126 6 Ausblick „… man (muss) sich daran erinnern, dass all unsere psychologischen Vorläufigkeiten einmal auf den Boden organischer Träger gestellt werden sollen. Es wird dann wahrscheinlich, dass es besondere Stoffe und chemische Prozesse sind, welche die Wirkung der Sexualität ausüben und die Fortsetzung des individuellen Lebens in das der Art vermitteln.“ Sigmund Freud (Zur Einführung des Narzissmus, 1914) 6.1 Derzeitiger Stand in Deutschland Die Psychiatrie und die Psychotherapie nehmen derzeit im Konzert der medizinischen Fächer aufgrund ihrer gesundheitsökonomischen Bedeutung, der Anzahl der Krankenhausbetten sowie durch ihre enge Beziehung zur Erforschung geistiger Prozesse, den klinischen Neurowissenschaften und den psychosozialen Fächern eine Schlüsselposition ein. Die ganzheitliche Betrachtung des betroffenen Patienten mit interdisziplinärem Zugang eröffnet breit gefächerte, interessante Arbeitsfelder und wissenschaftliche Forschungsmöglichkeiten zu zentralen Fragen des Menschseins. Psychische Erkrankungen gewinnen weltweit an Bedeutung; ca. 35 % der Deutschen haben es im Laufe ihres Lebens einmal mit einer psychischen Störung zu tun. Im Gegensatz zu Patienten mit den ebenfalls häufigen Herz-Kreislauf-Erkrankungen werden Menschen mit psychischen Störungen in unserer Gesellschaft nach wie vor stigmatisiert und diskriminiert. Dies hat mit archaischen Weltbildern und Vorurteilen zu tun, denen sich auch Entscheidungsträger nicht leicht entziehen können. So weist ein Großteil der Bevölkerung Menschen, die an einer depressiven Störung, ADHS oder Alkoholabhängigkeit leiden, eine eigene Schuld an ihrer Krankheit zu. Medikamentenkosten und Verordnungen in der Psychiatrie werden mit Argusaugen beobachtet. Menschen, die in diesem spannenden und gesellschaftlich wichtigen Fachgebiet arbeiten, genießen keine große öffentliche Reputation. Schwarzweiß-Denken (die „guten“ Psychologen und die „bösen“ Psychiater) ist weit verbreitet. Die zunehmende Ökonomisierung des Gesundheitswesens trägt der menschlichen Beziehung, die unabdingbar für den Therapieerfolg in der Psychiatrie und der Psychotherapie ist, schon jetzt nicht mehr genügend Rechnung. Die ökonomische Perspektive ist simpel: Personalkosten stellen den größten Kostenfaktor dar – und den gilt es abzubauen. Die starke Bettenauslastung bei gleichzeitiger personeller Minderbesetzung und die überbordende Bürokratie und Dokumentation gefährden aber eine qualitativ hochwertige Patientenbetreuung und auch eine entsprechend hochwertige Weiterbildung. Dies spiegelt sich u. a. in mangelndem ärztlichem und pflegerischem Nachwuchs wider. 6.2 Quo vadis, Psychiatrie und Psychotherapie? Die internationale Psychiatrie und Psychotherapie hat in den letzten 20 Jahren eine rasante Entwicklung genommen. Auf hohem naturwissenschaftlichem Niveau sind durch die methodischen Weiterentwicklungen in der Bildgebung und der Molekularbiologie viel versprechende Werkzeuge geschaffen worden, die Ätiologie und die Pathogenese psychischer Störungen mehrdimensional zu erforschen. Der bisherige Ansatz, von einer diagnostischen Kategorie zur Pathopyhsiologie zu gelangen, hat sich in den letzten 50 Jahren nicht als erfolgreich herausgestellt. Es ist nun aber möglich, von der Genomik und Epigenetik über die neuralen Netzwerke – trotz deren Komplexität – Schritt für Schritt zu den Symptomen zu gelangen und dadurch die Phänomene besser zu verstehen, mit denen die Patienten und die Behandelnden täglich im Alltag konfrontiert sind (Akil et al. 2010). Diese fas- Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. „Damit das Mögliche entsteht, muss immer wieder das Unmögliche versucht werden.“ Hermann Hesse 6.2 Quo vadis, Psychiatrie und Psychotherapie? Abb. 6.1 Diagnostische Bausteine in der Psychiatrie im 21. Jahrhundert. Bildgebung körperlicher und neurologischer Befund Anamnese Elektrophysiologie psychopathologischer Befund Familienanamnese differenzierte neuropsychologische Untersuchung frühkindliche Entwicklung/ Bindungsverhalten psychosoziales Umfeld/Stressoren soziokultureller Hintergrund–Krankheitsmodell zinierenden Entwicklungen kontinuierlich zu verfolgen, stärker und selbstbewusst auch in Deutschland das Potenzial zu kommunizieren und nicht klein zu reden sowie neu gewonnene Ergebnisse in den Alltag, z. B. in die Psychoedukation, zu integrieren, wird in den nächsten Jahren – sofern die zunehmende Ökonomisierung überhaupt dafür Ressourcen übrig lässt – zu den wichtigen Aufgaben des Psychiaters und Psychotherapeuten gehören. Damit ist die Hoffnung verknüpft, dass sich langsam doch auch Weltbilder und damit Stigma und Diskriminierung verändern. Die Psychiatrie des 21. Jahrhunderts unter diagnostischem Aspekt ist ein Gebäude aus zahlreichen Bausteinen: Die Kenntnis des soziokulturellen Hintergrunds und das Krankheitsmodell des Patienten sind das Fundament der psychiatrisch-psychotherapeutischen Intervention, denn nur in diesem Kontext lassen sich die Symptome einordnen. Die differenzierte Anamnese mit frühkindlicher Entwicklung und psychosozialem Umfeld des Patienten inklusive differenzierter Familienanamnese bildet das Erdgeschoss. Darauf bauen die klinischneurologische Untersuchung, der sorgfältig erhobene psychopathologische Befund und eine differenzierte, hypothesengeleitete neuropsychologische Charakterisierung auf. Die psychopathologischen Begriffe sollen dort, wo operationalisierte Definitionen vorliegen (z. B. AMDP‑System), in der Kommunikation zwischen Ärzten in dieser Form verwendet werden. Alle weiteren Befunde inklusive Labordiagnostik, zukünftig DNA‑Chips zur Charakterisierung von Vulnerabilitätsgenvarianten bzw. Therapieresponse-Allelen und die Elektrophysiologie dienen dazu, den einzelnen Phänotyp besser zu charakterisieren, um aus bisheriger Standarddiagnostik und ‑therapie eine maßgeschneiderte zu machen (Abb. 6.1). Malignes Bürogratom in der stationären Psychiatrie und Psychosomatik In den nächsten Jahren wird ein politisch gewolltes, verändertes Vergütungssystem mit einheitlicher, lückenloser und und kontinuierlicher Dokumentation aller Prozeduren den klinischen Alltag der stationären Psychiatrie und Psychotherapie prägen. Dieses System wird noch komplizierter sein, als das DRG‑System der sog. somatischen Fächer. Alle Mitarbeiter müssen sich intensiv mit den ökonomischen Aspekten beschäftigen, was zu einer Veränderung der Kultur auch in diesem Fach führen wird, das bisher noch eine ganzheitliche Betrachtung des Betroffenen erlaubt. Diese Verschiebung hin zur Ökonomie wird Auswirkungen auf Kollegialität, Hilfsbereitschaft und interpersonelle Wärme haben. Die ständige Gefahr, Budget zu verlieren, wird sich auf die Stresssensibilität der Mitarbeiter und Führungskräfte auswirken. All diese Aspekte sind durch empirische Daten belegt, werden bei diesem Prozess jedoch kaum thematisiert. Ob dieses neue Vergütungssystem sich für die Versorgung der Patienten oder die Ausgaben der Krankenkassen günstig auswirken wird, weiß keiner. Unaufhaltsam fährt hier ein Zug ohne eingebaute Bremsen. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Laborbefunde Pharmakogenetik 127 6 Ausblick Psychiatrie im 21. Jahrhundert unter therapeutischem Aspekt stellt sich als ein jeweils individueller Gesamtbehandlungsplan dar. Dieser setzt sich zusammen aus menschlicher Zuwendung, störungsspezifischer Psychotherapie, personalisierter Psychopharmakabehandlung, Psychoedukation, Ergo- und Kunsttherapie sowie Bewegung. Der Gesamtbehandlungsplan bezieht komplementäre Einrichtungen (z. B. Patienten-Clubs, Beratungsstellen) und andere innovative Verfahren mit ein. Die meisten derzeitigen therapeutischen Modalitäten haben mit dem Social Brain zu tun und als gemeinsame neuronale Wirkvariable, dass sie letztendlich in den Dialog zwischen Synapsen und Genen (s. Abb. 3.5) eingreifen und dadurch das Gehirn verändern. All diese Modalitäten – richtig angewandt – schützen und fördern neuronale Plastizität bzw. die lebenslang vorhandene Fähigkeit zur Anpassung und unterstützen so den notwendigen Bewältigungs- und Veränderungsprozess. Es gilt, neue Behandlungsansätze zu entdecken und in Zukunft herauszufinden, welche Kombination aus Behandlungsmodulen beim individuellen Patienten am besten wirkt und wie einzelne Bausteine – auch unter ökonomischen Kriterien – am effizientesten zusammenspielen. Für diese personalisierte Therapie wird die Genetik eine Rolle spielen, eine „Silver Bullet“ ist damit jedoch aufgrund der Komplexität im Einzelfall nicht zu erwarten. ■ In diesem Buch ging es nicht um eine vollständige Darstellung der Psychiatrie oder der Psychotherapie, sondern um einen Einblick darin, was sich momentan in diesem Gebiet und in der Hirnforschung tut. Ein großes Anliegen dabei ist der Blick über den Tellerrand und die Einordnung des eigenen Tuns in einen größeren Kontext, damit nicht das passiert, was Maslow fast schon epigrammatisch formuliert hat (Maslow 1966): „Wer nur einen Hammer besitzt, neigt dazu, alles wie einen Nagel ■ zu behandeln.“ 6.3 Epilog Angesichts des immensen Fortschritts der letzten beiden Jahrzehnte in den klinischen Neurowissenschaften ist eine mehrdimensionale Charakterisierung von psychiatrischen Patienten auf verschiedenen biologischen (genetisch, elektrophysiologisch, strukturell, funktionell, biochemisch) und (neuro-) psychologischen Ebenen keine ferne Zukunftsvision mehr. Auf dem Weg dorthin ist universitäre Grundlagenforschung erforderlich, die auf dem Eingeständnis von Nichtwissen und auf der Freude an Höchstleistung fußt, sich zum Eigenwert von Erkenntnis ohne forcierten Druck nach therapierelevanten Ergebnissen bekennt, die den Mut (und das öffentliche Geld) haben darf, neue Wege zu gehen, für die sich nicht von vornherein angeben lässt, zu welchen Zielen sie führen. Diese durch kühne Fragen herausgeforderte universitäre Forschung muss begleitet sein von universitärer Ausbildung und damit von Hochschullehrern, die junge Menschen für die Psychiatrie und die Psychotherapie begeistern können und wollen. Damit dürften heute noch ungeahnte Einblicke in den Zusammenhang zwischen Genetik, Gehirnstruktur, Biochemie, Gehirnfunktion bzw. ‑dysfunktion und Verhalten wie auch Erleben gefunden werden, die in absehbarer Zeit den klinischen Alltag befruchten können. Neue Wege für einen rationaleren Einsatz spezifischer Präventions- und Frühinterventionsmaßnahmen könnten sich eröffnen. Psychiatrie ohne eine störungsspezifische, aber schulenunabhängige Psychotherapie wird es absehbar nicht geben. Die Therapiebausteine in der Psychotherapie müssen neurobiologisch abgeleitet sein, empirisch überprüft werden und bedürfen der gleichen wissenschaftlichen Evaluation wie Psychopharmaka. Dazu sind öffentlich geförderte Projekte notwendig. Ganz neue, spezifischere pharmakologische Therapieansätze sind nicht minder aufwendig und lassen sich ohne eine aktive, kodexkonforme Zusammenarbeit der klinisch tätigen Ärzte mit der forschenden Pharmaindustrie nicht umsetzen. Die heutige internationale Psychiatrie erlebt durch das verfügbare Methodenspektrum einen grundlegenden Wandel, der hoffentlich zu neuen theoretischen Konzeptionen, zu einer nachhaltigen Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen und zu noch wirksameren individuellen Therapiestrategien führen wird. Das schließlich ergibt erst den Nutzen für den Patienten und seine Angehörigen. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 128