von Entspannungstechniken verfügt der Patient über Bewältigungsstrategien, die er sowohl bei Rückfallgefahr als auch zur Überwindung komorbider Störungen einsetzen kann. Kap it el V: P sych ot h er ap ie und Suchtmedizin 63 Die klassische Sporttherapie verbessert die Fitness und körperliche Leistungsfähigkeit und hat damit unmittelbaren Einfluss auf die Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit zur Erhaltung der beruflichen Leistungsfähigkeit. Damit wird gesundheitsorientiertes Verhalten verbessert, was sich vor allen Dingen im Bereich der Bewegung und Ernährung zeigt. Gerade in der Sporttherapie ist es erforderlich, dass der Patient ein angemessenes Umgehen mit sportlichen Angeboten erlernt, da die Suchtpatienten häufig dazu neigen, sich zu über- oder zu unterfordern. Die Arbeit in der Sporttherapie ist durch diese ständige Auseinandersetzung gekennzeichnet. Wesentliche Ziele der Sporttherapie sind: • Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit • Erkennen und Akzeptieren von körperlichen Grenzen • Erleben von Spaß und Gemeinsamkeit durch sportliche Aktivität • Verbesserung der sozialen Kommunikationsfähigkeit • Möglichkeiten der Freizeitgestaltung • Rücksichtnahme auf andere Mitpatienten • Erleben von Sport ohne Suchtmittelkonsum. Jede Therapiegruppe erhält pro Woche zwei Sporteinheiten à 90 Minuten. Ein Termin findet in der Schwimmhalle statt und ein Termin in der Sporthalle oder im Freien. In der Hellweg-Klinik Oerlinghausen sind vor einigen Jahren wissenschaftliche Untersuchungen zur positiven Wirkung des langsamen Ausdauerlaufens gemacht worden. Diese haben gezeigt, dass langsames Ausdauerlaufen die Handlungskompetenz und Selbstsicherheit erhöht. Aus diesem Grund wird dem Patienten regelmäßig Ausdauerlaufen auf dem gesunden Sennesandboden angeboten und viele Patienten erreichen ihr Laufabzeichen über 5 oder 10 km, wenn dieses medizinisch indiziert ist. 64 Kap it el V: P s ych ot h er apie und S uchtmedizin Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept V. 3.4 Diakonische Begleitung (freiwilliges Angebot) Zur Aufrechterhaltung einer dauerhaften, zufriedenen Abstinenz ist ein beständiges Wertesystem für den Patienten und seine Angehörigen hilfreich. Als Einrichtung der Diakonie bieten wir einige spirituelle Bausteine an und machen regelmäßige Angebote zur Auseinandersetzung mit der eigenen religiösen Orientierung. Aufgrund unserer Leitbilddiskussionen mit allen Mitarbeitern der Klinik ist jeder Bezugstherapeut in der Lage, erste spirituelle Fragen zu beantworten und mit in den Einzeltherapieprozess einzubeziehen. In der Indikationsgruppe „Sinn des Lebens“, die auf der Grundlage logotherapeutischer Erkenntnisse beruht, kann jeder Patient seine eigenen Wertvorstellungen, Normen und Sinnmöglichkeiten für das zukünftige Leben wieder entdecken. In pastoral psychologischen Einzelgesprächen werden häufig die Themen Schuld, Akzeptanz, Demut und Vergebung bearbeitet. Regelmäßig werden in der Hellweg-Klinik Oerlinghausen Gottesdienste unter Einbeziehung bibliodramatischer Elemente angeboten. Zu den kirchlichen Feiertagen und anderen Anlässen werden religiöse Veranstaltungen angeboten, zu denen die Patienten auf freiwilliger Basis eingeladen werden. V. 3.5 Rückfallkonzept (während der stationären Behandlung) Der erneute Suchtmittelkonsum (Rückfall) ist ein Hauptsymptom der Suchterkrankung und kann auch während einer effektiven psychotherapeutischen Behandlung auftreten. Wir verstehen unter einem Rückfall die erneute Einnahme eines Suchtmittels (Alkohol, illegale Drogen sowie Medikamente, die nicht vom Arzt verordnet sind). Unser Rückfallkonzept beruht auf verhaltenstherapeutischen Erkenntnissen und geht von der Annahme aus, dass der Patient von der therapeutischen Rückfallarbeit profitieren kann. Rückfall-Konzept Suchtklinik Beratungsstelle Rückfall passives Eingestehen aktives Eingestehen aktive Arbeit mit BZT nein Verlegung zur Aufnahmestation aktive Arbeit mit BZT aktive Arbeit mit Therapiegruppe Hier max. 14 Tage Bewährungszeit Entlassung Krankenhaus Hausarzt nein Verbleib in der alten Therapiegruppe Wechsel in neue Therapiegruppe Kap it el V: P sych ot h er ap ie und Suchtmedizin Selbsthilfegruppe Beratungsstelle 65 Folgendes Vorgehen ist verbindlich festgelegt: Ein Rückfallpatient wird ärztlich/therapeutisch untersucht und es wird sofort entschieden, ob eine sofortige Entlassung, Verlegung in eine andere Klinik oder Verlegung auf die Aufnahmestation erforderlich ist. Erfolgt die Verlegung auf die Aufnahmestation der Hellweg-Klinik Oerlinghausen, findet eine Klärungsphase statt, indem gemeinsam mit dem Patienten an der Frage gearbeitet wird, ob er aus dem Rückfall konstruktiv lernen kann. Zeitgleich erhält der Patient bestimmte Aufgaben (Besprechung des Rückfalls in der Therapiegruppe, Rückfallbericht, ein Buch zum Rückfall durcharbeiten). Die einweisende Beratungsstelle erhält Informationen über den Rückfall und wird in das weitere Vorgehen mit einbezogen. Nach dem Ablauf der Klärungsphase (bis zu 14 Tagen) wird mit dem Patienten entschieden, ob die Behandlung mit neuen Therapiezielen fortgesetzt werden kann. Dazu wird ein „neuer“ Therapievertrag geschlossen. Die sofortige Entlassung aus der stationären Entwöhnungsbehandlung erfolgt, wenn eine erhebliche Selbst- oder Fremdgefährdung besteht. Dann wird der Patient in eine geschlossene Abteilung einer psychiatrischen Klinik verlegt. Die sofortige Entlassung erfolgt auch dann, wenn der Patient andere Patienten zum Mitkonsumieren von Suchtmitteln animiert, gewalttätig geworden ist oder die Suchtstoffe nüchtern in die Klinik gebracht hat. Die Entlassung aus der Klärungsphase erfolgt, wenn sich der Patient nicht an die vereinbarten Auflagen hält oder erneut gegen das Abstinenzgebot oder andere wichtige Punkte der Hausordnung verstößt. 66 Kap it el V: P s ych ot h er apie und S uchtmedizin Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept V. 3.6 Ganztägig ambulante Entlassungsform (Ganztägig ambulante Beendigung) Aus der Arbeit im regionalen Behandlungsverbund ergibt sich die Möglichkeit, die letzte Phase der stationären Therapie „ganztägig ambulant“ auszuschleichen. Dazu hat die Hellweg-Klinik Oerlinghausen seit über 10 Jahren ein Konzept entwickelt und immer weiter optimiert. Diese Entscheidung wird durch die Schaffung neuerer Einrichtungen zur ganztägigen ambulanten Rehabilitation unterstützt. Diese Beendigungsform wird angewandt, wenn es aus therapeutischer Sicht für den Patienten sinnvoll ist, die in der Klinik erlernten Problemlösestrategien unter möglichst realen Bedingungen zu überprüfen und zu verbessern. Diese Behandlungsform wird maximal in den letzten 4 Wochen durchgeführt. Der Patient nimmt zwischen 8.00 Uhr und 17.30 Uhr am therapeutischen Angebot der Klinik in seiner Therapiegruppe weiter teil, ebenso an der Ergo- und Körpertherapie. Mit dem Bezugstherapeuten werden die Therapieziele für die ganztägig ambulante Beendigung besprochen und in Form von Konfrontations- und Expositionsübungen umgesetzt. Dazu gehört auch der verbindliche Besuch der Selbsthilfegruppe am Ort. Mit folgenden Indikationen wurden gute Erfahrungen gemacht: 1. Patienten, bei denen Schwierigkeiten erwartet werden, die erlernten Bewältigungsstrategien in ihren Alltag zu transferieren. 2. Familiäre Probleme der Patienten, die sich aus der Kernfamilie ergeben und sich destabilisierend auf das Therapieergebnis auswirken können, und die bereits im stationären Setting mitbehandelt werden können. 3. Patienten, die ein problematisches „Freizeitverhalten“ vor Beginn der Therapie aufweisen, erhalten durch die ganztägig ambulante Beendigung die Möglichkeit, neue Verhaltensweisen einzuüben und mit ihrer therapeutischen Gruppe, z.B. auch damit verbundene Rückfallgefahren zu besprechen. 4. Patienten, die ein problematisches Sozialgefüge bezüglich ihres Freundeskreises aufweisen, haben die Möglichkeit, auch während ihres ganztägig ambulanten Settings ihre sozialen Kontakte auf „Abstinenzfähigkeit“ zu überprüfen und ggf. neue Freundschaften zu entwickeln. 5. Patienten mit erheblich regressiven Persönlichkeitsanteilen, denen der Abschied aus der Klinik erfahrungsgemäß schwer fällt, da sie u.a. die Tendenz haben, Eigenverantwortung an das therapeutische Team zu delegieren, werden schrittweise und behutsam mit der Erfahrung konfrontiert, zunehmend Selbstverantwortung zu übernehmen. 6. Alleinlebende Patienten, denen die soziale Isolierung Probleme bereitet und die dadurch rückfallgefährdet sind. Die schrittweise Heranführung an ihre „einsame“ Lebensrealität kann somit therapeutisch begleitet werden. 7. Patienten mit Sucht- und Angststörung, bei denen vor allem gegen Ende der Therapie realitätsbezogene Expositionsübungen notwendig werden. Kap it el V: P sych ot h er ap ie und Suchtmedizin 67 Die ganztägig ambulante Entlassform ist ein wichtiger Zwischenschritt im Übergang von der stationären zur ambulanten Rehabilitation, die mit Einverständnis des Patienten und selbstverständlich in Kooperation mit der zuweisenden Beratungs- und Behandlungsstelle durchgeführt wird (siehe auch Kap. V.). V. 4 Kombitherapien Angeregt durch die Diskussion über die Therapiekosten hat sich in Deutschland in den letzten Jahren folgende Weiterentwicklung der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter ergeben: Die ambulante medizinische Rehabilitation wird verstärkt an vielen Orten angeboten. Gleichzeitig ist die Verweildauer in den stationären Einrichtungen zur medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter zurückgegangen. Für diese Entwicklung waren nicht nur wissenschaftliche Argumente verantwortlich, sondern im Wesentlichen Kostengesichtspunkte. Aus dieser Not hat sich eine sinnvolle Tugend entwickelt, nämlich die Möglichkeit von Kombitherapien und die Behandlung im regionalen Behandlungsverbund. Kombitherapien stellen eine sinnvolle und passgenaue Kombination von ambulanten und stationären Angeboten zur medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker dar. In unserem Therapiekonzept aus dem Jahre 1994 haben wir schon auf die Möglichkeit von Behandlungspaketen hingewiesen. Durch den Aufbau von regionalen Behandlungsverbünden wurden die Grundlagen für eine qualitätsgesicherte Kombitherapie geschaffen. In der Hellweg-Klinik Oerlinghausen wird die Kombinationsbehandlung entsprechend dem Kombimodell der Deutschen Rentenversicherung Bund durchgeführt. Beginn der Kombinationstherapie mit einer stationären Rehabilitationsphase mit anschließender ambulanter Rehabilitation. Aufgrund von neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen hat sich die Kombination von 8 Wochen stationärer Rehabilitationsphase mit anschließend ambulanter Rehabilitation von 40+4 Therapieeinheiten bewährt. Diese Behandlungsform ist besonders geeignet für suchtkranke Menschen, bei denen die Abhängigkeitserkran- 68 Kap it el V: P s ych ot h er apie und S uchtmedizin Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept kung noch nicht so weit fortgeschritten ist und die körperlichen, psychischen und sozialen Komplikationen noch nicht so ausgeprägt vorhanden sind. Diese Kombinationstherapie wird in Zusammenarbeit mit anerkannten Suchtberatungs- und Behandlungsstellen durchgeführt. Durch die jahrelange regionale Arbeit der HellwegKlinik Oerlinghausen besteht ein guter Kontakt zu den regionalen Suchtberatungsund Behandlungsstellen, so dass der stationäre Therapieprozess ohne größere Reibungsverluste im ambulanten Rahmen fortgesetzt werden kann. Dazu dienen die von den Leistungsträgern festgelegten Qualitätskriterien für eine patientenorientierte Kooperation. Die zuweisende und später weiterbehandelnde Beratungsstelle und die HellwegKlinik Oerlinghausen stimmen die erforderlichen Therapieprozesse aufeinander ab, damit die Kombinationstherapie nutzbringend für den Patienten durchgeführt werden kann. Im Vorfeld der stationären Aufnahme hat eine ausreichende Motivationsphase stattgefunden, in der der Patient sich für eine Suchtmittelabstinenz entschieden hat. Nach Einschätzung der zuweisenden Beratungsstelle ist der Patient für die Kombinationstherapie geeignet und der Patient ist über diese Behandlungsform von der zuweisenden Beratungsstelle ausführlich informiert worden. Er hat seine verbindliche Teilnahme an den Einzel- und Gruppengesprächen erklärt und hat schon in der Beratungsphase zuverlässigen Kontakt zur Beratungsstelle gehalten. Von der zuweisenden Beratungsstelle wird dann der Antrag auf Kombitherapie zusammen mit der Hellweg-Klinik Oerlinghausen gestellt und im Rahmen des Übergabemanagements wird die Klinik schriftlich (Sozialbericht, Arztgutachten) und telefonisch über die gewünschte Kombitherapie und die damit verbundenen Therapieziele informiert. Diese Informationen werden vom Aufnahmetherapeuten in der Hellweg-Klinik Oerlinghausen bei der Therapiegruppeneinteilung berücksichtigt und finden auch ihren Niederschlag in der Therapiezielplanung. Nach Wechsel in die Bezugsgruppe erarbeitet der Patient zusammen mit dem Bezugstherapeuten die verbindlichen Therapieziele für die stationäre Phase und die Therapieziele für die anschließende ambulante Rehabilitation werden schon mit in die Überlegungen einbezogen. Voraussetzung für die Kombinationstherapie ist ein konstruktiver Therapieverlauf mit einem Patienten, der eine aktive Veränderungserwartung und Veränderungskompetenz hat. Bei einem Rückfallgeschehen während der stationären Phase muss die Indikation für die Kombinationstherapie überprüft werden. Im Rahmen der Fallbesprechungen überprüft der Bezugstherapeut zusammen mit dem Therapeutischen Abteilungsleiter und dem verantwortlichen Arzt den bisheri- Kap it el V: P sych ot h er ap ie und Suchtmedizin 69 gen Therapieverlauf und die erreichten Therapieziele und überprüft dann nochmals die nachfolgenden Indikationskriterien, die in der Hellweg-Klinik Oerlinghausen handlungsleitend sind für die Kombitherapie, d.h. für den Wechsel von der stationären in die ambulante Phase der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter. Diese sind: 1. Der stationäre Rahmen ist nicht mehr erforderlich, damit die Erwerbsfähigkeit wiederhergestellt werden kann. 2. Der Patient kann nach ärztlich-therapeutischer Einschätzung im ambulanten Bereich abstinent leben. 3. Er hat eine Wohnung und ein stabiles soziales Umfeld, entweder in Form einer Ehe oder einer Lebenspartnerin oder einer vergleichbaren stabilisierenden familiären Struktur. In Einzelfällen kann auch ein ambulant betreutes Wohnen ausreichend sein. 4. Der Patient verfügt über eine stabile Tagesstruktur. Optimal ist, wenn der Arbeitsplatz erhalten ist und der Patient seine berufliche Tätigkeit, vielleicht auch in Form einer stufenweisen Wiedereingliederung wieder aufnehmen kann. Bei langjähriger Arbeitslosigkeit sind Maßnahmen der beruflichen Integration verbindlich eingeleitet. 5. Es bestehen keine erschwerenden komorbiden psychiatrischen Erkrankungen, wie z.B. Angststörung oder Depression, oder diese komorbiden Erkrankungen sind therapeutisch so gut behandelt und medikamentös eingestellt, dass eine Weiterbehandlung im ambulanten Rahmen ausreichend ist. Es bestehen keine schweren somatischen Begleiterkrankungen, die der ambulanten Weiterbehandlung entgegenstehen. 6. Die im stationären Setting erforderlichen Therapieziele sind erreicht. 7. Es ist therapeutisch sinnvoll, dass die erlernten Bewältigungsstrategien im Alltag auf ihre Wirkungsfähigkeit überprüft werden können. 8. Der Patient verfügt über ein angemessenes und ausreichendes Freizeitverhalten einschließlich eines abstinenten Freundeskreises. 9. Der Patient hat verbindlichen Kontakt zu einer Selbsthilfegruppe, die in Krisensituationen im ambulanten Bereich aufgesucht werden kann. 10. Der Patient ist mit der Umwandlung in die ambulante Rehabilitation einverstanden und hat den Vorteil dieses Behandlungswechsels für sich internalisiert. Es besteht Krankheitsakzeptanz und ein stabiles Abstinenzziel bei eigener Abstinenzmotivation. 70 Kap it el V: P s ych ot h er apie und S uchtmedizin Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept V. 4.1 Zusammenarbeit mit Selbsthilfegruppen Der regelmäßige Selbsthilfegruppenbesuch nach der Entwöhnungsbehandlung ist ein wichtiger prognostischer Faktor für längerfristige Suchtmittelabstinenz. Aus diesem Grund ist es ein wesentliches Therapieziel, dass sich jeder Patient nach der stationären Entwöhnungsbehandlung langfristig an eine Selbsthilfegruppe anschließt. Um die Arbeit der verschiedenen Selbsthilfegruppen kennen zu lernen, bieten verschiedene Selbsthilfegruppen (Anonyme Alkoholiker, Freundeskreise, Kreuzbund, Guttempler, Blaukreuz-Gruppen...) ihre Selbsthilfegruppenarbeit in der Hellweg-Klinik Oerlinghausen an. Es ist für jeden Patienten verpflichtend, an vier Selbsthilfegruppenabenden teilzunehmen. Die Patienten aus dem regionalen Bereich haben die Möglichkeit, im Rahmen der Ausgangsregelung ihre „alte“ Selbsthilfegruppe zu besuchen. Der Förderverein der Hellweg-Klinik Oerlinghausen bietet die Möglichkeit, dass Patienten aus der näheren Umgebung sich weiter aktiv für die Hellweg-Klinik Oerlinghausen einsetzen können. Kap it el V: P sych ot h er ap ie und Suchtmedizin 71 72 Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept VI. Kommunikationsstrukturen In der Hellweg-Klinik Oerlinghausen arbeiten verschiedene Mitarbeitergruppen im Rahmen des integrativen Therapieansatzes zusammen. Im Zentrum der therapeutischen Arbeit mit dem Patienten steht der Bezugstherapeut, der gemeinsam mit dem Patienten die Therapie plant, durchführt und die Erreichung der Therapieziele überprüft. Dieses wird im Kapitel Therapiesteuerung im Qualitätsmanagementsystem der Klinik ausführlich beschrieben. Voraussetzung für diese Therapiesteuerung ist der Informationsfluss von den verschiedenen Berufsgruppen zum Bezugstherapeuten. Dieses findet auf der Ebene des therapeutischen Teams in der Abteilungsbesprechung statt. Das therapeutische Team besteht aus Bezugstherapeuten (Psychologische Psychotherapeuten, Dipl.-Psychologen, Dipl.-Sozialarbeiter mit Zusatzausbildung), Arzt, Pflegedienstmitarbeiter, Ergotherapeuten und Körpertherapeuten. Das therapeutische Team wird geleitet von einem ärztlichen und einem therapeutischen Leiter. Beide sind in Delegation des leitenden Arztes für die Umsetzung der medizinischen Rehabilitation verantwortlich. Dazu finden täglich Abteilungsbesprechungen statt, in denen der Alltag der Patienten „geregelt“ wird. In den wöchentlichen Fallbesprechungen wird die Therapiesteuerung jedes einzelnen Patienten vorgenommen. Hier werden nach 3 und nach 6 Wochen vom Bezugstherapeuten die Therapiefortschritte und geplanten Therapiemaßnahmen vorgestellt, diskutiert und modifiziert. Dieser Prozess wird intern supervidiert durch den ärztlichen und therapeutischen Leiter. Zu wichtigen Themen aus dem Bereich der Suchtmedizin, Psychiatrie und Psychotherapie wird der Kenntnisstand der Mitarbeiter kontinuierlich verbessert. Dies geschieht durch die interne Fortbildung. Diese wird ergänzt durch externe Referenten. In allen Abteilungen findet derzeit eine fallzentrierte externe Supervision statt. In der zweimal wöchentlich stattfindenden Klinikkonferenz treffen sich alle therapeutischen Mitarbeiter, um aktuelle Entwicklungen, Schwierigkeiten und Veränderungen zu be- Kap it el V I : Kommu n ik at ionsstrukturen 73 sprechen. Ein wichtiger Bestandteil der Klinikkonferenz ist die Patientenübergabe am Freitag und am Montag. In der regelmäßig stattfindenden Zukunftskonferenz werden Entwicklungen und Verbesserungen im therapeutischen Angebot der Hellweg-Klinik Oerlinghausen besprochen und umgesetzt. Der regelmäßig stattfindende Lenkungskreis des Qualitätsmanagementsystems ergänzt diesen Prozess und verbessert fortlaufend die Arbeit der Mitarbeiter in der Klinik. Sucht ist eine chronische Erkrankung, die eine gute Heilungsprognose hat Dr. med. Thomas Redecker, Ärztlicher Direktor der Hellweg-Klinik Oerlinghausen 74 Kap it el V I : Kommu n ik ationsstruktu ren Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept VII. Qualitätsmanagement Die Mitarbeiter überprüfen und verbessern ständig die Qualität ihrer Arbeit. Dieses geschieht in einer Reihe von Prozessen. Zunächst wird das Qualitätssicherungsprogramm der Leistungsträger umgesetzt und dient zur Verbesserung des therapeutischen Angebotes, der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität. Es umfasst Patientenbefragungen, Visitationen, Peer-Review-Verfahren der Entlassungsbriefe, Messung der Laufzeiten der Entlassungsbriefe und Erfassung und Auswertung der therapeutischen Leistungen (KTL). Fünf westfälische Suchtfachkliniken haben sich zu einem externen Qualitätszirkel zusammengeschlossen und treffen sich regelmäßig, um klinikübergreifende Prozesse der Qualitätssicherung und Qualitätsverbesserung durchzuführen. Seit Dezember 2003 ist die Hellweg-Klinik Oerlinghausen zertifiziert nach DIN ISO EN 9001:2000 und den Richtlinien der „deQus“ (Deutsche Gesellschaft für Qualitätsmanagement in der Suchttherapie e.V.). Die Steuerung des Qualitätsmanagementsystems erfolgt regelmäßig über den Lenkungskreis, der unter Federführung der Klinikleitung steht. In diesem Lenkungskreis sind Mitarbeiter aus allen Bereichen der Klinik vertreten. Als Grundlage des Zertifizierungsprozesses ist ein Qualitäts-Handbuch entstanden, in dem die Prozesse und Abläufe der Hellweg-Klinik Oerlinghausen verbindlich für alle Mitarbeiter geregelt werden. Weiter gehören zu diesem Qualitätsmanagementsystem eine regelmäßige anonyme interne Patientenbefragung und die jährliche Festlegung von Qualitätszielen. Diese Qualitätsziele werden regelmäßig mit den Mitarbeitern kommuniziert und ihr Zielerreichungsgrad gemessen sowie dokumentiert. In jährlichen Abständen wird das Qualitätsmanagementsystem auf seine Anwendung im Management-Review überprüft. Ein ausgebildeter Qualitätsmanagementbeauftragter überwacht im Rahmen von internen Audits zusätzlich diesen Prozess. Kap it el V I I : Qu alit ät s management 75 Die Mitarbeiter der Hellweg-Klinik Oerlinghausen haben gemeinsam ein Leitbild erarbeitet, welches veröffentlicht ist und von allen Partnern und Kunden eingesehen werden kann. In diesem Leitbild verpflichten sich die Mitarbeiter vor dem Hintergrund eines christlichen Menschenbildes zu einer qualitativ hochwertigen, wertschätzenden und patientenorientierten therapeutischen Arbeit. Die Hellweg-Klinik Oerlinghausen ist Mitglied in folgenden Fachverbänden: • Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. in Kassel (´buss´ ) • Deutsche Gesellschaft für Qualitätsmanagement in der Suchttherapie e.V. in Kassel (deQus) • Gesamtverband für Suchtkrankenhilfe im Diakonischen Werk der Ev. Kirche Deutschland (GVS) in Berlin • Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie e.V. in Hamm (DG-Sucht) • Evangelischer Fachverband Sucht Rheinland Westfalen-Lippe • Verbund Evangelischer Krankenhäuser in Westf. gGmbH (valeo) 76 Kap it el V I I : Qu alit ät s management Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept VIII. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Die Hellweg-Klinik Oerlinghausen ist eine Einrichtung des Ev. Johanneswerkes e.V. in Bielefeld, welches mehr als 70 Einrichtungen in Europa umfasst. Zum Ev. Johanneswerk e.V. gehören mehr als 6.000 Mitarbeiter. Die Einstellung der Mitarbeiter erfolgt nach den festgelegten Richtlinien des Ev. Johanneswerkes e.V. Grundlage der Dienstverträge der Mitarbeiter sind die Arbeitsvertragsrichtlinien der Diakonischen Werke der Ev. Kirche in Deutschland (tarifrechtlich wird die AVR angewandt). Ziel unseres Personalmanagement ist es, hochqualifizierte und gut motivierte Mitarbeiter zu haben. Dazu werden im Ev. Johanneswerk e.V. verbindliche Instrumente der Personalentwicklung und Mitarbeiterführung angewandt. Die meisten therapeutischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unserer Klinik haben eine vom Verband der Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) anerkannte therapeutische Ausbildung oder Zusatzausbildung oder befinden sich derzeit in Weiterbildung. Das medizinisch-therapeutische Team setzt sich zusammen aus folgenden Berufsgruppen: • Fachärzte (Nervenarzt, Internist, Allgemeinmedizin) • Psychologische Psychotherapeuten • Diplom-PsychologInnen in therapeutischer Weiterbildung • Diplom-Sozialarbeiter oder Diplom-Sozialpädagogen mit sozialtherapeutischer Zusatzausbildung (VDR anerkannt) • Ergotherapeuten • Krankenschwestern • Physiotherapeut und Krankengymnast als Fremdleistung • Mitarbeiter im Sport • Pastorin • Diätassistentinnen und ein diätetisch geschulter Koch. Kap it el V I I I : Mit ar b eit er inn en und Mitarb eiter 77 Das therapeutische Mitarbeiterteam wird unterstützt durch Mitarbeiterinnen aus der Verwaltung, aus dem Sekretariat und Schreibdienst, aus dem Wirtschafts- und Versorgungsdienst, der Haustechnik und dem klinischen Hauspersonal sowie Zivildienstleistenden. Ich sehe, was ich erwarte. Ich erwarte, was ich einlade. Dr. med. Thomas Redecker, Ärztlicher Direktor der Hellweg-Klinik Oerlinghausen 78 Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept IX. Entscheidungsstrukturen Die Hellweg-Klinik Oerlinghausen wird verantwortlich geführt von der Klinikleitung, die aus der Verwaltungsleiterin und dem Ärztlichen Direktor besteht. Jede therapeutische Abteilung wird in Delegation des Ärztlichen Direktors von einem ärztlichen und therapeutischen Abteilungsleiter geführt. X. Raumsituation Die Hellweg-Klinik Oerlinghausen ist eine Einrichtung mit mehreren Gebäuden auf einer großen Fläche in landschaftlich reizvoller Lage. Im Haus Hellweg sind die Aufnahmestation und die Abteilung I und II untergebracht. In diesem Gebäudekomplex befinden sich auch die Verwaltung, der medizinische Bereich und der Wirtschaftsbereich. Im Haus Waldhof ist die Abteilung III untergebracht. Außerdem sind hier die Räume für die Angehörigenseminare. Zur Klinik gehören weiterhin Räume für die Ergotherapie: Medienwerkstatt, Tischlerei, Schlosserei, Gärtnerei und Räume für die Kreativtherapie. Weiterhin verfügt die Klinik noch über eine Gymnastikhalle, einen Beachvolleyballplatz und in direkter Nähe über einen kleinen Sportplatz. Weitere Sportplätze und Schwimmbäder werden in der direkten Umgebung regelmäßig genutzt. In der gegenüberliegenden Segelflugschule sind verschiedene Funktionsräume für eine regelmäßige Nutzung angemietet worden. Außerdem sind dort die Schulungsräume für die PC-Kurse der Patienten, die von der Hellweg-Klinik Oerlinghausen regelmäßig angeboten werden. Kap it el I X /X : E n t s ch eid u n gsstrukturen/Raumsituation 79 Es stehen ausreichend Freizeiträumlichkeiten zur Verfügung, in denen Tischtennis, Billard, Fußballkicker und andere Freizeitaktivitäten durchgeführt werden können. Es gibt Aufenthaltsräume, die mit Fernsehern ausgestattet sind. Im Eingangsbereich der Klinik befinden sich zwei Internetplätze, die den Patienten unentgeltlich zur Verfügung stehen. Die Hellweg-Klinik Oerlinghausen verfügt über Ein- und Zweibettzimmer in etwa gleicher Anzahl. Im Jahr 2005 ist ein neuer Bettentrakt eingeweiht worden, in dem 36 Betten in Einzel- und Doppelzimmern mit eigener Dusche und WC sowie ebenerdig liegenden Terrassen zur Verfügung stehen. Jedes Zimmer ist ausgestattet mit einem eigenen Telefonanschluss, der auf Wunsch gemietet werden kann. Öffentliche Telefonzellen sind ebenfalls vorhanden. In den Zimmern und in den Sanitäranlagen befindet sich eine Notrufanlage. Zur Schaffung eines überschaubaren, sozialen Bezugsrahmens wird die Therapiegruppe gemeinsam in einem Therapiebereich untergebracht, in dem sich auch der Aufenthaltsraum und der Gruppenraum dieser Therapiegruppe befinden. Die zuständigen Bezugstherapeuten sind ebenfalls dort räumlich untergebracht. Die Räumlichkeiten des zentralen Pflegedienstes sind in Verbindung mit der Aufnahmestation eingerichtet und können von jedem Patienten jederzeit erreicht werden. Die Physikalische Therapie bietet Räume für Massagen, Fangopackungen, Lymphdrainage, Kurzwelle und Reizstrom, Inhalationen, Krankengymnastik. 80 Kap it el X : R aums it u at ion Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept XI. Therapie- und Hausordnung Eine große Klinik mit 120 Patienten und mit über 60 Mitarbeitern bietet ein reales Lebens- und Übungsfeld für alltagsnahe Konfliktbewältigung. Diese können teilweise für den therapeutischen Prozess genutzt werden. Allerdings ist es erforderlich, eine verbindliche Therapie- und Hausordnung zu haben, die dem Patienten zur verbindlichen Orientierung dient. Die derzeitigen Therapieregeln können der aktuellen Hausordnung entnommen werden, die jedem Patienten vor Aufnahme zur Verfügung gestellt wird. Zentrale Punkte der Hausordnung sind: • Wertschätzender Umgang miteinander • Suchtmittelabstinenz • Gewaltfreiheit • Regelmäßige Teilnahme an allen verordneten therapeutischen Maßnahmen. Kap it el X I : Th er ap ie- u n d Hausord nung 81 82 Hellweg-Klinik Oerlinghausen | Therapiekonzept XII. Literaturverzeichnis Altmannsberger, W.: „Kognitiv verhaltenstherapeutische Rückfallprävention bei Alkoholabhängigkeit“, Hogrefe, Göttingen, 2004 Leitbild der Hellweg-Klinik Oerlinghausen 2004 Lindenmeyer, J.: Aupperle, A., Redecker, Th.: Alkoholabhängigkeit Hogrefe, Göttingen 2005 „Das Netz immer dichter knüpfen“, Partner 5/1995, Nicol-Verlag, Kassel, 1995 Mann, K., et al: Beck, J.: „Praxis der kognitiven Verhaltenstherapie“, Beltz, Weinheim, 1999 Qualifizierte Entzugsbehandlung von Alkoholabhängigen Deutscher Ärzteverlag, Köln 2006 Redecker, Th.: Brueck, R. Mann, K. „Alkoholismus-spezifische Psychotherapie” Deutscher Ärzteverlag Köln 2007 Therapiekonzept der Hellweg-Klinik Oerlinghausen, Oerlinghausen Stand 2000 Borgart, E., Meermann, R.: Redecker, Th.: „Stationäre Verhaltenstherapie“, Verlag Hans Huber, Bern, 2004 „Sucht und Angst“ Nicol-Verlag, Kassel, 2001 Dilling, H. et al: Redecker, Th., Gaber, H.-J.: „Internationale Klassifikation psychischer Störungen, ICD 10“, Verlag Hans Huber, Bern, 1993 Behandlungskonzept der Tagesklinik „Sucht akut“, Lage, Kreis Lippe, 2004 Schmidt, L.G., et al : Wienberg, G., Driessen, M.: „Auf dem Weg zur vergessenen Mehrheit“, Psychiatrie-Verlag, Oktober 2001 Evidenz-basierte Suchtmedizin Deutscher Ärzteverlag Köln 2006 Soyka, M.: Engelhardt, U., Härdel, C.: Anforderungsprofil für eine stationäre Einrichtung zur medizinischen Rehabilitation Alkoholabhängiger mit 100 Rehabilitationsplätzen BfA Berlin, 2003 Gastpar, M., Mann, K., Rommelsbacher, H.: Lehrbuch der Suchterkrankungen Thieme-Verlag, Stuttgart, 1999 Die Alkoholkrankheit – Diagnose und Therapie Shepmen und Hall, Weinheim 1995 Wetterling, T., Ventrup, C.: Diagnostik und Therapie von Alkoholproblemen Springer-Verlag, 1997 Wiesbeck, G.: Alkoholismusforschung, aktuelle Befunde, künftige Perspektiven Pabst-Verlag, Lengerich 2007 Kaufer, F., Reineker, H., Schmelzer, D.: „Selbstmanagement-Therapie“, Springer-Verlag, Berlin, 1996 Kap it el X I I : L it er at u r ver zeichnis Wolf, J., Redecker, Th.: „Sucht und Depression“, Nicol-Verlag, Kassel, 2002. 83 Die Hellweg-Kliniken in Oerlinghausen, Lage und Bielefeld sind Fachkliniken für die Behandlung von Suchterkrankungen wie Alkohol-, Medikamenten- und Drogenabhängigkeit. Zu den Pionieren stationärer Suchtkrankenarbeit gehört die Hellweg-Klinik Oerlinghausen (seit 1966). Sie bietet 120 Therapieplätze zur medizinischen Rehabilitation suchtkranker Männer. Als Tageskliniken unterstützen auch die Hellweg-Klinik Lage seit 2004 mit 20 Plätzen und die Hellweg-Klinik Bielefeld mit 30 Plätzen mit qualifizierten akut- und rehabilitationsmedizinischen Angeboten suchtkranke Männer und Frauen. Die Hellweg-Kliniken sind Einrichtungen des Ev. Johanneswerks, einer der großen diakonischen Träger mit Sitz in Bielefeld. Rund 6.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind in mehr als 70 Einrichtungen tätig. Der für die Kliniken zuständige Vorstand ist Thomas Sopp. Klinikleitung Dr. med. Dipl.-Psychologe Thomas Redecker Heike von Loh Ärztlicher Direktor Verwaltungsleiterin Hellweg-Klinik Oerlinghausen Robert-Kronfeld-Straße 12 33813 Oerlinghausen E-Mail: [email protected] www.hellweg-kliniken.de