5 . M A I — 5 . J U N I 2 016 w w w.musik festspiele.com 31 SOUND & SCIENCE: »DA S G E H E IM N IS VON M U S I K U N D Z E I T« 21 U H R TU - DRESDEN, B I O LO G I S C H E I N S T I T U T E MAI D I E N S TAG Dr. Thomas Schäfer, Musikpsychologe Jan Gerdes, Klavier Im Rahmen von » S O U N D & S C I E N C E « – eine Kooperation mit der TU Dresden Mit freundlicher Unterstützung von Piano-Gäbler Die Dresdner Musikfestspiele möchten Sie auch in diesem Jahr sehr herzlich in ihrer Festspiel-Lounge im QF Hotel am Neumarkt begrüßen. Freuen Sie sich dort auf Begegnungen und einen musikalischen Ausklang des Abends mit Festspielkünstlern. Die Lounge ist donnerstags bis samstags ab 21 Uhr geöffnet. Weitere Termine und das musikalische Programm finden Sie unter www.musikfestspiele.com »ZEI T M E SSER« PROGR AMM SOUND & SCIENCE Auf der Suche nach dem Geheimnis von Musik und Zeit. Eine inspirierende Lehrstunde mit Musik. In Ausschnitten gespielte Werke: Vollständig gespielte Werke: »Kind im Einschlummern« aus den »Kinderszenen« op. 15 F R É D É R I C C H O P I N (1810 –18 49) Walzer op. 64/1 »Minutenwalzer« C Y N D I L A U P E R ( * 19 5 3) »Time After Time« R O B E R T S C H U M A N N (1810 –18 5 6) »Träumerei« aus den »Kinderszenen« op. 15 G YÖ R G Y L I G E T I (19 2 3 – 2 0 0 6) ROBERT SCHUMANN F R A N Z S C H U B E R T (179 7–18 2 8) Sonate B-Dur D 960 (Anfang des 4. Satzes Allegro ma non troppo) J O H N P H I L I P S O U S A (18 5 4 –19 3 2) »Stars and Stripes Forever« FRÉDÉRIC CHOPIN »Trauermarsch« (3. Satz aus der Klaviersonate op. 35/2) »Automne à Varsovie« aus den »Études« (Erstes Buch) Prélude e-Moll op. 28/4 H E R M A N H U P F E L D (18 94 –19 51) J O S E P H H AY D N (17 3 2–18 0 9) J O H N C A G E (1912–19 9 2) »4’33’’« L U D W I G VA N B E E T H O V E N (17 70 –18 27 ) O L I V I E R M E S S I A E N (19 0 8 –19 9 2) Klaviersonate Nr. 14 op. 27/2 »Mondscheinsonate« (3. Satz Presto agitato) »As Time Goes By« 1. Satz aus der Sonate C-Dur Hob. XVI:50 »Regard du temps« aus »Vingt regards sur l’enfant-Jésus« M I K E S C H O E N M E H L ( * 19 57 ) »Die kaputte Schallplatte« JOH A N N SE BA S TI A N BACH (16 8 5 –175 0) Fuge E-Dur aus dem »Wohltemperierten Klavier II« 02 Konzertdauer: ca. 1 Stunde 30 Minuten Universitäten sind naturgemäß experimentierfreudige Orte, an denen nicht selten puffend und krachend Patente und Innovationen gedeihen. Auch Jan Vogler hat als Intendant der Dresdner Musikfestspiele seit 2009 schon vielfach Experimentierfreude bewiesen. Und so ist es gar nicht verwunderlich, dass die Technische Universität Dresden (TU) und die Dresdner Musikfestspiele seit 2014 mit der Reihe »Sound & Science« einmal im Jahr gemeinsam die Schnittstellen von Kunst und Wissenschaft ausloten. Dass beide – Musik und Forschung – eng verbunden sind, liegt für den Cellisten Jan Vogler auf der Hand: »Sound & Science war schon immer eine ›marriage made in the heavens‹, Albert Einstein ist das typische Beispiel des Geige spielenden Wissenschaftsgenies, und es gibt sehr viele klassische Musiker, die eine große Affinität zur Mathematik und anderen Wissenschaften entwickeln«. Wie ein Wissenschaftler forscht auch er mit unerschöpflicher Neugier und Ideenreichtum immer wieder nach spannenden Innovationen für klassische Konzerte und öffnet die Säle dabei gezielt auch für junge Konzertbesucher. Das Resultat sind Angebote zur Musikvermittlung, die das Publikum etwa nach dem Konzert noch mit einer lauschigen After-Show-Party zum Tanzen einladen, oder Formate, bei denen klassische Musik an einem ungewöhnlichen Ort wie der Reithalle Dresden-Straße E® spielt. und Wissenschaft in Bezug zu setzen. »Für Dresden ist diese Verbindung sogar existenziell: Ohne Musik und Wissenschaft ist Dresden im internationalen Städtewettbewerb chancenlos, aber in der Inspiration dieser beiden fundamentalen Säulen unserer Stadt liegt ein großes Potenzial. Eine moderne Stadt der Forschung und der Künste, das braucht unsere Welt«, sagt der Festspielintendant. Bereits zum dritten Mal ist die Dresdner Exzellenz-Universität nun in diesem Jahr Gastgeber für die Konzertreihe »Sound & Science«, die als ein künstlerisch-wissenschaftliches Experiment »in Progress« angelegt ist. Passend zum aktuellen Festspielmotto gehen der Musikpsychologe Dr. Thomas Schäfer und der Pianist Jan Gerdes dabei am heutigen Abend auf Spurensuche nach dem »Geheimnis von Musik und Zeit«. Der Konzertsaal wird auf diese Weise abermals zum Labor, die Musik selbst zum Forschungsgegenstand – und das Publikum ein Stück weit vielleicht auch zum Probanden. Mit ausgewählten Kostproben am Klavier zeigen Gerdes und Schäfer, wie Musik die Zeit mal schnell, mal langsam vergehen lassen, Langeweile vertreiben oder das Zeitempfinden ganz außer Kraft setzen – und damit den Takt unseres Lebens mitbestimmen kann. In diesem lebendigen Spannungsfeld tun sich bei den Dresdner Musikfestspielen immer wieder neue, interessante Verbindungen von Musik, Raum und Zeitgeist auf. Es war daher wohl nur eine Frage der Zeit, bis Jan Vogler mit seinem Klassikfestival auch den TU-Campus als innerstädtisches Randgebiet eroberte, um Musik 03 TA M B O U R S P I E L E N D E R E N G E L J A K E B A D D E L E Y: » C H R O N O S « INTERVIEW MIT THOMAS SCHÄFER UND JAN GERDES Herr Dr. Schäfer, Sie schreiben »Musik ist gestaltete Zeit« und »wie kaum eine andere Kunstform ... von Geschwindigkeit, Takt und Rhythmus abhängig«. Und »sie kann unser Gehirn auf einen Takt eichen«. Wie müssen wir uns das vorstellen? Was passiert da in unseren Köpfen? Thomas Schäfer: Im Vergleich zu den anderen Sinnen kommen dem Hörsinn ganz besondere Eigenschaften zu: Er hat eine große Reichweite, er erstreckt sich gleichzeitig in alle Raumdimensionen und detektiert das Geschehen um uns herum in einem 360-Grad-Radius. Er ist extrem empfindlich (wäre er noch empfindlicher, würden wir die Bewegungen der Luftmoleküle hören, also ein ständiges Rauschen wahrnehmen), und er ist immer empfangsbereit (auch im Schlaf verarbeitet unser Gehirn akustische Informationen). Biologisch betrachtet ist er der wichtigste Sinn, wenn es um das Sammeln von Informationen über die Umgebung geht. Ob sich etwa nachts ein gefährliches Tier oder ein feindlicher Artgenosse nähert, können Menschen vorrangig durch den Hörsinn ermitteln. Zudem ist – neurophysiologisch betrachtet – der Hörsinn sehr eng mit neuronalen Schaltkreisen verknüpft, die unsere Aufmerksamkeit steuern. Akustischen Reizen wird also eine Art Königsweg zur Aufmerksamkeit geboten. Musik setzt auf diesen biologischen Voraussetzungen auf und kann daher genau wie jeder andere akustische Reiz direkt auf unser Gehirn wirken, indem sie unsere Aufmerksamkeit einfängt und zu einer automatischen Verarbeitung der in ihr enthaltenen Informationen führt. Evolutionsbiologisch gesehen können das verschiedene Informationen sein, die dabei in prähistorischen Zeiten eventuell von Interesse waren und es teilweise heute 04 noch sind. Es gilt als relativ sicher, dass es mindestens um zwei wichtige Informationen geht. Beide haben mit dem großen Stellenwert des sozialen Gefüges beim Homo sapiens zu tun. Die erste ist der Takt. Vermutlich haben Menschen erste rhythmische Laute von sich gegeben, als sie anfingen, gemeinsame Aktivitäten zu koordinieren, etwa ein großes Tier zu jagen. Dass wir mit einem vorgegebenen Takt »mitgehen«, ist uns quasi eingeprägt. Wir können uns dem fast gar nicht entziehen. Entsprechend ist es für unser Gehirn nahezu unlösbar, sich auf verschiedene Takte einzustellen. Wir können in der Regel zum Beispiel nicht mit der linken Hand einen anderen Takt schlagen als mit der rechten. Das geht nur mit viel Übung, wie sie etwa Schlagzeuger aufbringen müssen. Die zweite wichtige Information ist der emotionale Gehalt akustischer Reize. Auch hier darf angenommen werden, dass Menschen noch weit vor der Entwicklung der Sprache mit Hilfe akustischer Laute so etwas wie emotional bedeutsame Informationen übermittelt haben. Heute ist Musik natürlich über seine biologischen Wurzeln hinaus auch eine Kunstform. Insofern eine ihrer wichtigsten Funktionen der Zeitvertreib ist, ist sie gestaltete Zeit. Aber auch der ästhetische Genuss von Musik kann sich nur in einer zeitlichen Dimension entwickeln, was ebenfalls ein Aspekt der gestalteten Zeit ist. Wenn dem so ist, wie oben beschrieben, können Sie, Herr Gerdes, dann als Musiker Ihr Publikum manipulieren? Jan Gerdes: Wenn wir grundsätzlich von der Voraussetzung ausgehen, dass all diese Beobachtungen und Erkenntnisse global gelten und nicht nur den Maßstäben westlichen Denkens entsprechen, so würde ich mich so weit aus dem Fenster lehnen zu sagen, dass rhythmisch eingängige Musik wie z. B. Stücke im 4/4-oder 3/4-Takt beim westlichen Publikum besser ankommen als komplexere, schwerer oder teilweise gar nicht mehr zu hörende Zählzeiten in z. B. zeitgenössischer Musik. Zur massenhaften Vereinnahmung und Gleichschaltung benutzten faschistische Diktaturen wie das NS-Regime nicht umsonst zackige Märsche in heroischem Dur im 4/4-Takt. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Technomusik, die, natürlich ohne derartige politische Implikationen, massenekstatische Effekte durch durchgepeitschte mechanisierte 4/4-Rhythmen in höchstem Tempo hervorruft. Die Repertoireauswahl hat schon, wenn man so will, »manipulatives« Potenzial: Nach jahrelangem Konzertieren weiß man, dass die richtigen »Knallerstücke«, wie z. B. die Revolutionsetüde und die As-Dur-Polonaise von Chopin, aufgrund ihres dramatisch erregten Zugriffs oder ihres heroischen Rhythmus immer sehr gut ankommen. Beim programmatischen Aufbau eines Klavierabends sollte man sich daher immer über diese Effekte beim Publikum im Klaren sein; so ist es tendenziell günstig, z. B. die komplexeren, schwierigeren Stücke in die Mitte, die effektvolleren Stücke an das Ende zu setzen. Warum ist es so schwierig, Zeit zu definieren? Welchen Weg gehen da die Psychologen? T.S. Das müsste man eigentlich die Philosophen fragen. Psychologisch ist Zeit deswegen so schwer zu definieren, weil wir kein Sinnesorgan dafür haben. Es scheint auch keine Hirnstrukturen zu geben, die originär und ausschließlich für die Verarbeitung von Zeit verantwortlich sind. Man kann vielmehr sagen, dass Zeit eine Art Metapher ist, die wir subjektiv verwenden, die aber im Gehirn oder in der neuronalen Verarbeitung schwer fassbar ist. Der Einfachheit halber definiert man Zeit daher physikalisch, also als Größe, die objektiv messund quantifizierbar ist und die der Welt eine eindeutige Struktur verleiht (etwa in dem Sinne, dass Ereignisse nicht umkehrbar sind). Aufbauend auf solch einer Definition kann man psychologische Studien so anlegen, dass man Menschen die Dauer von Zeitintervallen schätzen lässt und schaut, wie genau sie das können und unter welchen Umständen solche Schätzungen systematisch länger oder kürzer ausfallen. Die Psychologie geht aber meist noch einen Schritt weiter und fragt Menschen auch nach ihrem subjektiven Zeitempfinden, also danach, ob für sie die Zeit schnell oder langsam vergeht. Hier gibt es sehr spannende Effekte (zum Beispiel, dass Musik die subjektive Geschwindigkeit der Zeit erhöhen kann). Allerdings scheitern wir hier auch an einer verbindlichen Definition, was Zeitempfinden genau ist. Das ist wissenschaftlich sehr unklar definiert. Es könnte gut sein, dass man mit diesen Studien einfach nur Langeweile misst. Interessant ist, dass es in der antiken griechischen Wissenschaft bzw. Philosophie zwei Arten von Zeit gab. Chronos (die chronologische Zeit) steht für die physikalische Zeit, die man messen kann. Sie ordnet die Welt und die Ereignisse in ihr. Kairos (die kairologische Zeit) hingegen ist die »Ereigniszeit«, die sich auf den Sinngehalt von Abfolgen bezieht, etwa auf ‚die richtige Zeit, etwas zu tun’. Dieser Zeitbegriff würde eher unserem subjektiven Erleben von Zeit entsprechen und sollte in der Wissenschaft noch stärker berücksichtigt werden. Wie beeinflusst Musik körperliche Parameter? 05 » S T E H E N G E B L I E B E N E Z E I T« T.S. Warum der Takt eine so große Rolle spielt, habe ich oben beschrieben. Was genau physiologisch geschieht, lässt sich in drei Aspekte gliedern. Der erste ist ein noch sehr umstrittener. Viele psychologische Modelle der Zeitverarbeitung (es gibt mehr als zwanzig verschiedene) gehen davon aus, dass es eine Art Taktgeber in unserem Gehirn gibt, der wie eine Uhr Impulse aussendet, die wir irgendwie zählen und daraus ein Empfinden über den Zeitfluss oder die Dauer von Intervallen ableiten. Diese Modelle würden behaupten, dass der Taktgeber von einem äußeren Takt abhängig sein kann, sich also beispielsweise dem Tempo von gehörter Musik angleicht. Physiologisch wäre das über bestimmte Neurotransmitter vermittelt, die vermehrt ausgeschüttet werden, etwa je schneller die gehörte Musik ist. Der zweite Aspekt hat schlicht mit der Energie von Musik zu tun. Da sie physiologisch im Ohr verarbeitet wird, hat sie ein bestimmtes Energiepotenzial, welches vor allem dann größer ist, wenn Musik lauter oder schneller ist. Sie nimmt dann einfach mehr Verarbeitungskapazität in Anspruch. Psychologen sprechen hier vom »arousal«, also einer Art psycho-physiologischer Erregung, die sich in Abhängigkeit der Musik ändert. Wir sehen diese Reaktion auf Lautstärke und Tempo von Musik an allen physiologischen Parametern wie Herzrate, Hautwiderstand, Atemfrequenz oder auch cerebralem Blutfluss. Bei schneller Musik kann das etwa dazu führen, dass wir uns unwillkürlich schneller bewegen, aber auch, dass in uns eher Emotionen ausgelöst werden, die mit einem höheren Erregungsgehalt assoziiert sind, wie Freude oder Euphorie. Der letzte Aspekt ist erst in den letzten Jahren intensiv erforscht worden. Er hat mit dem sogenannten Embodiment zu tun, also mit der Tatsache, dass die 06 Art und Weise unseres subjektiven Erlebens immer einen Bezug zur »Körperlichkeit« hat. Konkret heißt das, dass wir beim Musikhören in der Regel die körperliche Aktivität derjenigen nachempfinden, die diese Musik ausführen. Dies geschieht dann besonders stark, wenn wir Musiker beim spielen beobachten. Verantwortlich (wahrscheinlich für alle Arten von Embodiment) sind die Spiegelneurone. Musik ist also letztlich auch etwas, was wir ganz fundamental auf einer motorischen Ebene körperlich nachvollziehen, egal ob wir die Musik selbst machen oder ihr nur zuhören. Wie wird aus Ihrer Sicht, Herr Gerdes, die subjektive Zeit-Wahrnehmung durch Musik bestimmt? J.G. Die Wahrnehmung von Musik hängt von vielen äußeren und inneren Faktoren ab. Wenn wir z. B. gehetzt in ein Konzert kommen, werden wir den Beginn der Aufführung anders erleben, als wenn wir uns in Muße darauf vorbereitet haben und entspannt genießen. Natürlich kennen wir alle das Phänomen, dass angenehme, spannende Dinge schneller »passieren« als lästige, langweilende. Langsame, emotionale Musik erleben wir als ruhiger, langatmiger, während furiose, dramatische Musik eher schneller nach unserem Empfinden passiert. In unseren Experimenten werden Herr Dr. Schäfer und ich langsame Stücke wie z. B. die »Träumerei« von Robert Schumann oder den ertsen Satz der »Mondscheinsonate« von Beethoven einmal schnell spielen, einen schnellen Haydn-Satz umgekehrt langsam, um zu zeigen wie sich die Wahrnehmung derselben Musik verändert, obwohl dieselben Noten gespielt werden. Warum wirken etwa langsame Stücke gefühlvoller als schnelle? sich verlangsamt und machen keine schnellen, unvorhergesehenen oder komplexen Bewegungen. T.S. Das würde ich so gar nicht sagen. Ein Gefühl kann ja alles sein, von Freude bis Traurigkeit, von Ärger bis Mitleid, von Erhabenheit bis Ekel. In der Psychologie sprechen wir lieber von Emotionen als von Gefühlen. Gefühle beschreiben nur den subjektiv erlebten Aspekt. Aber eine Emotion ist mehr, sie beinhaltet auch – und das ist entscheidend hier – den Aspekt einer bestimmten körperlichen Erregung (siehe oben), der nicht unbedingt auch wahrgenommen werden muss. Psychologen definieren Emotionen meist durch eine Kombination von zwei Variablen: Erregung und Valenz (Wertigkeit). Die Erregung wird maßgeblich, wie schon erwähnt, durch Tempo oder Lautstärke bestimmt (meist auch durch die Komplexität). Die Valenz ist hingegen kulturell und individuell erlernt. Im westlichen Kulturkreis gelten außerdem etwa Dur als fröhlich und Moll als traurig. Auch das ist vollständig erlernt und nicht etwa angeboren. Erregung und Valenz bestimmen nun, welche Emotion wir empfinden. Hohe Erregung und positive Valenz etwa äußern sich in Emotionen wie Freude. Niedrige Erregung und negative Valenz äußern sich in Traurigkeit, Melancholie oder Nostalgie. Wahrscheinlich meinen Sie solche Emotionen, wenn Sie sagen, etwas würde gefühlvoller klingen. Die Antwort ist also recht einfach – Musik, die langsamer ist als der Durchschnitt und damit ein unterdurchschnittliches Erregungspotenzial hat, ist eher mit Emotionen wie Traurigkeit, Melancholie oder Nostalgie assoziiert. Biologisch liegt die Erklärung dafür auf der Hand: Menschen, die traurig sind, zeigen ebenfalls ein Muster unterdurchschnittlicher Energie, sie bewegen Wie erfolgt die Gestaltung von Zeit in der Musik? Und wie ist das bei Stücken mit Zeitbezug? Mit welchen Mitteln wird dort gearbeitet? T.S.: O je, da überlasse ich das Spielfeld lieber Herrn Gerdes, der dazu ja einiges geschrieben hat. Zudem hatte ich ganz oben schon erwähnt, dass es sich meist um rein subjektive Empfindungen handelt, die der Psychologie daher oft nur als Metapher zur Verfügung stehen (wenn jemand etwa sagt, die Zeit »fliegt dahin«). Die Forschung steckt daher noch in den Kinderschuhen, was solche Empfindungen angeht. J.G. Darüber könnte man ganze Abhandlungen schreiben! Da ich mir nicht erlaube, über außereuropäische Gestaltungssysteme von Zeit in der Musik eine kompakte Bewertung abzugeben, beschränke ich mich hier in meiner Antwort auf die westlich-europäische Sicht. Die Erfindung der Notation von Musik, von einfachen Neumen des frühen Mittelalters angefangen bis hin zu komplexen Partituren Neuer Musik mit Live-Elektronik, versucht die zeitliche Disposition von Musik zu organisieren: Mit Notenwerten unterschiedlicher Länge über Takteinteilungen, die »schwere« von »leichten« Zählzeiten unterscheiden lassen und dadurch zeitliche Abstände von Zählzeiten und auch Zeiträume erlebbar machen. In der zeitgenössischen Musik ist die Determinierung der zeitlichen Abläufe so genau notiert, dass man sich als Interpret bisweilen wie in einem »Schraubstock« eingeklemmt befindet und kaum zum eigenen Atmen kommt. 07 JOHN C AGE . A POS TER Ebenso gibt es improvisatorische und aleatorische Zeitkonzepte, die notierte Zeit in verschiedenen hybriden Graden von Notation bis hin zu völlig freien Spielanweisungen über das Tempo und den Puls darstellen: z. B. Stücke, in denen sich streng ausnotierte Passagen mit freien, dem Interpreten überlassenen Stellen abwechseln. Und natürlich darf hier John Cage nicht unerwähnt bleiben, der gerade zum Phänomen Zeit bedeutende Fragen gestellt hat: Was ist eigentlich Zeit, und wie ist das Verhältnis von »Musikzeit«, also der Zeit des Hörens oder Spielens eines notierten Musikstückes und der äußeren Zeit unseres Alltags, die einfach so passiert und vergeht? Auch kritische Fragen wie: Kann man Zeit überhaupt notieren? Oder ist sie nicht ein freies, wildes unzähmbares Raubtier, das man nicht in einen Käfig der Notation sperren kann? Chopins »Minutenwalzer« dauert übrigens gar nicht eine Minute, sondern ca. 2 Minuten 30 Sekunden, der Untertitel stammt nicht vom Komponisten und gibt nur einen Hinweis auf den momenthaften Charakter des Stückes, den Chopin aber sehr wohl anstrebte. »4’33« von John Cage wird erklingen, das ultimativste, radikalste Stück der Musikgeschichte, bestehend aus völliger Stille. Es gibt eine Partitur, der man mit Stoppuhr zu folgen hat, um die einzelnen Sätze exakt in Echtzeit zu spielen, also hier rückt die äußere Zeit quasi in den Vordergrund, unbeeinflussbar durch interpretatorische »Mätzchen« und objektiv. Sie lässt den Zuhörer allein mit sich und zwingt ihn, die Zeit in ihrer Reinform zu erleben, so, wie sie nämlich ist: Sie geschieht! 08 THOMAS SCHÄFER JAN GERDES studierte Architektur, Psychologie und Philosophie in Leipzig und Chemnitz. Im Anschluss arbeitete er freiberuflich im Bereich der Betreuung und Therapie von Kindern mit Aufmerksamkeitsstörungen und forschte an der Ohio State University und an der Technischen Universität Chemnitz. Seit 2005 unterrichtet er am Lehrstuhl für Forschungsmethodik und Evaluation am Institut für Psychologie der TU Chemnitz Methodenlehre, Statistik und Wissenschaftstheorie und schreibt zudem Lehrbücher zu diesen Themenfeldern. Dabei konzentriert sich seine Forschung auf die Entstehung und Entwicklung von funktionalen Verhaltensweisen, Einstellungen und Präferenzen, und dies vor allem in Bezug auf Musik. So beschäftigt sich der leidenschaftliche Musikhörer insbesondere mit der Herausbildung des Musikgeschmacks und der Art und Weise, wie Menschen Musik im Alltag nutzen, um bestimmte Ziele zu erreichen oder Bedürfnisse zu befriedigen. In der Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern aus dem In- und Ausland entstanden bereits zahlreiche Forschungsarbeiten zu diesem und zahlreichen weiteren Themen, darunter Arbeiten über musikalische Emotionen, musikalische Chill- oder Gänsehauterlebnisse, das Erleben von Raum und Zeit unter dem Einfluss von Musik, die Änderungen von Blickbewegungen beim Musikhören oder den Einfluss von Musik auf Stress und Wohlbefinden. Darüber hinaus konzentriert sich seine Forschung auf die Psychologie des Urteilens und Entscheidens, auf die Wissenschaftstheorie, auf Achtsamkeit sowie Aufmerksamkeitsstörungen bei Kindern und Erwachsenen. gehört zu den interessantesten und vielseitigsten Musikern seiner Generation. Als Pianist zwischen Tradition und Avantgarde beherrscht er sowohl das klassisch-romantische als auch das zeitgenössische Repertoire. Schon früh errang er Aufmerksamkeit durch seine besondere Affinität zu Neuer Musik und gewann 1994 den Ersten Preis beim »Wettbewerb für zeitgenössische Musik Weimar«. Er studierte Klavier und Schlagzeug an den Musikhochschulen Hannover und Detmold bei Kurt Bauer, Nerine Barrett und Renate Kretschmar-Fischer; Meisterkurse bei namhaften Pianisten wie Anatol Ugorski, Halina Czerny-Stefańska oder Edith Picht-Axenfeld ergänzten seine Ausbildung. Konzertreisen führten den vielfach ausgezeichneten Künstler bereits in zahlreiche Länder Europas, nach Südamerika und Fernost, wo er in den großen Konzertsälen und bei namhaften Festivals auftrat. 2008 erschien seine erste Solo-CD – »Gelände / Zeichnung« – mit Werken zeitgenössischer Komponisten beim Label edition zeitklang. Als Grenzgänger zwischen Klassik, Neuer Musik, Electro und Performance gründete Jan Gerdes 2004 gemeinsam mit dem Elektronikkünstler Thomas Andritschke das Improvisations-Kompositions-Duo EROL, welches die Schnittstelle zwischen Klaviermusik und elektronischer Clubkultur auslotet. Seit 2011 setzt er die Arbeit auf diesem Feld in dem Duo-Projekt KAUM mit der argentinisch-spanischen Musikerin Silvina Avila fort; seit 2014 arbeitet er auch mit dem italienischen Komponisten, DJ und Techno-Produzenten Fabrizio Nocci. Gerdes lebt in Berlin und unterrichtet Klavier sowie zeitgenössische Musik an der Universität Potsdam sowie der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin. 09 PA R T N E R & S P O N S O R E N Die Dresdner Musikfestspiele sind eine Einrichtung der Landeshauptstadt Dresden und werden gefördert vom Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst. SCHIRMHERR Stanislaw Tillich, Ministerpräsident des Freistaates Sachsen PA R T N E R P R O J E K T PA R T N E R Finanzgruppe Sparkassen-Kulturfonds K O O P E R AT I O N S PA R T N E R M E D I E N PA R T N E R KULTUR IMPRESSUM Die Dresdner Musikfestspiele freuen sich, 2017 ihre Gäste vom 18. Mai bis 18. Juni begrüßen zu dürfen. Vorverkaufsbeginn: 01. Oktober 2016 DRESDNER MUSIKFESTSPIELE www.musikfestspiele.com Intendant Jan Vogler Dramaturgie Imke Hinz, Katarina Hinzpeter Textkonzeption & Redaktion Christiane Filius-Jehne Redaktionelle Mitarbeit Franziska Haupt, Rebekka Jungnickel, Ana Maria Quandt Art Direktion & Design Gesine Grotrian & Patricia Jaecklin Satz & Gestalterische Umsetzung Agentur Grafikladen, Dresden Herstellung Union Druckerei Dresden GmbH T E X T N AC H W E I S E Der Text zu Sound & Science stammt von Nicole Czerwinka. Das Interview mit Jan Gerdes und Dr. Thomas Schäfer führte Christiane Filius-Jehne. B I L D N AC H W E I S E S. 3: »Zeitmesser2«, Quelle: www.gimp-werstatt.de; S. 4: Melozzo da Forlí, Tambour und Flöte spielender Engel, Quelle: www.zeno.org; S. 5: Jake Baddeley: »Chronos«, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Künstlers, www.jakebaddeley.com; S. 7: Michal Túma, »Stehengebliebene Zeit«, Postkarte von 1971, © Foto Mido, Budweis; S. 8: »John Cage. A Poster«, Quelle: www.litinlun.com; S. 9: Jan Gerdes © Mathias Schardt, Thomas Schäfer © Eberth Trotz Bemühungen konnte es nicht immer gelingen, alle Rechteinhaber der veröffentlichten Texte und Bilder ausfindig zu machen. Urheber, die nicht erreicht werden konnten, wenden sich bitte an die Herausgeber. Änderungen vorbehalten! Es wird darauf hingewiesen, dass aus urheberrechtlichen Gründen Bild-, Video- und Tonaufnahmen während der Aufführung nicht gestattet sind. Bitte überprüfen Sie rechtzeitig, ob Ihre Mobiltelefone ausgeschaltet sind! 10 45 000 MENSCHEN 125 NATIONALITÄTEN EINE UNI UNSERE GEMEINSCHAFT UNSERE EXZELLENZ GESELLSCHAFT FREUNDE DER DRESDNER MUSIKFESTSPIELE E. V. »Da es nichts gibt, was wertvoller ist, als Freunde zu haben, sollte man keine Gelegenheit auslassen, Freundschaften zu schließen.« Francesco Guicciaroni FREUNDE WE RDE N! Engagieren Sie sich als Freund/Freundin der Dresdner Musikfestspiele für die nachhaltige Entwicklung eines der großen Klassikfestivals. 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