Sie sind hier: Bibliothek »Bücher »Kinder und Jugendliche »Blanz: Kinder und Jugendliche http://www.psychiatrie.de/index.php?id=558&type=123 Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter Jeder, der sich mit Fragen der Klassifikation psychischer Störungen befasst (und wer tut das nicht, wenn er in den Bannkreis der Psychiatrie gerät), befindet sich permanent in einem Spannungsfeld zwischen Norm und Abweichung, Regel und Ausnahme, Klarheit und Zweifel. Denn ICD-10 und DSM IV stellen heute zwar wichtige Meilensteine im Prozess der internationalen Verständigung der Psychiatrie dar, doch die Ziellinie der Weisheit bzw. der Systematisierung markieren sie noch längst nicht. Im Gegenteil: Die Zweifel mehren sich, ob mit diesen Klassifikationen eigentlich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten noch sinnvoll gearbeitet und geforscht werden kann. Dies gilt auch und gerade für den Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie, wo die Aussagekraft von ICD-10 und DSM IV äußerst begrenzt ist. Weil das so ist, hat man schon vor Jahren ein ergänzendes multiaxiales Klassifikationsschema für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter entwickelt. Es trägt dem Gedanken Rechnung, dass den rein deskriptiven Ansätzen in Bezug auf Störungen im Kindesalter einige weitere Dimensionen (z.B. die Einteilung nach Leitsymptomen) folgen müssten, um dem Wesen psychischer Auffälligkeiten im Kindesund Jugendalter besser gerecht zu werden. So haben Helmut Remschmidt und Martin H. Schmidt im Jahr 2000 in dem Band „Psychiatrie der Gegenwart“ ihre Konzeption erstmals vorgestellt und 2003 in dem Lehrbuch „Entwicklungspsychiatrie“ weiterentwickelt. Doch auch dort wurde noch nicht so grundlegend der Entwicklungs- und Verlaufsaspekt berücksichtigt, der hier zum strukturierenden Kriterium einer neuen Klassifikation erhoben wird. Insofern stellt dieses Lehrbuch einen mutigen Schritt und eine unverzichtbare Grundlage kinder- und jugendpsychiatrischer Diagnostik dar. Es erläutert das klinische Bild und die mögliche Entwicklung jeder einzelnen Störung, ergänzt die Ausführungen durch Fallvignetten, macht Vorschläge zur Behandlung, gibt rechtliche Hinweise und nennt die weiterführende Literatur. Dies in systematischer und sehr gründlicher Form darzulegen, stellt eine beeindruckende Leistung der einzelnen Mitglieder des Autorenteams und der Koordinatoren in Wissenschaft und Verlag dar. Natürlich hat solch ein umfangreiches Werk auch Schwächen; so ist es den Autorinnen und Autoren bei aller Neueinteilung offenbar entgangen, dass ein Störungsbild sich in identischer Formulierung an zwei Stellen des Buches wiederfindet (die generalisierte Angststörung im Kindesalter auf S. 195 ff. und 354 ff.). Überhaupt braucht es eine Weile, um sich in der neuen Strukturierung zurechtzufinden und den Gewinn, den man aus den einzelnen Kapiteln zieht, nicht in einer „neuen Unübersichtlichkeit“ wieder zu verlieren. Auch der Preis des Buches gibt zu denken: Für die geleistete Arbeit der Autorinnen und Autoren und für das Volumen an Informationen ist er sicher angemessen, doch leider werden sich das Werk nur wenige leisten können. Schade – wo es doch so lesenswert ist. Jens Clausen in Soziale Psychiatrie ©Psychiatrienetz Letzte Aktualisierung:03.04.2017