Erkenntnisse der Neurowissenschaften und der Musikpsychologie

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Erkenntnisse der Neurowissenschaften und der
Musikpsychologie und ihre didaktischen Implikationen
für improvisatorisches Gestalten im Musikunterricht
Diplomarbeit
zur Erlangung des akademischen Grades
„Magistra artium“
an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz
vorgelegt von
Christina Eckert
Matrikelnummer: 0800823
Studienkennzahl: V 190 593 344 B
Diese Arbeit wurde im Rahmen des Lehramtsstudiums für Musikerziehung
am Institut für Musikpädagogik unter der Betreuung von
Ao.Univ.Prof. Mag.art. Dr.phil. Bernhard Gritsch verfasst.
Graz, Juni 2015
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Untersschrift der Verfasserin
V
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ABSTRACT
Improvisatorisches Gestalten ist von entscheidender Bedeutung für den Musikunterricht
und kann als Kernthema dieser Arbeit betrachtet werden. In diesem Zusammenhang
sollen die folgenden Ausführungen als grundlegende methodische Anregungen für
einführende Übungen in improvisatorisches Musizieren dienen. Um eine adäquate
Umsetzung von improvisatorischen Aktivitäten im Unterricht zu gewährleisten, wird
diese Arbeit in zwei Teilen präsentiert: Grundlegende Erkenntnisse aus den
Neurowissenschaften und der Musikpsychologie werden im ersten Abschnitt
thematisiert, um daraus resultierende Schlussfolgerungen für das Unterrichten in
Hinblick auf improvisatorisches Klassenmusizieren ableiten zu können. Anschließend
beinhaltet der zweite Teil, ausgehend von Begründungsansätzen für die Integration von
improvisatorischen Tätigkeiten im Musikunterricht, eine Zusammenfassung der
wissenschaftlichen Erkenntnisse in Bezug auf allgemeine methodische Überlegungen,
welche bei der Unterrichtsplanung für improvisatorische Übungen von Bedeutung sein
könnten.
Darauf
aufbauend
folgen
Umsetzungsbeispiele
mit
weiterführenden
Anregungen für das gemeinsame Musizieren.
This paper focuses on improvisational techniques and the importance of their
integration in music lessons in public schools. The first part should serve as a basis for
designing adequately structured exercises that can be used for introducing the act of
musical improvising. Therefore, this part provides an overview of scientific findings
concerning neurological functions, which are essential for making music, and
knowledge taken from the field of music psychology. Based on these findings, the
second part comprises methodical implications relevant for planning and conducting a
lesson including improvisational techniques. The following practical exercises should
function as examples of the various forms of implementation of improvisation tasks in
music lessons.
I
VORWORT
Der Aufbau und der inhaltliche Bezug meiner Arbeit können als eine Widerspiegelung
meiner Interessen angesehen werden: Wissenschaftliche Erkenntnisse bilden die Basis
für weiterfolgende Aufgaben und Strukturierungsansätze für das Unterrichten, in diesem
Fall für den Musikunterricht. Im Allgemeinen bin ich der Überzeugung, dass
grundlegende Kenntnisse über neurologische und musikpsychologische Prozesse bei der
Unterrichtsplanung von großem Nutzen sein können. Im Zuge der Recherchen für diese
Arbeit habe ich sehr viel über hirnphysiologische Mechanismen von Lehr- und
Lernvorgängen und mögliche Einflussfaktoren in Erfahrung bringen können, was ich
für mich persönlich und auch für meine zukünftigen Schülerinnen und Schüler nutzen
möchte.
Selbst
wissenschaftliche
Annahmen
über
Verarbeitungs-
und
Speicherungsmechanismen mit den Lernenden auszutesten ist eines der Dinge, die ich
gerne in meinen Unterricht miteinbeziehen würde. In diesem Zusammenhang möchte
ich eine besonders wichtige Erkenntnis hervorheben: Auch wenn es möglich ist
bestimmte Vorgänge des menschlichen Gehirns zu erklären, sind die individuellen
Einflussfaktoren, welche noch nicht zur Gänze perzeptibel sind, von entscheidender
Bedeutung. Grundlagenwissen über neurobiologische Vorgänge kann also von großem
Vorteil für die Unterrichtsplanung sein, sollte aber dennoch selbstüberprüfend
eingesetzt werden.
An dieser Stelle möchte ich mich bei denjenigen bedanken, die mich beim Verfassen
dieser Arbeit unterstützt haben:
Mein Betreuer Dr. Bernhard Gritsch war für mich eine sehr große Hilfe sowohl bei der
Themenfindung, als auch bei der inhaltlichen Umsetzung meiner Arbeit. Durch seine
motivierenden Worte hat er mich nicht nur inhaltlich in meinem Tun bekräftigt.
Ein großer Dank gebührt auch Patrick Pucher, der mich nicht nur durch sein
aufmunterndes Feedback und Korrekturlesen unterstützt, sondern sich auch als
Diskussionspartner für inhaltliche Unstimmigkeiten zur Verfügung gestellt hat.
Ganz besonders bedanken möchte ich mich bei meinen Eltern Margot und Werner
Eckert, die mich in meinen Wünschen und Zielen immer tatkräftig und aufopfernd
unterstützt haben. Das Studium wäre ohne euch nicht möglich gewesen. Diese Arbeit ist
euch gewidmet.
II
INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung .........................................................................................................................1
TEIL I: Grundlagen ........................................................................................................3
1. Wahrnehmung .............................................................................................................3
1.1 Neurobiologische Grundlagen ..................................................................................3
1.2 Hören und Sehen .......................................................................................................6
1.2.1 Die auditorische Wahrnehmung ..........................................................................6
1.2.1.1 Die Physiologie des Ohrs ...............................................................................6
1.2.1.2 Vom Ohr zum Gehirn: Neuronale Informationsverarbeitung ........................8
1.2.2 Die visuelle Wahrnehmung .................................................................................9
1.2.3 Allgemeine Gruppierungsvorgänge ...................................................................10
1.3 Die Wahrnehmung im musikalischen Kontext .......................................................11
1.3.1 Grundlegende Prozesse der Wahrnehmung .......................................................13
1.3.2 Musikalische Kategorien der Wahrnehmung ....................................................16
2. Gedächtnis ..................................................................................................................17
2.1 Multiple Gedächtnissysteme ...................................................................................18
2.1.1 Zeitstruktur und Gedächtnis ..............................................................................19
2.1.2 Inhaltliche Speicherung .....................................................................................20
2.2 Allgemeine Gedächtnisprozesse .............................................................................21
2.3 Musik und Gedächtnis ............................................................................................23
2.3.1 Beteiligte Hirnstrukturen ...................................................................................23
2.3.2 Mögliche Einflussfaktoren der Speicherung in musikalischer Hinsicht............25
3. Allgemeine Einflussfaktoren ....................................................................................28
3.1 Aufmerksamkeit ......................................................................................................29
3.1.1 Selektion ..................................................................................................................... 29
3.1.2 Vigilanz..............................................................................................................31
3.2 Emotionen ...............................................................................................................33
3.2.1 Neurobiologische Grundlagen ...........................................................................34
3.2.2 Emotionaler Einfluss auf kognitive Prozesse ....................................................34
3.3 Motivation ...............................................................................................................39
3.3.1 Das Belohnungssystem und Aktivierungsbeispiele ...........................................40
3.3.2 Motivationsarten ................................................................................................42
3.3.2.1 Intrinsische Motivation ................................................................................43
3.3.2.2 Extrinsische Motivation ...............................................................................43
3.3.2.3 Leistungsmotivation .....................................................................................46
3.3.3 Psychologische Grundbedürfnisse .....................................................................47
3.3.4 Fazit ...................................................................................................................48
3.4 Kreativität................................................................................................................49
3.4.1 Neurobiologische Hintergründe.........................................................................50
3.4.2 Der kreative Prozess anhand von musikalischen Beispielen .............................52
4. Motorik ................................................................................................................................. 55
III
TEIL II: Interpretation .................................................................................................58
1. Einleitung ...................................................................................................................58
1.1 Begründungsaspekte ...............................................................................................60
1.2 Begriffseingrenzung ................................................................................................66
2. Didaktische Implikationen........................................................................................67
2.1 Voraussetzungen .....................................................................................................67
2.1.1 Strukturbildung von außen und innen................................................................67
2.1.2 Die Wirkung von Emotionen .............................................................................73
2.1.3 Motivation fördern .............................................................................................75
2.2 Anwendungsbeispiele .............................................................................................78
2.2.1 Aufwärmphase ...................................................................................................79
2.2.2 Kategoriale Phase ..............................................................................................85
2.2.3 Improvisatorische Phase ....................................................................................95
3. Zusammenfassung ...................................................................................................102
Resümee ........................................................................................................................105
Literaturverzeichnis ....................................................................................................107
Anhang..........................................................................................................................112
IV
Einleitung
Wissenschaftliche
Erkenntnisse
entfalten
neben
ihrer
erkenntnistheoretischen
Legitimierung dann besondere Bedeutung im musikpädagogischen Bereich, wenn sie
die tägliche Vermittlungsarbeit theoriegeleitet verbessern helfen und das gewonnene
Wissen somit für die Erklärung und Veränderung des Bestehenden gebraucht werden
kann. Von eminenter Wichtigkeit sind die Beobachtungen hinsichtlich neurologischer
Gehirnprozesse, da durch diese entscheidende Implikationen für das alltägliche Leben
abgeleitet werden können. Lernen ist in diesem Zusammenhang als ein essentieller
Bestandteil unseres Daseins zu betrachten, zurückzuführen auf die Tatsache, dass nur
durch das Speichern von neuen Inhalten, deren Vernetzung und deren Abrufen und
zielgerichteten Verwendung Weiterentwicklung in jedem Sinne ermöglicht wird. Die
Konsequenzen sind zahlreiche Untersuchungen der zugrundeliegenden Abläufe von
Aufnahme- und Speicherungsprozessen, um diese erklären und schlussendlich
optimieren zu können. Von besonderer Wichtigkeit für mich als Pädagogin sind die
resultierenden Erkenntnisse für den Unterricht: Sind sich Lehrpersonen über die
neurobiologischen
Grundlagen
von
Gehirnprozessen
bewusst,
können
diese
bestmöglich in die Unterrichtsplanung miteinbezogen werden. Generell ist allerdings zu
bemerken, dass die Entschlüsselung des menschlichen Systems noch nicht vollkommen
gelungen ist. Ob dieses positive oder negative Konsequenzen mit sich ziehen könnte,
liegt im Auge des Betrachters.
Da sich das Lernen im Unterricht nicht nur auf fächerbezogene Inhalte beschränkt,
sollte dieser Aufgaben und Übungen enthalten, die auch soziale und persönliche
Faktoren fördern. In Hinblick auf den Musikunterricht sind deshalb neurobiologische
Erkenntnisse der Musikaufnahme und -verarbeitung als Grundlage für die Vielfältigkeit
der zu integrierenden Elemente zu sehen. Improvisatorisches Gestalten bildet eine
Möglichkeit nicht nur musikalische Inhalte zu vermitteln, sondern auch auf
persönlichkeitsbezogene sowie soziale Merkmale und Eigenschaften einzugehen. Freies
Musizieren beinhaltet unzählige positive Auswirkungen auf die Lernenden und wird
deshalb Thema der folgenden Abhandlungen sein.
Zu Beginn werden grundlegende wissenschaftliche Erkenntnisse hinsichtlich der
Musikaufnahme, -verarbeitung und -produktion erläutert, um auf die resultierenden
didaktischen Implikationen für improvisatorisches Gestalten eingehen zu können. Die
Vielfältigkeit des Improvisationsbegriffs erfordert in diesem Zusammenhang eine
1
Eingrenzung, welche zu Beginn des zweiten Teils den Integrationsbegründungen für
den Musikunterricht folgen wird. Sowohl der wissenschaftliche als auch der
interpretatorische Teil dieser Arbeit beinhalten jeweils eine Einleitung, welche
Aufschluss über die darauffolgenden Inhalte und deren Strukturierung geben soll.
Ein Vermerk zur Schreibweise: Es wurde im Sinne einer besseren Lesbarkeit des Textes
darauf verzichtet, männliche und weibliche Formen (z. B. Lehrer/in, Schüler/in) zu
verwenden. Im Folgenden wird von der gängigen Variante, sich auf die kürzere und
scheinbar prägnante männliche Form zu beschränken, abgesehen. Zum Zwecke der
Abwechslung werden in dieser Arbeit mit der weiblichen Form sowohl Frauen als auch
Männer angesprochen, was in keiner Weise diskriminierend oder wertend für ein
Geschlecht gesehen werden soll.
2
TEIL I: Grundlagen
Der
folgende
Überblick
hinsichtlich
der
wissenschaftlichen
Grundlagen
für
improvisatorisches Gestalten ist in unterschiedliche Abschnitte geteilt, bestehend aus
allgemeinen und musikbezogenen Erkenntnissen der Wissenschaft in Hinblick auf
verarbeitende neuronale Strukturen und mögliche Einflussfaktoren. Begonnen wird mit
einer
einleitenden
Erläuterung
der
neurobiologischen
Grundlagen,
um
die
wahrnehmungsbezogenen Hirnstrukturen, wie die Hör- und Sehvorgänge, entschlüsseln
zu
können.
Die
bedeutende
Verbindung
zu
Gedächtnisprozessen
wird
im
darauffolgenden Kapitel, welches eine Beschreibung der Speicherungsvorgänge
beinhaltet, gezeigt. Im Anschluss folgen mögliche Einflussfaktoren in Bezug auf die
zuvor beschriebenen Prozesse. Neben Wahrnehmungs- und Gedächtnisvorgängen ist die
motorische Umsetzung auch ein wichtiger Faktor, da improvisatorisches Gestalten auch
das Musizieren mit Instrumenten beinhalten sollte. Als Abschluss wird deshalb auf die
Motorik und dessen Verarbeitungsmechanismen eingegangen, bevor im zweiten Teil
die daraus resultierenden didaktischen Implikationen behandelt werden können.
1. Wahrnehmung
1.1 Neurobiologische Grundlagen
Nervensystem
Das Nervensystem ist die übergeordnete Steuerzentrale im menschlichen Körper und
kontrolliert somit die Aufnahme, Verarbeitung, Weiterleitung und Speicherung von
eintreffenden Reizen und Informationen. Anatomisch lässt sich dieses in das
Zentralnervensystem, bestehend aus Gehirn und Rückenmark, und das periphere
Nervensystem, dem Gehirn und Rückenmark entspringenden Nerven, einteilen.
Funktionell sind beide Systeme miteinander verbunden, lassen sich aber wieder in
unterschiedliche Zusammensetzungen aufteilen. Das Somatische Nervensystem
verarbeitet eintreffende Reize, sowohl von außen als auch von innen, und bildet die
Verbindung von Reizentschlüsselung im Zentralnervensystem zu den einzelnen
Körperregionen und Organen. Die Steuerung der körperinternen Organvorgänge wie
Kontrolle über Herz-, Kreislauf- und Atemfunktionen werden durch das vegetative
Nervensystem unbewusst an die Umwelterfordernisse angepasst.1
1
Vgl. Faller/Schünke (2012), S. 604-611 und Lucius/Schwegler (2011), S. 90-105.
3
Da das Nervensystem Informationen in Form von elektrischen Potentialen verarbeitet,
müssen eintreffende Reize, die entweder mechanischer, thermischer oder chemischer
Natur sind, umgewandelt werden. Nach der Reiztransformation durch die Sinneszellen
werden diese mit Hilfe von Nervenfasern zum nächsten Neuron weitergeleitet. Diese
Informationsübertragung ist nur möglich durch das Entstehen eines Aktionspotentials
im Zellkern, ausgelöst durch ein sich änderndes Zellmembranpotential, was elektrische
Spannung zur Folge hat. Das Aktionspotential einer Zelle setzt sich entlang des
Zellfortsatzes (Axon) fort und wird über einen hauptsächlich chemo-elektrischen
Prozess der angrenzenden Synapsen weitergeleitet. Dieser chemische Prozess wird
durch die Weitergabe von Botenstoffen, so-genannten Neurotransmittern, durchgeführt.
Die Transmittermoleküle heften sich dabei an die darauffolgende Zellmembran und
erzeugen abhängig vom Molekül ein positives oder negatives Potential in der Zielzelle.
Das Resultat dieser elektrischen Entladung ist ein „[…] neuronales Aktivitätsmuster,
das Millionen von Nervenzellen miteinander koordiniert.“2 Entscheidend dabei ist, dass
die Vielfalt an Reizen durch diese hochkomplexen Erregungsmuster in eine einheitlich
neuronale Sprache übersetzt wird.3
Großhirnrinde
Die Großhirnrinde ist die kognitive Schaltzentrale des Gehirns und kontrolliert somit
die Wahrnehmung, das Denken, das Sprechen und das Verhalten. Sie macht etwa die
Hälfte des gesamten Hirnvolumens aus und wird in zwei annähernd symmetrische
Hirnhälften, die über den Balken verbunden sind, gegliedert. Jede dieser Hemisphären
kann wiederum in vier Lappen unterteil werden, die ihren Namen den darunter
liegenden Schädelknochen zu verdanken haben.4
Die sich an der Oberfläche befindlichen Lappen gliedern sich in Stirnlappen
(Frontalkortex), Schläfenlappen (Temporalkortex), Scheitellappen (Parietalkortex) und
Hinterhauptslappen (Okzipitalkortex). Diese beinhalten unterschiedlichste Funktionen:
der Frontalkortex ist das Zentrum der Handlungsplanung und verantwortlich für
sprachliche und gestische Ausdrucksformen, Bewegungsabläufe und die Lenkung der
Aufmerksamkeit. Dahinter befindet sich der Parietalkortex, der die sensorische
Informationsintegration zugunsten der räumlichen Orientierung steuert. Die primären
2
Brandstätter (2004), S. 140.
Vgl. Brandstätter (2004), S. 143.
4
Vgl. Altenmüller (2006), S. 50.
3
4
und sekundären Verarbeitungszentren visueller Informationen befinden sich im
Okzipitalkortex, der über dem Kleinhirn und hinter dem Parietalkortex zu finden ist.
Die auditiven Zentren befinden sich unter dem Frontal- und Parietallappen und somit im
Temporalkortex, welcher nicht nur für die Verarbeitung von Emotionen zuständig ist,
sondern auch den Hippocampus, der die Verantwortung für Gedächtnisprozesse trägt,
beinhaltet.5
Funktionell betrachtet kann die Großhirnrinde in sensorische- und Assoziationsareale
gegliedert werden, welche sich in jedem Lappen des Neokortexes wiederfinden. Die
sensorischen Felder, auch primäre Rindenfelder genannt, werden wiederum in den
visuellen, den auditorischen, den somatosensorischen und den motorischen Kortex
untergliedert. Wenn Sinneseindrücke von den Sinnesorganen in die jeweiligen
zuständigen Felder weitergeleitet werden, aktivieren diese ganz bestimmte Teile des
jeweiligen Kortex. Das resultiert aus der Tatsache, dass jede Körperregion auf einem
bestimmen Kortexareal repräsentiert wird.
Die Teile der Großhirnrinde, die die Informationen aus den primären
Rindenfeldern oder aus sensorischen und motorischen Regionen abstrahieren und weiter
verwalten sind die Assoziationsfelder. Diese als sekundäre oder tertiäre Kortexfelder
bezeichneten Areale nehmen achtzig Prozent des Neokortex ein und sind für die
sinnvolle Koordination von bereits encodierten Reizen zuständig.6
Das Großhirn ist im Allgemeinen ein mehrdimensionales Verarbeitungssystem, welches
sich durch die sowohl parallelen und vielfach verschalteten, aber auch rückläufigen
Verbindungen zwischen Rezeptoren und Sinnesorganen auszeichnet. Dieses System ist
keineswegs von Geburt an festgelegt; im Gegenteil, seine Anpassungsfähigkeit oder
Plastizität ermöglicht es dem Organismus, auf Veränderungen in seiner Umgebung zu
reagieren. Es kann sich dabei eine Modifikationvon Nervenzellen bis zu ganzen
Gehirnarealen ereignen, um so entweder Verletzungen des Gewebes auszugleichen oder
einzelne Areale zu erweitern. Altenmüller beschreibt das mit einem idealen Beispiel:
„Wenn musikalisches Üben in früher Jugend beginnt und konsequent fortgesetzt wird,
sind beispielweise die beteiligten sensomotorischen und auditiven Hirnregionen
vergrößert.“
7
Die Tatsache, dass eine Erweiterung von Gehirnarealen durch
5
Vgl. Altenmüller (2006), S. 50.
Vgl. Behrends/Bischofberger/Deutzmann (2012), S. 755-757.
7
Altenmüller (2006), S. 52.
6
5
entsprechende Reizung und Übung erzielt werden kann, zeigt, dass die Plastizität des
Großhirns die Grundlage aller Lernprozesse ist.8
1.2 Hören und Sehen
Ein entscheidender Faktor für die Wahrnehmung von Musik im Allgemeinen ist das
Hörorgan. So trivial wie diese Feststellung auch scheinen mag, sind die Prozesse die
von einem gesunden, funktionsfähigen Hörorgan initiiert werden, nicht bloß auf
akustische Reizverarbeitung reduziert. Musikhören als solches ist ein aktiver Prozess,
der mehrere Areale und Schichten des Gehirns miteinbezieht und weit über die
Entschlüsselung von akustischen Stimuli hinausgeht.9
Was der Mensch aus dem Gehörten macht, wie Musik entsteht, ist durchaus auch von
anderen Faktoren abhängig. Wichtig dabei ist nicht nur der soziale Kontext und das
dadurch erworbene Wissen, sondern auch subjektive Empfindungen, die sowohl
Interesse als auch Aufmerksamkeit steuern und den „akustischen Wahrnehmungen eine
Bedeutung geben.“10 Daher hört zwar jeder physiologisch dasselbe, verarbeitet dieses
allerdings anders, beeinflusst durch individuelle Erfahrungen und dadurch entstandenes
Vorwissen.
Um nun die weiteren Einflussfaktoren in Bezug auf Musikhören und Musikverarbeitung
erfassen zu können, sollten die physiologischen Grundlagen neuronaler Prozesse des
tatsächlichen Hörvorgangs und als Ergänzung des Sehvorgangs aufgeschlüsselt und
dargelegt werden.
1.2.1 Die auditorische Wahrnehmung
1.2.1.1 Die Physiologie des Ohrs
Das Ohr ist ein hochkomplexes Organ, das sich in drei große Teile gliedern lässt: das
äußere Ohr, das Mittelohr und das Innenohr. Im Allgemeinen werden Schallwellen
empfangen, verstärkt und dann in elektrische Impulse umgewandelt und somit als Reiz
im Gehirn verarbeitet.11
8
Vgl. ebd. und Brandstätter (2004), S. 143.
Vgl. Gruhn (2005), S. 9.
10
Gruhn (2005), S. 12.
11
Vgl. Spitzer (2002), S. 56.
9
6
Die äußersten Teile des Ohres bilden Ohrmuschel und Gehörgang. Beim Hörvorgang
treffen Schallwellen entweder direkt oder indirekt auf die speziell geformte Ohrmuschel
und werden in den Gehörgang weitergeleitet. Diese Formung bewirkt, dass bereits zu
Beginn der Schall räumlich loziert werden kann, abhängig davon, wie die Frequenzen
auf
die
Ohrmuschel
treffen.
Zusätzlich
kann
durch
die
unterschiedliche
Amplitudenstärke, ebenfalls beeinflusst von der Form der Ohrmuschel, der räumliche
Ursprung der Schallwellen festgestellt werden. Dies kann damit erklärt werden, dass
hohe Frequenzen abgeschwächt werden, wenn sie von hinten auf das äußere Ohr
auftreffen. Demnach bewirkt dieses eine Veränderung der Amplitudenstärke und
ermöglicht somit im Vergleich die Lokalisierung des Schallweges.12
Der Übergang vom äußeren Gehörgang zum Mittelohr bildet das Trommelfell. Wenn
also Schall in den Gehörgang geleitet wird, trifft dieser auf das Trommelfell und wird
durch dessen Schwingung mit Hilfe der drei Gehörknöchelchen an das ovale Fenster
des Innenohrs weitergeleitet. Hammer, Amboss und Steigbügel bilden somit das
Mittelohr und dienen sowohl zur mechanischen Verstärkung des Schalldrucks als auch
als Schallschutz für das Innenohr. Zum einen wirken diese wie ein „Hebel: […] Relativ
große kraftarme Schwingungen am Trommelfell werden in vergleichbare kleinere
Schwingungen mit größerer Kraft umgewandelt“
13
und zum anderen wie ein
Schalldämpfer, wenn bei großer Schallbelastung die Muskeln an den Gehörknöchelchen
angespannt werden und somit die Schallenergie abgedämpft wird. Nachweisbar ist, dass
manche Menschen diese Muskelaktivität aktiv steuern und dabei die Lautstärke der
Töne in beide Richtungen beeinflussen können.
Das eigentliche Hörorgan befindet sich im Innenohr. Dieses beinhaltet die sogenannte
Cochlea (dt. Schnecke) und die Bogengänge, aus welchen das Gleichgewichtsorgan
besteht. Wenn Schall am Innenohr angelangt ist, wird er durch das ovale Fenster in
einen der drei mit Wasser gefüllten Kanäle, den Scala vestibuli, weitergeleitet.
Beeinflusst durch Amplituden und Frequenzen der Schallschwingungen bewirkt eine
Flüssigkeitsverschiebung in der Schnecke, auch Wanderwelle genannt,eine Stimulation
derinneren Haarzellen an der Basilarmembran in unterschiedlicher Weise und bildet
somit die „Grundlage der gesamten Schallanalyse im auditorischen System.“ 14 Diese
Stimulation bewirkt eine Veränderung in der Freisetzung von Ionen in der Haarzelle,
12
Ebd.
Spitzer (2002), S. 57.
14
Spitzer (2002), S. 58.
13
7
was eine unterschiedliche Ionenkonzentration im Vergleich zum Äußeren der Zelle
bewirkt. Die dadurch entstehende elektrische Spannung erzeugt in Verbindung mit den
Bewegungen der Basilarmembran elektrische Impulse, die dann über die Hörnerven
weitergeleitet werden.15
1.2.1.2 Vom Ohr zum Gehirn: Neuronale Informationsverarbeitung
In Nervenimpulseumgewandelte Druckschwankungen gelangen in der Hörbahn durch
Weiterleitung von Nervenfasern zur ersten Umschaltstation im Hirnstamm, dem
Nucleus cochliaris.16 Die chemischen Impulse werden von Nervenzelle zu Nervenzelle
über Synapsen weitergeleitet und durch die steigende Anzahl an Neuronen anhand der
Hörbahn werden pro Station mehr Informationen extrahiert. Bis zum auditorischen
Kortex in der Gehirnrinde werden also pro Teilbereich (Nucleus cochliaris, Olivenkern,
Kniehöcker) in der Hörbahn mehr Schalleigenschaften wie Dauer, Tonhöhe und
räumliche Herkunft definiert. Die Hörbahn ist also als solche keine simple
Weiterleitung von Reizen, sondern durch ihren komplexen Aufbau mit Fasern und
Nervenzellen aktiv an der tatsächlichen Informationsverarbeitung beteiligt.17
Angelangt in der primären Hörrinde, welche sich im Temporallappen befindet, werden
nun die eingegangenen Impulse in Laute und Lautmuster genauer aufgeschlüsselt. Diese
werden in die sekundäre Hörrinde weitergeleitet und dort zu sinnvollen Einheiten wie
Wörtern oder Melodien zusammengefasst. Bei diesem Prozess werden sowohl auf die
bereits im Hirnstamm gewonnenen Informationen als auch auf schon bekannte
Sinneseindrücke zurückgegriffen. Der auf beiden Gehirnhälften gelegene auditorische
Kortex beinhaltet somit mit der sekundären Hörrinde einen Assoziationskortex. 18
Entscheidende Aufgaben eines solchen Kortex werden von Reichert beschrieben als
„selektive Aufmerksamkeit auf komplexe Reizkonfigurationen in der externen und
internen Umwelt zu lenken, die Erkennung und Identifizierung dieser […]
durchzuführen und die Planung von angemessenen Verhaltensreaktionen zu
ermöglichen.“ 19 Um dieses tun zu können, wird auf andere assoziative Areale
zugegriffen, um auch zusätzlich höhere Sinneseindrücke in die Interpretation
einzubeziehen.
15
Vgl. ebd.
Vgl. http://www.spektrum.de/lexikon/neurowissenschaft/cochleariskern/2288, 26.04.2015.
17
Vgl. Spitzer (2002), S .78.
18
Vgl. http://www.gehirnlernen.de/gehirn/das-gro%C3%9Fhirn/die-gro%C3%9Fhirnrinde-neo-oderisocortex/, 26.04.2015.
19
Reichert (2000), S. 168.
16
8
In Bezug auf die Verarbeitung der eingegangen Sinneseindrücke ist ein Unterschied
hinsichtlich der beiden Gehirnhälften zu bemerken. Die sekundäre Hörrinde befindet
sich sowohl auf der linken als auch auf der rechten Gehirnhälfte und obwohl immer
beide an der Verarbeitung beteiligt sind, kann man doch eine gewisse Lateralisation
feststellen. Diese manifestiert sich in den unterschiedlichen Verarbeitungsmustern und
Funktionen der zwei Hemisphären. Die rationalen und analytischen Vorgänge sind eher
der linken Gehirnhälfte zugeteilt, in welcher sich auch das sensorische Sprachzentrum
befindet. Für die Empfindung von Musik ist somit eher die rechte Hälfte verantwortlich,
in welcher die ganzheitliche und emotionale Analyse stattfindet.20 Obwohl eine große
Tendenz einer links-lateralen Dominanz hinsichtlich Sprach- und Rechenaufgaben
festgestellt werden kann, ist eine konstante Dominanzfunktion für Musikverarbeitung
nicht vollständig nachweisbar. Dennoch konnte Altenmüller (1986) in einer Studie
feststellen, dass Laien ohne musikalische Vorbildung eher zu einer Rechtslateralisation
tendierten als professionelle Musiker. Dieses Phänomen könnte durch die Unterschiede
in der Art der musikalischen Repräsentation erklärt werden. Dadurch dass
professionelle Musiker das Gehörte durch Namen und Begriffe definieren können, liegt
deren Analyse eher in der linken Gehirnhälfte im Gegensatz zu Laien, die die Eindrücke
noch nicht formal aufschlüsseln können.21
1.2.2 Die visuelle Wahrnehmung
Der Sehvorgang ist ein weiterer Teil der sensorischen Systeme, was die starke
Ähnlichkeit der Verarbeitungsprozesse im Vergleich zum auditorischen System erklärt.
In diesem Falle sind die Sehrezeptoren der erste Anlaufpunkt für die eintreffenden
Reize: Licht wird durch die Linse nach dem Durchdringen der Hornhaut auf die
Netzhaut projiziert und dort mithilfe von Photorezeptoren (Stäbchen und Zäpfchen) in
neuronale Energie umgewandelt. Wieder werden Aktionspotentiale über die für den
Sehsinn spezifischen Nervenfasern, den Ganglienzellen, zum zentralen Nervensystem
transportiert. Der Transport erfolgt über drei verschiedene Nervenstränge, von welchen
jeder eine andere Verarbeitungsweise aufzeigt. Die je nach Form, Bewegung und Farbe
getrennten Systeme versorgen den visuellen Kortex mit der nötigen Information. Im
Kortex
angelangt
werden
die
unterschiedlichen
Reizinformationen
in
den
entsprechenden rezeptiven Arealen verarbeitet. Die Neuronen in den Arealen sind in
20
21
Vgl. Brandstätter (2004), S. 143f.
Vgl. Altenmüller (1986), S. 342-354.
9
Säulen, so-genannten Kolumnen, angeordnet. Nach dem die Reizeindrücke in diesen
entschlüsselt wurden, können sie erst in übergeordneten Arealen mit einander in
Verbindung gebracht werden.22
Die Art der Reizverarbeitung im visuellen Kortex, gleichzusetzen mit der des
auditorischen Kortex, findet also in unterschiedlichen Subarealen statt, bevor die
Ergebnisse dann effektiv koordiniert und gruppiert werden können. Dieser Vorgang
erfolgt parallel: Die eintreffenden Reize werden bereits bei der Aufnahme gefiltert, im
visuellen Kortex durch die Photorezeptoren, anschließend durch die spezifischen
Nervenbahnen weiter zum Gehirn und zur Verarbeitung geleitet. Im Unterschied zu der
sequenziellen Datenverarbeitung von Computern ist das menschliche Gehirn tatsächlich
in der Lage, eine Fülle von Information parallel zu bearbeiten.
Die Daten sind nun über Rezeptoren in das System aufgenommen und in den
Subarealen analysiert worden. Um den Erkenntnissen daraus Bedeutung zu geben
werden diese zu komplexeren Konfigurationen zusammengefasst. Dies geschieht nicht
parallel,
sondern
in
einem
hierarchisch-sequentiellen
Verarbeitungsprozess.
Brandstätter beschreibt das anhand eines musikalischen Beispiels: „Elementare
sensorische Informationen (wie z. B. einzelne Töne unterschiedlicher Tonhöhen)
werden zu immer komplexeren Mustern zusammengefasst (die musikalische
Wahrnehmung erfasst Motive und Themen und schreitet zu größeren musikalischen
Zusammenhängen fort).“23 Dieser Vorgang der Organisation und Interpretation ist nicht
nur auf den visuellen und auditorischen Kortex beschränkt, sondern findet auch in den
zwei anderen sensorischen Systemen (olfaktorisch und somatosensorisch) statt.24
1.2.3 Allgemeine Gruppierungsvorgänge
Wenn die von außen eintreffenden Reize in ihren Einzelheiten die Analyse durchlaufen
haben, besteht die Notwendigkeit der Gruppierung, um ihnen Gestalt zu geben und
weitere Interpretation zu ermöglichen. Erst dann entstehen Eindrücke, die mit
Informationen aus den anderen Sinnesarealen ergänzt werden können. Obwohl der
Vorgang der Gruppierung in den auditorischen und visuellen Wahrnehmungsprozessen
22
Vgl. Steiner-Welz (2005), S. 87.
Brandstätter (2004), S. 149.
24
Vgl. Salzmann (2007), S. 319.
23
10
eingebettet ist, wurden die drei Grundprinzipien Nähe, Kontinuität und Ähnlichkeit
noch nicht erwähnt.25
Die Gruppierung, die unser Wahrnehmungsapparat vollzieht, passiert unbewusst.
Dinge, die anhand ihrer Entfernung gruppiert werden, unterliegen dem Prinzip der
Nähe. Objekte mit gleicher beziehungsweise vergleichbarer Beschaffenheit werden dem
Gesetz der Ähnlichkeit zugeschrieben und Koordination anhand von ununterbrochenen,
kontinuierlichen Figuren und Begebenheiten beschreibt das Prinzip der Kontinuität.
Diese drei Gesetzmäßigkeiten treffen sowohl auf das Sehen, abhängig von räumlichen
Begebenheiten, als auch auf das Hören, abhängig von der zeitlichen Struktur, zu.26
1.3 Die Wahrnehmung im musikalischen Kontext
Wahrnehmung ist im Allgemeinen abhängig von der Art der Repräsentation der Inhalte.
Allgemeine Strukturen und Bilder, aber auch musikbezogene Inhalte wie Melodien
werden in ähnlicher Weise in der Großhirnrinde repräsentiert. Wie bei der genaueren
Erläuterung dieser festgestellt wurde, sind nicht nur die Verbindungsstrukturen
zwischen den Neuronen der Erweiterung unterzogen. Ganze Netzwerke der
Großhirnrinde können durch Verarbeitungsprozesse erweitert und ergänzt werden
In musikalischer Hinsicht kann das gleiche Phänomen bemerkt werden.
Vergleichbar mit anderen neuronalen Netzwerken existieren zum Beispiel eigene
Aktivitätsfelder für die Repräsentation von Tönen. Dabei existieren Neuronen mit den
unterschiedlichsten Aufgabenbereichen. Einzelne sind nur für bestimmte Frequenzen
verantwortlich, andere für deren Länge und weitere feuern nur, wenn bestimmte Töne
eintreffen oder sich etwas ändert.27
In Hinblick auf die Wahrnehmung stellt sich dann die Frage, ob die musikalischen
Neuronennetzwerkeeinem
eigenen
neuronalen
Musikzentrum
zugeordnet
sind.
Betrachtet man die Erkenntnisse der Forschung, kann man keine beständigen Resultate
hinsichtlich eines eigenen Musikareals feststellen. Obwohl sich eine Tendenz
hinsichtlich eines unterschiedlichen Verarbeitungsorts (linke oder rechte Hemisphäre)
bei professionellen Musikern und Laien feststellen lässt, widersprechen einander die
Erkenntnisse
über
Melodie-
und
Rhythmusverarbeitung.
Ähnlich
der
Sprachverarbeitung, nimmt man an, dass Melodie eher links und Rhythmus eher rechts
25
Vgl. Spitzer (2002), S. 126-130 und Brach (2004), S. 4-9.
Ebd.
27
Vgl. Spitzer (2002), S. 211f.
26
11
verarbeitet wird, was durch Fälle von Patienten mit spezifischen Hirnverletzungen
versucht wird zu erklären. Obwohl Patienten mit einem isolierten rhythmischen oder
melodischen Defizit beschrieben werden, gibt es auch einseitige Gehirnverletzungen,
die Einfluss auf beide Parameter haben.28 Hinsichtlich dieser Erkenntnisse kann also auf
kein spezifisches musikalisches Hirnareal geschlossen werden. Spitzer liefert dafür eine
umfassende Erklärung:
Ohne jegliche bewusste Anstrengung kann fast jeder beim Hören von Musik die
räumlich-zeitlichen Muster von an das Ohr dringender mechanischer Energie in
Melodien, Harmonien und Rhythmen übersetzen. Er benutzt hierfür ein hohes Maß an
gespeicherten Informationen über harmonisch schwingende Körper, Tonverhältnisse,
Tonalität und wird zudem an frühere Erlebnisse erinnert sowie in eine bestimmte
Stimmung versetzt. Macht jemand Musik, so ist […] oft sein ganzer Körper „dabei“.29
Zusammenfassend kann man also sagen, dass die Art und Weise, wie Musik in unseren
Köpfen aufgenommen, entschlüsselt und repräsentiert wird, Einfluss auf weitere
Reaktionen und Sinneseindrücke ausübt. Musik ist also in ihrer Verarbeitung und
Repräsentation ganzheitlich.30
Ausgehend von dieser musikalischen Ganzheitlichkeit kann nun angenommen werden,
dass die Wahrnehmung von Musik nicht nur auf Reizaufschlüsselung beruht. So
komplex wie sich die nicht-musikalische Informationsverarbeitung zeigt, beruht auch
die Wahrnehmung von musikalischen Inhalten sowohl auf den Prozessen des
auditorischen Kortex als auch auf Assoziationen und Vorstellungen aus anderen
Sinnesbereichen. Auch wenn viele Verarbeitungsvorgänge nicht bewusst ablaufen, kann
man doch bemerken, wie musikalische Eindrücke mit Informationen aus anderen
Arealen im Gehirn verknüpft werden. Ein gutes Beispiel dafür ist die Assoziation von
Musik mit Farben oder die Erinnerung an bestimmte Gerüche oder Orte bei
musikalischenPhrasen. Diese Verknüpfungen zeigen, dass nur die Korrelation der
Sinneseindrücke eine Gesamtheit in der Wahrnehmung der Wirklichkeit ermöglicht.31
Die
Komplexität
außergewöhnlich
Bewusstsein
zu
und
Unbewusstheit
schwierig,
holen.
die
Um
der
Verarbeitungsprozesse
Leistungen
allerdings
des
einen
macht
Wahrnehmungsapparats
Einblick
in
die
es
ins
internen
Verarbeitungsmechanismen zu bekommen, werden die erforschten grundlegenden
28
Vgl. Spitzer (2002), S. 211f.
Spitzer (2002), S. 212.
30
Vgl. Spitzer (2002), S. 169-209.
31
Vgl. Brandstätter (2004), S. 148f und Gruhn (2005), S. 13f.
29
12
Prozesse der Wahrnehmung aufgeschlüsselt. Hinsichtlich der Frage nach spezifischen
musikalischen Mechanismen ist nochmals zu erwähnen, dass Musik als Kunst im
Allgemeinen als eine Darstellung der Wirklichkeit beschrieben werden kann, die durch
unsere Sinnesorgane genauso wie andere Reize aus der Umgebung wahrgenommen und
verarbeitet wird.
32
In diesem Sinne ist die Darlegung der grundlegenden
Wahrnehmungsmechanismen als eine Voraussetzung weiterer Erläuterungen zu sehen.
1.3.1 Grundlegende Prozesse der Wahrnehmung
Wie sich schon bei der Aufschlüsselung des Hörprozesses gezeigt hat, kann man „die
Wahrnehmung durch die Sinne als eine Konstruktionsleistung mit aktivem Charakter“33
beschreiben. Als Beispiel dient die Art und Weise wie Schall vom Ohr aufgenommen
wird: Wie bei den Augen sind dabei Orientierungsbewegungen zu bemerken. Somit
beginnt der Wahrnehmungsprozess bereits mit einer aktiven Selektion der zur
Verfügung stehenden Reize. Entscheidend dabei ist, dass bei diesem Vorgang nicht nur
Reize verarbeitet werden, sondern dass eine „Informationsgenerierung“ 34 stattfindet.
Dadurch dass die Informationsaufnahme bereits durch die Sinnesorgane gelenkt wird,
also ein Selektionsprozess hinsichtlich Relevanz und Wichtigkeit vollzogen wird,
werden Daten bereits generiert.
Die gefilterten Reize werden dann, bevor sie gespeichert werden können, einer Analyse
unterzogen. Diese landen zunächst im sensorischen Speicher, dessen Kapazität zwar
sehr groß, aber dessen Dauer sehr kurz ist. Dieses sensorische Gedächtnis ist nicht
bewusst
zugänglich
und
steuert
die
Analyse.
Generell
benötigt
man
Vergleichsparameter, um etwas auf seine Relevanz überprüfen zu können. Die Tatsache
kommt auch in dieser Phase der Wahrnehmung zu tragen, was die Kenntnis von bereits
existierenden Kategorien voraussetzt: Der Filter des Wahrnehmungsapparats kann nur
funktionieren, wenn die Reize mit bereits vorhandenen Parametern und Strukturen
verglichen werden können.35 Voraussetzung dafür ist der Speicher, der diese Kategorien
beinhaltet: das Gedächtnis.36
Der letzte Schritt des Wahrnehmungsprozesses ist die Synthese. Bereits encodierte
Reize werden nun anhand ihrer ähnlichen Beschaffenheit zu Merkmalskombinationen
32
Vgl. Brandstätter (2004), S. 155f.
Brandstätter (2004), S. 150.
34
Ebd.
35
Vgl. Brandstätter (2004), S. 150.
36
Vgl. Tücke (2003), S. 141.
33
13
zusammengefasst. Dabei ist essenziell, dass in dieser Phase genau wie bei der
Vorangegangenen kategorial gearbeitet wird. Wieder sind die Voraussetzungen bereits
gespeicherte Strukturen, welche zur Identifikation der zusammenhängenden Elemente
entscheidend sind. Brandstätter formuliert es so: „Wahrnehmung setzt […] Gedächtnis
voraus. […] Erst der Vergleich ermöglicht die wahrnehmende Erkenntnis.“37 Nur durch
bereits vorhandene Muster können die aktuellen Reize zu Merkmalskonfigurationen
zusammengefasst werden.
Strukturbildungsprozesse
Die Voraussetzung für diesen dreiphasigen Wahrnehmungsprozess liegt somit in der
Strukturbildung. Wie dargelegt, werden Reize schon zu Beginn vorgefiltert, bevor sie
überhaupt im System einer Analyse unterzogen werden können. Dieser Filter sowie die
Parameter für die Analyse sind abhängig von der Struktur- oder Musterbildung, die
wiederum in unterschiedliche Vorgänge gegliedert werden kann.38
Der Kernpunkt der Strukturbildung liegt im Erfassen von Reizkonstanten, den
Invarianten. Wenn ein Objekt in seiner raumzeitlichen Umgebung wahrgenommen
wird, treffen unzählige und sich ändernde Sinneseindrücke ein, abhängig von Raum und
Zeit. Vereinfacht gesagt: Je nachdem von welcher Entfernung oder zu welcher
Tageszeit das Objekt betrachtet wird, werden unterschiedliche Reize aufgenommen.
Trotzdem schafft es der Mensch „aus raumzeitlichen Veränderung Parameter einer
höheren Ordnung zu abstrahieren, wie z. B. Reizproportionen, die konstant bleiben.“39
Parameter ergeben dann ein Muster, ein Konzept von dem Objekt, unabhängig von
Einzelerfahrungen und unmaßgeblichen Reizen.40
Der Gegenpol zur Invariantenbildung, der Wahrnehmung von übergeordneten
Konstanten, liegt in der Erkenntnis der Differenzen oder Varianzbildung. 41 Dieser
Prozess hat das Ziel, einmalige Reizeindrücke in ihrer Gesamtheit zu erfassen und
abzuspeichern. Während Invarianzen dazu dienen, Gesetzmäßigkeiten aufzustellen und
die Konzeptbildung durch Abstraktion herbeizuführen, liegt die Aufgabe der
Differenzierung beim Erfassen von Außergewöhnlichem in einer bestimmten Situation.
37
Brandstätter (2004), S. 151.
Vgl. Brandstätter (2004), S. 150.
39
Brandstätter (2004), S. 152.
40
Vgl. Brandstätter (2004), S. 152f und de la Motte-Haber (2005), S. 61-64.
41
Vgl. Brandstätter (2004), S. 151f.
38
14
Die Folge daraus ist das Erkennen von neuen Strukturen und Aspekten. Brandstätter
(2004) bringt das Beispiel von einem Baum, um dieses Konzept zu beschreiben:
Wenn wir z.B. das abstrakte Muster „Baum“ […] auf eine konkrete
Wahrnehmungssituation anwenden, erfährt[…] [es] nicht nur durch die Zuordnung zu
einem bestimmten Baumtyp (Fichte, Pappel, Birke) eine Konkretion, sondern darüber
hinaus wird in der einmaligen Erfahrung das Muster auf eine unwiederholbare Weise
differenziert (dieser Baum hier an diesem Ort).42
Daraus resultiert ein Spannungsfeld zwischen dem Erkennen von übergeordneten
Merkmalen und abstrahierten Parametern und der Registrierung von einmaligen
Erfahrungen mit ihren konkreten Begebenheiten. Beide Konzepte stehen in
Wechselbeziehung zueinander und ebnen somit den Weg für die Bildung eines
opportunen Mustergefüges.43
Der Kernpunkt dieser Theorie zeigt sich in dessen Dynamik, im Gegensatz zum
vorangegangen Schablonenmodell. Diesem lag die Annahme zugrunde, dass neue Reize
mit angelernten Mustern, die sich als fixe Schablone manifestiert haben, in Relation
gestellt werden. Wenn eine Schablone abgespeichert war, konnte diese nicht mehr
verändert werden, was eine Fülle an diesen mit nur minimalen Unterschieden
hinsichtlich des Speicherns zur Folge hatte. Im Vergleich dazu stützt sich die Theorie
von Abstraktion und Differenzierung auf die Vorstellung, dass die vorhanden Muster
niemals konstant bleiben können und im Laufe der Zeit durch weitere Eindrücke ergänzt
und modifiziert werden müssen. 44 Die Erklärung dafür liegt in der Tatsache, dass
zunehmende Erfahrung und die Weiterentwicklung von kognitiven Fähigkeiten immer
mit einer Veränderung der erworbenen Konzepte einhergeht und fixe Schablonen für
Weiterentwicklungen inadäquat wären.
Die Wechselwirkung zwischen Invarianz und Varianz ermöglicht die stetige Anpassung
der Muster an die wahrgenommene Wirklichkeit. In diesem Zusammenhang spricht
Neisser 45 über Schemata, die sich im Aufnehmenden manifestieren und anhand der
Interaktion während des Wahrnehmungsprozesses assimilieren und sich an dadurch
weiter
angeforderte
Information
anpassen.
Die
Quintessenz
von
Neissers
Schematatheorie ist der „[…] zyklische Charakter der Wahrnehmungsaktivität: Schema
42
Brandstätter (2004), S. 152.
Vgl. ebd.
44
Vgl. de la Motte-Haber (2005), S. 63f.
45
Vgl. Neisser (1979), S. 50.
43
15
und Informationsaufnahme […] sind in einem Kreisprozess miteinander verbunden.“46
Die Essenz dessen zeigt sich in der Tatsache, dass Muster wie Prototypen durch
Erfahrung und Lernen erschaffen werden und sich durch ihre Flexibilität in ihrer
Repräsentation auszeichnen.47
Eine weitere Beschreibung der Korrelation zwischen abstrakten Schemata und
konkreten Informationen liefern Piagets Klassifikationsprozesse: Akkommodation und
Assimilation.48 Wird Information von außen praktisch ungefiltert aufgenommen und in
das Muster eingepasst findet ein Prozess der Akkommodation statt. Die sensorischen
Reize werden dabei als Bildungselement für die Repräsentation von Empfindungen oder
Objekten verwendet. Umgekehrt wird bei der Assimilation die Merkmalsfülle anhand
eines bereits existierenden Musters kontrolliert und aussortiert, sodass die Aufnahme
durch bereits existente Sinnesdaten beeinflusst wird. Die Gegenläufigkeit der beiden
Prozesse wird auch hinsichtlich ihrer Richtung beschrieben: Die Akkommodation wird
als bottom-up Vorgang beschrieben. Sensorische Information von außen regt diesen
Prozess an und resultiert in einer Anpassung des Musters. Der somit gegensätzliche topdown Prozess der Assimilation beruht auf bereits gespeichertem Wissen und
Erkenntnissen, was den Filter für die aktuellen Reize bereitstellt.
Beiden Prozessen liegt wieder eine Wechselwirkung zugrunde, welche
Ausgewogenheit
anstrebt:
Bearbeitungsprozesse
Abstraktionsebenen
Voraussetzung
halten
befinden
dafür
ist
„Aufwärtsgerichtete
einander
sich
die
in
die
einem
Möglichkeit
und
Waage,
regen
der
abwärtsgerichtete
die
verschiedenen
Austauschverhältnis.“
Wechselwirkungen
49
und
Rückkopplungsschleifen zwischen den sensorischen Arealen im Gehirn.
1.3.2 Musikalische Kategorien der Wahrnehmung
Musik als Kunst kann in gewisser Weise immer als Widerspiegelung der Wirklichkeit
gesehen werden, egal ob man davon ausgeht, dass sie wie eine eigene Sprache fungiert
oder in sich selbst geschlossen die Kunst an sich repräsentiert. Wahrgenommen wird sie
durch unsere Sinnesorgane und somit von denselben Prozessen geleitet, welche die
Verarbeitung von Alltagsobjekten bestimmen. Bei der Einbettung in das System, der
Analyse, findet genauso die Identifikation anhand von Kategorien und Strukturen statt.
46
Brandstätter (2004), S. 153.
Vgl. de la Motte-Haber (2005), S. 63.
48
Vgl. Piaget (1969) in Brandstätter (2004), S. 152f.
49
Brandstätter (2004), S. 154.
47
16
Entscheidend dabei ist, dass diese Kategorien und Abläufe nicht unbedingt bewusst
ablaufen müssen, vergleichbar mit den bereits beschriebenen grundlegenden
Organisationsprozessen der Wahrnehmung.
Musikalische Kategorien wie Melodie und Rhythmus, Satzstruktur (Einstimmigkeit,
Mehrstimmigkeit) und musikalische Formen (Liedform, Sonatenform) sind unter
anderem Begriffe, die man als Grundmuster im Wahrnehmungsprozess vermuten
würde. Zusätzlich kann man annehmen, dass auch Konzepte aus anderen Bereichen in
diesem Vorgang tragend werden. Kategorien aus anderen sinnlichen Bereichen wie
Bewegung (Ruhe, Statik, Dynamik) oder Visuelles (Punkt, Line, Symmetrie) spielen
genauso eine Rolle wie übergeordnete, abstrakte Kategorien (Ausdehnung und
Verkürzung, Enge und Weite, Steigerung und Verdichtung, etc.).50
Vergleichbar mit der Abstraktheit der Musik, sind auch die letzten Kategorien von
Brandstätter (2004) beschrieben worden. Diese übergeordneten Strukturparameter sind
entscheidend, da sie nicht nur mit dem Charakter der Musik in Verbindung stehen,
sondern gleichzeitig von ihr dargestellt werden: „Musik verweist als Zeichensystem
weniger auf die konkrete äußere Umwelt, vielmehr verkörpert sie – gleichsam auf einer
übergeordneten Ebene – allgemeine Kategorien des Umgangs mit der Welt.“51 Folglich
ereignen sich die Strukturbildungsprozesse von Musik nicht nur anhand der bereits
beschriebenen grundlegenden Wahrnehmungsabläufe, da Musik in ihrer Ausführung die
Wahrnehmungskategorien an sich beinhaltet und sinnlich erfassbar macht. Zum einen
werden dabei Reizeindrücke auf die übliche Weise aufgenommen und verarbeitet und
zum anderen manifestieren sich Kategorien bereits bei der „Ausführung“ von Musik.
Musik aktiviert folglich zwei Ebenen durch das Durchlaufen des „üblichen“
Wahrnehmungsprozesses und das gleichzeitige aktive Darstellen der allgemeinen
Ordnungsprozesse beim Akt des Musizierens.52
2. Gedächtnis
Die Voraussetzung für die Wahrnehmung von Musik im Allgemeinen ist das
Gedächtnis.
Das
grundlegende
Konzept
der
Reizverarbeitung
könnte
nicht
funktionieren, da es keine Vergleichsparameter gäbe. Obwohl eine Stimulirezeption
möglich wäre, wäre das Stadium der Analyse ohne bereits existierende Information sehr
50
Für eine ausführliche Auflistung siehe Brandstätter (2004), S. 161-164.
Brandstätter (2004), S. 164.
52
Vgl. Brandstätter (2004), S. 164.
51
17
schwer zu bewerkstelligen. Man stelle sich vor wie es wäre, wenn eintreffende Reize
von außen zwar verarbeitet, aber im gleichen Moment wieder vergessen würden. Man
könnte Vergangenes mit Gegenwärtigem nicht in Beziehung bringen und das Hören von
Melodien wäre somit eine Unmöglichkeit; man würde ja Ton für Ton vergessen. Nur
dadurch, dass das Gehirn über einen Speicher verfügt, kann Gehörtes erst
zusammengesetzt und interpretiert werden. Erst durch die Gedächtnisleistung kann
Musik entstehen.
2.1 Multiple Gedächtnissysteme
Die Vielfältigkeit von Gedächtnisprozessen kann man erahnen, wenn man sich nur am
eigenen Erinnerungsvermögen orientiert. Manche Dinge muss man lange üben, damit
man sie langzeitig wiedergeben kann, im Gegensatz zu anderen, die man nur kurz und
zufällig gehört oder gesehen hat und noch Jahre später im Detail weiß. Musikalisch
gesehen fällt uns manchmal im Hintergrund gespielte Musik gar nicht auf, wobei man
sich meistens sehr gut an selbst erlernte Stücke erinnern kann. Die Schlussfolgerung,
die man daraus ziehen kann, ist die Annahme, dass es verschiedene Möglichkeiten einer
Speicherung von Inhalten geben muss, welchen adäquate Abläufe zugrunde liegen
müssen.
Die Art und Weise wie Informationen in das Gedächtnis gelangen und wo sie
gespeichert sein müssen damit man auf diese wieder zugreifen kann, ist von
unterschiedlichen Faktoren abhängig. Obwohl es sehr schwierig bis unmöglich zu sein
scheint,
alle
auf
uns
einwirkenden
Einflüsse
und
innerlichen
Verarbeitungsmechanismen zu definieren, nimmt man doch an, dass die folgenden eine
wichtige Rolle in Bezug auf unsere Behaltensleistung spielen könnten: die vergangene
Zeit hinsichtlich der Reizaufnahme und Analyse, die Verarbeitungstiefe der
Information, die Ähnlichkeit der Inhalte der gespeicherten und zu speichernden
Information und die zur Verfügung stehende Kapazität unseres Speichers. 53 Bevor
allerdings auf die unterschiedlichsten Einflussfaktoren eingegangen werden kann,
müssten die unterschiedlichen Speicherarten genauer betrachtet werden. Generell kann
die Speicherung anhand von zeitlichen oder inhaltlichen Parametern geprägt sein.
53
Vgl. Lange (2005), S. 74.
18
2.1.1. Zeitstruktur und Gedächtnis
Hinsichtlich
des
zeitlichen
Gesichtspunkts
kann
man
drei
Gedächtnistypen
unterscheiden. Die eintreffenden Reize gelangen je nach Dauer der Verarbeitung in das
Ultrakurzzeit-,
Kurzzeit-
oder
Langzeitgedächtnis.
Die
Erstspeicherung
einer
Information kann eher als eine verlängerte Wahrnehmung beschrieben werden und
findet
im
sensorischen
oder
Ultrakurzzeitspeicher
statt.
Die
unbewusste
Vorverarbeitung vonvisuellen Reizen, die unter einer Sekunde dauert, platzierte Neisser
in das ikonische Gedächtnis und die von auditorischen Reizen in das Echogedächtnis.54
Visuelle Informationen werden somit zu Beginn der Verarbeitung wie eine auf der
Netzhaut entstandene Kopie im sensorischen Speicher repräsentiert, genauso wie
akustische Reize noch für die gleich kurze Zeit als Echo nachklingen können. Das
Ultrakurzzeitgedächtnis ist folglich der erste Anlaufpunkt für die eintreffenden
Sinneseindrücke und beinhaltet noch für eine minimale Zeitspanne das ganze
Informationsspektrum eines Reizes. Nach ein paar hundert Millisekunden minimiert
sich die Fülle der Information durch die Herausfilterung der relevanten Eindrücke, die
dann weiter in das Kurzzeitgedächtnis eingelesen werden.55
Der Prozess der Selektion ist in diesem Falle sehr wichtig, da der Kurzzeitspeicher
(KZS)
über
eine
begrenzte
Kapazität
verfügt.
Die
zeitliche
Dauer
der
Informationsspeicherung beträgt in diesem Speicher gerade so viel, dass mit
momentaner Information gearbeitet werden kann; in der Regel sind das 7 +/-2
Elemente. Diese Gedächtnisspanne ist allerdings nicht unveränderbar wie beim
sensorischen Gedächtnis, sondern kann durch unterschiedliche Strategien verlängert
werden. Gruppiert man einzelne Elemente zu Einheiten, kann man eine größere Anzahl
von Elementen repräsentieren. Durch dieses so-genannte Chunking ermöglicht man eine
kurzfristige Ausdehnung des Kurzzeitspeichers, welcher folglich Arbeitsspeicher
genannt wird. Das übergeordnete Ziel beim Speichern eines Inhaltes sollte die
Ausdehnung der Speicherung im Kurzzeitgedächtnis sein, denn umso länger man Dinge
im KZS behält, umso wahrscheinlicher ist der Transfer in das Langzeitgedächtnis. 56
Eine weitere Strategie neben dem Chunking ist dabei die andauernde Wiederholung der
Inhalte. Zu erwähnen ist, dass dieses Maintenance Rehearsal anhand von verbalem
Material untersucht worden ist. Da aber musikalische Abläufe wie sprachliche auf
54
Vgl. Neisser (1979), S. 45-50.
Vgl. Spitzer (2002), S. 116f.
56
Vgl. Spitzer (2002), S. 116-118.
55
19
aufeinander konstituierenden Elementen aufgebaut sind, kann man dabei similäre
Verarbeitungsprozesse konjizieren.57
Wenn man eine Information lange genug im KZS behalten konnte, gelangt sie in den
Langzeitspeicher. Dieser enthält nicht nur Erinnerungen von Ereignissen inklusive den
dazugehörigen Emotionen, er ist auch unsere Zentrale für Sprache, Fähigkeiten und
generell das Wissen, das wir uns angeeignet haben. Obwohl das Langzeitgedächtnis ein
immenser Speicher ist und an und für sich nicht unlimitiert, kann man doch nicht auf
alles, was man je dorthin transferiert hat, zugreifen. Das liegt an der Tatsache, dass
manche Dinge nicht mehrvom Arbeitsgedächtnis gefunden werden; denn dieses ist,
trotz Speicherung im LZS, die Verarbeitungszentrale.58
2.1.2. Inhaltliche Speicherung
Im Rahmen der Gedächtnisinhalte kann sowohl anhand der zeitlichen Abfolgen, aber
auch in Bezug auf inhaltliche Bedeutungen eine Einteilung vorgenommen werden. So
bezeichnet man nicht zugängliches Wissen als Verhaltensgedächtnis, welches implizit
ist, und aktiv Beinflussbares als Wissensgedächtnis und explizit. Die Grenzen zwischen
den beiden sind allerdings nicht immer deutlich zu erkennen.59
Wie bei den Wahrnehmungsvorgängen deutlich wird, geschehen sehr viele Prozesse
unbewusst. Das implizite Verhaltensgedächtnis beinhaltet eine ähnliche unbewusste
Speicherung, diese kann aber sowohl durch unbewusste, aber auch durch bewusste
Lernvorgänge durchgeführt werden. Das prozedurale Gedächtnis beschreibt dabei die
komplexen motorischen Bewegungsabläufe, die automatisch, also unbewusst,
ausgeführt werden. Die alltäglichen Handlungsprozesse sind im zuständigen Kortex
gespeichert und werden durch die Subkortikalen Areale zu sinnvollen Einheiten
zusammengestellt und führen wenn es notwendig ist eine zusätzliche Adaption an die
jeweilige Situation durch. Ergänzend zu diesen prozeduralen Abläufen werden die
Wahrnehmungsprozesse, die ebenfalls teilweise implizit arbeiten, immer wieder
optimiert, was die Grundlagen für eine schnellere Verarbeitung von wieder
eintreffenden Mustern legt. Diese unbewusst arbeitende Weiterentwicklung der
Wahrnehmungsfähigkeit wird Priming genannt.60
57
Vgl. Lange (2005), S. 76.
Ebd.
59
Vgl. Behrends/Bischofberger/Deutzmann (2012), S. 781.
60
Vgl. Behrends/Bischofberger/Deutzmann (2012), S. 781f.
58
20
Im Vergleich zu den impliziten Vorgängen beinhaltet das explizite oder deklarative
Wissen ein episodisches Gedächtnis, in welchem persönliche Erlebnisse abgelegt
werden, und den semantischen Speicher, welcher aus allgemeinen Fakten und Tatsachen
besteht. Die beiden Gedächtnisarten erlauben uns das Zurückgreifen auf sowohl
konkrete, objektbezogene und abstrakte Inhalte, aber auch auf Erinnerungen, die von
persönlichen Empfindungen und individueller Bedeutung geprägt sind. Kurz gesagt
wird also im episodischen Speicher nur Information gespeichert, die von
unterschiedlichen Personen ident wiedergegeben werden könnte. Die semantischen
Inhalte können nur durch die einzelnen Individuen artikuliert werden.61
Weitere Gedächtniskonzepte wären das Quellengedächtnis, welches die Herkunft des
Inhaltes in dessen Speicherungsprozess inkludiert, und das Blitzgedächtnis durch die
sofortige und nicht subjektiv beeinflussbare Einprägung eines Reizes. Zusätzlich spricht
man von einem prospektiven Gedächtnis, wenn Handlungsvorgänge anhand von
kognitiven Fähigkeiten geplant werden und nach zeitlicher Verzögerung durchgeführt
werden sollen. Diese Art des Gedächtnisses ist somit verantwortlich für das Einhalten
von Terminen durch die Verknüpfung von vergangenen Erfahrungen mit zukünftigen
Vorstellungen.62
2.2 Allgemeine Gedächtnisprozesse
Ein wesentlicher Faktor hinsichtlich des Erforschens von Gedächtnistypen sind die
Gehirnprozesse, die die Aufnahme von Informationen, deren Verarbeitung und das
spätere Abrufen ermöglichen. Begonnen wird bei auditiven Reizen im Echogedächtnis
mit der Reizaufnahme und Verarbeitung durch die Interaktion mit anderen
Sinneseindrücken. In dieser ersten Phase der Informationsaufbereitung werden die
Reize noch nicht der Analyse freigegeben, sondern nur für die Weiterverarbeitung
entschlüsselt und bereitgestellt. Nach der Aufnahme und Erstfilterung durch den
präfrontalen Kortex kann die Information codiert, also für die Einbettung
vorgespeichert werden. Wenn dieser Input für uns von Bedeutung ist, muss er aktiv im
Kurzzeitgedächtnis gehalten werden, um weiterverarbeitet werden zu können. Dieser
Vorgang der Konsolidierung wird durch Assoziationen und Vergleiche von bereits
existierenden Inhalten geprägt. Das limbische System und somit auch der Hippocampus
und der Mandelkern (Amygdala) sind daran beteiligt. Tief an der Innenseite des
61
62
Vgl. Schiepek (2003), S. 186-189.
Vgl. Förstl/Hautzinger/Roth (2006), S. 225-229.
21
Temporallappen liegt der Hippocampus, welcher als das organisatorische Zentrum aller
Gedächtnisinhalte bezeichnet wird.63
Bei
der
Weiterverarbeitung
werden
in
den
spezifischen
Hirnarealen
die
unterschiedlichsten informationsverarbeitenden Neuronen und deren Synapsen aktiviert.
Umso häufiger Neuronen gleichzeitig arbeiten, umso dicker werden die interneuronalen
Verbindungen und umso stärker ist die Informationsrepräsentation in unserem
Langzeitspeicher. Durch die Vorgänge der Encodierung und Konsolidierung gelangen
also Inhalte in den Langzeitspeicher. Dieser Übergang kann nur erfolgen, wenn der
Temporallappen vollständig intakt ist; ansonsten ist eine Langzeitspeicherung nicht
möglich.64
Der eigentliche Ort des Gedächtnisses, also der fest gespeicherten Inhalte, befindet sich
in der Großhirnrinde. Das Langzeitgedächtnis ist als solches in keinem fixen Areal
unseres
Gehirns
zu
finden,
sondern
könnte
eher
als
eine
netzwertartige
Organisationsstruktur beschrieben werden. Inhalte werden nicht nach Eintreffen und Ort
nebeneinander eingeschrieben, sondern netzwerkartig in das bereits existierende
Verbindungssystem integriert. Die Organisation der deklarativen Speicherinhalte wird
vom Hippocampus durchgeführt, welcher bestimmt, in welchem Areal und somit
Gedächtnistyp die bereits entschlüsselte Information festgehalten wird.65
Bei der letzten Phase der Gedächtnisprozesse, dem Abrufen, wird auf zuvor
gespeicherte Inhalte zurückgegriffen. Wie bereits erwähnt, kann man sich trotz der
theoretischen Unbegrenztheit des Langzeitspeichers nicht immer an jede einzelne
gespeicherte Information erinnern. Der Abruf ist demnach, wie auch die Encodier- und
Lernleistung, von unterschiedlichen Faktoren abhängig. Solche beziehen sich auf die
persönliche Gemütslage genauso wie auf die emotionale Konnotation und die Art der
gespeicherten Darstellung. Am meisten wird die Wiedergabe aber von der Häufigkeit
des Zugriffs darauf bestimmt. Je öfter Informationen aufgerufen werden, desto multipler
werden sie vernetzt, indem sie mit weiteren Kontextinformationen in Verbindung
gebracht werden.66
63
Vgl. Altenmüller (2006), S. 49f.
Vgl. ebd.
65
Vgl. Spitzer (2002), S. 118 und Altenmüller (2006), S. 48-52.
66
Vgl. Pritzel/Brand/Markowitsch (2009), S. 412f.
64
22
In diesem Zusammenhang ist das Konzept der Verarbeitungstiefe zu erwähnen. Es
knüpft an den Prozess der Re-Encodierung von Informationen an. Die aktive
Erinnerungsfähigkeit ist also abhängig von der Art der Reizverarbeitung. Werden nur
physikalische und sensorische Aspekte eines Stimulus aufgeschlüsselt, anstatt diesen
mit Inhalt zu versehen, wird er weniger stark repräsentiert werden. Am tiefsten kann ein
Reiz gelangen, wenn dieser semantisch verarbeitet und damit kategorisiert wird.67 Ein
wichtiger Einflussfaktor für die „Tiefe“ der Verarbeitung ist das emotionale Gedächtnis.
Die Amygdala und das mesolimbische System sind verantwortlich für die emotionale
Konditionierung von Ereignissen und durch meist unbewusste emotionale Färbungen
von Erfahrungen verantwortlich für eine stärkere Vernetzung. Obwohl es nicht
bewiesen ist, dass die Amygdala der Speicherort für eine längerfristige Vernetzung von
Emotionen ist, wird dennoch angenommen, dass sie Einfluss auf das mit viel größerer
Speicherkapazität versehene Großhirn ausübt.68
2.3 Musik und Gedächtnis
Die Aufnahme musikalischer Reize erfolgt genauso über den Wahrnehmungsprozess,
wie andere, nicht-musikalische Eindrücke in das System aufgenommen werden.
Gleichermaßen wird Musik in den Zentren verarbeitet, in welchen auch andere Reize
verarbeitet werden. Kurz gesagt, gibt es keine Zentren, die nur musikalische Inhalte
verarbeiten. Obwohl Studien zeigen, dass auch bei Schädigung gedächtnisrelevanter
Hirnareale musikalische Inhalte noch erfasst werden konnten, konnte man bis jetzt kein
externes Musikverarbeitungs- und Speicherungszentrum lokalisieren.69 Trotzdem kann
man feststellen, dass vergleichbar mit der Sprachverarbeitung, gewisse Hirnareale eine
höhere Aktivität bei Musikrezeption und-produktion aufweisen als andere.
2.3.1 Beteiligte Hirnstrukturen
Musikalisches Gestalten setzt sich im Allgemeinen durch drei Einzelleistungen
zusammen. Die Rezeption von Hören und Sehen und somit zwei der drei Parameter
wurden in den vorigen Kapiteln schon grundlegend entschlüsselt. Das dritte Element
bezieht sich demnach auf die Umsetzung von Musik: das Spielen. Bei einer Studie
wurden dabei alle drei Parameter getrennt und in Verbindung zu einander untersucht.70
67
Vgl. Kielholz (2008), S. 92-95.
Vgl. Roth (2011), S. 117f.
69
Vgl. Petrat (2014), S. 57.
70
Vgl. Spitzer (2002), S. 309f.
68
23
Das Hören aktivierte beidseitige Teile des superioren Temporallappen, die in
Verbindung mit dem Sprachverarbeitungszentrum stehen und folglich auch bei der
allgemeinen auditorischen Reizverarbeitung beteiligt sind. Der rechte Teil des Lappens
zeigte allerdings nur erhöhte Aktivität, wenn es sich beim Gehörten um ein Stück
handelte, was die Annahme bestätigt, das der rechte Hemisphärenteil von wichtiger
Bedeutung für die Melodiewahrnehmung ist.
Beim Lesen von Noten wurde nicht nur das visuelle Verarbeitungsareal im
Okzipitallappen aktiviert, sondern auch Teile des Parietal- oder Scheitellappen,
welchem die räumliche Reizverarbeitung zugeteilt wird.Eine mögliche Erklärung
könnte dafür so formuliert werden: „Bedenkt man, dass in der Notenschrift die Tonhöhe
rein räumlich und zeitliche Aspekte teilweise räumlich kodiert sind, wundert dies [die
Aktivierungszunahme] im Grunde kaum.“71 Kombinierte man dazu den auditorischen
Input eines Stückes, wurde zusätzlich noch ein Areal beidseitig im Scheitellappen
aktiviert, welches auf der linken Seite für die symbolische Sprachrepräsentationen
verantwortlich ist. Es könnte also vermutet werden, dass in der rechten Hemisphäre
dieses Gehirnareals (Gyrus supramarginalis) Strukturen nur für die symbolische
Musikverarbeitung zuständig sein könnten.
Um Musik überhaupt hörbar zu machen, muss sie gespielt werden. Generell
werden beim Spielen Teile des Frontalkortex benötigt, die strukturbedingt mit
prämotorischen Arealen überlappen, welche auch beim Schreiben aktiv sind. Diese
überlappenden Strukturenkönnten eine Erklärung für die Vermutung sein, dass die
genannten Areale nicht nur musikalische, sondern auch sprachliche Inhalte verarbeiten.
Um eine Melodie oder ein ganzes Musikstück umsetzen zu können, müssten nun all
jene Areale aktiv werden, die sowohl für die auditorische als auch die visuelle
Reizverarbeitung zuständig sind, sowie auch jene Strukturen, die die motorische und
symbolische Entschlüsselung innehaben.72
In Hinblick auf die Frage nach spezifischen musikalischen Verarbeitungsvorgängen
kann zusammenfassend Folgendes festgestellt werden: Obwohl es durch verschiedene
Studien belegt scheint, dass die neurologischen Zentren für musikalische Produktion
und Verarbeitung mit den sprachlichen großteils korrelieren, gibt es auch Hinweise,
dass sich die Art der Musikspeicherung auch differenziert manifestiert. Bei den
Wahrnehmungsprozessen hat sich gezeigt, dass eintreffende Reize anhand von
71
72
Spitzer (2002), S. 310.
Vgl. Spitzer (2002), S. 309f.
24
Gruppierungsvorgängen analysiert werden. Dabei wurden drei biologisch verankerte
Grundprinzipien (Nähe, Kontinuität und Ähnlichkeit) erwähnt, die für die Art der
Zusammenfassung der aufgenommenen Informationen verantwortlich sind. Das
Musikgedächtnis macht sich die drei Prinzipien zunutze, indem es die eintreffenden
Reize umgewandelt in Töne „über die Zeit hinweg gesammelt und zu übergeordneten
Einheiten [zusammenfasst].“ 73 Tatsächlich werden musikalische Inhalte zwar ähnlich
wie verbale über die Zeit in Motive und Phrasen zusammengefasst, aber gegensätzlich
zu sprachlichen Inhalten, die sofort mit übergeordneten semantischen Bereichen in
Verbindung gebracht werden, nimmt man an, dass Klänge und Phrasen erst perzeptuell
aufgenommen werden. Zu einem späteren Zeitpunkt können diese musikalischen Inhalte
durchaus mit semantischen Bedeutungen und Emotionen verknüpft werden; doch geht
man davon aus, dass diese zu Beginn der Reizverarbeitung noch keine
Bedeutungszuteilung erfahren.Musikalische Inhalte werden also, kurz gesagt, anhand
der drei Grundprinzipien zusammengefasst und zeitlich vorgespeichert, bevor sie mit
Bedeutungsinhalten versehen werden können.74
Hinsichtlich der inhaltlichen Speicherung kommen beide expliziten Gedächtnissysteme
zur Verwendung. Vergleichbar mit dem Lesen und Schreiben muss im musikalischen
Kontext die Notensprache erlernt werden. Dabei werden Symbole mit Inhalten
verknüpft und im Speicher abgelegt. Neben dem semantischen Gedächtnis werden auch
musikalische Informationen im episodischen Gedächtnisnetzwerk gespeichert. Das
Erlernen von Musikstücken beinhaltet meistens die Einbindung in einen Kontext.
Erinnert wird dabei nicht nur die rein musiktheoretische Seite, sondern auch die
Empfindungen und Umstände, die zum einen, beim Erlernen des Stückes empfunden
wurden, und zum anderen, die durch das Stück suggeriert werden.75
2.3.2 Mögliche Einflussfaktoren der Speicherung in musikalischer Hinsicht
Die generelle und bereits definierte Unterteilung des Langzeitgedächtnisses beinhaltet
natürlich auch musikalische Inhalte. Unser implizites Wissen hinsichtlich Tonalität,
Klangfarbe und Tempo spielt nicht nur bei den unterschiedlichen Stadien der
Wahrnehmung eine Rolle, sondern beeinflusst auch unser Kurzzeitgedächtnis. Des
Weiteren wird sich zeigen, dass nicht nur musikalisches Vorwisseneine mehrfache
73
Jäncke (2009), S. 107.
Vgl. ebd.
75
Vgl. Jäncke (2009), S. 314f.
74
25
Codierung der Reize hervorruft und somit eine Verankerung im Langzeitspeicher
begünstigen könnte. Welche Faktoren ebenso Einfluss auf eine langfristige Speicherung
haben könnten, werden in den folgenden Ausführungen untersucht.
Kapazitätsbegrenzung
Das Erfassen einer bestimmten Anzahl an Elementen und die Aufgabe diese
wiederzugeben liegt im Wirkungsbereich des Kurzzeitgedächtnisses und in dessen
Verlängerung, des Arbeitsspeichers. Die 7 +/-2 Regel wird dabei oft mit der
siebenstufigen diatonischen Skala in Verbindung gebracht mit der Annahme, dass diese
die Grundlage für die siebenteilige Gedächtnisspanne sein könnte. Obwohl diese
Annahme durch die Tatsache, dass andere Kulturen mehrteilige Tonsysteme
verinnerlicht haben, widerlegt wird, ist der Intervallanzahl der siebenstufigen Skala
Aufmerksamkeit zu widmen. Der Unterschied in der Kapazität liegt also nicht in der
Tonanzahl, sondern der Intervallanzahl. Musiker können zwar im Vergleich zu
Nichtmusikern mehr als sieben Intervalle unterscheiden, was aber auf ihre
musikalischen Vorkenntnisse zurückzuführen ist. Die fehlende Fähigkeit der
Unterscheidung der Intervalle ist also auf das fehlende Vorwissen zurückzuführen.
Anzunehmen ist nun, dass durch das Zeigen einer Hilfestellung für Nichtmusiker die
Behaltensleistung erhöht werden könnte. Eine zusätzliche Codierung durch die
Verbindung von Intervallen mit bekannten Liedanfängen zielt auf eine Verlängerung
der Erinnerung ab und erhöht somit die Chancen für eine verlängerte Speicherung. 76
Ein weiterer Vorteil der Beschränkung auf den diatonischen Klangraum aus unserem
Kulturkreis könnte sich durch dessen Struktur ergeben. Durch eine regelmäßige Abfolge
von Tonabständen, bestehend aus Ganz- und Halbtonschritten, ergibt sich eine
Gewichtung in Richtung eines tonalen Zentrums.77 Dabei könnte man annehmen, dass
wieder eine Gruppierung der Elemente stattfindet und das somit zu einer erhöhten
Speicherleistung führen könnte.
Modalitätseffekt
Der Modalitätseffekt beschreibt eine Besonderheit der auditiven Präsentation im
Kurzzeitgedächtnis hinsichtlich der Erkenntnis, dass verbalisierte Gedächtnisinhalte
eher wiedergegeben werden können, als nur visuelle. Angenommen wird, dass auditive
76
77
Vgl. Lange (2005), S. 78f.
Ebd.
26
Reize, wie das Rhythmisieren von Daten, eine komplexere temporale Codierung zur
Folge haben und somit eine stärkere Vernetzung erzeugen. Das wiederum lässt auf eine
langzeitlichere Speicherung schließen. Die Voraussetzung dafür liegt allerdings in der
Art der Rhythmisierung: nur eine regelmäßige Abfolge ermöglicht das Gruppieren von
Elementen. Das übergeordnete Ziel der Zusammenfassung zu größeren musikalischen
Elementengruppen kann in der Musik durch ein gleichmäßiges Metrum bewerkstelligt
werden.78
Gruppierung
Sinneseindrücke können hinsichtlich
allgemeiner
Wahrnehmungsvorgänge erst
interpretiert werden, wenn sie in Beziehung zueinander gestellt werden. Die
Voraussetzung dafür ist ein präexistenter Speicher, der den Vergleich von eintreffenden
Reizen mit bereits verarbeiteten Informationen ermöglicht. Da bei beiden Prozessen die
Reize nicht in ihrer individuellen Fülle aufgenommen und gespeichert werden können,
finden Gruppierungsmechanismen statt. Beide Vorgänge, die Wahrnehmung und die
Speicherung oder vice versa, sind folglich von Gruppierungsmechanismen abhängig.
In Hinblick auf die musikalische Wahrnehmung sind Parameter wie Frequenz,
Klangfarbe und Ursprungsort der Schallquelle strukturbildend. Ist eine Nähe in der
Tonfrequenz zu definieren, werden die Klänge eher zu einer Melodie zusammengefasst
werden. Der Lokalisationsparameter kommt zu tragen, wenn sich Töne in ihrer
Klangfarbe und Höhe ähnlich sind.79
Um also die musikalische Gedächtnisleistung positiv beeinflussen zu können, sollte
man auf Gruppierungsprozesse Rücksicht nehmen. Die Einteilung in musikalische
Motive und Phrasen zeigt sich dabei von großer Bedeutung. Um allerdings die
Behaltensleistung zu maximieren, sollte die Relation der Parameter, aus welchen
Motive und Phrasen bestehen, miteinbezogen werden. Denn die rhythmisch-metrische
Struktur und die Melodiekontur spielen nicht nur bei der Erschaffung, sondern auch bei
der Wiedergabe von Musik eine wichtige Rolle. Will man beim Hörer eines
Musikstücks eine Verwirrtheit auslösen, sollte man den Zusammenhang zwischen den
beiden genannten Parametern übergehen. Möchte man aber die Wiedergabeleistung
eines musikalischen Motivs erhöhen, sollten Rhythmus und Melodieverlauf kohärent
78
79
Vgl. Lange (2005), S. 79f.
Vgl. Lange (2005), S. 83-86.
27
sein. 80 Lange (2005) erwähnt in diesem Zusammenhang eine Studie von Diana
Deutsch81, die dieses Phänomen anhand von Beethovens Fünfter Sinfonie gezeigt hat.
Dabei wurde die in der Einleitung dreiteilige Struktur in eine temporale Vierergruppe
gespalten, was in rhythmischen Vierergruppen und melodischen Dreiergruppen
resultierte. Diese Inkohärenz resultierte in einer nachweisbaren Leistungsminderung in
Hinblick auf die Wiedergabe.
Ähnlichkeit
Soll eine Liste an Elementen wiedergegeben werden, ist die akustische Ähnlichkeit der
Repräsentation dieser von Vorteil für die Wiedergabeliste. Als Beispiel dient eine
Zahlenreihe, die auf unterschiedliche Weise vorgetragen wird. Es hat sich gezeigt, dass
die Behaltensdauer der Elemente durch die gleichbleibende Klangfarbe und Höhe der
Stimme positiv beeinflusst wurde. Obwohl ein Wechsel des Sprechers zu Einbußen
hinsichtlich der Wiedergabe geführt hat, hat wiederum eine strukturierte Abwechslung
zu einer höheren Speicherleistung geführt. 82 Musikalisch gesehen könnte man die
Sprachpräsentation in eine Instrumentalpräsentation konvertieren. Musikalische Motive
und Phrasen können natürlich auch mit verschiedenen Instrumenten produziert werden
nicht nur durch eine strukturierte Abwechslung, sondern auch durch Variation eine
Verdichtung der Codierung herbeirufen und somit eine verbesserte Speicherung
bezwecken.
3. Allgemeine Einflussfaktoren
Die Grundlage für improvisatorisches Gestalten ist die Fähigkeit, musikalisch tätig
werden zu können. Folglich wurden die neurobiologischen Grundlagen in Form von
Wahrnehmung und Gedächtnis im Allgemeinen mit spezifischen musikalischen
Ergänzungen betrachtet. Die Tatsache, dass sich Gedächtnisstrukturen generell nicht als
statisch erwiesen haben, wie durch die Neuroplastizität des Gehirns beschrieben wurde,
lässt auf unterschiedliche Einflussfaktoren schließen. Denn anzunehmen ist, dass die
Veränderung einer neuronalen Struktur durch das Kennenlernen von etwas Neuem und
Ergänzen von schon Vorhandenem von inneren als auch äußeren Begebenheiten
abhängig sein könnte. Bereits zu Anfang wurde das limbische System als eine
80
Ebd.
Vgl. Deutsch, Diana: The Processing of Structured and Unstructured Tonal Sequences. In: Perception
& Psychophysics 28 (1980), S. 381-389.
82
Vgl. Lange (2005), S. 86-88.
81
28
vorantreibende und beeinflussende Hirnstruktur für verschiedene neurologische
Prozesse beschrieben. Die daraus resultierenden Emotionen sind nur einer der wichtigen
Parameter, die sowohl auf die Wahrnehmung als auch die Speicherung (oder vice versa)
und
somit
folglich
auch
auf
entscheidende
Elemente
der
musikalischen
ProduktionEinfluss ausüben können. Das Folgende sollte demnach in Bezug zu bereits
Erwähntem gesetzt werden, um als Voraussetzung für den anschließenden didaktischen
Teil zu dienen.
3.1 Aufmerksamkeit
Gedächtnisprozesse, speziell die des Arbeitsgedächtnisses, hängen stark von
Aufmerksamkeit
ab.
Im
Detail
bedeutet
das,
dass
eine
Störung
in
der
Aufmerksamkeitdie Gedächtnisleitung, insbesondere auch die Phase der Encodierung,
stark beeinflussen kann. Wichtig zu erwähnen ist, dass wie bei anderen
Gehirnleistungen, sich die Aufmerksamkeit nicht auf einen definierten Prozess
reduzieren lässt. Eng verbunden mit der Wahrnehmung, werden die unterschiedlichsten
kortikalen und subkortikalen Areale bei Aufmerksamkeitsprozessen miteinander
vernetzt. Das Konzept der Aufmerksamkeit lässt sich in einen zeitlichen und räumlichen
Prozess unterteilen. Spricht man von der Intensität, also der Leistung und Dauer, wird
dies Vigilanz genannt. Dies deutet auf Aufmerksamkeit im Sinne eines Zustands, der
über einen länger andauernden Zeitraum gehalten werden muss, hin. Zusätzlich wird
auch hinsichtlich der Fokussierung unterschieden. Die selektive Aufmerksamkeit
beschreibt die Zuwendung zu und damit die Ausblendung von bestimmten
Sachverhalten.83
3.1.1 Selektion
Um Aufmerksamkeit anhand ihrer beiden Parameter beschreiben zu können, muss der
Begriff der Selektion hinsichtlich eintreffender Reize gespalten betrachtet werden. Wie
in den vorigen Kapiteln bereits erwähnt wurde, ist eine selektive Reizerfassung in der
ersten Phase der grundlegenden Wahrnehmungsprozesse von wichtiger Bedeutung.
Reize werden zwar aktiv durch die adäquate Ausrichtung der Sinnesorgane
wahrgenommen, allerdings ist dieser Prozess nicht immer bewusst aktiv, sondern
stimulusgesteuert. Wenn das Wahrnehmungssystem für Reize empfänglich ist, nimmt es
diese auch auf: ertönt ein lauter Ton, kann man sich nicht aktiv entscheiden, ob man
83
Vgl. Dauner/Münzel (2009), S. 100.
29
diesen nun hören möchte oder nicht. Der Reiz erlangt automatisch Zugangsberechtigung
zu unserem System.84
Selektive Aufmerksamkeit impliziert allerdings zusätzlich eine zweite Art von
Reizauswahl. Nicht die ganze Fülle an zur Verfügung stehenden Reizen kann
verarbeitet werden. Obwohl gewisse Reize nicht ausgeschaltet werden können, besteht
doch die Möglichkeit, dass sie nach einer bestimmten Zeit fast ganz ausgeblendet
werden. Das bedeutet, dass man die Aufmerksamkeit auf etwas Anderes richten kann,
weg von dem Reiz, der stört oder nicht als interessant oder relevant eingestuft wird.85
Dabei ist zu bemerken, dass der Fokus dabei nur auf einem Objekt oder einem Input
liegen kann. In der Tat kann man sehr schnell zwischen einzelnen Stellen hin und her
schalten; trennen kann man die Fokussierung der Aufmerksamkeit aber nicht. Abhängig
von der Betrachtungsintensität eines Reizes, kann einem weiteren Reiz nur mehr eine
bestimmte Menge an Aufmerksamkeit gewidmet werden. Man geht davon aus, dass
eine stärkere Gewichtung auf die bewusst beeinflussbare Verarbeitung, die unbewusste
Reizverarbeitung minimiert. Die Schlussfolgerung daraus würde dann die Annahme
ergeben, dass es nur eine limitierte Aufmerksamkeitskapazität gibt, die je nach
bewusster
oder
unbewusster
Fokussierung
verteilt
wird.
Beide
Arten
von
Stimuliverarbeitung beeinflussen sich gegenseitig.86
Die Frage ob die Kontrolle dieser Verteilung von außen oder innen kommt, ist
allerdings schwer zu beantworten. Obwohl die Bedeutungsverleihung an einen Stimulus
von außen schwer erfassbar und nachzuforschen ist, ist es doch bekannt, dass diese von
unterschiedlichen Bedürfnissen oder Gemütslagen abhängig sind.87
Die aktiv bewusste Selektion ist allerdings nicht nur ein „Wegschalten“ von
Uninteressantem, sie hat auch eine entscheidende Bedeutung beim aktiven Agieren.
Mulder (2007) beschreibt dies wie folgt: „Das Entdecken eines bekannten Gesichts in
einer Menschenmenge ist ein Beispiel für einen derartigen aktiven Selektionsprozess.
Hier unterdrücke ich nichts, sondern suche geradezu nach etwas, das ich
wiedererkenne.“88 Das Wahrnehmungssystem muss dabei so viele Reize wie möglich
entschlüsseln und gleichzeitig auf die bereits gespeicherte Information zugreifen
können. Bei diesem Prozess erkennt man die Wichtigkeit der einzelnen beschriebenen
84
Vgl. Mulder (2007), S. 116.
Vgl. Mulder (2007), S. 115f und Spitzer (2003), S. 143-145.
86
Vgl. Spitzer (2003), S. 143-145.
87
Vgl. Mulder (2007), S. 116.
88
Mulder (2007), S. 116.
85
30
Parameter: das Gespeicherte wird vom Gedächtnis zur Verfügung gestellt und der
Wahrnehmungsapparat kontrolliert die Aufnahme und Encodierung, angeregt durch die
Aufmerksamkeit.
3.1.2 Vigilanz
Die selektive Aufmerksamkeit ist für eine längerfristige Aufmerksamkeitszuwendung
die Voraussetzung. Bei konstantem und differenziertem Informationsfluss sind die
Aufrechterhaltung des Fokus und die darauf reagierenden Abläufe nicht schwer zu
bewerkstelligen. Dieses Phänomen wird als Daueraufmerksamkeit beschrieben.89
Im Gegensatz dazu beschreibt der Begriff der Vigilanz eine Aufrechterhaltung der
Aufmerksamkeit
unter
„monotonen
Reizbedingungen
mit
geringer
Reaktionsfrequenz.“ 90 Viele Studien lassen darauf schließen, dass der Mangel an
Information über einen längeren Zeitraum nicht nur die Reaktionsgeschwindigkeit,
sondern auch den ganzen Gemütszustand verändern kann. Gezeigt wurde das teilweise
durch eine Studie, bei der Probanden ein Ziffernblatt beobachten mussten. Der
Sekundenzeiger machte nach beliebigen Wiederholungen hin und wieder einen
Doppelschritt. Diesen mussten die Testpersonen durch das Drücken eines Knopfes
bemerkbar machen. Trotz ausgesetzter Wiederholung konnte nach kurzer Zeit ein
Leistungsabfall bemerkt werden. Bei der Wiederholung dieses Experiments gab man
den Teilnehmern drei Uhren zur Beobachtung, womit man zwar wieder einen
vorausgesagten Leistungsabfall, allerdings über einen längeren Zeitpunkt und
geringeren Ausmaßes, verzeichnen konnte.91 Man kann also den Schluss ziehen, dass
auch
nur
geringe
Abwechslung,
welche
die
Mechanismen
der
selektiven
Aufmerksamkeit aktiviert, eine Verbesserung in der Vigilanz bezwecken kann.
Aufmerksamkeit beeinflusst also durch unterschiedliche bewusste oder unbewusste
Steuermechanismen die Reizaufnahme und filtert nicht nur Information, sondern
generiert diese auch. Der Weg zur Speicherung wird von einer generellen Wachsamkeit,
der Vigilanz, geebnet und durch eine Art der selektiven Aufmerksamkeit gefördert. In
Bezug darauf konnte festgestellt werden, dass die aktive Zuwendung zu einer
bestimmten Sache nicht nur die adäquate Reizaufnahme steuert, sondern damit auch
aktiv die korrelierenden Gehirnareale anregt. Kurz gesagt handelt es sich dabei sowohl
89
Vgl. Schneider/Niebling (2008), S. 43.
Schneider/Niebling (2008), S. 43.
91
Vgl. Mulder (2007), S. 117.
90
31
um einen psychologischen als auch messbar neurobiologischen Prozess. Konzentriert
man sich beispielsweise auf bestimmte Farben oder Bewegungen, resultiert dies in einer
Aktivitätszunahme in den neuronalen Farb- und Bewegungszentren. So logisch dieser
Prozess auch klingen mag, so entscheidend ist er für das Behalten von Informationen.
Führt man sich nochmals vor Augen, dass Informationen zum Zwecke des Ordnens
durchaus, um dem Beispiel zu folgen, anhand ihrer Farb- und Bewegungseindrücke
verarbeitet werden, aber nicht zwingend gespeichert werden, kann man den essentiellen
Unterschied bemerken. Erst durch die Aktivierung bestimmter Areale mit Hilfe der
selektiven Aufmerksamkeit wird der Weg für die darauffolgende Speicherung von
Eindrücken geebnet.92
Betrachtet man dieses Konzept der aktiven Zuwendung in Bezug auf bestimmte
Sinneseindrücke, könnte man dessen Wichtigkeit für komplexere Aufgaben erkennen.
Denn die Konzentration auf einzelne Informationen aus der Umwelt bildet Bausteine für
ganze Situationen und Aufgaben in unserem Alltag. Genauso wie bei Sinneseindrücken
gefiltert wird, geschieht das bei Alltagsszenarien. Umgemünzt auf das Musizieren
bedeutet das, dass man sich aktiv darauf konzentrieren und anderen Umwelteinflüssen
widerstehen muss. Leicht wird man durch andere reizvolle Aktivitäten abgelenkt, was
durch die Aufmerksamkeitszuwendung zum Musizieren abgewendet werden kann.
Entscheidend dabei ist, dass das Lenken und Beibehalten der Aufmerksamkeit wieder
von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst wird.
Illustriert wird dieses durch die neuronalen Verarbeitungsprozesse. Wie zu Beginn
erwähnt, sind bei Aufmerksamkeitsprozessen die unterschiedlichsten Gehirnareale
beteiligt. Besonders wichtig sind Hirnstrukturen, die sich im Frontal- und
Temporallappen befinden. Dabei wird auf Informationen zurückgegriffen, die im
Frontallappen mit Gefühlen in Verbindung gebracht und abgespeichert wurden.
Zusätzlich ist das Cingulum, welches sich zwischen den beiden Hemisphären von vorne
nach hinten durchzieht, von entscheidender Bedeutung. Dieses ist nicht nur
physiologisch die Verbindung zwischen den Gehirnhälften, sondern fungiert auch als
Schaltzentrale zwischen den kognitiven und emotionalen Informationsspeicherzentren.93
Ausgehend von den beteiligten Gehirnarealen wird schnell klar, dass sich die
Verarbeitung von Eindrücken und somit die Beeinflussung der Aufmerksamkeit bis in
92
93
Vgl. Spitzer (2003), S. 146-156.
Vgl. Jäncke (2009), S. 53f.
32
die emotionsverarbeitenden und emotionsgenerierenden Hirnstrukturen erstreckt. Das
bewusste Lenken und Behalten eines Fokus auf eine Situation ist also genauso
gefühlsgebunden wie die Verarbeitung von Informationen. Zusätzlich spielt der Willen,
also die Motivation, sich auf eine Situation zu konzentrieren eine große Rolle, was sich
in den folgenden Ausführungen noch genauer zeigen wird.
3.2 Emotionen
Gedächtnis- und Wahrnehmungsvorgänge wurden als hochkomplexe und miteinander
verbundene Prozesse beschrieben und entschlüsselt. Konzepte der Reizaufnahme,
Analyse
und
Implementierung
sowie
Speichermechanismen
sind
in
diesem
Zusammenhang erklärt worden. Ein zusätzlicher entscheidender Faktor, der sowohl bei
der Wahrnehmung als auch Informationspräsentation eine Rolle spielt und noch
genauere Betrachtung benötigt, ist das Emotionsverarbeitungssystem. Emotionen sind
aus den neuronalen Verarbeitungsprozessen nicht wegzudenken, da sie nicht nur an
jedem einzelnen von den bereits beschriebenen Konzepten beteiligt sind, sondern auch
mit jedem der einzelnen Einflussfaktoren wie Aufmerksamkeit und Motivation in
Relation stehen.
Da sich die Erforschung von Emotionsprozessen als noch komplexer wie die der
Wahrnehmung oder Aufmerksamkeit erweist, wird beschrieben, dass eine allgemein
anerkannte Konzeption der Emotionen noch aussteht. Differenzieren kann man
allerdings anhand der Emotionsstärke (viel oder wenig) und Valenz (positiv oder
negativ), sowie einem kognitiven, gefühlsmäßigem und körperlichem Aspekt. In
Hinblick auf die Lokalisation eines emotionalen Zentrums im Gehirn, kann man kein
genaues Areal festlegen. Vergleichbar mit dem musikalischen Gedächtnis sind auch hier
eine Reihe an unterschiedlichsten Strukturen und Prozessen in verschiedenen Teilen des
neuronalen Systems beteiligt. Ein erklärender Faktor zeigt sich in der Verbindung von
Körper, Denken und Emotion und der daraus resultierenden Annahme, dass das Gehirn
keine Wahrnehmungs- oder Speicherungsprozesse ohne Emotionen vollziehen könnte.
Versucht man sich an Ereignisse aus der Vergangenheit zu erinnern, sind die, die am
weitesten zurückliegen, höchstwahrscheinlich mit eindrucksvollen Emotionen gepaart
und können dadurch wieder schnell ins Bewusstsein geholt werden.94
94
Vgl. Spitzer (2003), S. 157.
33
3.2.1 Neurobiologische Grundlagen
Obwohl ein Emotionszentrum als solches nicht zu finden ist, kann man doch
bestimmen,
welche
Gehirnstrukturen
an
der
Entstehung
beteiligt
sind.
Neurophysiologisch gesehen wird das Areal, das am meisten am Entstehen von
Emotionen und daraus resultierenden Gefühlsreaktionen beteiligt ist, als das limbische
System beschrieben. Dieses beschreibt eine Gruppierung von Strukturen, die unterhalb
des Großhirns liegen und somit an den Hirnstamm angrenzen. Verbunden mit der
Großhirnrinde greift das limbische System somit auch auf den Hippocampus zu, der
entscheidend für Gedächtnisleistungen ist. Zusätzlich besteht eine Verbindung zu den
Mandelkernen, der Amygdala, bestehend aus einem tief im Temporallappen gelegenen
neuronalen Netzwerk und nicht weit entfernt vom Hippocampus.95 Diese zeichnen sich
durch ihre weitläufigen Verbindungen zu weiteren Gehirnarealen aus:
So gibt es eine Fülle von auf- und absteigenden Assoziationsfasern zum Neocortex (vor
allem in präfrontale Rindenregionen, die für höhere geistige Funktionen verantwortlich
sind), aber auch Verbindungen zu den motorischen Rindenarealen und zum vegetativen
Nervensystem, das die Tätigkeit der Organe und der Drüsen steuert.96
Diese weitläufigen Verbindungen ermöglichen die Kopplung von wahrgenommenen
Reizen mit Empfindungen, welche bei der Übertragung in die Großhirnrinde zu
Emotionen transformiert werden.
3.2.2 Emotionaler Einfluss auf kognitive Prozesse
Bei der Auswahl der Reize, wie es bei der ersten Phase des Wahrnehmungsprozesses
geschieht, ist das limbische System bereits beteiligt. Erst durch dessen Bewertung wird
es einem Reiz möglich, weiterverarbeitet zu werden und was wir wahrnehmen, ist
abhängig vom Fokus unserer Aufmerksamkeit. Der Fokus der Aufmerksamkeit ist
wiederum emotionsgesteuert. Es herrscht also eine enge Verknüpfung zwischen den
beiden Einflussfaktoren Aufmerksamkeit und Emotion, was wiederum Einfluss auf die
Wahrnehmung und in weiterer Folge auf die Speicherung hat. Denn ohne das limbische
System und dessen Gefühlsausschüttung würde das Konzept der Aufmerksamkeit nicht
funktionieren, was wiederum Einfluss auf Wahrnehmung und Verarbeitung hätte. Ein
gutes Beispiel dafür kann man an sich selbst beobachten: Beobachtet man an Tagen, an
denen man sich selbst nicht besonders gut fühlt, seine eigene Wahrnehmungslenkung,
95
96
Vgl. Brandstätter (2004), S. 178-180.
Brandstätter (2004), S. 179.
34
wird man erkennen, dass sich diese auf Menschen mit ähnlichem Gemütszustand
bezieht. Ist man also selbst schlecht gelaunt, kann man bemerken, dass einem eher
Leute mit selbigem Gesichtsausdruck oder korrelierenden Äußerungen auffallen.97
Wenn das limbische System die Aufmerksamkeit zum Positiven hinlenkt und damit den
Zugang zu den Gedächtnisinhalten öffnet, findet in den weiteren Wahrnehmungsphasen
die Reizanalyse inklusive emotionalem Abgleichen mit bereits gespeicherten
Erfahrungen hinsichtlich Bekanntheit, Ähnlichkeit und emotionaler Koppelung statt.
Erkennt das limbische System eine neue positive Reizerfahrung, resultiert dieses in der
Ausschüttung des Neurotransmitters Dopamin. Dieser unterstützt die Synapsenbildung
zwischen den Neuronen und bildet somit die Voraussetzung für die Prozesse, die dem
Denk- und Sprachvermögen zugrunde liegen: „Planung von Bewegungen, Merkspanne,
geistige Flexibilität, abstraktes Denken, zeitliche Sequenzierung [und] Kreativität“. 98
Diese wiederum können nur stattfinden, wenn ein Speicher existiert. Kurz gesagt,
beeinflusst die Bildung von Dopamin in erster Instanz die Organisation und das
Anlegen von Gedächtnisinhalten bevor weitere Vorgänge stattfinden können.99
Längerfristige und sinnvoll geordnete Abspeicherung von Inhalten, die jederzeit
abrufbereit sein sollen, ist also emotionsbedingt. Tatsache ist, dass emotionsgebundene
Inhalte effektiver, also schneller und mit besserer Verknüpfung, registriert werden.
Durch die Koppelung von Emotionen und Reizen entstehen Markierungen im
Gedächtnis, die ein schnelleres Abrufen der gespeicherten Informationen bei erneutem
Reizeintritt ermöglichen. Besonders wichtig ist diese emotionale Abspeicherung für
musikalische Inhalte. Es hat sich nämlich gezeigt, dass die emotionale Entschlüsselung
von musikalischen Eindrücken wesentlich schneller erfasst wird, als andere
musikbezogene Parameter. Daraus könnte man also die These ableiten, dass „[…] die
Fähigkeit, auf Musik mit Gefühlen zu reagieren, besonders tief in unserem Gehirn
verankert ist.“100
Wie tief Emotionen generell in unserem Gehirn verankert sind, zeigt sich auch in der
Art und Weise, wie Menschen manchmal spontan auf bestimmte Sinneseindrücke
reagieren. Laute Geräusche oder hochfrequente Töne rufen zum Beispiel bei vielen
Abwehr- oder Fluchtmechanismen hervor. Die Grundlagen für diese automatischen
97
Vgl. Brandstätter (2004), S. 180.
Petrat (2014), S. 74.
99
Vgl. Petrat (2014), S. 74f.
100
Petrat (2004), S. 76.
98
35
Reaktionen lassen sich in der menschlichen Evolution finden. Menschen mussten bei
Bedrohung schnell reagieren um ihr Überleben zu sichern, was oft keine Zeit für
Überlegungen zuließ. Emotionen bahnten für adäquates und schnelles Handeln den
Weg, indem sie dieVoraussetzungen dafür schufen, Situationen so schnell wie möglich
zu erfassen. Heute noch merkt man die unwillkürlichen Reaktionen des Körpers wie
Muskelanspannung,
Zittern
und
erhöhte
Herzfrequenz
in
Stress-
oder
Angstsituationen.101
Angst
Angst ist ein elementares Gefühl, was evolutionär bedingt tief im menschlichen
Emotionssystem verankert ist. Oft für die Beschleunigung eines Lernprozesses
verantwortlich, entsteht die Emotion der Angst in den Mandelkernen. Diese sind der
Ursprungsort für die Kopplung von Angst an bestimmte Situationen und die daraus
resultierenden Vermeidungsmechanismen. Zusätzlich zur situativen Emotionskopplung
können aber auch weiter entfernte Erfahrungen bereits den Zustand der Panik
hervorrufen. So kann zum Bespiel die Angst vor Hunden beim bloßen Hören eines
Bellen ohne das Tier auch nur zu sehen, in nicht beeinflussbaren körperlichen
Reaktionen resultieren.
Der Verarbeitungsprozess, der zu dieser automatischen Reaktion führt, vollzieht
sich dabei wie folgt: Der erste Reizeindruck, ob es nur ein Bellen oder das Tier an sich
ist, wird an einen Teil des im Zwischenhirn befindlichen Thalamus geleitet. Bereits am
Weg dorthin findet eine elementare Erstanalyse des Reizes statt, welche dann in den
korrelierenden Kortex (visueller oder auditorischer) weitergeleitet wird. Noch bevor die
Reizverarbeitung dort vollendet ist, hat der Thalamus die Resultate der Erstanalyse an
die Amygdala weitergeleitet, welche die automatischen körperlichen Abwehrreaktionen
initiiert.102
Evolutionsbedingte Angstreaktionen beschränken sich allerdings nicht nur auf
körperliche Erfahrungen, sondern auch auf geistige. So positiv sich diese
automatisierten Vorgänge auch erweisen können, so negativ können sie sich auch auf
unser Leben auswirken. Vergleichbar mit dem gebrachten Beispiel vom automatischen
Fluchtverhalten initiiert durch Hundebellen, gibt es Erkenntnisse über ähnlich
ablaufende kognitive Abwehrmechanismen. Das bedeutet, dass Angst auch eine ganz
101
102
Vgl. Petrat (2014), S. 26f.
Vgl. Spitzer (2003), S. 162f.
36
bestimmte kognitive Reaktion hervorrufen kann, welche „[…] das rasche Ausführen
einfacher gelernter Routinen erleichtert und das lockere Assoziieren erschwert. […]
Wer Prüfungsangst hat, der kommt einfach nicht auf die einfache, aber etwas Kreativität
erfordernde Lösung, die er normalerweise leicht gefunden hätte.“ 103 So kann ein
evolutionsbedingter Abwehrmechanismus heutzutage zusätzlich zu Schwierigkeiten bei
wichtigen Lernprozessen führen. Denn die Tatsache, dass Kreativität durch
Angstgefühle gehemmt wird, hat durch ihren Einfluss auf Erlebtes auch Einfluss auf die
Speicherung von Situationen. Ist es jemandem nicht möglich die persönlichen kreativen
Eigenschaften in einer gewünschten Situation zu entfalten, kann das zu einer
angstbesetzen Erinnerung führen, die dann den Speicherungsprozess negativ
beeinflussen könnte.
Inwiefern die Gedächtnisinhalte tatsächlich durch emotionale Codierung beeinflusst
werden können, wurde in einer Studie getestet, durch welche man zusätzlich die
Beteiligung von bestimmten Hirnarealen herausfinden wollte.104 Testpersonen wurden
Bilder mit auslösenden positiven, negativen oder neutralen Emotionen in Verbindung
mit zu speichernden Wörtern gezeigt. Die Wörter sollten im Anschluss in unbestimmter
Reihenfolge wiedergegeben werden. Dabei konnte herausgefunden werden, dass die
emotionale Färbung einer Speicherung tatsächlich Einfluss auf die Beteiligung
bestimmter Hirnstrukturen ausübt. Begriffe, die in einen positiven Kontext eingebunden
waren, wurden nicht nur am besten erinnert, sondern aktivierten beim erfolgreichen
Speicherprozess auch eher den Hippocampus. Wurden negative Emotionen mit Wörtern
gekoppelt, konnte eine erhöhte Aktivität der Amygdala hinsichtlich wieder abrufbarer
Informationen verzeichnet werden. Während neutrale Emotionen beim erfolgreichen
Einspeichern eine offensichtliche Beteiligung des unteren Frontallappen bewirken,
aktivieren
wiederum
neutrale
Informationen
mit
negativer
Codierung
die
105
Mandelkerne.
Als Schlussfolgerung kann also gezogen werden, dass im Allgemeinen Gefühle nicht
vom Denken getrennt werden können. Denn ohne emotionale Färbung der Inhalte
nimmt man an, dass diese nicht erfolgreich, also wieder abrufbar, gespeichert werden
können. Zusätzlich wurde bei diesem Experiment eine offensichtliche Verbesserung in
103
Spitzer (2003), S. 164.
Vgl. Erk et al. (2002), S. 439-447.
105
Vgl. Spitzer (2003), S. 165-167.
104
37
der Speicherleistung unter Einfluss einer positiven Grundeinstellung verzeichnet. 106
Zusammengefasst kann man also behaupten, dass das Erzeugen eines positiven
Gemütszustands, der durch unterschiedliche Faktoren hervorgerufen werden kann und
sich als essentiell für erfolgreiches Implementieren von Informationen gezeigt hat, das
übergeordnete Ziel eines jeden Lern- und Erfahrungsprozesses sein sollte. Denn nur
durch eine positive Codierung von erlernten Inhalten, kann man am ehesten annehmen,
dass diese nicht nur am längsten in unseren Speichern verankert bleiben, sondern auch
am besten wieder aufgerufen werden können.
Stress
Angst ist nicht der einzige Dopaminhemmer, der somit Einfluss auf den generellen
Speichervorgang ausübt. Die Ausschüttung des Neurotransmitters ist entscheidend für
die Synapsenentwicklung und somit für die erfolgreiche Verankerung eines Inputs in
das bereits bestehende Neuronennetzwerk, was wiederum die Voraussetzung für das
spätere unbegrenzte Abrufen der Information darstellt. Vergleichbar mit Angstgefühlen,
hemmt Stress aber nicht nur den Informationsaufnahmeprozess, sondern auch den Abruf
von bereits Gespeichertem. Stresserzeuger haben dabei den gleichen Einfluss auf den
Organismus wie bereits bei Angstreaktionen beschrieben wurde.
Bei der Unvereinbarkeit von Anforderungen aus der Umwelt mit den persönlichen
Kompetenzen,
Einstellungen
und
Bedürfnissen
entsteht
ein
Zustand
des
Ungleichgewichts. Dieser Zustand wird als Stress definiert, der in Wechselwirkung mit
der Situation, die das Ungleichgewicht hervorruft, steht. Stress, hervorgerufen durch
eine spezifische Situation beeinflusst wiederum die Stresssituation. Entscheidend dabei
ist, dass dieses zirkuläre Verhältnis vom individuellen Organismus abhängig ist. Denn
inwiefern jeder Einzelne auf bestimmte Situationen mit Stressreaktionen reagiert, ist
keine allgemein erfahrbare Tatsache, sondern abhängig von persönlichen Erfahrungen
und Verarbeitungsmechanismen.107
Obwohl Stress, wie viele emotionale Reaktionen, individuell bedingt ist, konnte man
doch Erkenntnisse hinsichtlich Situationen, die vermehrt Stress hervorrufen, gewinnen.
Um dieses zu zeigen, wurden zwei Affen, die für mehrere Tage keine Nahrung
bekamen, mit anderen, die regelmäßig gefüttert wurden, in einen Käfig gesperrt. Dabei
106
107
Ebd.
Vgl. Asen (2004), S. 102.
38
konnte beobachtet werden, dass die fastenden Tiere emotionale Stressreaktionen
zeigten, wenn sie den anderen beim Fressen zuschauen mussten. Im Gegensatz dazu
zeigten die beiden Affen keine solchen Reaktionen, wenn sie nur zu zweit und getrennt
von den anderen im Käfig fasten mussten. Der Stresserzeuger war in diesem
Experiment also nicht das Fasten an sich, sondern die psychologische Situation.
Durch eine andere Studie zu stressauslösenden Umständen konnte zusätzlich die
Annahme bestätigt werden, dass kalkulierbare Stresshervorrufende Disharmonie
erträglicher ist, als spontane Stresssituationen. Bei dieser wurden zwei Ratten in
unterschiedlichen Käfigen die gleiche Anzahl an unangenehmen Elektroschocks
versetzt. Der Unterschied zwischen den beiden war allerdings, dass eine Ratte das
Auslösen des Schocks manchmal durch einen Hebelmechanismus verhindern konnte,
während der anderen ständig überraschend einen Schlag versetzt wurde. Essentiell dabei
war, dass die Ratte, die eine begrenzte Kontrolle hatte, weniger Stresssymptome zeigte,
als die andere.108
Die Erkenntnisse, die man aus beiden Experimenten ziehen kann, sind von
entscheidender
Wichtigkeit
hinsichtlich
der
Bedeutung
von
Stress
für
die
Reizverarbeitung und Einbettung in das Langzeitgedächtnis. Es wurde gezeigt, dass
man annehmen kann, dass die Aufgabe an sich nicht das Problem bei einem
Lernprozess darstellen kann, sondern eher die psychologische Situation, in welche man
diese integriert. Nicht der Inhalt ist der Stressauslöser, sondern die Präsentation oder die
Erarbeitungsweise. In Verbindung dazu kann man den Stresspegel reduzieren, wenn
man sich auf stressauslösende Situationen einstellen kann, anstelle von überraschendem
Erzeugen eines Ungleichgewichts von äußerlichen Anforderungen und innerlichen
Leistungsvoraussetzungen.
3.3 Motivation
Motivation ist der zentrale Antrieb für unser Handeln. Obwohl die beiden
vorangegangenen Konzepte von Aufmerksamkeit und Emotionen auch wichtig für
handlungsorientierte Prozesse sind, beeinflussen diese doch eher Wahrnehmungs- und
Speicherungsvorgänge. Ohne Motivation als die Gesamtheit der Motive unseres Tuns
würden wir uns Menschen, banal ausgedrückt, nicht mehr von der Stelle bewegen. Der
evolutionsbedinge Antrieb in uns ist daher ein nicht zu verachtender, übergeordneter
108
Vgl. Spitzer (2003), S. 167-170.
39
Faktor hinsichtlich der bereits beschriebenen neuronalen Vorgängen, die sich alle als
essentiell für musikalisches Verstehen und Handeln zeigen.
Motivation als weitgefächerter Begriff spielt in vielen Lebenslagen eine Rolle. Achtet
man darauf, bemerkt man eventuell, dass die meisten Alltagshandlungen nur durch das
innere Antriebssystem erst ermöglicht werden können. Viele fragen sich vielleicht auch
manchmal, wie man dieses oft unbewusste System bei sich selbst und bei anderen zum
Positiven beeinflussen kann. Folgt man der weit anerkannten Theorie der
Konditionierung, müsste das Antriebssystem durch das Streben nach Erwünschtem und
dem Vermeiden von Unerwünschtem durch Belohnung und Bestrafung einfach
beeinflussbar sein. Dass diese Theorie nicht die ganze und einzige Erklärung sein kann,
zeigt sich immer wieder in nicht zutreffenden menschlichen Reaktionen. 109 Um der
Frage nach der Beeinflussung auf den Grund zu gehen, werden im folgenden Abschnitt
nicht nur die neuronalen Grundlagen von Motivation, sondern auch verschiedene
motivationale Ansätze behandelt.
3.3.1 Das Belohnungssystem und Aktivierungsbeispiele
Die Tatsache, dass unser Gehirn durchgehend mit einer Fülle an Reizen umgehen muss,
wurde bereits in vorherigen Kapiteln ausführlich beschrieben. Erwähnt wurde, dass
Reize dabei vorverarbeitet werden müssen, um deren Relevanz zu prüfen. Hinsichtlich
der Motivationsprozesse ist es in diesem Zusammenhang entscheidend, dass das Gehirn
bei dieser Voranalyse kontinuierlich Ergebnisse von Reizanalysen vorhersagt. Nur
dadurch ist es möglich, die Schnelligkeit der Informationsaufnahme und Bewertung zu
gewährleisten und beizubehalten. Erfüllen die eintreffenden Stimuli das Erwartete,
braucht das System dieses nicht weiterzuverarbeiten und die Reize werden deshalb auch
nicht weiterhin festgehalten. Übertrifft das Resultat der Analyse das zuvor
Angenommene, wird ein Signal durch die Ausschüttung des Botenstoffes Dopamin
generiert. Dieses wiederum bildet die Voraussetzung für Speichermechanismen, wie
auch schon im vorigen Kapitel beschrieben wurde.110
Der Botenstoff Dopamin ist demnach an verschiedenen neuronalen Prozessen beteiligt.
Er bildet die Basis für vier funktionelle Systeme, von welchen eines für Belohnung und
Motivation verantwortlich ist. Die dopaminergen Neuronen haben ihren Sitz im
109
110
Vgl. Spitzer (2003), S. 175.
Vgl. Spitzer (2003), S. 176f.
40
Mittelhirn mit direkten Verbindungen zum so-genannten Nucleus accumbens, einem
Kerngebiet in den Basalganglien.111 Dieser schickt nicht nur die Impulse weiter zum
frontalen Kortex, sondern ist auch für die Produktion von körpereigenen opiatähnlichen
Stoffen verantwortlich. Vergleichbar mit künstlich hergestellten Opiaten, aktivieren sie
das neuronale Netzwerk, in welches der Nucleus accumbens eingebettet ist. Das
Resultat daraus ist die Weiterleitung der eigens produzierten Opioide in den
Frontalkortex. Dieser Prozess erzeugt einen Belohnungseffekt, welcher als Basis für die
Informationsspeicherung beschrieben werden kann. Entscheidend dabei ist, dass das
Dopaminausschüttungssystem für die Bewertung von Reizen zuständig ist. Es wird erst
aktiviert, wenn etwas noch nicht Bekanntes, etwas Unvorhergesehenes mit positivem
Effekt oder generell etwas Gutes für uns selbst von Bedeutung ist.112
Das Dopaminsystem kann also als das köpereigene Belohnungssystem beschrieben
werden. Studien haben gezeigt, dass dessen bewusste Stimulation durch die Einnahme
von Suchtgiften wie Kokain genauso wie durch das Essen von Schokolade stattfindet.
Zusätzlich wurde beobachtet, dass Musik den gleichen Effekt hervorrufen kann. Die
dazugehörige Studie beinhaltete Testpersonen mit musikalischer Vorbildung, bei
welchen durch die Wahl ihres Lieblingsstückes Gänsehaut verursacht wurde. Je nach
Intensität der Gänsehautreaktion konnte sowohl eine Aktivitätszunahme in bestimmten
Gehirnarealen als auch eine Abnahme in anderen festgestellt werden. Wie erwartet
konnte eine Beteiligung des Bereichs um den Nucleus accumbens festgestellt werden,
welcher sich auch bei der Einnahme von Kokain und Schokolade als aktiv gezeigt hat.
Allerdings verzeichnete man zusätzlich Aktivität im „[…] linken dorsomedialen
Mittelhirn, dem rechten orbitofrontalen Kortex sowie der Insel beidseits (ebenfalls
bekanntermaßen in Bewertungsvorgänge bzw. emotionale Prozesse involviert) sowie
Bereichen, die für Aufmerksamkeit […] und Bewegungskontrolle […] zuständig
sind.“113 Interessanterweise bemerkte man eine Aktivitätsreduktion in den beidseitigen
Mandelkernen, welche bereits als der Ursprungsort für Angstreaktion beschreiben
wurde, und in einem Teil des präfrontalen Kortex, welcher bei Unwohlsein tätig wird.
Als
angenehm
empfundene
Musik
hat
demnach
einen
entscheidend
weitläufigeren Effekt als die Einnahme von Rauschdrogen. Einerseits stimuliert sie das
Belohnungssystem durch die Ausschüttung von Dopamin und folglich der Produktion
111
Vgl. Braus (2004), S. 34.
Vgl. Spitzer (2003), S. 195.
113
Spitzer (2003), S. 188.
112
41
von endogenen Opioiden, was andererseits zueiner Aktivitätsabnahme der angst- und
stressauslösenden Areale führt. Musik könnte demnach als Einflussfaktor für generelles
Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit gesehen werden.114
Unter den vielen Studien hinsichtlich des Belohnungssystems ist eine weitere besonders
prägnant, wenn man die Wichtigkeit von menschlichen Interaktionen erkennt.
Vergleichbar mit den Hirnaktivitäten, die durch musikalische Stimuli hervorgerufen
werden,
konnte
ein
ähnlicher
Effekt
bei
der
Betrachtung
von
positiven
Gesichtsausdrücken und freundlichen Äußerungen bemerkt werden. Die Resultate der
Testpersonen, denen Bilder mit nach vorne fokussierenden attraktiven Gesichtern
gezeigt wurden, korrelierten mit jenen, welche mit unattraktiven und wegschauenden
Gesichtern konfrontiert wurden: Bei beiden Situationen wurde eine Aktivitätsänderung
im ventralen Striatum (der Bereich um den Nucleus accumbens) in Form einer
Wechselwirkung verzeichnet. Das Belohnungssystem war also sowohl bei direkter und
bei abgewendeter Blickrichtung aktiv. In Relation dazu, hatte auch die Darbietung von
positiven
und
negativen
Wörtern
in
einer
andern
Studie
eine
erhöhte
Dopaminausschüttung zur Folge.115
Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass das Belohnungssystem durch die
unterschiedlichsten Stimuli aktiviert werden kann. Die wesentliche Voraussetzung für
die Aktivierung manifestiert sich aber nicht nur in der Art des Informationsträgers,
welcher relevante und neue Erkenntnisse beinhalten sollte, sondern auch in der Art der
vorherrschenden motivationalen Grundstimmung des Rezipienten. Da der Ursprung und
die Form unseres Handelns von den unterschiedlichsten Faktoren abhängt, wird
zwischen verschiedenen äußeren und inneren motivischen Entstehungsorten und –arten
unterschieden, was zur Erläuterung der Frage nach der Erzeugung und Beeinflussung
von Motivation beitragen wird.
3.3.2 Motivationsarten
Ausgehend von der Frage nach dem Antrieb hinter dem menschlichen Tun gibt es
unzählige Motivationstheorien resultierend aus der Vielfältigkeit der Handlungsmotive.
Teilweise können Ursachen des Verhaltens oft gar nicht bewusst artikuliert werden,
während der Auslöser von manchen Reaktionen klar auf äußerliche Bedingungen
114
115
Vgl. ebd.
Vgl. Spitzer (2003), S. 184-192.
42
zurückzuführen ist. Die Art und Weise wie sich Motivation äußert kann daher unter
anderem
auch
auf
Rahmenbedingungen
die
biologische
zurückgeführt
Ausstattung
werden.
In
oder
Bezug
auf
darauf
die
sozialen
können
zwei
unterschiedliche Ausprägungsformen definiert werden, die beide unter Einfluss der
genannten und noch weiteren Faktoren stehen.116
3.3.2.1 Intrinsische Motivation
Wie bereits angedeutet kann der Auslöser von Motiven oft nicht selbst definiert werden.
Bei genauerer Betrachtung könnte man allerdings die Richtung eines Handlungsdrangs
erkennen. Manche würden zum Beispiel die Begründung ihres Handelns auf die daraus
resultierende Freude zurückführen. In Bezug auf das Belohnungssystem ist dabei zu
bemerken, dass ehrliche Freude nicht von außen in ein System eingepflanzt werden
kann. Die Dopaminausschüttung im Gehirn ist kein extern initiierbarer Vorgang. Die
erste motivationale Ausprägungsform kann daher auf einen inneren Ursprungsort
zurückgeführt werden. Diese so genannte intrinsische Motivation bezieht sich auf
Handlungen,
welchen
interne
und
individuelle
Interessen
zugrunde
liegen.
Voraussetzung dafür ist die Tatsache, dass sich die „handelnde Person als autonom oder
selbstbestimmt wahrnimmt.“
117
Autonomes Handeln bezieht sich in diesem
Zusammenhang auf die Gegebenheit, dass der Zweck einer Handlung in der Handlung
selbst liegt. Der Hintergrund einer Handlung ist also der eigene Antrieb, welcher sich
durch die Freude an der Sache oder durch die Befriedigung der Handlung zeigen
kann.118
3.3.2.2 Extrinsische Motivation
Obwohl intrinsische Motivation nicht von außen erschaffen werden kann, kann sie doch
durch
äußere
Faktoren
beeinflusst
werden.
Betrachtet
man
seine
eigene
Handlungsbereitschaft, kann man so manchen Ursprung auf keine rein intrinsischen
Faktoren zurückführen. Dieser Umstand wird durch den Begriff der extrinsischen
Motivation beschrieben und bezieht sich auf das Ausführen einer Handlung auf Basis
von erzielbaren Folgen. Der Fokus liegt dabei nicht auf dem Tun selbst sondern auf dem
daraus entstehenden erwünschten Resultat.119
116
Vgl. Hechinger (2010), S. 24.
Hechinger (2010), S. 25.
118
Vgl. Hechinger (2010), S. 25f.
119
Vgl. Hechinger (2010), S. 27f.
117
43
Das Durchführen der Handlung, obwohl extrinsisch motiviert, findet doch auf der
Ebene der Selbstbestimmtheit statt. Nur durch eine gewisse Anerkennung der von außen
wirkenden Einflüsse kann der Sinn einer Handlung erkannt werden, was wiederum
entscheidend für die Durchführung und den Speicherungsprozesseines Inputs ist. In
diesem Sinne spricht man von Internalisations- und Integrationsprozessen, welche den
Grad der Anerkennung und Implementierung von extrinsischen Motiven beschreiben.
Abhängig von den Prozessen der vollständigen Aufnahme von extrinsischen
Motivationsgründen (Internalisation) und der langsameren Integrierung von neuen und
Abgleichung mit vorhandenen Motiven (Integration) werden bestimmte Formen von
extrinsischer Motivation unterschieden.120
Wird eine Handlung nur in Hinblick auf eine versprochene Belohnung ausgeführt, ist
diese die unterste Stufe auf einer Skala von fremdbestimmten Motivationsformen. Es
handelt sich dabei um externale Verhaltensbeeinflussung, die nur so lange
aufrechterhalten wird, solange der Anreiz der Belohnung existiert. Obwohl sich der
Ausführende auf das zu Erfüllende einlassen muss um überhaupt zu handeln, ist das
Ergebnis dieses Tuns in Qualität nicht mit motivierterem Verhalten zu vergleichen. Oft
werden bei dieser extremsten Form der Fremdbestimmtheit nicht ausreichende
Bewältigungsstrategien angewendet, was auch auf die durch extrinsische Faktoren
bedingte Kreativitätseinbuße zurückgeführt werden kann. „Gleichzeitig ist das
Verhalten meist durch negative Erlebnisqualitäten (wie zum Beispiel Angst, Stress
und/oder wenig Freude) gekennzeichnet.“121 Kurz gesagt ist diese Form der Motivation
nicht nur schädigend für das Ergebnis der Handlung, sondern beinhaltet durch das
geringstmögliche Maß an Selbstbestimmtheit auch mögliche destruktive Auswirkungen
auf das emotionale Befinden.
Die nächste Stufe auf der Motivationsskala in Richtung Autonomie beschreibt
Handlungen, die durch Verpflichtungen geprägt sind. Aufgaben werden nur erledigt,
damit das allgemeine Ansehen von anderen gewährleistet ist. Ziele und Motive, die
gesellschaftlich anerkannt sind, werden dabei als Motivationsanstoß gesehen und dienen
als Vermeidungsreaktionen hinsichtlich Angst- und Stressgefühlen. Diese können durch
ein fehlendes Zugehörigkeitsgefühl entstehen, welches evolutionsbedingt in den
menschlichen Köpfen verankert ist. Durch das Erfüllen von allgemein anerkannten
120
121
Vgl. Hechinger (2010), S. 27f.
Hechinger (2010), S. 29.
44
Motiven soll eine Akzeptanz in der Gesellschaft hervorgerufen werden, was wiederum
zu einem Gefühl der inneren Zufriedenheit führen soll.122
Die beiden beschriebenen extrinsischen Motivationskonzepte werden hauptsächlich
durch ihren hohen Anteil an Fremdbestimmtheit charakterisiert. Die darauffolgende und
somit dritte und vorletzte motivationale Ausprägungsform zeichnet sich durch ihr viel
stärkeres Maß an Autonomie aus. Dabei orientiert man sein Tun zwar genauso wie beim
vorherigen Konzept an allgemein anerkannten Verhaltensweisen, erhöht dabei aber
unbewusst den Grad der Integration. Zuvor wurden gesellschaftliche Ideale und Ziele
nur verfolgt, um als Mitglied anerkannt zu werden. Nun kann man sich mit diesen
identifizieren
und
versieht
die
anerkannten
Werte
mit
persönlichen
Hintergrundinformationen und Erklärungen für deren Anerkennung und folglich der
Aufnahme in das eigene Selbstkonzept.123
Die oberste Stufe auf der extrinsischen Skala ist die bereits zu Anfang erwähnte zur
Gänze integrierende Motivationsform. Diese beinhaltet den höchsten Grad an
Autonomie, bezieht ihre Impulse aber von der Außenwelt. Gehandelt wird zwar nicht
zum Selbstzweck wie bei intrinsischen Intentionen, allerdings sind dabei „[…] Ziele
und Werthaltungen vollständig und widerspruchsfrei in das eigene Selbst integriert.“124
Der Unterschied zwischen diesen beiden motivationalen Ausprägungsformen besteht
somit darin, dass die extrinsische Motivation noch immer von außerhalb des Systems
generierten Ansichten geleitet wird und die reine Selbstbestimmtheit als solche nur bei
intrinsischen Motiven zu finden ist.
Kann man keinerlei Handlungsbereitschaft verzeichnen, weder extrinsisch noch
intrinsisch, wird diese Inaktivität als Amotivation beschrieben. Entstehen kann ein solch
fehlender Handlungstrieb durch die fehlende Sinnerkenntnis oder destruktive Gefühle
der Inkompetenz und Überforderung.125
Die
Gegenpole
Amotivation
und
intrinsische
Motivation
verdeutlichen
den
Entwicklungsprozess von Fremdbestimmtheit zu Selbstbestimmtheit. Letztere trägt
nicht nur zu allgemeinem Wohlbefinden bei, welches in diesem Kontext durch die
Freude an der Handlung erklärt werden kann, sondern auch nachweislich zur Qualität
122
Vgl. Hechinger (2010), S. 29.
Vgl. Hechinger (2010), S. 29.
124
Hechinger (2010), S. 30.
125
Vgl. Hechinger (2010), S. 28.
123
45
der
Handlungsergebnisse
und
in
weiterer
Folge
den
neuronalen
Integrationsprozessen. 126 Die Entwicklung der Selbstbestimmtheit, oft erreicht durch
das Durchlaufen des zuvor beschriebenen Internalisierungsprozesses, kann durch
unterschiedliche Faktoren beeinflusst werden, die zur Förderung einer positiven
Motivationsstimmung beitragen. Kurz gesagt, zeigt sich die Wichtigkeit dieser Faktoren
in ihrem positiven Einfluss auf das generelle Konzept der Motivation. Nur wenn sich
ein Individuum autonom und selbstbestimmt fühlt, ist die Wahrscheinlichkeit der
Entspannung am höchsten, was eine Blockade von etwaigen Hemmungsgefühlen wie
Angst oder Stress minimieren kann.127
3.3.2.3 Leistungsmotivation
Die Konzepte der intrinsischen und extrinsischen Motivation nehmen eher Bezug auf
den Entstehungshintergrund und Ursprung menschlichen Verhaltens. Da die Ursachen
unseres Handelns je nach Situation und persönlichen Erfahrungen, Gemütszuständen
und sozialen Umständen variieren kann, ist es von wichtiger Bedeutung einen weiteren
motivationalen
Faktor
miteinzubeziehen:
das
leistungsmotivierte
Verhalten.
Vergleichbar mit den vorherigen Ausführungen ist auch bei der Leistungsmotivation die
Möglichkeit der Selbstbestimmung als Voraussetzung anzuerkennen. Zurückzuführen
ist dies auf den Kerngedanken des Konzepts, welcher durch das Erreichen oder
Verfehlen von bestimmten Bezugsnormen durch persönliche Fähigkeiten charakterisiert
wird. Diese Bezugsnormen können sowohl fremdbestimmt, also von außen vorgegeben,
oder selbstbestimmt gesetzt sein. Der motivierende Faktor an diesem Konzept wird
dabei nicht nur durch die Erreichung der Normen, gefördert durch die individuellen
Kompetenzen, erzeugt, sondern auch durch den jeweiligen Schwierigkeitsgrad der
Aufgabenstellung determiniert. Das individuelle Anspruchsniveau ist dabei die
treibende Kraft im Hintergrund, die Einfluss auf die Wahl der Aufgabe und dessen
Erfüllbarkeit ausübt.128 Ausschlaggebend bei einer Aufgabenwahl ist daher nicht nur die
„[…] Erfolgswahrscheinlichkeit sondern auch […] der Anreiz des Erfolges. Je
schwieriger eine zu bewältigende Aufgabe erscheint, desto größer ist der Anreiz.“129
Entscheidend dabei ist allerdings, dass die Ziele noch erreichbar erscheinen und nicht
die individuellen Kompetenzen überschreiten würden.
126
Vgl. Lämmle (2011), S. 102f.
Vgl. Hechinger (2010), S. 30.
128
Vgl. Schlag (2006), S. 85.
129
Hechinger (2010), S. 20.
127
46
Das
subjektive
Empfinden
der
Erfolgswahrscheinlichkeit
determiniert
die
Wahrnehmung der Anforderungssituation. Abhängig vom Selbstkonzept eines
Individuums
wird
zwischen
Erfolgsmotivation
und
Misserfolgsmotivation
unterschieden. Personen, die sich ihres Könnens und ihrer Fähigkeiten bewusst sind und
die Erfüllung einer Aufgabe eher auf ihre eigenen Kompetenzen zurückführen, werden
als erfolgsmotiviert beschrieben. Misserfolge werden in diesem Zusammenhang auf
Einflussfaktoren von außen oder zufälligen Begebenheiten zurückgeführt. Diese
Personen würden eher schwierigere als zu leichte Aufgaben wählen, um ihr Können
unter Beweis zu stellen.
Im Gegensatz dazu gibt es diejenigen, die sich lieber Leistungssituationen
entziehen möchten, um Misserfolg, welcher auf ihre persönlichen Eigenschaften
zurückgeführt werden könnte, zu vermeiden. Es werden dabei entweder sehr schwierige
oder sehr leichte Aufgaben gewählt. Bei unerfüllbaren Zielen kann das Versagen als
allgemein anerkannte Reaktion abgetan werden, da diese ja auch von keinem anderen
erreicht werden können. Sehr leichte Aufgaben hingegen ermöglichen einen schnellen
Erfolg, was der Vermeidung des aufkommenden Schamgefühls bei Misserfolg
entgegenwirken kann. Zusätzlich neigen diese Personen dazu, Erfolg durch zufällige
oder glückliche Umstände zu erklären und dabei ihren persönlichen Beitrag durch ihre
Kompetenzen zu ignorieren.130
Beide Arten von Leistungsmotivierung sind kaum getrennt in einer Person zu
verzeichnen. Handlungsmotive können durch beides, Streben nach Erfolg und das
Vermeiden von Misserfolg, gleichzeitig beeinflusst und initiiert werden. Wichtig ist in
diesem Kontext, dass die Art der Polarisierung zum einen oder anderen Extrem zu
erkennen ist und die Aufgabenstellung demnach ausgewählt oder zusammengestellt
werden
soll.
Ein
zu
hoher
oder
niedriger
Schwierigkeitsgrad
ist
für
Speicherungsprozesse nicht förderlich, da die Personen dabei selten adäquat gefördert
werden können.131
3.3.3 Psychologische Grundbedürfnisse
Zufriedenheit in Hinblick auf den motivationalen Effekt kann man durch intrinsische
und somit vollkommen selbstbestimmte Handlungshintergründe erlangen. Die
Beeinflussung des Selbstkonzepts kann man also als Voraussetzung für mögliche
130
131
Vgl. Hechinger (2010), S. 20-22.
Vgl. Hechinger (2010), S. 21f.
47
Einflussfaktoren hinsichtlich Motivation im Allgemeinen betrachten. Die Tatsache, dass
das neuronale Belohnungssystem nicht external initiiert werden kann und eine
Motivationserzeugung von außen eigentlich nicht stattfinden kann, sollte in Hinblick
auf die Didaktik durch die Möglichkeiten der Beeinflussung und Förderung
kompensiert werden.
Jeder Mensch hat Grundbedürfnisse, die er befriedigt sehen möchte. In Hinblick auf
motivatonale Vorgänge spielen drei davon eine entscheidende Rolle. Wie bereits bei
den extrinsischen Motivationsformen erwähnt wurde, sind das soziale Umfeld und die
Beziehung zwischen einem Individuum und seiner gesellschaftlichen Umwelt von
wichtiger Bedeutung. Das Gefühl der Eingebundenheit in ein soziales Netzwerk hat sich
als eines der menschlichen Grundbedürfnisse gezeigt. Im Zuge dessen ist das
Empfinden von Selbstkompetenz ein weiterer Einflussfaktor. Menschen, die sich in
ihrem
Können
und
in
ihren
individuellen
Kompetenzen
selbstbewusst
fühlen,gesellschaftlich anerkannte und auferlegte Aufgaben adäquat lösen zu können,
„weisen verstärkt ein auf Selbstbestimmung beruhendes Verhalten auf.“132 Ein weiterer
bedeutender Faktor ist das Erleben und Spüren der Autonomie. Eine Entwicklung von
Selbstbestimmtheit ist nur möglich, wenn man das Gefühl unabhängig handeln zu
können, schon erlebt hat.133
Die Förderung dieser drei psychologischen Grundbedürfnisse ist zwar keine Garantie
für eine Motivationssteigerung, kann aber zu einem verbessertem menschlichen
Wohlbefinden beitragen. 134 Dieses beeinflusst die emotionalen Voraussetzungen für
eine positive Grundeinstellung, was wiederum den Weg für eine ideale Lernsituation
ebnet.
3.3.4 Fazit
Motivation in ihren mannigfachen Ausführungen ist die Antriebskraft in jedem
Individuum. Die entscheidende Frage, die sich immer wieder stellt und wichtig für
Lehr-
und
Lernprozesse
ist,
betrifft
die
Erzeugung
von
Motivation.
Enttäuschenderweise wurde gezeigt, dass man Motivation von außen nicht hervorrufen
kann. Das interne Belohnungssystem, welches unter anderem durch die Ausschüttung
von Dopamin geprägt ist, muss von internen Prozessen in Gang gesetzt werden, bevor
132
Hechinger (2010), S. 26.
Vgl. Hechinger (2010), S. 31.
134
Vgl. Hechinger (2010), S. 32.
133
48
äußere Einflüsse greifen können. Die Annahme, dass man jemanden mit einem
amotivationalen Gemütsstatus von außen Motivation „einpflanzen“ könnte, kann durch
die erforschten neuronalen Vorgänge widerlegt werden.
Der ausschlaggebende Faktor, der sich allerdings feststellen lässt, ist die
Tatsache, dass das menschliche Motivationssystem von Natur aus aktiv ist. Wenn also
ein Zustand von minimalster Motivation vorherrscht, sollte nicht die Frage nach der
Motivationserzeugung, sondern die nach ihrer Beeinflussung gestellt werden.135 Denn
wenn ein Mensch evolutionsbedingt einen ständigen Tatendrang verspürt, kann
angenommen werden, dass Einflussfaktoren existieren, die diesen Status zum positiven
oder negativen lenken können. Es ist unsicher, ob das Erfassen dieser Faktoren in ihrer
Gesamtheit überhaupt möglich ist. Wie allerdings gezeigt wurde, beeinflussen sowohl
intrinsische
Begebenheiten
wie
das
Selbstkonzept
hinsichtlich
persönlicher
Kompetenzen, die Selbstbestimmtheit und evolutionsbedingte Grundbedürfnisse als
auch extrinsische Faktoren wie die soziale Umwelt und daraus entstehende und zu
erfüllende Ideale durch Belohnung oder Zwang den Motivationsgrad.
In Bezug auf die Beeinflussung der Motivation von außen sollte daher Rücksicht auf
diese
verschiedenen
Einflussfaktoren
genommen
werden.
Eine
allgemeine
Voraussetzung für Lehr- und Lernprozesse sollte daher die Erfüllung und Befriedigung
der Grundbedürfnisse sein, sowie das Anerkennen von extrinsischen und intrinsischen
Motivationsgründen und das daraus resultierende Ziel der Umwandlung von rein
äußerlich geförderten zu innerlich verankerten Handlungen.136
3.4 Kreativität
Ein weiteres Bindemitglied in der Reihe der beschriebenen Konzepte ist die Kreativität.
Aufmerksamkeit, Emotionen und Motivation können auch durch die Verbindung
zueinander charakterisiert werden und zusammengefasst haben sie großen Einfluss auf
die kreativen Prozesse. Die Wichtigkeit dieser zeigt sich in einer ihrer vielen
Definitionen: „Unter dem Begriff Kreativität verstehen wir die Fähigkeit zu
schöpferischem Denken und Handeln. Das Wesen der Kreativität ist allerdings, dass
etwas Neues und Sinnvolles erschaffen wird.“ 137 Der Kreativitätsbegriff bezieht sich
demnach auf Vorgänge, die in Relation zu etwas schon Vorhandenem stehen, Einfluss
135
Vgl. Spitzer (2003), S. 192f.
Vgl. Hechinger (2010), S. 33f.
137
Jäncke (2009), S. 319.
136
49
auf die Produktion von neuartigen aber der Situation angemessenen Einfällen ausüben.
Dabei zeigt sich die Korrelation mit dem Konzept der Motivation: kreative Prozesse
sollen Neuwertiges, zum Beispiel in Form einer Problemlösung durch Denken oder
Handeln, welche zum Zwecke einer sinnvollen Neuentdeckung intrinsisch motiviert
sein sollten, hervorbringen. Theoretisch könnten extrinsisch angeregte Prozesse, wenn
sie durch die Internalisierung zu einer selbstbestimmteren Form gebracht wurden, auch
förderlich sein. Trotzdem kann man annehmen, dass ein Rest an von außen auferlegtem
Zwang dem Individuum den Zugang zu den zur Verfügung stehenden Ressourcen
verwehren würde. Es ist nämlich nur dann mit dem höchsten kreativen Ertrag zu
rechnen, wenn der menschliche Geist ungehemmt reagieren kann.138
Kreative Entfaltungsmöglichkeiten sind von großer Wichtigkeit, weil sie in allen
Lebensbereichen Verwendung finden. Alltägliche Problemlösungen hinsichtlich
schwieriger Situationen oder Aufgaben, welche sowohl durch äußerliche Vorgaben,
aber auch durch Emotionen oder Empfindungen entstehen können, basieren auf
kreativen
Einfällen
und
der
Verarbeitung
von
existentem
Wissen
und
Umgangstechniken.139 Musikalisch gesehen ist das weitläufige Konzept der Kreativität
nicht nur für interpretatorische Tätigkeiten von essentieller Bedeutung, sondern
natürlich auch für improvisatorisches Gestalten. Da der Wirkungsbereich von
Kreativität eine bedeutende Größe aufweist und in den verschiedensten Lebenslagen zur
Verwendung kommt, sollte ein Augenmerk auf das Verständnis der grundlegenden
kreativen Prozesse gelegt werden.
3.4.1 Neurobiologische Hintergründe
So weitläufig wie das Konzept der Kreativität im Alltag eine Rolle spielt, so schwierig
scheint die korrelierende neurobiologische Lokalisation zu sein. Obwohl man heute
noch von Tendenzen hinsichtlich unterschiedlicher Entstehungsorte (linke und rechte
Hemisphäre) von rationalen und kreativen Prozessen ausgeht, tendieren manche doch
eher zu einem Netzwerkmodell. Dabei wird angenommen, dass das limbische System,
ein großer Teil des Stirnhirns und der Temporallappen den größten Anteil an kreativen
Vorgängen haben.140
138
Vgl. Zimbardo (1983), S. 453.
Vgl. Linke (2005), S. 17.
140
Vgl. Jäncke (2009), S. 321.
139
50
Emotionen werden vom limbischen System gesteuert. Der Antrieb für unser Tun kommt
auch von diesem System. Zusammengenommen mit der Dopaminausschüttung kann das
somit der Auslöser, aber auch gleichzeitig der neurologische Hemmer für Kreativität
sein. Denn das limbische System führt teilweise durch zu viel Aktivität zu einer
Übersteuerung, was meistens in negativen Auswirkungen auf die Leistung resultiert.
Angenommen wird, dass die Ausschüttung von überflüssiger Energie vom Stirnhirn
gesteuert wird. Dieser Teil unseres Gehirns soll durch komplizierte Abläufe von
Hemmung und Stimulation der limbischen Information diese in gedrosselter Weise
wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückleiten. Durch die Korrelation der beiden kann
ein angemessenes Maß an Energie erzeugt und erhalten werden. Der frontale Kortex
übernimmt dabei die Aufgabe eines Informationsspeichers. Kreative Prozesse werden
demnach so erklärt, dass die gespeicherten Informationen im Kortex durch die adäquate
Kontrolle des Stirnhirns beeinflusst werden und dadurch das Abrufen ermöglichen. Das
limbische System ist dabei der Energieversorger für die Umsetzung der abgerufenen
Information.141
Das Auffällige an dieser Erklärung ist der Zugriff auf einen Speicher. Die
Lösung von Aufgaben bezieht sich daher auf bereits existierende Informationen. Die
logische Betrachtungsweise von Kreativitätsprozessen bestätigt die neurologischen
Annahmen: Man kann nur Neues erfinden, wenn man auf etwas „Altes“ im System
zurückgreifen
kann
und
dieses
als
Vergleichsparameter
heranzieht.
Bereits
Gespeichertes muss vorhanden sein, wie bei der Entschlüsselung des Gedächtnisses
erörtert wurde. Dieses dient somit als Grundlage für ein kreatives Ergebnis.
In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass Kreativität in den unterschiedlichsten
Weisen definiert werden kann und es viele Modelle gibt, die die Problematik der
Bewertungsmaßstäbe kreativer Produkte zum Thema haben. In diesen Ausführungen
wird Kreativität im Sinne der zu Anfang erwähnten Definition angesehen. Weiters ist zu
bemerken, dass in den später folgenden didaktischen Ausführungen aufbauend auf dem
Kreativitätsbegriff, dieser von den beteiligten Personen jeweils für die Situation passend
selbst definiert werden soll.
141
Vgl. Jäncke (2009), S. 322f.
51
3.4.2 Der kreative Prozess anhand von musikalischen Beispielen
Die Annahmen hinsichtlich der Beteiligung kognitiver Strukturen in Hinblick auf
Kreativität lassen auf das Zusammenwirken verschiedener Elemente in einem
diesbezüglichen Prozess schließen. Oft wird auf verschiedene Problemlösungsprozesse
Bezug genommen und anhand dieserwerden die für den kreativen Prozess relevanten
Erkenntnisse extrahiert und angewendet. Aus verschiedenen Modellen lassen sich vier
Phasen
eines
produktiven
Prozesses
ableiten,
der
gleichermaßen
auf
die
142
Kreativitätsvorgänge angewendet werden kann.
Zu Beginn steht die Vorbereitungsphase, in welcher sich das Individuum mit dem
Problem oder der Aufgabenstellung das erste Mal auseinander setzt. Der Sinn besteht
darin, die Essenz des zu Erfüllenden zu erfassen, indem man genau definiert, begrenzt
und analysiert, worum es eigentlich geht. Um das tun zu können, benötigt man
Vorwissen, um die in der Aufgabe gestellten Inhalte zu verstehen und folglich eine
Verbindung herzustellen. Es muss sich dabei nicht immer um eine spezifische
Problemstellung handeln, denn diese Phase kann sich auch „[…] als eine spezifische Art
der Begegnung zwischen Subjekt und Umgebung darstellen.“143 Als Beispiel dient der
künstlerische Schaffensprozess. Komponisten benötigen teilweise gar keine fixe
Aufgabenstellung, sondern konzentrieren sich auf die entstehenden Emotionen und
Reaktionen auf ihre Umwelt um ihren individuellen kreativen Prozess zu initiieren.
Wenn es darum geht, künstlerisch und somit kreativ tätig zu werden, ist generell die
intensive Auseinandersetzung mit der übergeordneten Thematik vorauszusetzen. Dabei
werden
bereits
existierende
Erfahrungswerte
gesammelt
und
mögliche
Lösungsvarianten abhängig von unterschiedlichen Variablen abgewogen.
Gibt man jemanden die Aufgabe, von einem bestimmten Ausgangston zu einem
anderen zu gelangen, muss derjenige über musikalisches Vorwissen verfügen, um zuerst
die Aufgabenstellung zu verstehen und in Folge über Strukturen verfügen, die die
Ausführung ermöglichen. Ohne jegliche Vorinformation, welche auch auf Instruktion
beruhen kann, sind musikalische Informationen nicht kognitiv verarbeitbar und ohne
diese kann man musikalische Kreativität nicht ausleben.144
142
Vgl. Stiefel (1976), S. 34.
Ribke (1979), S. 166.
144
Vgl. Stiefel (1976), S. 35f.
143
52
Die gesammelte Information in der Vorbereitungsphase muss dann in einer nächsten
Phase zusammengeführt werden, um auf eine neue Lösung stoßen zu können. In der
sogenannten
Inkubationsphase
wird
versucht,
aus
den
bestehenden
Informationskombinationen, die in der vorherigen Phase generiert wurden, die
sinngebenden herauszufiltern und anschließend etwas Neues zu kombinieren. Oft wird
dieser Vorgang als schwer beeinflussbar und unmerklich fortschreitend beschrieben.
Das Ende dieser Phase ist von einem spontanen Einfall geprägt, der auf den zuvor
unbewusst ablaufenden Prozess zurückgeführt werden kann. Betrachtet man den
Denkprozess, der spontanen Erkenntnissen vorangeht, wird man diesen schwer bewusst
definieren können. Es entsteht das Gefühl, dass das Gehirn manchmal eine kurze Pause
benötigt, um auf ein Ergebnis zu kommen. Diese kann man als den Faktor der
Unbewusstheit in dieser kreativen Phase bezeichnen. Welche kognitiven Strukturen am
Kreativsein genau beteiligt sind, ist deshalb sehr schwierig zu definieren. Obwohl man
erhöhte Aktivitäten in den drei erwähnten Gehirnstrukturen feststellen konnte, ist es
doch fast unmöglichzu bestimmen, welches Areal für den eigentlichen kreativen Einfall
zuständig sein könnte.145
Der spontanen Erkenntnis in der Inkubationsphase folgt eine Manifestation dieser in der
Einsichts- oder Illuminationsphase. Hier nimmt die entstandene Idee Form an. Der
entscheidende Kernpunkt ist, dass der kreative Prozess wieder in das Bewusstsein
gerückt wird, indem gleichzeitig das Zusammensetzen des Gefundenen sowie dessen
Realisierung stattfindet. Denn um etwas bewusst begreifen zu können, muss eine
Möglichkeit der Mitteilung erschaffen werden, nicht nur für andere, sondern vorrangig
auch für sich selbst.
Musikalisch betrachtet bedeutet das, dass eine musikalische Idee wie eine
Melodie oder eine Phrase auch die Darstellung dieser in den kreativen Prozess
miteinbeziehen muss, also: Wie bringe ich meine musikalische Phrase zum Ausdruck?
Ob man dabei auf bestimmte Instrumente zurückgreifen möchte oder diese bildlich
darstellt, ist Teil des kreativen Prozesses, der sogleich den Übergangspunkt zur nächsten
und letzten Phase markiert.146
Die ins Bewusstsein gerückte Idee wird in der letzten Phase, der Verifikation, der
Prüfung unterzogen. Nachdem die Bewertung anhand von Neuheit und Angemessenheit
145
146
Vgl. ebd. und Ribke (1979), S. 167f.
Vgl. Ribke (1979), S. 169; Stiefel (1976), S. 36f; Zimbardo (1983), S. 452.
53
durchgeführt wurde, können Ideen, wie auch in der Inkubationsphase, noch
abgewandelt und verbessert werden. Die Verbindung zu der vorigen Phase zeigt sich
darin, dass sich die Überprüfung, Bewertung und Abänderung auch in Bezug auf die
Darstellungsform der Idee beziehen kann.147 Wichtig zu beachten ist, dass diese Phase
für die Festigung und das Behalten von Ideen entscheidend ist. Dazu muss diese in
disziplinierter Weise organisiert werden, da sich viele Menschen zwar durch
außergewöhnliche kreative Einfälle auszeichnen, diese allerdings nicht allzu lange
behalten und realisieren können. Besonders bei Jüngeren sollte darauf geachtet werden,
dass der Phase der Verifikation leitende Beachtung geschenkt wird, um das ideale
Ergebnis nicht nur zu erzielen, sondern auch festzuhalten. Um das zu spezifizieren:
Angelehnt an die kognitiven Speichervorgänge ist zu beachten, dass Neues in ein
Netzwerk von existierender Information eingebunden werden soll, um auf längere Zeit
wieder abrufbar gemacht zu werden. In diesem Zusammenhang wird erwähnt, dass
„[…] eine individuelle Ritualbildung, die ein optimales Gleichgewicht zwischen
disziplinierter Arbeit und unstrukturierten Freiräumen […]“ 148 die Einbindung von
kreativen Erkenntnissen in ein Speicherdepot und somit die Reproduktion ermöglichen
kann. Generell sollte also ein Gleichgewicht zwischen Strukturiertheit und Freiraum
geschaffen werden, um eine adäquate Verifikationsphase, welche die unbeschränkte
Prüfung der kreativen Idee zum Ziel hat, zu ermöglichen.149
Der Einfluss des limbischen Systems auf die letzten beiden Phasen des
Kreativitätsprozesses zeigt sich durch die dabei entstehenden Emotionen. Bereits in der
Illuminationsphase wird ein Gefühl der Freude oder Erleichterung beschrieben, wenn
das erste Mal eine Idee in das Bewusstsein gerückt wird. Zu beachten ist, dass die
Gefühlsäußerungen gebunden an die kreativen Phasen nicht immer positiven Ursprungs
sein müssen. Obwohl sich die meisten doch über ihre kreativen Leistungen zu freuen
scheinen, kann auch ein hemmendes Gefühl hinsichtlich der sozialen Umwelt entstehen.
Es wird beobachtet, dass sich manche an ihren Ideen weder erfreuen können, noch dass
sie diese zu schätzen wissen. Im Gegenteil, das Gefühl der Angst ist in kreativen
Prozessen kein seltenes. Abgesehen von der einen Art von Angst, dass die erbrachte
Leistung nicht den vorgegebenen Standards entsprechen könnte, fürchten sich manche
vor den Reaktionen ihrer Mitmenschen, weil ihre Kreativität eventuell etwas
147
Vgl. Ribke (1979), S. 170.
Holm-Hadulla (2011), S. 189.
149
Vgl. Holm-Hadulla (2011), S. 189f.
148
54
Außergewöhnliches
hervorgebracht
hat.
Ein
Faktor
der
menschlichen
Grundbedürfnisse, die im Zusammenhang mit motivationalen Faktoren eine wichtige
Rolle spielen, bezieht sich auf das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe. Hat aber
jemand das Gefühl, sich in einer außergewöhnlichen Weise von den anderen zu
unterscheiden, wird er dazu verleitet zu fürchten, dass sich diese eventuell abwenden
könnten. Oft erlernt durch Hänseleien in der Kindheit, ist das Gefühl von Neid oft ein
Ausschlussfaktor. 150 Diese Tendenz zeigt sich häufiger in der letzten Phase des
Kreativprozesses, wenn jemand seine Ideen zum Ausdruck bringen will. Auch wenn das
Gefühl von Neid nicht von jedem geteilt wird, sollte die Beteiligung des limbischen
Systems an Kreativität nicht unterschätzt werden.
4. Motorik
Musik selbst umzusetzen bedingt viele hochkomplexe Prozesse, die, wie schon in den
vorigen Kapiteln mehrmals erwähnt wurde, nicht immer wissenschaftlich zu belegen
sind. In Hinblick auf die Gehirnforschung gibt es noch immer viele Variablen, die
wissenschaftlich nicht greifbar, geschweige denn erforschbar sind. Die Einheit von
Mensch und Gehirn ist noch immer zu Teilen ein undurchsichtiges Mysterium; die
Ansicht ob das so bleiben soll oder nicht, sei jedem selbst überlassen.
Im Vergleich dazu sind die Prozesse, die für musikalisches Gestalten
verantwortlich sind, ähnlich komplex erfassbar und großteils nur zu vermuten. Obwohl
grundlegende Erkenntnisse über Wahrnehmungs- und Speicherungsvorgänge, die auch
teilweise auf musikalische Prozesse zutreffen, in Erfahrung gebracht werden konnten,
müssten noch weit komplexere und noch nicht erforschte Verarbeitungsmechanismen
existieren. Denn hinter dem Produzieren von Musik „[…] verbergen sich vielfältige
Prozesse, die von der einfachen Betätigung von Musikinstrumenten, zur Vorstellung
von Musik bis hin zum kreativen Prozess des Erfindens von Musik […] reichen.“.151 In
Bezug darauf sollten die Erläuterungen der elementaren kreativen Prozesse, sowie die
der weiteren möglichen Einflussfaktoren und Elemente wie Aufmerksamkeit und
Motivation für musikalisches Gestalten, als Grundlage für weitere Ausführungen
dienen. In diesem Zusammenhang sollte noch ein letzter wichtiger Faktor für das
Musizieren in Betracht gezogen werden: die motorische Kontrolle.
150
151
Vgl. Holm-Hadulla (2011), S. 189f.
Jäncke (2009), S. 307.
55
Musikalische Produktion im Sinne von spielen mit Instrumenten setzt motorische
Tätigkeiten voraus. Generell werden Bewegungen nicht als ein großes Ganzes
gespeichert, sondern in kleine Teilbewegungen gesplittet und hierarchisch organisiert
gespeichert. Ganze Bewegungsabläufe sind also wiederum komplexe Abläufe, die sich
aus vielen kleinen Elementen zusammensetzen. Ziel des Gehirns ist es, die Verbindung
der einzelnen Elemente so zu optimieren, sodass der ganze Ablauf nicht nur schneller,
sondern
auch
automatisch
vollzogen
werden
kann.
Denn
wie
bei
den
Aufmerksamkeitsprozessen erwähnt wurde, wird angenommen, dass das Gehirn nur
über eine bestimmte Kapazität verfügt. Je nachdem wie viel Aufmerksamkeit eine
Handlung benötigt, wird der Anteil für eine andere Tätigkeit minimiert. Wenn das
Gehirn nun viel Kapazität für einen Bewegungsablauf benötigt, ist die Konzentration
auf andere Bereiche geschwächt. Entscheidend für die Möglichkeit den Fokus auf
andere wichtige Musikinhalte zu legen, ist demnach die Automatisierung von
musikalischen Bewegungsabläufen. Dies gelingt durch das Üben der kleinen
Teilbewegungen und die exakte Speicherung dieser. Später sollte dann aus diesen das
ganze Bewegungsmuster zusammengefasst werden.152
Zu Beginn werden die Teilbewegungen noch lateral (seitlich) im Stirnhirn kontrolliert.
Mit zunehmender Automatisierung kann man eine Verlagerung in die mittleren
Gehirnstrukturen (mesial), den supplementärmotorischen Arealen in den Basalganglien
und dem Kleinhirn verzeichnen. Die Automatisierung der motorischen Abläufe ist daher
geprägt von der Aktivitätsverlegung von den seitlichen in die mittleren Hirnstrukturen.
Die Wichtigkeit dieses Vorgangs zeigt sich bei der Verarbeitung von anderen für den
musikalischen Prozess wichtigen Funktionen: die Kontrolle der Aufmerksamkeit sowie
der Motivation und das Arbeitsgedächtnis benötigen ebenso die Beteiligung der
seitlichen Stirnhirngebiete. Der Automatisierungsvorgang kann demnach als ein
Grundprinzip
des
Gehirns
beschrieben
werden,
da
dieser
einen
minimal
uneingeschränkten Fokus auf andere Funktionen ermöglicht.153
In Bezug auf das improvisatorische Gestalten ist zu bemerken, dass das Spielen
mancher Instrumente möglicherweise keine expliziten Übungsvorgänge benötigt;
eventuell darauf zurückzuführen, dass gewisse Instrumente schon bekannt sind und
schon gespielt wurden. Trotzdem ist anzuerkennen, dass manche musikalische
152
153
Vgl. Jäncke (2009), S. 308f.
Vgl. Jäncke (2009), S. 309f.
56
Verarbeitungsverzögerungen daher rühren könnten, dass Personen zu große
Schwierigkeiten mit den motorischen Abläufen haben und sich daher nicht genug auf
andere Dinge konzentrieren können. Wie das Üben der Teilbewegungen ausschauen
könnte, wird im nächsten Abschnitt behandelt.
57
TEIL II: Interpretation
Nachdem versucht wurde einen Überblick über die wissenschaftlichen Grundlagen für
musikalisches Gestalten darzulegen, werden die daraus gewonnen Erkenntnisse im
Folgenden zusammengeführt, um auf mögliche didaktische Implikationen des
Improvisierens im Musikunterricht einzugehen. Aufbauend auf der Darstellung
möglicher
Begründungsansätze
für
improvisatorisches
Gestalten
folgt
eine
Begriffseingrenzung in Hinblick auf die Interpretation der zuvor erläuterten
Erkenntnisse. Anhand dieser soll ein allgemeines Konzept für didaktische
Vorgehensweisen in Bezug auf Improvisationsaktivitäten entwickelt werden, welches
im
darauffolgenden
praktischen
Teil
angewendet
und
in
unterschiedlichen
musikalischen Beispielen veranschaulicht werden soll.
1. Einleitung
Improvisation ist ein Begriff, der nicht auf einzelne Wirkungsbereiche beschränkt
werden kann. Die Wortzusammensetzung von im (lat. „nicht“) und providere (lat.
„voraussehen, Sorge tragen“)154 lässt auf etwas Unvorhergesehenes und Überraschendes
schließen, was per Definition allerdings nicht auf einen Lebensbereich reduziert zu sein
scheint. Denn die Kunst des Improvisierens wird nicht nur in musikalischer Hinsicht mit
Hilfe von Instrumenten oder der Stimme verwirklicht, sondern spielt auch im
alltäglichen Leben eine wichtige Rolle. Spontane Reden, genauso wie überraschende
Probleme, die schnelle und unvorbereitete Lösungsvorschläge voraussetzen und
benötigen, können sowohl im nicht-musikalischen als auch im musikalischen Kontext
stattfinden. Im letzteren würde man das erste Beispiel eher spontanes Spielen oder
Musizieren nennen, welches aber vom Grundkonzept die gleichen Vorgänge impliziert:
Immer wieder muss man seiner Kreativität freien Lauf lassen, um unvorhergesehene
und nicht kalkulierbare Situationen meistern zu können. Der daraus klar ersichtliche
Zusammenhang von Improvisation und Kreativität wird zu einem späteren Zeitpunkt
noch genauer erläutert werden. Entscheidend ist, dass das Konzept der Improvisation in
all ihren Ausführungen und Anwendungen von den gleichen Einflussfaktoren wie von
den Prozessen der Kreativität und Motivation abhängig gemacht werden kann.
Improvisationstechniken, die eng mit Kreativitätsprozessen verbunden sind und
angewendet werden, sind meistens unbewusst in alltägliche Situationen integriert.
154
Wortdefinition siehe http://www.wissen.de/wortherkunft/improvisieren, 21.05.2015.
58
Manchmal ertappt man sich selbst, wenn man etwas Unvorhergesehenes bewältigen
muss und auf die Frage nach der Vorbereitung mit „Jetzt muss ich improvisieren!“
antwortet. Es könnte angenommen werden, dass in solchen Momenten selten der
Zusammenhang zu meist automatisierten improvisatorischen Vorgängen erkannt wird,
geschweige denn die Verbindung zu musikalischem Improvisieren bedacht wird. Die
Anerkennung dieser Verbindung ist speziell für Lehrpersonen von Bedeutung, da die
Förderung kreativen Gestaltens demnach nicht nur einem rein musikalischen Zweck
dient, sondern auch zur persönlichen Entwicklung beitragen kann.
Zum einen kann musikalische Improvisation genauso unbewusst vollzogen werden wie
alltägliche Problemlösungen vonstattengehen, beruhend auf der Automatisierung ihrer
zugrunde liegenden Prozesse. Langerfahrenen Musikern ist es möglich, musikalische
Aufgabenstellungen zu lösen, ohne auch nur einen Gedanken an die Umsetzung zu
verschwenden. Meist genügt ein Gedankenanstoß, wie die Vorgabe einer Tonart, eines
Rhythmus oder eines Liedanfangs und die Spielenden sind in der Lage, ohne für sie
offensichtliche planende Vorgänge, zu musizieren und etwas musikalisch Sinnvolles zu
erschaffen. Wie bei nicht-musikalischen Problemlösevorgängen ist es den Musikern
danach meistens nicht erklärbar, wie sie das Gespielte „erschaffen“ haben. 155 Oft
bemerkt man, dass diese das Produzierte nochmals aktiv wiederholen müssen, um selbst
Einblicke in die automatisierten Vorgänge zu erlangen und im Zuge dessen
Außenstehenden die musikalische Vorgehensweise überhaupt erklären zu können.
Demzufolge kann man eine Verbindung zu nicht-musikalischen Vorgängen feststellen:
Spontane
Lösungsansätze
entstehen
sehr
oft
durch
unbewusste
und
nicht
nachvollziehbare Kreativitätsprozesse. Musikalische Improvisationsvorgänge können
also genauso unbewusst stattfinden wie allgemeine Bewältigungsmechanismen.
Zum anderen könnte die Offensichtlichkeit der Verbindung zwischen den
unterschiedlichen Improvisationsformen (musikalisch und nicht-musikalisch) in den
Begründungsansätzen hinsichtlich der Integration von Improvisationstechniken in den
Musikunterricht bemerkt werden. Geteilt in musikalischen und sozialen Nutzen werden
im Folgenden verschiedene positive Aspekte betrachtet, die sich durch das Integrieren
von Improvisationsaktivitäten in den Unterricht herauskristallisieren können. In Bezug
auf den Teil, der den sozialen Nutzen beim musikalischen Improvisieren behandeln
155
Siehe in diesem Zusammenhang auch Hechinger, Martina: Das musikalische Flow-Erlebnis. Eine
Forschungsstudie über Flow, Motivation und Selbstwirksamkeit im Instrumentalspiel. Saarbrücken:
VDM Verlag Dr. Müller 2010.
59
wird, könnte dann festgestellt werden, dass die angewendeten Argumente teilweise
nicht nur auf musikalisches Gestalten, sondern auch auf die erwähnten allgemein
kreativen Vorgänge im Improvisationsprozess zutreffen. Kurz gesagt, wird in den
folgenden Ausführungen bezüglich der Wichtigkeit der Integration von Improvisation in
den Musikunterricht auch auf soziale Faktoren eingegangen, die auch bei nichtmusikalischen Improvisationsvorgängen integriert werden und sich von entscheidender
Bedeutung erweisen.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Begriff der Improvisation auf
viele Bereiche angewendet werden kann. Musikalischen und nicht-musikalischen
Aufgaben können ähnlich unbewusste Prozesse zugrunde liegen, die allerdings bei
beiden vorher schon einmal durch einen gewissen Input erlernt werden mussten.
Vergleichbar sind diese auch anhand ihrer Wichtigkeit für verschiedene soziale und
individuelle Aspekte und Entwicklungsmechanismen, auf welche auch im Rahmen des
Unterrichtens Rücksicht genommen werden muss. Im folgenden Abschnitt wird deshalb
noch genauer auf die Hintergründe von improvisatorischem Gestalten eingegangen.
1.1 Begründungsaspekte
Das Konzept der Improvisation wird oft als „zu kompliziert“ für den allgemeinen
Musikunterricht angesehen. Viele erwarten, dass eine jahrelange musikalische
Vorbildung vorausgesetzt werden muss und sie deshalb keinen Nutzen für diejenigen
bringen würde, die über kein ausreichendes Vorwissen verfügen. Im Gegensatz dazu
zeigen
Anwendungsbeispiele
von
elementaren
Improvisationstechniken,
dass
Improvisation durchaus zu Beginn des Musikunterrichts funktionieren kann. Zusätzlich
kann durch adäquate Integration solcher Techniken nicht nur das Verständnis für
musikalische Inhalte, sondern auch für soziale Verhaltensweisen gefördert und erweitert
werden. So wie der Musikunterricht nicht nur musikalische Aspekte beinhalten sollte,
so sollte sich das improvisatorische Gestalten auch nicht nur auf das Produzieren von
Klängen in den unterschiedlichsten Formen stützen. Es ist unbestritten, dass Unterricht
im Allgemeinen nicht nur auf den thematischen Schwerpunkt fokussiert werden sollte,
sondern auch im Sinne der Vielgestaltigkeit und der adäquaten Förderung der
Lernenden auf weitere Kompetenzen Rücksicht genommen werden muss. Um dieses als
Lehrperson bewerkstelligen zu können, sollten die Lehrinhalte auf ihre Richtigkeit und
Relevanz in Bezug auf verschiedene Aspekte geprüft werden. Dementsprechend sollten
dem Organisierenden der eigentliche und der mögliche Lernertrag einer jeden Übung
60
bewusst sein. In Anlehnung daran sind die folgenden Aspekte in Hinblick auf einen
Begründungsansatz für das didaktische Integrieren von improvisatorischem Gestalten
zu sehen.
Das Gefühl der Zugehörigkeit ist eines der drei psychologischen Grundbedürfnisse,
deren Erfüllung nicht nur für die Motivation ausschlaggebend sein kann. Fühlt sich
jemand ausgegrenzt und gemieden, kann das negative Auswirkungen auf seinen
persönlichen
Gemütszustand
ausüben,
was
wiederum
in
einer
Reihe
von
weiterführenden Effekten resultieren könnte. Denn wird das Gefühl der Ausgrenzung
nicht abgewendet, könnte dieses in eine Angstreaktion münden, was wiederum in einer
Aktivitätszunahme der Amygdala resultiert und somit eine Verminderung der
Dopaminausschüttung nach sich zieht. Der Neurotransmitter Dopamin ist nicht nur für
die Erzeugung von Glücksgefühlen zuständig, sondern übt durch seine Funktionen auch
maßgeblichen Einfluss auf die Prozesse der Aufmerksamkeit aus. Der hemmende
Faktor sollte also eliminiert werden.156 Die Erschaffung eines guten Klassenklimas ist
demnach entscheidend für eine lernfördernde Umgebung. Dies kann durch Aktivitäten,
die sich auf die Stärkung eines Gruppengefüges beziehen, erreicht werden. Die
verschiedensten
Improvisationstechniken
ermöglichen
es,
unterschiedliche
Gruppenkonstellationen zu fördern und auszuprobieren. Dabei wird nicht nur die
Kommunikationsfähigkeit
der
Teilnehmerinnen,
sondern
auch
das
Vertrauen
aufeinander angeregt, was wiederum ein zufriedeneres Selbstwertgefühl zur Folge
haben könnte. Voraussetzung für Gruppenimprovisationen sind demnach verschiedene
Arten von Interaktionen, welche sich nicht nur auf das Verbale beschränken lassen
müssen und großen Einfluss auf das Zugehörigkeitsgefühl ausüben können.157
Ist ein Gruppengefüge geschaffen worden, kann das improvisatorische Gestalten auch
als Kreativitätsförderung fungieren. Dies muss nicht auf musikalische Inhalte
beschränkt sein, sondern kann sich auch auf allgemeine Kreativitätsprozesse beziehen.
Aufbauend auf der zu Beginn erwähnten Vielfältigkeit des Improvisationsbegriffs kann
angenommen werden, dass beim eigentlichen Improvisationsvorgang genauso viele
unterschiedliche Strategien angewendet werden können, um auf ein zufriedenstellendes
Ergebnis zu kommen. Die Improvisierenden haben dabei die Möglichkeit, auf ihre
persönlichen Kompetenzen zurückzugreifen und etwas eigenständig zu erarbeiten. Dies
156
Vgl. Hechinger (2010), S. 32.
Siehe in diesem Zusammenhang Anwendungsbeispiele in Schwabe, Matthias: Musik spielend
erfinden. Improvisieren in der Gruppe für Anfänger und Fortgeschrittene. Kassel: Bärenreiter 1992.
157
61
ist
der
Kernpunkt
des
Kreativitätsprozesses
und
wird
somit
bei
Improvisationsaktivitäten genauso benötigt. Entscheidend dabei ist, dass besonders
freies Gestalten die Flexibilität eines Teilnehmenden voraussetzt und weg von einer
Theorielastigkeit drängt.158 Denn Improvisation erfordert individuelle Anstrengung und
im Vergleich zu anderen musikalischen Aktivitäten, bei welchen Dinge bereits
vorgegeben sind, wird ein offener Umgang mit musikalischen Inhalten ermöglicht, was
wiederum als Abwechslung im Schulalltag empfunden werden kann.
Man könnte annehmen, dass Improvisation in ihrer Weitläufigkeit mit jeder neuen
Aufgabe Abwechslung ermöglicht. Es soll nicht impliziert werden, dass andere
Aktivitäten weniger wichtig für den Unterricht sind; allerdings bietet das kreative und
improvisatorische Gestalten in der Tat sehr viele unterschiedliche Aufgaben, ohne dass
auf diese speziell Rücksicht genommen werden müsste oder könnte. Denn generell hat
jeder Mensch seine eigenen Vorgaben in Form seines Wissens und seiner Erfahrungen,
welche besonders bei kreativen Prozessen individuell verbunden werden müssen, um
auf ein zufriedenstellendes Ergebnis zu kommen. Improvisatorische Aufgaben
beinhalten also an sich schon vielfältige Anforderungen, da jeder individuell mit seinen
gespeicherten Inhalten umgehen muss.
Die Steigerung dieser Vielfältigkeit kann demnach so erfolgen: Umso mehr
Aufgaben in einer Aktivität verankert sind, umso abwechslungsreicher könnten diese
beschrieben
werden.
Die
Wichtigkeit
Ursprungsbeschreibung
Aufmerksamkeitsspannen
von
benötigen
dieser
Tatsache
zeigt
sich
in
Aufmerksamkeitsprozessen.
immer
wieder
neue
Reize,
der
Längere
um
das
Konzentrationsniveau nicht rapide absinken zu lassen. Bei vielfältigen Aufgaben
werden diese benötigten Impulse durch den abwechslungsreichen Charakter von selbst
dargeboten. Demnach könnten improvisatorische Aktivitäten, wenn die adäquaten
Voraussetzungen erbracht werden, auch als Aufmerksamkeitsförderung dienen.
Im Zuge der Kreativitätsförderung können Improvisationsaufgaben auch einen freien
Raum für persönliche Entfaltung zur Verfügung stellen. Achtet die Lehrperson darauf,
dass eine positive und ungehemmte Stimmung vorherrscht, wird den Teilnehmerinnen
die Chance für die Erfahrung ihrer persönlichen Ausdruckskraft gegeben. Die Basis
dafür befindet sich im Grundkonzept der kreativen Prozesse: In der ersten Phase der
Auseinandersetzung mit der Aufgabenstellung und dem innerlichen Suchen nach
158
Vgl. Eckhardt (1995), S. 24f.
62
Lösungsmöglichkeiten muss sich ein Individuum mit den vorhandenen Inhalten
beschäftigen. Oft erlebt man selbst, dass das gespeicherte Wissen für bestimmte
Lösungsansätze als zu gering empfunden wird und der kreative Prozess darunter leiden
kann. Die Konsequenz ist manchmal das Entstehen von Selbstzweifeln, welche auf
persönliche Kompetenzen und Eigenschaften zurückgeführt werden könnten. Im
Gegensatz dazu könnte sich aber auch ein besonders kreativer und hilfreicher Einfall als
Glanzleistung erweisen, was wiederum eine Bestärkung der persönlichen Fähigkeiten
nach sich ziehen könnte. Beide Varianten stützen sich auf die Erfahrung von
individuellen Eigenschaften.
Zu bemerken ist, dass eine Konfrontation mit individuellen Fähigkeiten
sicherlich nicht bei jedem kreativen Prozess stattfinden wird und kann. Trotzdem
fördern selbstgelenkte Aufgaben individuelle Ausdrucksmöglichkeiten, welche für die
Persönlichkeitsentwicklung und Festigung von Bedeutung sind. Denn besonders bei
Gruppenimprovisationen kann man seine sozialen Fähigkeiten austesten und erweitern,
indem die Position in einer Gruppe verändert wird. Meist gibt es jemanden, der Anfang
oder Ende einer Improvisation einleitet und andere, die diesem folgen. In solchen
Konstellationen besteht die Möglichkeit, die verschiedenen Positionen in einer Gruppe
auszutesten und seine persönliche Präferenz auszuleben. Diese kann auf übergeordneter
Ebene bewusst eingebunden werden, um daran zu arbeiten. Bemerkt eine Lehrperson
zum Beispiel, dass jemand sehr schüchtern ist und sich im Gruppengefüge immer
unterordnen muss, weil die Durchsetzungskraft fehlt, kann die Aufmerksamkeit bei der
Improvisation sanft auf diese Person gelenkt werden, um derjenigen das Gefühl einer
leitenden Position zu vermitteln und eine Entfaltungsmöglichkeit zu schaffen.
Musikalisch betrachtet kann das Gruppengefüge auch durch die verschiedenen Arten
von
Improvisationstechniken
unterschiedlichsten
und
Musikinteressen
deren
können
Inhalten
dabei
gefördert
in
ein
werden.
großes
Die
Ganzes
zusammengefasst werden, was die Aufmerksamkeit bei mehreren Personen gleichzeitig
fördern kann. Motivationale Antriebsmuster werden aktiviert, wenn die Aufgabe den
individuellen Geschmack trifft. Improvisatorisches Gestalten ermöglicht es, die
musikalischen Vorstellungen einer Gruppe von Teilnehmern in ein gemeinsames Stück
überzuführen. Folglich wird dabei nicht nur das Zugehörigkeitsgefühl gestärkt, sondern
es werden auch die individuellen Interessen berücksichtigt, was wiederum die Chancen
auf eine Aufmerksamkeitssteigerung und Motivationsanregung erhöhen könnte.
63
Die individuelle Verwirklichung in improvisatorischen Aufgaben kann auch anhand von
unterschiedlichen Instrumenten gefördert werden, was gleichzeitig als eine indirekte
Instrumenteneinführung verwendet werden kann. Improvisieren bedeutet nicht immer,
dass ein Instrument perfekt beherrscht werden muss. Besonders die freie Improvisation
ermöglicht das Ausprobieren von verschiedenen klangerzeugenden Objekten und die
Umsetzung individueller Vorstellungen. Schülerinnen, die sonst eventuell nicht die
Möglichkeit bekommen würden auf verschiedenen Musikinstrumenten zu spielen,
könnten somit ein rasches Erfolgserlebnis bemerken. Anzunehmen ist, dass die
Verwendung der Instrumente auch das diesbezügliche Speichern von korrelierenden
Inhalten begünstigt. Denn wenn die zu lernenden Inhalte selbst erfahren werden, werden
diese bewusster wahrgenommen, was wiederum eine Verlängerung der Behaltensdauer
im Kurzzeitspeicher bewirkt und folglich eine Verankerung im Langzeitgedächtnis
fördert. Dieser Prozess ist vergleichbar mit der Erfahrung, dass Musikstücke, die man
selbst gesungen oder gespielt hat, „länger“ gemerkt werden, als andere. Der Grund
dafür kann auf die neurologischen Speicherungsprozesse zurückgeführt werden: Wird
ein Stück selbst musiziert, erfolgt eine gleichzeitige Aktivierung von mehreren
Reizsystemen Synapsen verbinden diese Bereiche miteinander und schaffen eine
Verbindung zu bereits gespeichertem Material. Oft werden diese Stücke dann
wiederholt, was bei jedem Mal eine Verdickung der Synapsenverbindung zwischen den
Strukturen mit sich zieht. Umso mehr Verbindungen zu anderen Bereichen hergestellt
werden und umso öfter dieses stattfindet, desto „tiefer“ gelangt dieses in den Speicher
und kann auch nach längerer Zeit wieder abgerufen werden.159 Demnach könnte also
angenommen
werden,
dass
improvisatorisches
Gestalten
längerfristige
Speicherungsprozesse begünstigt, weil die benötigten Unterschiede der Reizeinflüsse
durch Faktoren wie die Verwendung von verschiedenen Musikinstrumenten zur
Verfügung gestellt werden.
Ein weiterer Faktor, der die Speicherung eines Inhalts beeinflussen könnte, ist die
Tatsache, dass beim Musizieren zusätzlich die Hörfähigkeit auf eine spezielle Weise
trainiert wird. Es ist anzunehmen, dass das Hören beim Produzieren von Musik jeder
Art eine entscheidende Rolle spielt, dennoch könnte man bei Einzelimprovisationen
sowie bei Gruppenaktivitäten unterschiedliche Parameter des Zuhörens definieren.
Wenn man alleine improvisiert, baut das System eine konstante Verbindung mit sich
159
Vgl. Eckhardt (1995), S. 233.
64
selbst auf. Es wird meist unbewusst auf gewisse Inhalte zugegriffen und durch kreative
Prozesse mit anderen Reizen verbunden, um etwas Neues zu schaffen. Kreislaufartig
muss dabei innerlich „vorgehört“ werden, was gespielt werden soll und im Anschluss
überprüft werden, ob dieses tatsächlich so gelungen ist. Die Produzierende muss sich
dabei auf das eigene Verarbeitungssystem konzentrieren, obwohl der Vorgang der
Verarbeitung natürlich auf einer weit höheren und eigentlich nicht zugänglichen Ebene
stattfindet.
Im Vergleich dazu kann man in einer Gruppensituation das Gespielte der anderen nur
von außen aufnehmen, was wiederum einen zirkulären Hörvorgang mit sich zu ziehen
scheint, welcher allerdings auf eine andere Art und Weise vollzogen wird.
Um dieses erklären zu können, muss Folgendes bewusst sein: Improvisieren in
Gruppen hat meistens das gleiche musikalische Ziel wie Einzelimprovisationen. Es soll
ein zusammenhängendes, in sich geschlossenes Klangerlebnis am Ende entstanden sein.
Um das mit mehreren Personen erzielen zu können, spielt nicht nur die Kommunikation
eine entscheidende Rolle, sondern auch das Können der Teilnehmerinnen. Umso
professioneller die Musikerinnen dabei sind, umso geringer ist die Wichtigkeit der
Kommunikationsstrategien, denn diese scheinen schneller auf ihre Mitspielerinnen
reagieren zu können als musikalische Anfängerinnen. Erklärt könnte dieses Phänomen
durch Unterschiede in der primären Reizanalyse der Wahrnehmungsprozesse werden.
Im Zusammenhang mit dem limbischen System wurde erwähnt, dass bei der Voranalyse
der eintreffenden Stimuli Ergebnisse vorhergesagt werden, um den ganzen Prozess der
Reizaufnahme beschleunigen zu können. Diese Vorhersage kann allerdings nur anhand
bereits gespeicherter Information und mit Hilfe von Gruppierungsvorgängen
durchgeführt werden. Professionelle Musikerinnen können schneller auf musikalische
Reize reagieren, weil diese das Vorwissen für eine beschleunigte Reizanalyse und
Ergebnisvorwegnahme besitzen. Diese haben die musikalischen Muster und
Spieltechniken so oft wiederholt, dass die neuronalen Netzwerke weitaus dicker
vernetzt sind als bei Laien. Zusammengefasst bedeutet das, dass die Interaktion bei
Improvisationen von Musikerinnen mit profunder Vorbildung deshalb so fließend sein
kann, weil diese oft wissen, worauf die andere hinaus will, bevor diese es gespielt hat.
Bei Personen mit wenig musikalischer Vorbildung ist die Kommunikation bei
Improvisationen von entscheidender Bedeutung, da sich diese noch mitteilen müssen,
auf welches Ziel man gemeinsam zusteuert.
In diesem Zusammenhang ist zu bemerken, dass die Hörfunktion bei
65
Nichtmusikern
wie
bei
Musikern
in
Gruppenimprovisationen
sich
zu
Einzelimprovisationen darin unterscheidet, dass nicht immer angenommen werden
kann, was der andere spielen wird. Das Hören ist differenzierter, weil man dabei nicht
nur auf sich selbst eingehen muss, sondern auch auf andere achten und nach adäquater
Analyse auch wieder antworten sollte. Musikalische und nicht-musikalische
Kommunikationsstrategien, die dabei benötigt werden, können beim improvisatorischen
Gestalten trainiert werden, genauso wie das Zuhören und Interpretieren von anderen
Eindrücken.
Weitere musikalische Parameter wie Rhythmus, Melodie und Dynamik sind
unerlässliche Faktoren beim Musizieren. Genauso wie das Ausprobieren von
verschiedenen Musikinstrumenten kann das musikalische Gestalten einen offenen Raum
für
das
Experimentieren
mit
zeitlichen,
tonräumlichen
und
dynamischen
Klangfunktionen ermöglichen. In Verbindung mit unterschiedlichen Umsetzungsformen
kann dabei zusätzlich auf die Veränderbarkeit der Klangfarbe eingegangen werden. Es
ist anzunehmen, dass diese Parameter auch anhand von vorgegebenen Stücken oder
Inhalten erlernt werden können und sollten, wie zu späterem Zeitpunkt noch erläutert
werden wird. Es soll auch nicht bestritten werden, dass vorgegebene musikalische
Inhalte in vielen Lernsituationen notwendig und sehr förderlich sind. Der Vorteil von
freiem Gestalten zeigt sich allerdings darin, dass zusätzlich noch andere Fähigkeiten wie
Flexibilität und Originalität ausgebildet werden können.
1.2 Begriffseingrenzung
Die Vielfältigkeit des Improvisationsbegriffs hat gezeigt, dass das Konzept des
improvisatorischen Gestaltens auf verschiedene Bereiche des Lebens angewendet
werden kann. In musikalischer Hinsicht ist dieses nicht weniger vielgestaltig, was auch
zur Wichtigkeit der Integration in den Unterricht beiträgt. Die Tatsache, dass unzählige
Faktoren in improvisatorische Aufgaben miteinbezogen werden können, macht es zum
idealen Werkzeug der Musikvermittlung.
In Hinblick auf die folgenden Ausführungen ist allerdings eine Eingrenzung des
Begriffs
vonnöten.
Eingegangen
wird
dabei
auf
den
musikalischen
Improvisationsbegriff im Rahmen einer allgemeinen schulischen Ausbildung. Ziel der
Integration dieses Konzepts ist die Einführung in kreatives Musizieren und dazu
passende Improvisationstechniken. Die Zielgruppe sind Schülerinnen mit wenig bis
durchschnittlicher Musikausbildung, welchen anhand verschiedener Techniken eine
66
kreative Zugangswiese zu Musik in einem schulischen Rahmen vermittelt werden soll.
In
diesem
Zusammenhang
werden
verschiedene
Improvisationsaufgaben
mit
unterschiedlichen Vorgaben integriert, abhängig von Lehr- und Lernzielen. Die
Zusammensetzung und der Aufbau dieser Aufgaben werden anhand der gewonnenen
wissenschaftlichen Erkenntnisse des ersten Teils stattfinden. Im Folgenden wird deshalb
auf mögliche allgemeine didaktische Implikationen eingegangen, bevor daraus
resultierende Aufgabenstrukturierungen präsentiert werden können.
2. Didaktische Implikationen
2.1 Voraussetzungen
Improvisatorisches Gestalten steht in enger Verbindung mit Kreativitätsprozessen. Die
Definition von beiden bezieht sich auf etwas Unvorhergesehenes, was durch das
Aktivieren von inneren Prozessen hervorgerufen werden soll. Angelehnt an die erste
kreative Phase müssen bestimmte situative und inhaltliche Voraussetzungen
vorherrschen, um einen Improvisationsprozess beginnen zu können. Es folgt eine
Zusammenfassung der wissenschaftlichen Grundlagen in Hinblick auf didaktische
Implikationen für das Unterrichten und in diesem Zusammenhang als adäquat
betrachtete Übungen und Aufgabenstellungen.
2.1.1 Strukturbildung von außen und innen
Zu beachten ist, dass bei jeder kreativen Tätigkeit im schulischen Rahmen der adäquate
Raum zur Entfaltung geschaffen werden muss. Die Verantwortung dafür liegt bei der
Lehrperson, da diese die Planung und Leitung der schulischen Aktivitäten innehat. Die
Wichtigkeit einer Bezugsperson zeigt sich dabei nicht nur anhand inhaltlicher
Instruktionen, sondern auch in Bezug auf die Lenkung der verschiedenen kreativen
Prozesse. Wie bei der Aufschlüsselung dieser ersichtlich wurde, haben Lernende oft
Schwierigkeiten ihre kreativen Einfälle adäquat festzuhalten. Obwohl dieses Phänomen
durchaus auf verschiedene motivationale Einflussfaktoren zurückgeführt werden kann,
hat sich eine Abhängigkeit von situativen Umständen gezeigt. Eine Abwechslung
zwischen freien und von außen strukturierten Kreativitätsphasen hat sich als günstig für
die Behaltensleistung der kreativen Einfälle erwiesen.160 Die Strukturvorgabe für die
festgelegte Periode sollte als Teil des Aufgabenbereichs einer Lehrperson angesehen
160
Vgl. Holm-Hadulla (2011), S. 189f.
67
werden. Um die kreativen Einfälle nicht wieder aus dem Kurzzeitspeicher entweichen
zu lassen, sollte eine aktive Instruktion für Strukturbildungen integriert werden. Wenn
Schülerinnen wissen, wie sie ihre Ideen behalten können um diese mitzuteilen,
ermöglicht das ungehemmte kreative Phasen, die wiederum durch die strukturierten
abgelöst werden können. Generell sollte also ein übergeordneter inhaltlich-strukturierter
Aufbau von Aufgaben geschaffen werden, damit die Teilnehmenden die Möglichkeiten
bekommen, ihre Kreativität auszuleben und in sinnhafter Weise mitteilen zu können.
Diese Strukturbildung von außen könnte durch aktive Benennung vonseiten des
Improvisationsleiters, also der Lehrperson, gefördert werden. Freie kreative Phasen
könnten als Ideenfindung verwendet werden, welche im Anschluss, um einer Ordnung
zu folgen, präsentiert werden sollten. Um dieses in die Tat umzusetzen, müssen die
Schülerinnen
über
Strukturierungsmechanismen
verfügen,
welche
bestimmte
Speicherungskategorien zur Voraussetzung haben. Man könnte also daraus schließen,
dass eine Strukturierung von außen nur möglich ist, wenn die Teilnehmenden bereits
über bestimmte Kategorien verfügen, anhand derer sie ihre kreativen Einfälle
organisieren können. Wenn man also improvisatorisches Gestalten zum Thema im
Musikunterricht machen möchte, sollten gewisse Kategorien vorhanden sein, um ein
sinnvolles Ergebnis zu erzielen.
Obwohl Sinnhaftigkeit durchaus im Auge des Betrachters liegen mag und jeder
Improvisationsleiter die Vorgaben und Inhalte individuell definieren kann und sollte,
bemerkt man doch schnell, ob Schülerinnen einen Zweck hinter ihrem Tun erkennen.
Ein wichtiger Indikator könnte dabei die Benennungsleistung der kreativen Einfälle
sein. Sinnvolles Gestalten könnte also dadurch erkannt werden, dass die Produzierenden
das Produzierte erklären, beziehungsweise benennen können, was im Zuge dessen
großen Einfluss auf die Speicherungsleistung haben kann. Denn durch das Benennen
eines kreativen Prozesses kann dieser in Schemata eingeordnet werden, was die
Behaltensdauer im Kurzzeitspeicher verlängert, indem Verknüpfungen mit bestehenden
Inhalten hergestellt werden. Voraussetzung für das Benennen musikalischer Ideen und
die Speicherung sind bereits existierende Kategorien. Möchte man Schülerinnen in
improvisatorisches
Gestalten
einführen,
wäre
folglich
zu
Beginn
eine
„Bestandsaufnahme“ der bestehenden Vorkenntnisse günstig. Eingebunden in
aufwärmende Übungen, kann eine solche Überprüfung bei weiteren improvisatorischen
Aufgaben auch als Fortschrittskennzeichnung verwendet werden.
68
Anzunehmen ist, dass jeder unbewusst über bestimmte musikalische Kategorien
verfügt. Vergleichbar mit dem Spracherwerb, werden wir von Geburt an auch mit
musikalischen Inhalten konfrontiert: Es wird bereits im Kindergarten sowie in der
Volksschule gesungen. Zusätzlich werden musikalische Reize auch nur durch
Musikhören verarbeitet. Es kann also festgestellt werden, dass musikalische Kategorien
generell bestehen müssten, da wir Musik als solches sonst nicht sinnvoll speichern
könnten. Auch Personen, die sich selbst als unmusikalisch bezeichnen würden, können
Melodien oder ganze Lieder wiedergeben, was eine Speicherung dieser voraussetzt.
Übergeordnete musikalische Kategorien müssen also nicht von außen erschaffen
werden, da diese im menschlichen Verarbeitungssystem bereits existieren sollten.
Die Bezeichnung „unmusikalisch“ wird deshalb oft mit einer falschen Konnotation
verwendet. Denn es ist anzunehmen, dass eine „Grundmusikalität“ im Sinne der
angeborenen Verarbeitung bei jedem Menschen existieren muss. Sofern keine
neurologischen Schädigungen bestehen, ist die musikalische, genauso wie die
sprachliche Reizentschlüsselung
möglich. Jemand
ist nicht von Geburt an
unmusikalisch, wenn man gewisse Inhalte nicht exakt benennen oder sich mit gewissen
Musikstücken nicht identifizieren kann. Der Unterschied zu anderen besteht darin, dass
verschiedene Kategorien, je nach musikalischer Vorbildung, im neuronalen Netzwerk
angelegt werden. Gezeigt wird dieses in Untersuchungen hinsichtlich einer
Lateralisation der musikalischen Verarbeitungsstrukturen: Obwohl die Annahme, dass
Musik generell ganzheitlich verarbeitet wird, vorherrschend ist, haben sich doch
Unterschiede in der musikalischen Reizverarbeitung bei Musikerinnen und Laien
gezeigt. Durch das Musiklernen anhand von strukturierten Kategorien, wie es bei
Musikerinnen der Fall ist, haben sich diese eher in der linken Hemisphäre feststellen
lassen, wo eher analytisch und nicht emotional verarbeitet wird. Durch die Fähigkeit der
Benennung von musikalischen Inhalten werden diese bei Personen mit Vorbildung
anders gespeichert, was ein schnelleres Abrufen erleichtert. Personen mit wenig aktiv
gespeicherten musikalischen Inhalten haben diese oft nur an emotionale Reize
gekoppelt, was auch die Hemisphärenspezialisierung auf die linke Seite erklären und
einen aktiven Zugriff erschweren kann. Wie bereits zuvor erwähnt wurde, bedingt eine
weitgefächerte Speicherung auch eine bessere Abrufleistung. Musiker speichern Inhalte
69
nicht nur anhand von emotionalen Eindrücken, sondern verbinden diese vielfach mit
formalen Kategorien auf unterschiedlichen Ebenen.161
Eine gewisse Kategorisierung von Inhalten ist also wichtig für das Abrufen, welches bei
improvisatorischem Gestalten auch von Bedeutung ist. Um die Strukturierung zu
gewährleisten und damit Inhalte für weitere Aufgaben speichern zu können, sollten
gewisse Kategorien zur Benennung in Verbindung mit den bereits existierenden und
übergeordneten Strukturen zur Verfügung gestellt werden. Es könnte deshalb mit
vorgegebenen Stücken oder kurzen Phrasen im kleinen tonalen Raum begonnen werden,
um gewisse Strukturen zu erschaffen. Dies wäre möglich durch die Integration von
rhythmischen Parametern, durch das Üben von verschiedenen Rhythmisierungen, oder
von klanglichen Parametern, durch das Ausprobieren von verschiedenen Instrumenten
und deren Funktionen. Stimmlich kann auf die Ausdrucksart und das Einsetzen dieser
(flüstern, sprechen, singen) geachtet werden, genauso wie auf verschiedene
Spielformen, wie gleichzeitiges und abwechselndes Spielen. Es sollen dabei
musikalische Schemata erschaffen werden, auf welche die Schülerinnen später
zugreifen können. Obwohl improvisatorisches Gestalten das freie Produzieren von
Musik als Ziel hat, wird, wie bei einem kreativen Prozess in der Anfangsphase, ein
Bezugsrahmen benötigt. Umso freier die Aufgaben gestaltet werden, umso zugänglicher
und strukturierter sollte das Vorwissen sein.
Um Improvisation möglich zu machen, sollten zugängliche Kategorien durch
Implementierung von neuem Wissen erschaffen werden. Wichtig zu erwähnen ist, dass
die übergeordneten Strukturen, die bereits existieren, als Anschlusspunkt fungieren
können. Auch wenn Schülerinnen nur wenig musikalisches Wissen vorweisen, haben
sie dennoch meistens emotionale Musikerinnerungen. Die Reizaufnahme und
Verankerung wird im Sinne von Assimilations- und Akkommodationsprozessen anhand
dieser Erinnerungen gesteuert: Bereits Vorhandenes wird als Bezugssystem für
eingehende Informationen verwendet, was wiederum durch diese verändert werden
kann. Die Wechselwirkung von bottom-up und top-down Prozessen ist essentiell für die
Kategorienbildung, da diese auch die Informationsaufnahme steuern. Es sollte nicht
außer Acht gelassen werden, dass Schülerinnen unabhängig vom Grad ihrer
musikalischen Ausbildung, über emotionale Assoziationen hinsichtlich bestimmter
musikalischer Inhalte verfügen. Im Sinne der erwähnten Reizaufnahmeprozesse wird
161
Vgl. Altenmüller (1986), S. 342-354.
70
dabei auf die gespeicherten Inhalte in Verbindung zu den Emotionen zugegriffen und
abhängig von den eintreffenden Stimuli verarbeitet. Es sollte bewusst gemacht werden,
dass immer Verknüpfungen hergestellt werden können, unabhängig von der Art des
musikalischen Vorwissens. Umso geringer die musikalische Vorbildung ist, umso
wichtiger ist die Herstellung einer Verbindung zu anderen gespeicherten Inhalten.
Vergleiche zu sprachlichen oder bildlichen Kategorien bezwecken dabei nicht nur eine
deutlichere Veranschaulichung, sondern auch eine vielfältigere Speicherung der neu
erlernten Bedeutungen.
Beim Erschaffen von neuen Kategorien ist auch die motorische Umsetzung von Musik
zu erwähnen. Abhängig von den Musikinstrumenten und von der Art wie man diese
spielt, sollten bei unerfahrenen Schülerinnen auch motorische Abläufe geübt werden.
Motorische Tätigkeiten werden ebenso von bestimmten Hirnstrukturen umgesetzt und
müssen, wenn diese noch nicht bekannt sind, gespeichert werden. In Hinblick auf
improvisatorisches Gestalten ist das Üben der zu verwendenden Instrumente essentiell,
da die Verarbeitung der Motorik in den gleichen Gehirnarealen stattfindet wie
Aufmerksamkeit, Motivation und die Prozesse des Arbeitsspeichers. Obwohl natürlich
vielfache
Verarbeitungsvorgänge
zugleich
vollzogen
werden
können,
wird
angenommen, dass die Kapazitätsbegrenzung, die bei Aufmerksamkeitsprozessen
erwähnt wurde, auch auf andere Mechanismen zutrifft. Folglich sind die
Automatisierung der motorischen Umsetzung von Musik und die damit verbundene
Verlagerung der Verarbeitung in andere Gehirnareale von wichtiger Bedeutung.
Kreative Prozesse können sich viel besser entfalten, wenn die bewusste Konzentration
auf das Spielen von Instrumenten wegfällt und die beteiligten seitlichen neuronalen
Strukturen entlastet werden.162
Technisch wäre dieses in Teilabschnitten umzusetzen. Unabhängig vom
Schwierigkeitsgrad der zu spielenden Instrumente sollten unbekannte motorische
Vorgänge abgekoppelt von kreativen Phasen geübt werden, auch wenn es sich dabei nur
um eine kurze Zeitspanne handelt. Das „Ausprobieren-Lassen“ der Instrumente hat,
bevor noch strukturiert gespielt wird, wichtige Bedeutung. Die Motorik muss geübt
werden, damit sich das System an den Klang und das Spielgefühl gewöhnt und somit
die Verarbeitung in mittlere Hirngebiete verlegen kann. Gibt es Schwierigkeiten beim
Automatisieren von gewissen Bewegungen, sollten diese in kleine Teilabläufe getrennt
162
Vgl. Jäncke (2009), S. 308-310.
71
und solange geübt werden, bis sie nicht mehr die volle Aufmerksamkeit benötigen.
Danach können die Teilbewegungen zusammengefasst, um nochmals wiederholt zu
werden. Sind die Schülerinnen in der Lage, die Instrumente zu spielen und gleichzeitig
Anweisungen zu folgen, ist die Aufmerksamkeitsverteilung für ungehemmte kreative
Prozesse ideal.
Bei Improvisationen im allgemein schulischen Raum wäre die Verwendung von leicht
spielbaren
Instrumenten
wie
Klanghölzern
oder
Xylophonen
mit
eventuell
eingeschränktem Tonraum zu empfehlen. Schülerinnen, die kein Instrument lernen oder
gelernt haben, können dabei genauso wie andere an den improvisatorischen Aufgaben
teilnehmen. Es könnte durchaus als Bereicherung empfunden werden, wenn
Teilnehmende, die außerhalb dieses Rahmens schon Erfahrung mit anderen
Instrumenten gemacht haben, diese auch einbringen. In Hinblick auf das Gruppengefüge
wäre allerdings darauf zu achten, dass sich andere nicht ausgeschlossen oder
minderwertiger fühlen, wenn sie noch keine Vorkenntnisse vorweisen können. In
diesem Fall könnte man sich auf die Instrumente konzentrieren, die von allen ohne
längere Vorinstruktionen gespielt werden können.
Eine besonders kreative Möglichkeit der Gleichberechtigung in diesem
Zusammenhang wäre das Basteln von eigenen Instrumenten im Rahmen der schulischen
Ausbildung. Einfache Rhythmusinstrumente können schnell mit wenig Aufwand
hergestellt werden, was nicht nur die Kreativität, sondern auch ein Gefühl der
Selbstkompetenz fördern kann. Durch diese Individualisierung der Instrumente müssen
sich die Bastelnden kreativ in den Prozess miteinbringen, was eine persönliche
Verbindung zu dem Thema schaffen kann. Zufriedenheit mit sich selbst und im
Vergleich zu anderen Mitgliederinnen aus der Gruppe führt zu einer positiven
Grundstimmung, sodass die Erfahrungen automatisch mit Gefühlen abgespeichert
werden. Die Verwendung der selbsthergestellten Instrumente beim improvisatorischen
Gestalten
ermöglicht
zusätzlich
eine
weitläufigere
Speicherung,
was
die
Erinnerungsleistung um ein Vielfaches vergrößern kann. Werden starke Gefühle mit
Erfahrungen verlinkt, ist die Wahrscheinlichkeit am höchsten, dass diese sehr lange
abrufbar sein werden. Zusätzlich kann die Verknüpfung mit individuell generierten
Emotionen die Wahrscheinlichkeit von intrinsischen Motivationsfaktoren steigern.
72
2.1.2 Die Wirkung von Emotionen
Bereits vorhandene Emotionen können allerdings nicht nur positiv zur Implementierung
von neuerlernten Inhalten beitragen. Alle Lernprozesse werden nicht nur von den
vorherrschenden, sondern auch von den gespeicherten Emotionen beeinflusst. Obwohl
es sich als äußerst positiv für den weiteren Lernerfolg erweisen kann, wenn
Verknüpfungen von musikalischen Erlebnissen mit Gefühlen existieren, können diese
den Speicherungsprozess nicht nur hemmen, sondern gleich von Anfang an verhindern.
Negative Emotionen, ob gespeichert oder durch zu Erlernendes hervorgerufen, können
unkontrolliert den ganzen Kreativitätsprozess einschränken, indem zuerst die
Aufmerksamkeit und in Folge dessen die damit einhergehenden Prozesse blockiert
werden.163 Ohne Aufmerksamkeit kann improvisatorisches Gestalten nicht stattfinden,
da diese für die Steuerung der Reizaufnahme verantwortlich ist und in Wechselwirkung
mit Motivationsprozessen steht. Werden keine für das System relevanten Reize
aufgenommen, kann die Aufmerksamkeit auch nicht aufrechterhalten werden. 164
Emotionsbedingte Blockaden hinsichtlich musikalischer Inhalte sollten demnach so
bald wie möglich beseitigt werden, um den kreativen Prozess in Gang setzen zu können.
Besonders bei jüngeren Schülerinnen könnte das eine schwierige Aufgabe sein, da diese
den Hintergrund ihrer Gefühle oft noch nicht benennen können. Situationsstörendes
Verhalten oder unwillige Bemerkungen könnten darüber Aufschluss geben, dass
negative
Emotionen
die
Aufmerksamkeit
hemmend
beeinflussen.
Beseitigungsstrategien könnten sich in diesem Zusammenhang auf das Thematisieren
solcher Probleme beziehen. Durch das Bewusstmachen der negativen Reaktion auf
bestimmte Aufgabenstellungen oder deren Inhalte könnte man als Lehrperson eventuell
die blockierenden Emotionen herausfiltern. Ob es ein offenes Ansprechen dieser
erfordert oder eher ein verstecktes Bearbeiten der negativen Gefühle eingebettet in
spielerische Aufgaben, sollte situations- und personenabhängig gemacht werden.
Hemmend sind allerdings nicht nur gespeicherte Emotionen, sondern auch diese, die in
bestimmten Situationen hervorgerufen werden. Durch die individuellen Erfahrungen
sind die Reaktionen verschiedener Personen auf gleiche Situationen unterschiedlich.
Das erfordert besondere Achtsamkeit vonseiten der Lehrperson, die die Leitung der
improvisatorischen Aufgaben übernehmen soll. Bei der Planung sollte bereits Rücksicht
163
164
Vgl. Spitzer (2003), S. 162–167.
Vgl. Mulder (2007), S. 117.
73
auf gewisse angsterzeugende Situationen genommen werden. Obwohl die Reaktionen
unterschiedlich sein können, gibt es doch gewisse Parameter, die bei vielen Menschen
das Gleiche bewirken, was eventuell auf evolutionsbedingte Faktoren zurückgeführt
werden kann. Im Besonderen ist das Gefühl der Angst oft ein erkanntes Problem bei
kreativen Übungen. Angst kann entstehen, wenn man sich mit Situationen überfordert
oder von diesen bedroht fühlt.165
Der
Hintergrund
solcher
Gefühle
kann
unter
anderem
auf
den
situationsbedingten Einfluss auf die psychologischen Grundbedürfnisse zurückgeführt
werden. Zufriedenheit und eine positive Grundstimmung kann man durch Aufgaben
herbeiführen, die den Teilnehmern das Gefühl der Zugehörigkeit und der
Selbstkompetenz ermöglichen. Haben Schülerinnen den Eindruck, dass sie von der
Gruppe abgespalten werden, weil sie eventuell nicht den Ansprüchen gerecht werden
können, ist eine Angstreaktion nicht unwahrscheinlich. Das Erschaffen eines
Gruppengefüges ist daher von essentieller Bedeutung für improvisatorisches Gestalten.
Schülerinnen sollten das Gefühl haben, sich individuell entfalten zu können und
trotzdem Teil einer Gruppe zu sein. Diese Abwechslung zwischen individuellen
Gestaltungsformen und gruppenbezogenen Aufgaben kann wiederum durch die
adäquate Strukturierung durch den Improvisationsleiter stattfinden. Einführende
Kommunikationsübungen wären eventuell ein guter Einstieg, um Schülerinnen
aufzuwärmen, auf die Situation vorzubereiten und gleichzeitig ein Gruppengefühl und
Vertrauen zu schaffen.
Die Einstellung zu einer Gruppe ist demnach als ein entscheidender Faktor für
improvisatorisches Gestalten zu sehen. Das Wohlfühlen in einem Umfeld ist allerdings
nicht nur auf ein ausgebildetes Zugehörigkeitsgefühl zurückzuführen: Wie bereits
angedeutet wurde, benötigt jede strukturierte Phase auch freie Aufgaben, die Raum für
individuelles Gestalten schaffen. Auch wenn dieses in einer Gruppensituation gegeben
ist, bezieht sich die Kreativität dabei auf die individuellen Kompetenzen einer jeden
Teilnehmerin. In diesen Teilphasen ist es entscheidend, dass Schülerinnen ein Gefühl
der Autonomie und Selbstkompetenz erlangen. Diese zwei psychologischen
Grundbedürfnisse sind ein weiterer positiver Einflussfaktor auf die individuelle
Grundstimmung und folglich auch für die Gruppendynamik. Zu beachten wäre
allerdings, dass Phasen, die von der Lehrperson als frei und grundlegend für die
165
Hechinger (2010), S. 29 und Spitzer (2003), S. 164–167.
74
individuelle Entfaltung vorgesehen sind, nicht automatisch ein Autonomiegefühl
hervorrufen. Selbst frei handeln und dabei die eigenen Kompetenzen zu entdecken und
auszukosten, muss erst ermöglicht werden. Durch das Eingehen auf einfache
musikalische Kategorien zu Beginn eines Improvisationsprozesses, kann ein
gemeinsamer Ausgangspunkt geschaffen werden, von dem aus die Schülerinnen
individuell kreativ gestalten können. Dadurch könnte man zu Beginn einer
Angstreaktion hinsichtlich der Kompetenzen vorbeugen, um die Aufmerksamkeit nicht
zu hemmen.Die erlernten Inhalte, wenn diese gut gespeichert wurden, werden somit
einer autonomen Verwendung zur Verfügung gestellt.
Neben der Strukturierung der Aufgaben spielt auch die Schwierigkeit eine wichtige
Rolle. Zu Beginn ist es ratsam, die Vorgaben leichter einzustufen, da zu schwierige
Anforderungen nicht nur eine Angst-, sondern auch eine Stressreaktion auslösen
können. Auch wenn Aufgaben gelöst werden könnten, besteht die Möglichkeit, dass das
Auseinandersetzen mit neuen musikalischen Inhalten schon genug Spannung erzeugt,
sodass bei weiteren Übungen auf ein geringeres Niveau geachtet werden sollte. Dafür
ist die Dopaminausschüttung durch das limbische System verantwortlich, was bei
Übersteuerung auch zu einer kreativitätshemmenden Situation führen kann.
Stressreaktionen können dann entstehen, wenn das Verlangte durch die erfahrene
Selbstkompetenz nicht erfüllt werden kann. Wenn Schülerinnen allerdings schon mehr
Erfahrung mit unterschiedlichen musikalischen Kategorien und freiem Gestalten
gemacht haben, kann das Anspruchsniveau durchaus hinaufgesetzt werden.
2.1.3 Motivation fördern
In Hinsicht auf motivationale Aspekte sollte eine stetige Anpassung des
Aufgabenniveaus stattfinden. Auch wenn zu Beginn eher leichtere Übungen
eingebunden
werden
sollten,
dient
dieses
hauptsächlich
dem
Zweck
der
Kompetenzeinschätzung seitens der Lehrperson. Generell zu leichte Aufgaben zu geben
kann früher oder später zu einer Motivationsabnahme führen. Fühlen sich Schülerinnen
unterfordert, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass das Interesse verloren geht,
was mit äußerlichen Motivationsversuchen meistens nicht den gleichen Effekt erzielen
kann, als wenn diese intrinsisch motiviert gewesen wären. Es ist davon auszugehen,
dass Motivation und Aufmerksamkeit eng verbunden sind und das stetige Präsentieren
von neuen Reizen entscheidend für das Aufrechterhalten von beiden Konzepten ist. Die
Stimuli müssen dabei nicht immer von außen kommen, wie sich bei intrinsisch
75
Motivierten beobachten lässt. Abhängig von individuellen Vorerfahrungen ist
anzunehmen, dass Schülerinnen bei der Einführung in improvisatorisches Gestalten von
unterschiedlichen Grundmotivationen angetrieben werden. Bei besonders Interessierten,
die die neuentdeckten Inhalte mit gespeicherten Erfahrungen verbinden können, werden
weniger motivationale Reize von außen vonnöten sein, als bei denjenigen, die noch
keine positiven Erfahrungen mit Musizieren gemacht haben.
Innere Grundmotive sind generell schwer von außen zu definieren, deshalb sollten bei
jeder Aufgabenplanung unterschiedliche Anforderungen miteinbezogen werden. Die
Erfüllung
der
drei
Grundbedürfnisse
(Zugehörigkeitsgefühl,
Selbstkompetenz,
Autonomie) sollte in jeder Aufgabenstellung enthalten sein, was als Basis für weitere
Prozesse gesehen werden kann. Der Internalisierungsprozess von äußeren Faktoren
kann in diesem Zusammenhang als übergeordnetes motivationales Ziel angesehen
werden. Denn es ist oft beobachtbar, dass Lernende zu Beginn eines neuen Themas
noch keine diesbezüglichen intrinsischen Antriebskräfte aufweisen. Diese Tatsache
könnte darauf zurückgeführt werden, dass noch keine positiven Erfahrungen gespeichert
wurden und die Schülerinnen eventuell noch keinen Sinn hinter einer Aufgabe
erkennen. Um diese Situation aufzulösen, können extrinsische Motivationsanstöße
helfen, um einen kreativen Prozess zu starten. Im Musikunterricht hilft manchmal auch
nur eine begeisterte Lehrperson, um die Aufmerksamkeit zu aktivieren und
gleichermaßen die Dopaminausschüttung, welche auch für motivationale Prozesse
verantwortlich ist, zu aktivieren. Wie im ersten Teil erklärt wurde, können Emotionen
von
Mitmenschen
die
eigenen
durchaus
beeinflussen.
Manchmal
benötigen
Schülerinnen nur einen kleinen Anstoß, um von einem Stadium der Amotivation in eine
andere Motivationsphase zu gelangen. Zeigt der Improvisationsleiter dabei selbst
Begeisterung und eine positive Einstellung, kann sich diese durchaus auf andere
übertragen. Wie sich bei Experimenten gezeigt hat, haben Gesichtsausdrücke und
Körperhaltungen Einfluss auf unser Gegenüber und können diesen unbewusst
beeinflussen.
Oft wird es als negativ betrachtet, dass Schülerinnen am Unterricht nur aktiv teilnehmen
wollen, weil sie die Lehrperson als sehr sympathisch und kompetent empfinden. Die
Kritik, dass der Unterrichtsinhalt der motivierende Faktor sein muss, ist allerdings nicht
klar belegbar. Besonders diejenigen, die sich mit dem Unterrichtsthema schwer
identifizieren können, benötigen andere Motive, um am Unterricht Freude zu empfinden
76
und daraus auch wirklich etwas mitzunehmen. Die Einstellung der Lehrperson kann als
äußerer motivationaler Anstoß von entscheidender Bedeutung für die innere
individuelle Motivation sein. Beim improvisatorischen Gestalten ist dieses besonders
wichtig, damit von Anfang an das Gefühl des Vertrauens entstehen kann. Auch wenn
die Voraussetzungen für die Erfüllung der Grundbedürfnisse mit Hilfe der
Aufgabenstrukturierung geschaffen wurden, sollte zu Beginn eines jeden kreativen
Prozesses das Gefühl des Vertrauens vorherrschen. In diesem Zusammenhang bezieht
sich die Bedeutung dieses Begriffs nicht nur auf die Sicherheit in der Gruppe, sondern
auch auf die sinnhafte Bedeutung des musikalischen Inhalts. Das bedeutet, dass neben
dem Gefühl, dass man im Gruppengefüge nicht bloßgestellt werden kann, auch der
Eindruck, dass der musikalische Inhalt persönliche Relevanz mit sich bringen wird,
Vertrauen definiert. Eine positive Einstellung der Lehrperson kann demnach in
zweierlei Hinsicht Einfluss auf die Motivation anderer ausüben: Einerseits wird
Vertrauen in das musikalische Thema geschaffen, was durch die positive
Grundstimmung die Dopaminausschüttung fördert und gleichzeitig Stress- und
Angstreaktionen minimieren kann. Andererseits kann die unbewusste Beeinflussung des
Belohnungssystems zur Internalisierung der externen Motive führen. In anderen
Worten, kann die Begeisterung von außen als extrinsischer Motivationsfaktor Anstoß
für die Entwicklung und Förderung von intrinsischen Faktoren fungieren.
Der Weg zur Freude am Musizieren setzt also die Erfüllung der drei Grundbedürfnisse
und das Schaffen von Vertrauen voraus. Die grundlegende Neugier eines jeden
Menschen könnte dabei als zusätzliches vereinfachendes Element hinsichtlich des
Motivierens gesehen werden. Geschickt in das improvisatorische Gestalten integriert,
könnten überraschende Elemente die Wissbegierde der Schülerinnen fördern. In
Hinblick auf den Musikunterricht wäre das Einbringen von neuen Instrumenten sowie
anderen Spieltechniken eine gute Möglichkeit um Interesse zu wecken. Abwechslung in
der Gruppenzusammenstellung oder der Raumsituation wären nicht-musikalische
Inhalte, die variiert werden könnten, um etwas Neues zu erschaffen. Als Vorbereitung
für improvisatorisches Gestalten könnten Bilder oder Videos den Inhalt betreffend
gezeigt werden, um den kreativen Prozess zu initiieren. Der planenden Kreativität sind
dabei also keine Grenzen gesetzt. Wichtig ist nur, dass Schülerinnen mit neuen Reizen
konfrontiert werden, damit ihre Aufmerksamkeit aufrechterhalten werden kann. Sobald
diese Spaß empfunden haben, kann angenommen werden, dass die intrinsischen
77
Motivationsmechanismen
in
Kraft
treten,
was
weitere
improvisatorische
Gestaltungseinheiten erleichtern wird.
2.2 Anwendungsbeispiele
Eine gewisse Strukturiertheit ist in jedem Lernprozess von großer Wichtigkeit, auch
wenn es sich dabei um freies Gestalten handelt.166 Um improvisatorisch im Unterricht
gestalten zu können, müssen die Schülerinnen über diverse Grundkenntnisse verfügen.
Abhängig von den individuellen Vorerfahrungen können diese als Basis verwendet
werden, um direkt in den kreativen Prozess einzusteigen, oder müssen erst einer
Strukturierung und Erweiterung unterzogen werden, um darauf zugreifen zu können. Im
Folgenden werden demnach unterschiedliche Vorschläge für musikalische Aufgaben
und Übungen in Hinblick auf eine Einführung in improvisatorisches Gestalten
vorgestellt. Diese sind in unterschiedliche Kategorien und Phasen eingeteilt, um eine
adäquate Anpassung an die jeweilige Unterrichtssituation zu ermöglichen. Abhängig
von der Vorerfahrung der Schülerinnen können passende Beispiele aus der folgenden
Auflistung ausgewählt und als Vorbild für weitere Übungen gesehen werden.
Die Entstehung der Phaseneinteilung ist auf die zuvor zusammengefassten
wissenschaftlichen Erkenntnisse zurückzuführen. Zu Beginn werden unterschiedliche
Übungen für das Aufwärmen und Einstimmen in die Situation vorgestellt. Da
improvisatorisches Gestalten eine freie, ungezwungene, offene und angstfreie
Unterrichtssituation voraussetzt, sollen Schülerinnen durch verschiedene Arten von
Kommunikationsübungen, die sowohl ein Gruppengefühl als auch Vertrauen schaffen
sollen, eine Einführung erhalten. Die zweite Phase enthält anschließend Übungen, die
zur Kategorisierung und Ergänzung von musikalischen Inhalten dienen sollen. Dies
beinhaltet verschiedene Aufgaben wie das Ausprobieren von Instrumenten inklusive
körpereigenen und stimmlichen Umsetzungsmöglichkeiten. Der dritte Teil soll dann
konkrete Anregungen für Aufgabenstellungen in Hinblick auf improvisatorisches
Gestalten vorstellen.
Zu beachten ist, dass die drei Abschnitte, die als unterschiedliche Phasen
beschrieben werden, durchaus nicht immer klar trennbar und nicht als unabhängige
Teile zu definieren sind. Diese Einteilung dient der Orientierung und soll als
Strukturierungsversuch für Aufgaben und Übungen dienen, die als eine Möglichkeit für
166
Vgl. Hattie (2009), S. 36f.
78
die Einführung in improvisatorisches Gestalten gesehen werden könnenDa der
Improvisationsbegriff äußerst vielschichtig ist und vielfältige Implikationen für das
Agieren nach sich zieht, sollte eine Eingrenzung für den Unterricht individuell
durchgeführt werden. Die folgenden Übungen sollen in Hinblick auf eine Art der
Eingrenzung betrachtet werden: Das Ziel in diesem Fall ist die Vorbereitung auf
Improvisieren im tonalen Raum. In diesem Sinne werden verschiedene Arten von
musikalischen Übungen integriert, welche unterschiedliche Kompetenzen, die für freies
Gestalten wichtig sind, fördern sollen.
2.2.1 Aufwärmphase
Generell ist es ratsam, mehrere Reize bei Übungen zur Verfügung zu stellen, um dem
Risiko der Unterforderung zu entgehen. In Hinblick auf den Musikunterricht bedeutet
das, dass Aufwärmübungen für den Körper nicht getrennt, sondern sofort in Verbindung
mit anderen musikalischen Aufgaben durchgeführt werden sollten. Bei manchen
Gruppen oder Situationen könnte diese Kombination von zu vielen Übungen auf einmal
zu einer Überforderung führen und ihren Sinn damit verfehlen. Sind Schülerinnen zu
energiegeladen, könnte die Reduktion der Aufgabenvielfalt zur besseren Fokussierung
auf den tatsächlichen Unterrichtsinhalt beitragen. In diesem Zusammenhang liegt der
Schwerpunkt der folgenden Aufgaben auf übergeordneten Inhalten wie das Fördern
eines Gruppengefüges, auf welches nicht nur im Rahmen des Musikunterrichts
Rücksicht genommen werden sollte.
Bemerkt man grundlegende Vertrauensprobleme in einer Gruppe, wären zu Beginn
eines kreativen und somit auch improvisatorischen Prozesses kurze Körperübungen
ratsam. Auch wenn diese nicht direkt mit musikalischen Inhalten in Verbindung stehen,
können sie doch zu einer besseren Grundstimmung beitragen. Sind Schülerinnen zu
Beginn improvisatorischer Übungen bereits gehemmt, weil sie sich in der Gegenwart
anderer nicht präsentieren wollen, ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass sie bei
kreativen Übungen ihre Kompetenzen ausschöpfen können.
Übung I: Sich fallen lassen
Begonnen kann mit einer Körperübung werden, bei welcher eine Einteilung in
Fünfergruppen die Voraussetzung ist. Eine Person befindet sich in der Mitte, während
der Rest sich gleichmäßig um diesen Mittelpunkt verteilt. Diese soll sich nun langsam
und aufrecht in eine Richtung fallen lassen und muss darauf vertrauen, dass sie die
79
anderen sanft auffangen und wieder in ihre Ausgangsposition zurückschubsen. Die
Bewegungen sollten dabei flüssig und geschmeidig durchgeführt werden. Eine
Steigerung wäre möglich durch das Schließen der Augen vonseiten der Person im
Mittelpunkt. Nach einer bestimmten Zeit sollen die Plätze getauscht werden, sodass jede
Schülerin die Möglichkeit bekommt, sich in der Mittelpunktposition zu befinden.
Beachtet werden muss, dass die Schülerinnen sanft miteinander umgehen und im
Vorhinein offensichtlich darauf hingewiesen werden.167
Zu Beginn wäre es eventuell von Vorteil, wenn sich die Teilnehmenden ihre
Gruppenmitglieder aussuchen können. Vertrauen zu den Gruppenmitgliedern ist bei
dieser Übung entscheidend. Die Teilnehmenden müssen ein Gefühl dafür entwickeln, in
welche Richtung sich die zentrale Person bewegen wird und mit adäquater Stärke diese
abfedern, um sie wieder zurück in die Ausgangsposition zu bringen. Die Person, die
sich in der Mitte befindet, muss ihre Kontrolle bis zu einem gewissen Grad abgeben
können, da die Übung sonst wegen Versteifung nicht funktionieren würde. Als
Aufwärm- oder Lockerungsübung kann diese auch als Übergang zwischen
Unterrichtseinheiten und verschiedenen Aufgaben dienen.
Als Zusatz für den Musikunterricht kann als Untermalung passende Musik im
Hintergrund gespielt werden. Abhängig vom weiteren Verlauf der Übungen kann
entweder ein Musikstück gespielt werden, welches dann später als Kategorienfüller
verwendet werden kann, oder es könnten Klangwolken von einer anderen Gruppe von
Schülerinnen erzeugt werden. Letzteres ist eine ideale Möglichkeit, um Musik von
Beginn an selbst zu erschaffen und den Umgang mit gewissen Instrumenten gleich zu
üben. Es können dabei natürlich alle zur Verfügung stehenden Instrumente, je nach
Ermessen, verwendet werden. Die Idee dahinter ist, Schülerinnen eine angenehme und
nicht zu aufgeregte Untermalung kreieren zu lassen, damit sich diejenigen, die sich in
der Körperübung befinden, nicht von außen aus der Ruhe bringen lassen. Instrumente
wie Schüttelrohre oder verschiedene Glockenspiele wären dafür sehr geeignet;
allerdings könnten auch Trommeln oder Klanghölzer verwendet werden, wenn darauf
passend gespielt wird. Entscheidend ist, dass die Instruktion der Lehrperson beinhaltet,
dass die musikalische Untermalung einem Zweck dient und den anderen als
Unterstützung für die Übung dienen soll. Die Spielenden können dabei die Instrumente
nicht nur kennenlernen, sondern auch verschiedene Spieltechniken ausprobieren.
167
Vgl. Soth (2014), S. 193.
80
Als musikalische Ergänzung kann bereits auf weitere Parameter eingegangen werden.
Möchte man die nächste Phase der „Speicherfüllung“168 gleich miteinbeziehen und die
Hintergrundmusik für die Vertrauensübung in eine Struktur bringen, kann ein
Wechselspiel zwischen den Gruppen hinsichtlich dynamischer Veränderungen initiiert
werden. Je nach Bewegungsart und Geschwindigkeit der Bewegungsgruppe könnte die
Musikgruppe mit dynamischen Veränderungen auf die Bewegungen reagieren. Zu
Beginn könnte dabei nur eine kurze Einführung seitens der Lehrperson stattfinden,
sodass den Schülerinnen die Interpretation überlassen wird. Schülerinnen mit den
Instrumenten sollen die Bewegungen der Bewegungsgruppe nicht nur untermalen,
sondern mit dynamischen Unterschieden unterstützen und eventuell vorantreiben. Es
wäre dabei interessant zu beobachten, welche Gruppe dabei die Dominanz übernimmt
und ob sich diese verändert oder abwechselnd übergeben wird. Das Ziel wäre ein
Wechselspiel zwischen den beiden Gruppen, sodass eine Bestimmung der führenden
Gruppe von außen nicht mehr möglich ist.
Das Reagieren aufeinander ist eine grundlegende Form der musikalischen
Kommunikation, die in dieser Übung gefördert werden kann. Möchte man dieses noch
verstärken, lässt man in der Gruppe der Spielenden nur jeweils einen oder zwei
gleichzeitig spielen, je nachdem ob sich Schülerinnen schon alleine trauen zu spielen,
oder nicht. Zu Beginn wird eine Kleingruppe bestimmt, die anfangen darf die
Bewegungen der anderen zu begleiten. Diese Gruppe darf nach ihrem Ermessen so
lange spielen, bis sie das Gefühl hat, dass situationsbedingt ein Wechsel möglich und
notwendig ist. Es soll dabei nicht gesprochen werden, sondern nur anhand von Blicken
oder Instrumenten Hinweise erfolgen. Die Voraussetzung dafür liegt zuerst bei der
Verständigung in den Kleingruppen, sodass das „Spielrecht“ einer anderen Gruppe
durch Blicke weitergegeben werden kann. Neben der Förderung der nonverbalen
Verständigung, wird dabei auch die Aufmerksamkeit der Schülerinnen verstärkt, da
diese durchgehend auf neue Hinweise achten müssen.
Der Übergang zwischen den einzelnen Spielgruppen soll so fließend wie möglich
stattfinden, damit die Bewegungen der anderen Gruppe durch den Wechsel in der
instrumentalen Begleitung nicht gestört werden. Dieses Wechselspiel zwischen den
einzelnen
Kleingruppen
kann
auch
bei
der
musikalischen
Darstellung
der
168
Gemeint ist damit das beständige Bespielen der notwendigen Hirnareale mit kategorialen
Informationen.
81
Bewegungsgruppe miteinbezogen werden. Mit jeder Übergabe des Spielrechts werden
unterschiedliche Klänge der verschiedenen Instrumente dargeboten, auf welche mit
anderen Bewegungsabfolgen reagiert werden könnte. Die Person in der Mitte könnte
sich bei einem Wechsel in eine andere Richtung bewegen, langsamer oder schneller
werden oder den Fokus bei bestimmten Klängen auf bestimmte Gruppenmitglieder
legen. Dabei entstehen zusätzliche Reaktionsebenen: Es müssen nicht nur die
musikalischen Kleingruppen aufeinander reagieren, damit ein zusammenhängender
Klangeidruck geschaffen wird. Auch das Achtgeben auf unterschiedliche Instrumente
und die damit verbundenen Veränderungen in ihren Bewegungen sind Teil einer
Interaktion zwischen den Mitgliedern der Bewegungsgruppe. Die übergeordnete
Reaktionsebene bezieht sich schließlich auf die Großgruppen und die Lehrperson, die
den Beginn und das Ende dieser Übung leiten muss.
Übung II: Musikalische Orientierung
Um eine weitere Form der musikalischen Kommunikation kennenzulernen und
Vertrauen
untereinander
aufzubauen,
kann
eine
Art
Orientierungsspiel
mit
musikalischen Hinweisen angewendet werden.169 Schülerinnen werden dabei wieder in
Kleingruppen zu je fünf Personen eingeteilt. Der Kernpunkt dieser Übung besteht darin,
dass eine Person mit verbundenen Augen durch das Klassenzimmer nur anhand von
bestimmten Klängen geführt werden soll. Die restlichen Gruppenmitglieder dürfen je
ein Instrument wählen, von welchen jedes für eine Bewegungsart steht: vorwärts gehen,
stehen bleiben, nach links, oder rechts drehen. Wenn es der Klassenraum ermöglicht,
können dabei mehrere Gruppen gleichzeitig diese Übung durchführen. Möchte sich die
Lehrperson allerdings auf eine Gruppe konzentrieren, können die restlichen
Schülerinnen als „Aufpasser“ den Klassenraum sichern, sodass die Person mit den
verbundenen Augen sich nicht verletzen kann. Wenn es die situativen und zeitlichen
Umstände erlauben, kann dabei auch eine Art Hindernisparcours mit Sesseln oder
anderen Gegenständen im Klassenzimmer aufgebaut werden. Die Lehrperson muss
dabei allerdings immer abschätzen können, ob die Teilnehmenden achtsam genug
miteinander umgehen, sodass keine Verletzungsgefahr besteht.
Der Sinn hinter dieser Übung besteht nicht nur darin, dass diejenigen mit verbundenen
Augen den Spielenden Vertrauen entgegenbringen sollen, sondern erst unterschiedliche
169
Diese Übung kann als Anlehnung an den Orientierungslauf aus dem Lehrwerk Club Musik 1 gesehen
werden. Siehe Wanker/Gritsch/Schausberger (2009), S. 15.
82
Klangeindrücke mit bestimmten Bewegungsabläufen erlernen und anschließend richtig
reagieren müssen. Vereinfacht wird diese Übung, wenn unterschiedliche Instrumente
für unterschiedliche Richtungen verwendet werden. Die Schwierigkeit kann gesteigert
werden, wenn ein Instrument verwendet wird, beispielsweise ein Xylophon, und nur
unterschiedliche Tonhöhen eine Änderung in der Bewegung signalisieren. Dabei kann
ein gemeinschaftliches Lernen der Töne zu Beginn miteinbezogen werden: Alle
Schülerinnen müssen die Augen schließen, während die Lehrperson die einzelnen Töne
vorspielt und die Bewegungsabläufe dazu erklärt. Nachdem alle die Töne mit den
Bewegungen verbinden konnten, kann das Spiel begonnen werden. Somit wird die
Hörfähigkeit nicht nur bei einer Person, sondern in der Großgruppe trainiert, was
wiederum gemeinsame Voraussetzungen schaffen kann.
In Bezug auf die genaue musikalische Umsetzung beider Übungen sind keine exakten
Klangvorschriften zu vermitteln, da die Umsetzung in vielen unterschiedlichen
Varianten erfolgen kann. Abhängig von äußeren Umständen ist das zur Verfügung
stehende Instrumentarium oft begrenzt, was wiederum Einfluss auf die Art der
musikalischen Umsetzung hat. Rückbeziehend auf die einleitenden Worte kann in
diesem Zusammenhang das Herstellen von eigenen Instrumenten zu einer Erweiterung
der Ressourcen beitragen und zugleich eine persönliche Verbindung zu den Übungen
herstellen. Die Umsetzung betreffend können fortgeschrittene Teilnehmender eigene
Klangmuster entwickeln. Wird diese Übung allerdings als Einführung verwendet,
sollten diese von der Lehrperson vorgegeben werden. Umso unterschiedlichere Muster
verwendet werden, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese zu einer
Erweiterung der bereits vorhandenen Inhalte beitragen.
Möchte man die musikalische Umsetzung den Schülerinnen auch gleich zu Beginn frei
überlassen, könnte diese als eine Art Bestandsaufnahme dienen. Bei der Vorstellung der
Instrumente könnte die Aufgabenstellung sein, dass Teilnehmende unterschiedliche
musikalische Muster mit Hilfe von verschiedenen Musikinstrumenten darstellen. Dabei
kann nicht nur der Umgang mit diesen beobachtet werden, sondern auch die Spontanität
der Schülerinnen in Hinblick auf musikalische Umsetzungen.
An die Ergebnisse könnte dann direkt mit weiterfolgenden Übungen angeknüpft
werden. Dies soll durch die Lehrperson geleitet, aber unbewusst für die Schülerinnen in
die darauffolgenden Aufgaben integriert, oder gleich im Anschluss an die
Aufwärmübung thematisiert werden, wobei die Kategorisierung des Gespielten auch
83
beobachtet werden kann. In anderen Worten, es kann beim Sprechen über produzierte
musikalische Muster erkannt werden, ob die Schülerinnen das Gespielte benennen und
einordnen können oder nicht. Ist eine Beschreibung anhand von musikalischen
Parametern wie Rhythmus oder Melodie möglich, ist anzunehmen, dass diese über
bereits klar vordefinierte Kategorien verfügen. Können Schülerinnen ihre musikalischen
Erfindungen nicht benennen, könnte das auf das Fehlen von gespeicherten Mustern oder
auf zu wenige strukturelle Verknüpfungen im Gehirn, anhand derer das Produzierte
eingeordnet wird, zurückgeführt werden. Je nachdem, wie profund die musikalische
Umsetzung klingt, könnte die Schwierigkeit beim Benennen auch auf einen
hochkreativen Prozess zurückgeführt werden, bei welchem musikproduzierende
Vorgänge vollständig unbewusst ablaufen und „von selbst kommen“. Es ist durchaus
anzumerken, dass diese Prozesse von außen oft sehr schwer zu definieren sind. Ist die
Lehrperson allerdings mit ihren Schülerinnen vertraut, kann diese die Hintergründe der
kreativen Vorgänge oft gut einschätzen.
Der Fokus bei beiden Übungen liegt nicht unbedingt auf den Bewegungen, obwohl
diese auch als körperliche Aufwärmübungen gesehen werden können. Schülerinnen
müssen dabei aufstehen und die Klassenraumsituation wird verändert. Wichtig dabei ist
die Kommunikation, die auf unterschiedlichen Ebenen stattfinden kann. Teilnehmende
verständigen sich dabei nonverbal und mit musikalischen Mitteln in kleineren Gruppen,
aber auch in der Großgruppe. Kleinste Reaktionen können dabei beachtet und selbst in
Musik umgesetzt werden. Das Reagieren auf andere ist dabei von entscheidender
Bedeutung, was eine konstante Aufmerksamkeit voraussetzt. Es geht dabei um das
gemeinsame Spielen und das gemeinsame Achtgeben, dass sich andere nicht verletzen
und den richtigen Weg durch das Klassenzimmer finden.
Es kann durchaus improvisatorisch gestaltet werden, wenn die Schülerinnen nicht
körperlich aufgewärmt sind, oder keine Kommunikationsübungen zuvor gemacht
wurden. Wenn die Teilnehmenden allerdings noch keine Erfahrungen mit Improvisieren
und kreativem oder freiem Gestalten haben, sind die beschriebenen Lockerungsübungen
durchaus von Vorteil, da sich die Teilnehmenden vorher auf die Situationen einstellen
können. Der Auslöser für Stresssituationen kann oft auf das Unwohlsein im
Klassengefüge zurückgeführt werden, da emotionale Verspannung die kreativen
Prozesse hemmen kann und die Schülerinnen in Folge dessen oft nicht ihr Potenzial
ausschöpfen und zeigen können. Die Übungen sollen zur Aktivierung der
84
Aufmerksamkeit in Richtung Kommunikation und Vertrauen zueinander beitragen. Die
freien musikalischen Gestaltungsformen können als Aufwärmübungen für weitere
Aufgaben genutzt werden.
2.2.2 Kategoriale Phase
Die Übungen, die dieser Phase zugeteilt sind, sollen zur Ergänzung und Erweiterung
des bereits gespeicherten Wissens dienen. Wie zu Beginn erwähnt wurde, hat jedes
Individuum anhand seiner eigenen Erfahrungen musikalische Inhalte gespeichert, auf
welche aber oft nicht bewusst zugegriffen werden kann. Anzunehmen ist, dass nicht
bewusst abrufbare musikalische Kenntnisse eher anhand emotionaler Eindrücke zutage
treten, da die emotionale Kopplung eine deutlichere und somit zugänglichere
Speicherung mit sich ziehen kann. Daher wäre es in dieser Phase der Vorbereitung
angebracht, dass Übungen mit bildlichen oder sprachlichen Inhalten mit stark
emotionalen Färbungen verbunden werden, um so zu einem späteren Zeitpunkt an
bereits existierendes Wissen anknüpfen zu können. Im Folgenden wird demnach auf
unterschiedliche musikalische Kategorien170 eingegangen, eingebettet in verschiedene
freiere, aber auch fix vorgegebene Übungen, um den Schülerinnen einen
Wirkungsrahmen mit bewusst zugänglichen Inhalten zur Verfügung zu stellen. An
dieser Stelle ist nochmals zu erwähnen, dass jedes Individuum musikalische Eindrücke
unterschiedlich verarbeitet und speichert und die damit verbundenen neuronalen
Prozesse noch nicht vollständig erklärt werden können. Die folgenden Aufgaben sollen
deshalb als ein Versuch improvisatorisches Gestalten vorzubereiten, gesehen werden.
Übung I: Musik und Sprache
Die Tatsache, dass Musik Emotionen nicht nur hervorrufen, sondern auch darstellen
kann, ist Thema der folgenden Übung. Schülerinnen werden gefragt, welche Gefühle sie
beim Hören von Musik schon empfunden haben. Die verschiedenen Ideen werden an
der Tafel gesammelt und in Gruppen zusammengefasst, wie zum Beispiel: Ärger,
Freude, Traurigkeit. Jede Schülerin darf sich ein Instrument aussuchen, auf welchem
dann von der Lehrperson präsentierte Rhythmen, passend zu jeder Kategorie, gespielt
werden. Diese sollten gut merkbar und klar voneinander zu unterscheiden sein, da sie
durch mehrfaches Wiederholen auswendig gespielt werden müssen. Je nach
170
Musikalische Kategorien beziehen sich in diesem Zusammenhang unter anderem auf rhythmische,
melodische und dynamische Parameter.
85
Aufnahmefähigkeit der Teilnehmenden kann die Anzahl der Kategorien und Rhythmen
verkleinert oder vergrößert werden. Anschließend werden die Schülerinnen in
Zweiergruppen geteilt mit der Aufgabe, sich die erlernten Rhythmen mit
unterschiedlicher Dynamik vorzuspielen und gegenseitig erraten zu lassen. Wichtig ist,
dass die Gruppen zwei verschiedene Instrumente enthalten. Es soll dabei besonders auf
einen möglichen Emotionsunterschied geachtet werden, der je nach Instrument, Spielart,
Rhythmus und Dynamik entstehen kann. Nachdem unterschiedliche Variationen
ausprobiert wurden, soll sich jedes Gruppenmitglied für eine unterschiedliche
Darstellung der Inhalte entscheiden. Die Instrumente werden in den Kleingruppen
gewechselt und die Partnerinnen sollen das Gespielte der jeweils anderen versuchen
exakt zu wiederholen. Um die dynamischen Präferenzen zu benennen, kann die
Bezeichnung dieser auf der Tafel zu den unterschiedlichen Kategorien hinzugefügt
werden. Als Abschluss kann eine Art musikalischer Dialog initiiert werden, indem die
musikalischen Einheiten abwechselnd von den Schülerinnen gespielt werden.
Der Sinn dieser Übung besteht darin, unterschiedliche Klänge auf verschiedenen
Instrumenten zu erzeugen, mit der Intention, emotionale Eindrücke darzustellen.
Inhaltlich soll vermittelt werden, dass Musik auch als eine Art Sprache angesehen
werden kann und folglich eine kreative Orientierung an sprachlichen Inhalten beim
musikalischen Gestalten von großem Vorteil sein kann. Dieses Aufzeigen der
Verbindung von Musik und Sprache ist besonders wichtig, da dadurch den Schülerinnen
der Eindruck vermittelt werden kann, dass musikalisches Gestalten für jede zugänglich
und umsetzbar ist. Das Erzählen und Darstellen von Ereignissen ist musikalisch wie
sprachlich möglich und nicht auf eine bestimmte Gruppe von Personen beschränkt.
Durch das Aufzeigen verschiedener Gestaltungsformen sollen den Schülerinnen in
bewusster Weise musikalische Werkzeuge zur Verfügung gestellt werden, damit sie
Eindrücke nicht nur sprachlich darstellen können. Wichtig zu beachten ist, dass dieses
den Teilnehmenden durch die Improvisationsleiterin aktiv bewusst gemacht werden
sollte. Denn ist es selbstverständlich, dass jede ihre eigenen Ideen auch ohne
ausführliche Vorbildung auf eine bestimmte Art und Weise musikalisch umsetzen kann
und der Kreativität somit keine Grenzen gesetzt sind.
Formal kann in dieser Übung auf das Notieren von Rhythmen sowie das Benennen von
dynamischen Parametern eingegangen werden. Zusätzlich erfordert diese genaues
Zuhören und das Erfassen von unterschiedlichen klanglichen Nuancen, da das Gespielte
86
von den Partnerinnen wiederholt werden soll. Das Verbinden von emotionalen Inhalten
mit rhythmischen und dynamischen Parametern bedingt Vorkenntnisse, die bei den
Teilnehmenden hervorgerufen werden müssen, um die Übung zu meistern. Durch das
anfängliche Auswendiglernen der Rhythmen soll dabei an die bekannten emotionalen
Inhalte angeknüpft werden, um die Integrierung der musikalischen Elemente zu
begünstigen und somit eine weit gefächerte Verknüpfung zu fördern. Auch wenn diese
rhythmischen Elemente zu einem späteren Zeitpunkt nicht exakt wiedergegeben
werden, kann angenommen werden, dass sie durchaus zu einer Strukturierung im
neuronalen
System
beitragen
können
und
Teil
der
Assimilations-
und
Akkommodationsprozesse werden. Somit können neue rhythmische Reize schneller
analysiert und integriert werden.
Eine mögliche Erweiterung dieser Übung kann durch das Hinzufügen von Tonhöhen
erfolgen. Die rhythmischen Darstellungen der Gefühlskategorien können durch Töne
ergänzt und somit zu kurzen melodischen Phrasen erweitert werden. Das
Zusammenstellen kann dabei einerseits von der Lehrperson gemacht werden, wodurch
die Schülerinnen eventuell einen Einblick in kreative Vorgänge erlangen können, oder
andererseits von den Schülerinnen selbst, was schon als ein Element im
improvisatorischen Gestaltungsprozess beschrieben werden kann. Wenn als Einführung
eine Variante vorgegeben wird, wäre eine Beschränkung auf einen kleinen Tonraum
ratsam. Die tatsächliche Anzahl von unterschiedlichen Tönen ist wiederum individuell
abhängig, sollte aber nicht die 7 +/-2 Elemente Regel 171 überschreiten. Bei der
anschließenden Gruppenphase sollte die Tonraumreduzierung beibehalten werden,
sodass eine Verbindung zu den einleitenden Kategoriedarstellungen hergestellt werden
kann. Möchte man den Schwierigkeitsgrad dabei erweitern, kann man den Partnern bei
der Gruppenübung unterschiedliche Instrumente zur Verfügung stellen. Das Imitieren
der gespielten Melodiefrequenzen kann sich dadurch als noch komplexer erweisen.
Generell sollte bedacht werden, dass die Verbindung von Tonhöhen und Rhythmen für
musikalische Anfänger eine entscheidend größere Schwierigkeitsstufe bedeutet, als für
diejenigen mit musikalischem Vorwissen. Umso sinnvoller ist es daher, dieses auch im
Vorhinein zu üben, bevor freiere improvisatorische Aufgaben gestellt werden. Darauf
aufbauend können die Übungen und das Ausprobieren in den Kleingruppen als eine Art
der freien Kreativitätsphase betrachtet werden. Wird diese Aufgabe gut geleitet, kann
171
Vgl. Spitzer (2002), S. 117.
87
die übergeordnete Grundstruktur bestehend aus sich abwechselnden vorgegebenen und
freien Phasen von sinnvollem Nutzen sein.
Übung II: Vertonen von Bildern
Das musikalische Darstellen von Emotionen, wie es in der vorigen Übung beschrieben
wurde, ist eine Möglichkeit aktiv kreativ zu werden. Denn es ist anzunehmen, dass
Schülerinnen zu Beginn gewisse Anhaltspunkte benötigen, um musikalisch umsetzbare
Ideen aktiv entstehen lassen zu können. Dies lässt sich unter anderem anhand des
allgemeinen Kreativitätsprozesses ableiten: Ein gewisser Bezugsrahmen muss
vorhanden, sodass das menschliche Verarbeitungssystem überhaupt neue Inhalte
produzieren kann. In diesem Sinne ist eine weitere Möglichkeit Anhaltspunkte zur
Verfügung zu stellen das musikalische Interpretieren von visuellen Eindrücken. Kurz
gesagt, können sich Schülerinnen beim Gestaltungsprozess nicht nur an der Darstellung
von Emotionen orientieren, sondern auch an verschiedenen Bildern und Eindrücken aus
ihrer Umgebung.
Die
passende
Übung
dazu
beinhaltet
unterschiedliche
Bilder,
welche
zusammenhängende Elemente darstellen sollten. Eine Möglichkeit wären Darstellungen
von verschiedenen Tieren (z. B. Schlangen, Tiger, Spinnen) und mehreren
Lebensräumen (z. B. Dschungel, Wüste, Meer). Schülerinnen werden in Zweiergruppen
eingeteilt und dürfen sich ein Instrument aussuchen und zu Beginn probieren, wie man
die Bilder musikalisch und pantomimisch darstellen könnte. Während eine
Teilnehmerin das Bild vertont, soll die andere dieses nur anhand von Gesten
beschreiben. Danach wird gewechselt, sodass jede beides geübt hat. Anschließend stellt
sich die ganze Gruppe im Kreis mit den Instrumenten auf. Die Spielleiterin wählt das
erste Tierbild aus und fordert mit Blickkontakt eine Gruppe auf, dieses mit dem
ausgesuchten Instrument gepaart mit Pantomime darzustellen. Ohne zu unterbrechen,
soll durch Blicke das „Spielrecht“ weitergegeben werden und die nächste Gruppe den
passenden Lebensraum dazu darstellen. Die Spielleiterin gibt das nächste Tier vor,
während die vorige Gruppe die Nächsten mit Blicken auszuwählen hat. Es sollten dabei
alle Bilder vertont und so viele Versionen wie möglich gehört werden. Dabei wäre ein
durchgehendes Metrum von Vorteil, welches durch die Lehrperson zur Verfügung
gestellt werden kann. Als Abschluss oder Erweiterung kann anschließend ein Ratespiel
folgen, indem Schülerinnen ein Tier und einen dafür untypischen Lebensraum vertonen
und die andern das Dargestellte erraten müssen.
88
Bei dieser freieren Übung sind bereits improvisatorische Elemente enthalten. Die
Begründung, warum sie als Vorbereitung für weitere Gestaltungsprozesse verwendet
werden kann, bezieht sich auf die verschiedenen musikalischen und nicht-musikalischen
Parameter, die darin eingebettet sind. Neben der körperlichen Aufwärmung durch die
Pantomime, werden erste Versuche von freiem kreativem Gestalten gefördert. Durch die
Darstellung von bekannten Eindrücken kann ein neuer Zugang zur Musik geschaffen
werden, was als Voraussetzung für komplexere Improvisationsprozesse gesehen werden
kann. Als Orientierungshilfe dient dabei das Vertonen von Tieren, aus dem Grund, dass
Schülerinnen sowohl deren Geräusche als auch deren Gangarten darstellen können.
Dadurch sollen ihnen kreative Anhaltspunkte zur Verfügung gestellt werden. In diesem
Sinne sind die darin enthaltenen kurzen improvisatorischen Phasen noch von außen
geleitet, was ein Eingreifen vonseiten der Lehrperson zulässt. Zu Beginn ist die Leitung
von außen noch entscheidend, da Schülerinnen nicht überfordert werden sollen. Das
Darstellen von bekannten Inhalten ermöglicht demnach eine Balance zwischen schon
Bekanntem und freien kreativen Gestaltungsformen.
Die Koordination mit pantomimischen Elementen soll unterstützend für die
Speicherung der kreativen Einfälle dienen. Bewegung bringt Auflockerung und
Abwechslung, was für die Aufmerksamkeit und Motivation von wichtiger Bedeutung
ist. Zusätzlich wird das Gespielte mit unterschiedlichen Eindrücken in Verbindung
gebracht und deshalb auch in verschiedenen Gehirnarealen verarbeitet. Musik wird mit
Bewegung vernetzt, was zu einer besseren Speicherungs- und Abrufleistung beitragen
kann. Dieses ist von entscheidender Bedeutung, da bei freiem improvisatorischem
Musizieren auf das Erlernte zurückgegriffen wird. Je vielfältiger die Vorübungen also
gestaltet sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die geübten Inhalte sinnvoll
und zugänglich gespeichert werden, und desto kreativer kann jemand bei
anschließenden Übungen agieren. Gelernt wird dabei auch von der Kreativität anderer:
Durch das Vorspielen der Vertonungen werden die musikalischen Umsetzungen der
anderen auch aufgenommen und analysiert. Soll die Speicherung dieser noch gefördert
werden, kann man die Schülerinnen das Gespielte der anderen noch wiederholen lassen.
Durch das Ergänzen eines Metrums sollen sich die Teilnehmenden auf einen
gemeinsamen Grundrhythmus einstellen können. Um dieses zu Beginn zu erleichtern,
können die einzelnen musikalischen Darstellungen der Tiere auch in der Großgruppe
besprochen und geübt werden. Das Ziel sollte sein, ein durchgehendes Metrum durch
89
den
ganzen
Spielprozess
beizubehalten.
Obwohl
dieses
bei
freien
Improvisationsübungen nicht von allzu wichtiger Bedeutung zu sein scheint, kann es
doch als ein wichtiger Bestandteil des tonalen Improvisierens gesehen werden. Denn für
Letzteres sollte eine musikalische Strukturiertheit geschaffen werden, damit die
entstehenden kreativen Einfälle sinngemäß wiederholt und behalten werden können.
Zusätzlich
fördert
das
Üben
eines
gemeinsamen
Metrums
das
Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Gruppe. Deshalb könnten gemeinsame
rhythmische Übungen in jeder Aufwärmphase verwendet und somit einleitend für jede
improvisatorische Tätigkeit integriert werden.
Übung III: Gemeinsam musizieren
Allgemeine Übungen zur Förderung des Vertrauens in einer Gruppe wurden in der
Aufwärmphase beschrieben. Darauf aufbauend sollte auch musikalisch ein Gefühl der
Zusammengehörigkeit entstehen, sodass Musizierende lernen, dass auch beim kreativen
Prozess aufeinander Rücksicht genommen werden muss. Das kollektive „Spielen“ von
Pausen kann dabei als eine Möglichkeit gesehen werden, dieses zu erreichen. Die
folgende Aufgabe bezieht sich auf das Musizieren von Pausen und kann durch ihre
Einfachheit an verschiedene Situationen und Klangstücke angepasst werden.
Schülerinnen dürfen sich Instrumente aussuchen, die sie kurz ausprobieren sollen. Die
Gruppe soll sich anschließend in einem Kreis zusammenfinden und gemeinsam ein
Klangstück gestalten. Ohne zu sprechen, beginnt jemand zu spielen, bis eine andere
einsetzt. Hat man das Gefühl, dass die Vorige ihren Gedanken musikalisch
abgeschlossen hat, kann auch eine Pause gelassen werden. Rücksicht sollte dabei auf
Dynamik und Spielart genommen werden. Unabhängig von der Länge dieses Stückes,
sollte das Ziel ein gemeinsamer Abschluss sein. Im Nachhinein wird besprochen, ob die
Schülerinnen mit dem Ergebnis zufrieden sind und gemeinsame Pausen möglich sind.
Die Übung kann danach beliebig oft wiederholt werden.172
In dieser einfachen Ausführung kann die beschriebene Übung als Einstimmung auf
gemeinsames Gestalten verwendet werden. Die Aufmerksamkeit der Gruppenmitglieder
ist dabei von entscheidender Bedeutung, da sonst das Spielen von Pausen nicht möglich
wäre. Es soll dabei kein wahlloses und unkoordiniertes Klangexperiment entstehen,
sondern ein in gewisser Weise geleitetes Musikstück. Zu Beginn wird es durchaus sehr
172
Für eine Erweiterung dieser Übung siehe Schwabe (1992), S. 42f.
90
schwierig sein, Pausen gemeinsam durchzuhalten, was durch eine Lenkung vonseiten
der Lehrperson verbessert werden könnte. Es kann im Vorhinein auch die Anzahl der zu
spielenden Pausen ausgemacht werden, sodass die Schülerinnen verschiedene
Anhaltspunkte in dieser doch sehr freien Aufgabe haben. Der Vorteil dieser Übung kann
durchaus in ihrer Einfachheit gesehen werden, denn die Reduktion von verschiedenen
Aufgabenstellungen in einer Übung kann auch zu einer besseren Konzentration
beitragen. Zu Beginn kann es durchaus von Vorteil sein, wenn die Schülerinnen ihre
Aufmerksamkeit nur auf ein bis zwei Elemente richten müssen, vor allem wenn die
Instrumente, die sie dafür verwenden, noch unbekannt waren. Sind diese allerdings
schon bekannt, kann die Übung auch als Zwischenaufgabe verwendet werden. Wird
darauf geachtet, dass sich die Schülerinnen ruhig in diese Übung einfühlen können,
kann dadurch deren Aufmerksamkeit wieder auf die Gruppe und den Unterricht gelenkt
werden. Das „Fühlen“ der Pausen muss dabei genauso geübt werden, wie der Umgang
mit Instrumenten und beispielweise das Spielen von Rhythmen.
Möchte man diese Übung etwas weniger frei gestalten, kann jedem Instrument wieder
ein unterschiedlicher Rhythmus und/oder können Dynamikunterschiede zugeteilt
werden. In diesem Fall würde man den Schülerinnen wieder gewisse Vorgaben zur
Verfügung stellen, sodass sie diese als Anhaltspunkt verwenden können. Vergleichbar
mit den vorigen Übungen kann diese demnach als Einführung in den Umgang mit
Instrumenten sowie mit der Umsetzung von verschiedenen musikalischen Parametern
verwendet werden. Abhängig vom Vorwissen der Schülerinnen und deren
Aufmerksamkeit können mehr oder weniger Zwischenaufgaben integriert werden.
Als Vorbereitung auf vollkommen freie Gestaltungsaufgaben kann diese Übung mit
vorgegebenem Tonraum verwendet werden, und zwar als Ergänzung zu einem fixen
Musikstück. In diesem Zusammenhang ist das Singen von Liedern im Unterricht auch
mit improvisatorischem Gestalten in Verbindung zu bringen. Jedes fix vorgegebene
Musikstück kann als Anfangspunkt einer Improvisation verwendet werden. Als
Einleitung sollte der Übergang von diesem Stück in die Improvisation bewusst geübt
werden, was durch das Anhängen einer solchen Übung möglich wäre. Dabei könnte
man auf das tonale Material eines im Unterricht behandelten Liedes zurückgreifen und
dieses als Vorgabe für das zu Spielende in der Übung festlegen. Wie die genaue
Umsetzung strukturiert sein könnte, wird in den Übungen der letzten Phase beschrieben.
91
Übung IV: Gleichzeitiges Hören und Umsetzen
Improvisation im schulischen Raum ist nur schwer von Gruppenaktivitäten zu trennen.
Obwohl es durchaus von wichtiger Bedeutung ist, dass sich die Schülerinnen auch
individuell, zum Beispiel in einem Solo, zeigen können, sollte dieses doch immer in
eine Gruppenübung eingebunden sein, da der Rest der Klasse auch miteinbezogen
werden sollte. Kommt es zu gleichzeitigem Spielen, müssen die Teilnehmenden nicht
nur in der Lage sein, ihr Instrument zu beherrschen und rhythmisch wie melodisch und
dynamisch reagieren zu können, sondern simultan auch auf andere in musikalischer
Hinsicht Rücksicht zu nehmen. Bei der ersten vorgestellten Übung wurde das Reagieren
im Sinne von Zuhören und Nachspielen geübt. Um die Hörkompetenz noch um eine
Stufe zu erweitern, sollten Schülerinnen in der Lage sein, aufzunehmen, was die
anderen zur Verfügung stellen und dabei gleichzeitig die eigenen Ideen umsetzen. Die
daraus resultierende Mehrstimmigkeit erfordert höchste Konzentration bei den
Umsetzenden, wenn nicht nur mit der eigenen Stimme kreativ musiziert wird, sondern
in Verbindung zu anderen gleichzeitig eine Interaktion entstehen soll. Um diese
Kompetenz zu erlangen, muss die Benennung von anderen musikalischen Parametern
wie Rhythmus oder Dynamik noch nicht zur Gänze erlernt sein und kann deshalb auch
bei Anfängern bald in den Musikunterricht miteinbezogen werden.
Eine hervorragende Möglichkeit der Einführung in das gleichzeitige Hören und
Produzieren von Musik ohne dabei bewusst auf die erwähnten Parameter achten zu
müssen, kann das Singen eines Kanons sein.173 Obwohl es durchaus von Vorteil ist,
wenn Schülerinnen das musikalische Reagieren aufeinander in einfacheren Aufgaben
geübt haben, kann das Spielen oder Singen eines nicht allzu schwierigen Kanons den
gleichen Zweck erfüllen. Möchte man gleiche Voraussetzungen schaffen, sollte zu
Beginn der Fokus auf dem Singen liegen, da Schülerinnen mit Instrumentalausbildung
beim Spielen einen großen Vorteil gegenüber denjenigen hätten, die noch keine
Erfahrungen vorweisen können. Besonders bei Aufgaben, die etwas essentiell Neues
enthalten, wie in diesem Fall gleichzeitiges Singen und Reagieren (Hören) auf andere,
sollten ideale Voraussetzungen für die Schülerinnen in Hinblick auf von außen
beeinflussbare
Umstände
geschaffen
werden.
Obwohl
Unterschiede
in
der
musikalischen Vorerfahrung für manche keine Bedeutung haben, wird es doch als ein
173
Die Idee zur Verwendung von Kanons in Zusammenhang mit der vorbereitenden Förderung von
improvisatorischem Gestalten (Zurverfügungstellung musikalischen Materials) stammt von Bernhard
Gritsch, 2015.
92
allgemeines Grundbedürfnis angesehen, sich in Beziehung zu anderen zu setzen. In
Bezug
auf
persönliche
Beobachtungen
könnte
der
hemmende
Faktor
des
minderwertigeren Selbstkonzepts im Vergleich zu andern minimiert werden, wenn die
Umsetzung eines Kanons zu Beginn stimmlich erfolgt. Auch wenn es durchaus
Unterschiede in der stimmlichen Vorbildung zu beobachten gibt, scheint dies
Schülerinnen weniger zu stören, als wenn diese von instrumentaler Natur sind.
In Hinblick auf die strukturelle Planung kann eine Aufwärmphase nicht nur zur
körperlichen und stimmlichen Aktivierung beitragen, sondern gleichzeitig auch freiere
Sequenzen beinhalten. In Bezug auf den Inhalt des Kanons können dabei kurze
sprachliche
Improvisationsübungen,
eventuell
mit
der
Verwendung
von
Perkussionsinstrumenten als Untermalung, als Einstimmung auf das Folgende
verwendet werden. Eine Art der Sprachimprovisation, die bei verschiedenen Inhalten
verwendet werden kann, wäre das kreative Gestalten von Klängen und Geräuschen
anhand von relevanten Begriffen, welche entweder im Liedtext vorkommen oder
sinnbezogen assoziiert werden können. Die Instrumentalklänge können dabei
clusterartig zusammengestellt und mit den sprachlich veränderten Wörtern zu einem
Gesamteindruck zusammengefasst werden. Dieser kann anhand von Silben und daraus
entstehenden Geräuschen kreativ verändert werden. Eine zusätzliche Erweiterung kann
durch dynamische Veränderungen erzielt werden. In Verbindung mit körperlichen
Bewegungen bietet sich an, diese kurze Übung sehr frei oder aber auch durch die
Lehrperson gelenkt zu gestalten. Beim anschließenden Singen des Kanons besteht die
Möglichkeit, auf die vorherigen Eindrücke und Klänge zurückzugreifen. Dies kann als
vorgegebene Sequenz in der übergeordneten Struktur gesehen werden, in welcher
bewusste Anleitungen der Lehrperson erfolgen sollten, sodass die Schülerinnen das
Konzept der dabei entstehenden Mehrstimmigkeit auch bewusst erfassen können.
Der große Vorteil dieser Übung ist das Verbinden von verschiedenen musikalischen
Gestaltungsmöglichkeiten und deren Umsetzung in einer Gruppe, mit dem
übergeordneten Üben von aufeinander hören und gleichzeitig musizieren. Die zur
Aufwärmung gedachte kreative Sprachimprovisation kann fließend in den Kanon
übergehen und somit strukturell von einer freieren Phase zu einer vorgegebenen
Struktur führen. Vergleichbar mit den vorigen Übungen können sich die Schülerinnen
beim freieren Teil mit verschiedenen Instrumenten, Rhythmen und Dynamikarten
auseinandersetzen. Dies kann wiederum als Einleitung für das Folgende verwendet
93
werden: Abhängig vom übergeordneten Inhalt der Unterrichtsstunde kann die
Improvisationsleiterin bei diesem Teil besonders Rücksicht auf unterschiedliche
Parameter nehmen. Beim anschließenden Singen des Kanons wird nicht nur die
stimmliche Umsetzung trainiert, sondern auch das aufeinander Hören im Rahmen einer
Mehrstimmigkeit. Dies ist besonders wichtig für weiterführende improvisatorische
Übungen. Nur wenn es den Gruppenmitgliedern gelingt, gleichzeitig kreativ zu
musizieren und auf andere zu hören, kann ein homogenes Musikstück ohne
Unterbrechungen entstehen.
Das automatische Hören auf andere und das spielende Reagieren kann allerdings nicht
innerhalb von ein paar Stunden geübt werden. Deshalb sollten adäquate Aufgaben, die
dieses beinhalten, von Anfang an so gut wie möglich integriert werden. Nur durch die
Wiederholung wird es den Schülerinnen möglich sein, gleichzeitig zu spielen und
Rücksicht auf das Gespielte der anderen zu nehmen. In diesem Zusammenhang zeigt
sich die Besonderheit des Kanons: Dieser kann von Beginn an in den Musikunterricht
miteinbezogen werden, da das Schwierigkeitsniveau leicht angepasst werden kann. Zu
Beginn könnte man sich auf kürzere und leichtere Melodien beschränken, was das
Auswendiglernen begünstigen würde. Denn Singen ohne Noten ermöglicht eine bessere
Konzentration auf das Hören und Reagieren, da die Aufmerksamkeitskapazität weniger
geteilt werden muss.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass verschiedene Arten von Übungen als
Vorbereitung auf improvisatorisches Gestalten verwendet werden können. Die
Aufgaben, die in dieser Phase beschrieben wurden, beinhalten nicht nur vorgegebene
Inhalte, sondern auch freiere Aufgaben, bei welchen die Kreativität gefördert und
aktiviert werden soll. Durch diese Vielfältigkeit sollen so viele musikalische Parameter
wie möglich kennengelernt und gespeichert werden, sodass sie für die Schülerinnen
später wieder verwendet werden können. In den beschriebenen Übungen wurde
demnach unter anderem auf folgende Faktoren wertgelegt: Körperliches Aufwärmen,
Bewegungsabläufe, Metrum und Rhythmik, Dynamik, Instrumenteneinführung, Singen
und
Mehrstimmigkeit.
Diese
wurden
in
verschiedenen
Konstellationen
zusammengestellt, wobei sowohl vorgegebene Musikstücke als auch improvisatorische
Elemente ihre Verwendung finden sollten. Zusätzlich wurde auf gruppen- und
vertrauensbildende Aspekte Rücksicht genommen, welche bei Kreativitätsprozessen
von entscheidender Bedeutung sind. Wenn diese Übungen als Vorbereitung für weitere
94
Aufgaben dienen und komplexeres improvisatorisches Gestalten fördern sollen, möge
die Improvisationsleiterin neben den erwähnten Faktoren der Tatsache Beachtung
schenken, dass bekannte Inhalte vorhanden sein müssen. Als Beispiel dient die
musikalische Darstellung von sprachlichen oder bildlichen Vorgaben, welche in den
ersten beiden Übungen enthalten sind: Bereits bekannte Emotionen oder Vorstellungen
sollen mit neuen Reizen aktiv verknüpft werden, sodass Anhaltspunkte für späteres
Gestalten geschaffen werden können. Dies kann als der Kernpunkt jeder Übung aus der
kategorialen Phase gesehen werden. Bereits existierende Inhalte sollen auf
aufmerksamkeits- und motivationsfördernde Weise, was meist durch Vielfältigkeit in
der
Aufgabenstellung
erreicht
wird,
mit
neuen
musikalischen
und
für
improvisatorisches Gestalten besonders wichtigen Elementen zusammengefügt werden.
2.2.3 Improvisatorische Phase
Die Aufgabenstellungen in dieser letzten Phase sollen als mögliche Anleitungen für
improvisatorisches Gestalten gesehen werden. Die folgenden Beschreibungen können
demnach als Vorlage für weiterführende Übungen dienen und an die situativen
Umstände einer Lehr- und Lernsituation angepasst werden. Es handelt sich dabei um
Aufgaben, welche einen möglichen Beginn von freiem Musizieren im Sinne von „ohne
vorgegebene Noten etwas Neues erschaffen“ darstellen könnten. Die Übungen bestehen
deshalb nicht nur aus freien improvisatorischen Elementen, sondern beinhalten bewusst
noch Anhaltspunkte wie vorgegebene Tonräume oder Rhythmen, um den Schülerinnen
einen fließenden Einstieg in das freie kreative Gestalten zu ermöglichen.
Der Unterrichtsvorbereitung sollte in diesem Zusammenhang besondere Beachtung
geschenkt werden. Das Klassenklima und die persönlichen Interessen sollten, wenn
möglich, im Vorhinein bekannt sein, sodass die Lehrperson adäquate Bedingungen für
kreative
Prozesse
schaffen
kann.
Wie
bereits
erwähnt
wurde,
spielt
das
Anforderungsniveau der Übungen in Hinblick auf hemmende Reaktionen eine wichtige
Rolle. Zusätzlich ist sicherzustellen, dass sich die Schülerinnen so gut wie möglich in
der schulischen Umgebung entfalten können und keine Angst haben müssen, sich vor
anderen zu blamieren. Neben dem Fördern einer sicheren Umgebung durch
Vertrauensübungen können auch motivationale Faktoren Stress- und Angstreaktionen
vorbeugen. Sind die zu erfüllenden Übungen so geplant, dass sie das Interesse der
Teilnehmenden erwecken und diese neugierig machen, ist die Wahrscheinlichkeit einer
Dopaminausschüttung sehr hoch. Das limbische System generiert somit positive
95
Emotionen, welche großen Einfluss auf das motivationale Verhalten ausüben, indem
unter anderem die Aktivierung der Amygdala und somit eine Kopplung von situativen
Bedingungen an Angstreaktionen verhindert wird. Die Aufgabenstellungen sind
demnach so gewählt, dass diese gut an die vorherrschenden Bedingungen angepasst
werden können und die Möglichkeit von Anfang an besteht, die Interessen der
Teilnehmenden miteinzubeziehen.
Übung I: Vom Lied zur Improvisation
In der folgenden Übung wird Bezug genommen auf eine bereits beschriebene
Erweiterungsmöglichkeit der dritten Aufgabe aus der vorigen Phase. Dabei soll ein
Lied, auch in Form eines Kanons, als musikalische Vorlage dienen. Nachdem dieses
erarbeitet wurde, wird ein bestimmtes Tonmaterial in Form einer kurzen Phrase oder
auch nur eines Rhythmus entnommen und gemeinsam für die anschließende
Improvisationsübung festgelegt. Dieses Element kann dabei gesungen oder gespielt
werden und als Vorbereitung in der Gruppe geübt werden. Anschließend soll das Lied
nochmals musiziert werden, allerdings in einem Klangteppich enden. Jede darf ein
Geräusch mit ihrem Instrument oder der Stimme erzeugen, welches dann zu einem
gemeinsamen Ton aus dem Lied zusammenfinden soll. Aus diesem darf dann eine
zuvor festgelegte Teilnehmerin mit der Improvisation beginnen, indem das ausgewählte
Tonmaterial gespielt wird. Nacheinander können die anderen dann einsetzen. Pausen,
sowie spontane Veränderungen innerhalb des vorgegebenen Tonraumes sind erlaubt
und erwünscht. Hat man das Gefühl, dass sich jeder verwirklichen konnte, sollte
wiederum ein Klangteppich aus unterschiedlichen Geräuschen entstehen, welcher als
Abschluss in einem gemeinsamen Ton zu enden hat.
Wie die Umsetzung der ausgesuchten Phrase zu erfolgen hat, sollte im Vorhinein
besprochen werden. Vereinfacht könnte dieses dadurch werden, dass die aus dem Lied
entnommene Ton- oder Rhythmussequenz im Vorhinein schon improvisatorisch
verändert werden kann, sodass die Schülerinnen in dem Moment der gemeinsamen
Improvisation auf die geübten Phrasen zurückgreifen können. Zu Beginn kann die
Konzentration dabei nur auf eine rhythmische Phrase, die auf unterschiedlichen
Tonhöhen wiederholt werden soll, gesetzt werden. Möchte man dies erweitern, nimmt
man mehrere rhythmische Phrasen aus dem Lied und lässt anhand von diesen eine
Improvisation beginnen. Die Spielweise, ob mehrstimmig oder einstimmig, sollte vom
96
ausgesuchten Tonmaterial und dem daraus entstehenden Klangerlebnis abhängig
gemacht werden.
Der Sinn dieser Übung soll in der Erkenntnis liegen, dass improvisatorisches Gestalten
auch an bereits existierende Stücke angelehnt werden kann. Als Einführung kann dieses
eine ideale Möglichkeit sein, mit dem musikalischen Inhalt des Stückes noch
weiterzuarbeiten und daraus etwas Neues zu schaffen. Schülerinnen können sich dabei
an etwas Vorgegebenem orientieren und gleichzeitig individuell kreativ werden. Die
Improvisation kann dabei einstimmig oder mehrstimmig vollzogen werden, abhängig
von den Vorgaben der Lehrperson. Für Letzteres ist das Üben eines Kanons von großem
Vorteil, da dieser als Vorbereitung für gleichzeitiges Spielen und Hören fungieren kann.
Sollten die Schülerinnen Schwierigkeiten haben, die musikalischen Phrasen sinnvoll
umzusetzen, kann eine Verbindung zu anderen Übungen, in welchen sprachliche oder
visuelle Inhalte als Vorlage dienen, hergestellt werden. Die Darstellung von Emotionen
oder Bildern kann es ermöglichen, dass Schülerinnen die musikalischen Inhalte für sich
selbst sinnvoll interpretieren und somit auch strukturierter musizieren können. Denn
umso geordneter die Reize von außen im System in eine Struktur gebracht werden,
umso nachhaltiger werden die Inhalte gespeichert und können später wieder abgerufen
werden. Auch wenn diese nach dem einmaligen Üben nicht bewusst zugänglich sind,
wurden dadurch neurologische Verbindungen geschaffen, welche als Grundlage für
weiterführende Prozesse gesehen werden können. Es wird angenommen, dass
Kreativitätsvorgänge unter anderem auch auf diese geschaffenen Strukturen
zurückgreifen, auch wenn die durch Wiederholung noch nicht selbstbestimmt
zugänglich gemacht wurden. 174 Da improvisatorisches Gestalten eng mit kreativen
Prozessen verknüpft zu sein scheint, ist dieses von besonders wichtiger Bedeutung für
komplexere improvisatorische Tätigkeiten. Denn das Ziel sollte sein, vollkommen
selbstständiges musikalisches Gestalten zu ermöglichen.
Die Entstehung von musikalischen Umsetzungsschwierigkeiten hat ihren Ursprung in
unterschiedlichen Faktoren, welche von der Improvisationsleiterin bereits im Vorhinein
in Betracht gezogen werden müssen. Löst die beschriebene Aufgabenstellung
offensichtliche Überforderung in der Gruppe aus, kann man sich zuerst mehr auf
vorbereitende Übungen mit kurzen improvisatorischen Elementen beziehen, bevor man
diese Übung nochmals wiederholen möchte. Bei Unterforderung kann das
174
Vgl. Jäncke (2009), S. 322f.
97
Improvisationselement freier gestaltet werden, indem man den Schülerinnen nicht nur
kurze Phrasen als Vorgabe gibt, sondern nur einen angepassten Tonraum, in welchem
sie sich frei mit individuell rhythmischen Umsetzungsmöglichkeiten bewegen können.
Entscheidend ist, dass genügend, aber nicht zu viele, Reize von außen vorhanden sind,
sodass die Aufmerksamkeits- und Motivationsspanne aufrechterhalten werden kann. In
diesem Zusammenhang ist der große Vorteil dieser Übung, dass das Ausgangslied frei
gewählt und somit an die Interessen der Schülerinnen angepasst werden kann. Dies ist
besonders essentiell für den motivationalen Aspekt: Nur wenn die Teilnehmenden von
einem intrinsischen Motivationsantrieb gelenkt werden, kann das musikalische Ergebnis
optimal gestaltet und erfahren werden.
Übung II: Weiterführung einer Melodie
Das aufeinander Hören und gemeinsame Musizieren können in dieser Übung als
Kernpunkt betrachtet werden. Zu diesem Zweck wird den Teilnehmenden ein
bestimmter Tonraum vorgegeben. Zu Beginn sollte dieser eher kleiner angesetzt
werden, mit drei unterschiedlichen, aber aufeinander folgenden Tönen, was im Laufe
der Zeit erhöht und demnach an das Können der Schülerinnen angepasst werden sollte.
Die Vorgabe eines durchgehenden Metrums vonseiten der Improvisationsleiterin ist von
Vorteil. Zu Beginn kann eine kurze gemeinsame Phrase geübt werden, die im Laufe der
Improvisation als Anhaltspunkt und Refrain verwendet werden kann. Die Improvisation
beginnt, wenn die Leiterin das Metrum vorgibt und alle gemeinsam die erste Phrase
spielen. Sitzt man dabei im Kreis, kann das „Spielrecht“ nacheinander weitergegeben
werden. Möchte man dieses strukturierter gestalten, darf jede eine bestimmte
Taktanzahl spielen, bevor die nächste fortsetzen darf. Das Ziel sollte sein, dass jede mit
den vorher ausgemachten Tönen eigenständige musikalische Phrasen kreiert, welche
durch den nächsten weitergeführt werden sollen. Pausen sind dabei durchaus erlaubt,
das Metrum sollte allerdings nicht unterbrochen werden. Die Weiterführung einer
musikalischen Phrase sollte von außen erkennbar sein. Imitationen sind durchaus
erlaubt. Möchte man die Anforderung zusätzlich erhöhen, dürfen die Schülerinnen nur
mit dem zuletzt gespielten Ton fortsetzen. Abhängig von der Anzahl der
Teilnehmerinnen und der Tempowahl können mehrere Runden mit unterschiedlichen
bild- oder emotionsbezogenen (traurig oder heiter spielen, ein Tier nachmachen, etc.)
Vorgaben gespielt werden. Als Abschluss jeder Runde kann der zu Anfang geübte
Refrain gemeinsam gespielt werden.
98
Diese Art von Improvisationsübung ist durchaus bekannt und häufig verbreitet. Der
große Vorteil davon ist, dass sie durch die Vorgaben vonseiten der Lehrperson adäquat
an die Fähigkeiten der Teilnehmenden und zugleich den Lerninhalt angepasst werden
kann. Als Bespiel dient die Ergänzung, dass Schülerinnen nur mit einem vorgegebenen
Ton weiterspielen dürfen: Dadurch wird nicht nur die inhaltliche Fortsetzung der zuvor
gespielten Phrase verlangt, sondern auch die Konzentration auf die musikalische
Umsetzung gelenkt. Teilnehmende müssen nicht nur auf das Dargestellte hören,
sondern auch auf die Art, wie dies musiziert wird. Es ist anzunehmen, dass das Finden
des richtigen Tons zu Beginn sicherlich nicht allzu einfach sein wird. Beschränkt man
die Auswahl der verschiedenen Töne allerdings auf eine kleine Gruppe, kann dies für
die Schülerinnen vereinfacht werden. Möchte man die benötigte Aufmerksamkeit noch
erhöhen, kann die Vorgabe einer zu spielenden Taktanzahl weggelassen werden. Wenn
Improvisationsteilnehmerinnen nicht wissen, wie lange ihre Vorgängerin spielen wird,
muss die Konzentration auf das Gespielte sehr groß sein, sodass sie adäquat fortsetzen
können. Das Spielen eines Refrains kann dazu auch beitragen: Wird vorher nicht
ausgemacht, wann dieser gespielt wird, kann jede Teilnehmerin diesen einbringen,
wenn sie selbst nicht kreativ fortsetzen möchte. Die Aufmerksamkeit der anderen ist
dabei von großer Bedeutung, da der zuvor geübte Refrain immer von allen
Teilnehmenden gemeinsam gespielt werden soll.
Der Zweck dieser Übung ist, in einem geschützten Rahmen innerhalb einer Gruppe und
doch individuell etwas musikalisch Unvorhergesehenes zu erschaffen. Die Tatsache,
dass gewisse Vorgaben, wie die zu spielende Taktanzahl oder die darzustellende
Stimmung, integriert werden können, ermöglicht eine gewisse Strukturiertheit, die im
Vorhinein geplant werden kann. Improvisieren in der Gruppe erlaubt es, auf andere
Ideen reagieren zu können und diese als Anhaltspunkt zu verwenden. Ließe man die
Teilnehmerinnen alleine spielen, könnten ihre kreativen Prozesse nur auf das
Gespeicherte zurückgreifen. Bei dieser Übung sollen die Schülerinnen voneinander
lernen, aber gleichzeitig selbst kreativ gestalten. Haben diese Vertrauen in ihre Gruppe,
können sie sich lustvoll und musikalisch entfalten und ihre eigenen Ideen
miteinbringen. Es geht dabei nicht um perfekt klingende Phrasen, sondern das Erlernen
von Selbststrukturiertheit durch das gleichzeitige Aufnehmen von äußerlichen Reizen
und das persönliche musikalische Reagieren und Ergänzen dieser anhand von
individuellen Kreativitätsprozessen. Die Beschränkung auf einen vorgegebenen tonalen
Raum soll in diesem Zusammenhang die Improvisation erleichtern. Denn anzunehmen
99
ist, dass die meisten Teilnehmerinnen aus der in der Einleitung erwähnten Zielgruppe,
noch keine ausreichenden Erfahrungen gemacht haben, sodass keine Vorgaben
notwendig wären.
Übung III: Erzählende Musik
Die folgende Übung soll es den Teilnehmenden ermöglichen, sich kreativ in kleineren
Gruppen zu zeigen und selbst spontan Musik zu erfinden. Im Vorhinein müssen kleine
Kärtchen vorbereitet werden, auf welchen sich Beschreibungen von verschiedenen
Personen, Beziehungen und Orten befinden. Schülerinnen werden in Gruppen zu
mindestens vier Personen eingeteilt und dürfen je nach Vorgabe verschiedene Kärtchen
ziehen. Gemeinsam sollen sie mit den darauf befindlichen Informationen eine kurze
Geschichte zusammenstellen, die mit Hilfe von musikalischer Untermalung erzählt
werden soll. Ob beim Erzählen dieser Geschichte im Anschluss gesprochen werden darf
oder nur pantomimisch gezeigt werden soll, kann durch die Improvisationsleiterin
festgelegt werden. Musikalisch gesehen sollte die Vorgabe sein, dass jede Person mit
einer bestimmten kurzen Phrase charakterisiert werden soll. Die Instrumente dürfen
selbst gewählt werden. Um tonales Improvisieren zu ermöglichen, könnte wiederum
eine Begrenzung der zu verwendenden Töne im Vorhinein besprochen werden. Möchte
man die musikalische Umsetzung nicht nur auf melodische Phrasen beschränken,
könnten freiere Gestaltungsformen auch erlaubt sein. Das Endziel sollte allerdings die
Darstellung einer kurzen Geschichte mit musikalischer Untermalung sein. Beachtet
werden sollte, dass die Gruppen auch getauscht werden, sodass jede einmal nur
schauspielern oder musizieren kann.
So einfach die Beschreibung dieser Übung klingen mag, so kreativ müssen die
Schülerinnen dabei sein. Mit minimalsten Vorgaben sollen diese die Personen und Orte
musikalisch charakterisieren und zu einem Ganzen zusammenfügen. Als Vorübung
wäre die Darstellung von Emotionen, Sprache und Bildern mit musikalischen Mitteln
eine adäquate Vorbereitung. Zu beachten ist, dass zu Beginn die Schülerinnen genug
Zeit zur Vorbereitung bekommen, wenn sie das erste Mal selbstständig musikalische
Phrasen erfinden sollen. Umso mehr Vorgaben dabei gemacht werden, umso leichter
sollte sich dieses für die Teilnehmenden gestalten. Wie bereits bei anderen
Übungsbeschreibungen erwähnt wurde, können sowohl musikalische als auch
inhaltsbezogene Einschränkungen der Strukturierung von eintreffenden und aus
kreativen Prozessen entstehenden Reizen beitragen. Wird diese Aufgabenstellung als
100
Anregung
für
die
erste
freiere
Gestaltungsübung
verwendet,
sollten,
um
Überforderungsmechanismen zu vermeiden, demnach mehrere Parameter vorgegeben
werden.
Möchte man allerdings spontanes, improvisatorisches Gestalten anregen, kann diese
Übung auch ohne Vorbereitung angewendet werden: Dazu kann die Klasse in zwei
große Gruppen geteilt werden, eine soll pantomimisch, die andere musikalisch
darstellen. Die Lehrperson sollte dabei die Kärtchen mit den Vorgaben ziehen und den
Schülerinnen diese „zurufen“. Die Schauspieler sollen sich spontan eine Rolle
aussuchen und mit wenigen Worten deren Gemütszustand beschreiben. Nachdem diese
ihre Beschreibung erzählt hat, soll eine kurze melodische Phrase, um das Erzählte zu
untermalen, von der anderen Gruppe gespielt werden. Um sich diese auch zu merken
und eine Strukturiertheit zu garantieren, sollten diese von allen Musikern im Anschluss
gleich wiederholt werden. Es werden mehrere Personenbeschreibungen stattfinden,
welche immer musikalisch unterlegt werden sollen. Mehr als fünf verschiedene Phrasen
und deshalb auch Personen sollten allerdings nicht miteinbezogen werden, da
angenommen werden kann, dass sich diese die Schülerinnen nicht merken könnten.175
Sind die Personen vorgestellt, kann eine Schülerin als Erzählerin diese spontan, mit
Hilfe der anderen Informationen von den gezogenen Kärtchen, zu einer kurzen
Geschichte zusammenfügen. Jedes Mal, wenn dabei die Personen erwähnt werden,
muss die passende Phrase, die zu Beginn gestaltet wurde, gespielt werden. Dieses letzte
Element des Geschichtenerzählens kann allerdings auch weggelassen werden. Ist diese
Übung schon bekannt und können sich die Teilnehmenden deshalb die musikalischen
Phrasen sehr schnell merken, ist der letzte Teil als eine adäquate Ergänzung zu sehen.
Der Vorteil beider Versionen zeigt sich in der Abwechslung: Das Erfinden einer
Geschichte erlaubt das Darstellen von kreativen Einfällen auf unterschiedliche Weise
(pantomimisch und musikalisch), welche situationsbedingt entstehen können und sollen.
Im Vergleich zur vorigen Übung können bei dieser die Schülerinnen wieder
voneinander kreativ inspiriert werden. Die pantomimische Darstellung kann dabei nicht
nur Anregungen für die musikalische Umsetzung zur Verfügung stellen, sondern auch
gleich zum körperlichen Aufwärmen beitragen. Lässt man die Teilnehmenden vor den
Personenbeschreibungen die Umgebung darstellen, können dabei Klangteppiche und
Cluster nicht nur als instrumentale Beschreibung, sondern auch als Eingewöhnung auf
175
Vgl. 7 +/-2 Elemente Regel.
101
die Instrumente eingesetzt werden. Zusätzlich ist der positive motivationale Aspekt
dieser Aufgabenstellung von entscheidender Bedeutung: Die Möglichkeit besteht, dass
spezifische Personen- (z. B. Superheld, Bösewicht, Mörder, Weihnachtsmann) und
Situationsbeschreibungen zusammengestellt werden, welche das Interesse der
Schülerinnen mit großer Wahrscheinlichkeit erwecken werden. Spezielle Orte (z. B.
Tropische Insel, Mars, unter Wasser) und außergewöhnliche Eigenschaften (z. B.
unsterblich, durchsichtig, allwissend) könnten diesen Effekt noch unterstützen. Sind die
Interessen der Teilnehmenden noch unbekannt, würde sich die Möglichkeit anbieten,
die Kärtchen mit den Beschreibungen selbst zu basteln. Die Kreativität und das
Interesse an der darauffolgenden Übung kann somit von Beginn an geweckt werden.
Zusammenfassend ist zu bemerken, dass die Vielfältigkeit des Improvisationsbegriffs
ein großer Vorteil im Unterricht sein kann. Die beschriebenen Übungen sind nur
Beispiele für mögliche Umsetzungsvarianten und können durch Kleinigkeiten schnell
und
effektiv
verändert
und
an
die
Unterrichtssituation
angepasst
werden.
Bewegungssequenzen können dabei genauso wie musikalische Darstellungen
Kernpunkt einer Improvisation sein. Der Kreativität sind dabei keine Grenzen gesetzt,
was nicht nur zur musikalischen, sondern auch zur persönlichen Entwicklung beitragen
kann. In Hinblick auf die unzähligen Improvisationsinhalte ist eine Beschränkung für
die Unterrichtssituation wichtig. Die Eingrenzung auf einen tonalen Wirkungsbereich
ist als Hilfestellung sowohl für die Schülerinnen als auch die Lehrpersonen gedacht:
Möchte man komplexeres freies Gestalten integrieren, muss dieses erst „gelernt“
werden, indem zugrundeliegende Prozesse vorher geübt werden. Die Konkretisierung
des Gestaltungsbegriffs kann demnach zur Strukturierung von Unterrichtssequenzen
beitragen. Dies ist entscheidend, da die entstehenden kreativen Einfälle auch sinngemäß
zum Lernprozess beitragen sollen, was durch strukturierte Speicherung begünstig wird.
3. Zusammenfassung
Die Wichtigkeit der Integration von freien Gestaltungsaufgaben zeigt sich in den
Beschreibungen der Aufgaben: Kreatives Gestalten liegt in der Natur des Menschen und
ist in vielen Alltagssituationen unentbehrlich. Im Musikunterricht kann dieses gefördert
werden, wenn auf verschiedene Faktoren Rücksicht genommen wird. Zu beachten ist,
dass an gespeicherte Erfahrungen leicht angeknüpft werden kann, wenn Schülerinnen
aufmerksam und motiviert sind. Die Wichtigkeit dieses Vorgangs bezieht sich auf das
Lernergebnis: Auch wenn freies Gestalten eine Momentaufnahme sein kann, sollten die
102
kreativen Einfälle doch zur Speicherung des Erlernten beitragen, sodass darauf wieder
zurückgegriffen werden kann. Besonders vielfältige Aufgaben aktivieren dabei
weitgefächerte neuronale Strukturen, welche ein späteres Abrufen fördern können.
Dieses sollte als der entscheidende Vorteil von improvisatorischem Gestalten gesehen
werden. Schülerinnen können dabei selbst kreativ werden und ihre Ideen individuell
nach ihren Ansprüchen umsetzen. Indem sie dabei selbst aktiv werden, können die
erlernten Inhalte besser vernetzt und in das menschliche Erfahrungssystem integriert
werden.
Werden die Übungen auf die individuellen Interessen abgestimmt, können positive
Emotionen bedingt durch die resultierende Dopaminausschüttung Aufmerksamkeit und
Motivation fördern. Denn das übergeordnete motivationale Ziel sollte die intrinsische
Form von Motivation sein, welche durch individuelle Erfahrungen und Vorlieben
entstehen kann. Angst- und Stressreaktionen können dadurch vermindert und durch das
Schaffen von Vertrauen im Vorhinein sogar eventuell verhindert werden. Zusätzlich
fördert die Erfüllung der drei Grundbedürfnisse (Gefühl der Zugehörigkeit,
Selbstkompetenz und Autonomie) eine positive Grundstimmung, welche sich sowohl
auf den Lern- als auch den Speicherungsprozess positiv auswirkt. In den beschriebenen
Übungen werden die drei Faktoren automatisch miteingebunden, da Schülerinnen durch
die strukturierte Planung immer wieder freie Phasen für ihre kreative Entfaltung zur
Verfügung gestellt bekommen.
Sind Schülerinnen musikalisch noch unerfahren, sollte auf die Strukturierung besonders
viel Wert gelegt werden, da bei nicht nachvollziehbarer Planung des Unterrichts rasch
Gefühle der Überforderung und Resignation entstehen können. In diesem Sinne wurden
die vorgeschlagenen Übungen in drei Phasen eingeteilt, welche zu einer besseren
Orientierung hinsichtlich der Planung von kreativen Aufgaben für den Unterricht
beitragen sollen. Die Aufgabenstellungen wurden so strukturiert, dass bei den
Einführenden bereits kurze, freie kreative Sequenzen enthalten sind. Denn das Lernen
von improvisatorischem Gestalten ist ein Entwicklungsprozess und sollte daher so bald
wie möglich in den Unterricht integriert werden. Speziell die Übungen der Kategorialen
Phase können leicht erweitert werden, sodass sie als reine Improvisationsaufgaben
verwendet werden können. Die Vereinfachung der anderen Übungen könnte dazu
beitragen, diese als Einführungsübungen zu verwenden. Ist die Zeit begrenzt, besteht
103
durchaus die Möglichkeit, einzelne Übungen aufzuteilen und in mehreren Stunden zu
bearbeiten.
Ziel dieser Aufgabenbeschreibung sollte es sein, die Wichtigkeit und die Einfachheit der
Integration von improvisatorischem Gestalten in den Unterricht zu zeigen. Schenkt die
Lehrperson gewissen Einflussfaktoren Beachtung, kann angenommen werden, dass die
Schülerinnen auf eine positive Weise sowohl musikalisch als auch persönlich
profitieren können.
104
Resümee
Es ist durchaus wichtig zu erfahren, welche internen Prozesse das Musizieren
beeinflussen können. Speziell für den Musikunterricht sind neurologische Vorgänge
interessant, da durch das Erschaffen von Musik viele interne Prozesse angeregt und
genutzt werden können. Kreatives Gestalten beinhaltet solch wichtige Prozesse, ist in
vielen Lebenssituationen von entscheidender Bedeutung und kann besonders im
Musikunterricht in unzähligen Formen beobachtet werden. Die aktive Förderung von
Kreativität kann durch Improvisationsübungen erfolgen, wenn diese adäquat strukturiert
und geplant sind. Zu diesem Zweck wurde als Grundlage auf wissenschaftliche
Erkenntnisse der Neurowissenschaften und Musikpsychologie eingegangen. Zu
bemerken ist, dass die Resultate der Forschung im Allgemeinen noch keine
einheitlichen Aufschlüsse über genaue neuronale Verarbeitungsmechanismen gebracht
haben. Obwohl es in der Tat gewisse Annahmen gibt, die durch verschiedene Studien
belegt werden können, ist die Aufnahme, Verarbeitung und Erzeugung von Musik noch
nicht vollkommen erklärbar.
In Hinblick auf improvisatorisches Gestalten konnten dennoch beeinflussbare Faktoren
festgestellt werden. Es hat sich gezeigt, dass die Möglichkeit besteht, Voraussetzungen
dafür zu schaffen. Die „Erzeugung“ von kreativen Ideen oder Motivation durch
äußerliche Faktoren soll allerdings nicht möglich sein. Die wichtigste Erkenntnis, die
sich aus der Zusammenfassung ableiten ließe, ist der Einfluss der Emotionen auf den
Lernerfolg. Das limbische System, welches für die Erzeugung von emotionalen
Reaktionen verantwortlich ist, lenkt schon zu Beginn die Reizaufnahme und deren
Auswahl. Anhand dieser werden Stimuli aufgenommen, verarbeitet und werden, wenn
sie mehrere Prozesse durchlaufen haben, als Erfahrungen gespeichert. Auf diese kann
wiederum am besten durch das Hervorrufen der gekoppelten Emotionen zugegriffen
werden. In Hinblick auf den Musikunterricht bedeutet das, dass als negativ empfundene
Erfahrungen, welche auch unbewusst im Laufe der Unterrichtseinheit hervorgerufen
werden, eine hemmende Wirkung auf das improvisatorische Gestalten ausüben können.
Kurz gesagt, beeinflussen Emotionen sowohl die Aufnahme von Reizen als auch deren
Speicherung. Jede kann nur an ihre eigenen an Emotionen gekoppelten Erfahrungen
anknüpfen. Deshalb sollte im Allgemeinen auf die Erzeugung eines guten
Klassenklimas als Grundlage für jeden Lehr- und Lernprozess Rücksicht genommen
werden.
105
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Vermittlung von Freude an der
Musik bedeutend durch improvisatorisches Gestalten gefördert werden kann.
Schülerinnen können sich selbst musikalisch betätigen und in einer kreativen und
spielerischen Weise neue Inhalte erlernen. Die Vielfältigkeit der Improvisation erlaubt
es, diese mit Lernenden aller Altersstufen zu verwenden und an jede neue Situation und
bestehenden Vorerfahrungen anzuknüpfen. Unbewusst wird das Spielen und Reagieren
in einer Gruppe geübt, genauso wie unzählige musikalische Parameter (Dynamik,
Rhythmus, Melodie, Mehrstimmigkeit, etc.) integriert werden können. Da Kreativität
nicht nur in musikalischer Hinsicht wichtig ist, kann improvisatorisches Gestalten auch
zur Persönlichkeitsentwicklung beitragen: Denn es wird nicht nur ein Gefühl des
Vertrauens zu anderen, sondern auch gleichzeitig zu sich selbst und in die eigenen
Kompetenzen gefördert.
Die Tatsache, dass neuronale Verarbeitungsstrukturen für musikalische Reize noch
nicht ins Detail erforscht werden konnten, sollte die Grundeinstellung für das Planen
eines Unterrichts widerspiegeln: Genauso wie bei improvisatorischen Prozessen sind
dabei immer noch Vorgänge beteiligt, die nicht zu definieren und entschlüsseln sind.
Die bestehenden Erkenntnisse sollten zwar in die Vorbereitung miteinbezogen werden,
aber noch genügend Platz für Unvorhergesehenes lassen. Spontanes Reagieren auf die
Situation im schulischen Raum ist von gleich wichtiger Bedeutung wie das
Strukturieren einer Lernumgebung. Es kann angenommen werden, dass die Lehrperson
beim improvisatorischen Gestalten genauso viel lernen kann wie die Schülerinnen.
106
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