Kapitel 5 Kernmodelle Da Atomkerne Vielteilchensysteme sind, kann man sie praktisch nicht mit analytischen Methoden berechnen, und ist deshalb auf Modelle angewiessen. Die wichtigsten gängigen Kernmodelle sind die folgenden: • Tröpfchenmodell: der Kern wird als geladenes Flüssigkeitströpfchen mit einer Oberfächenspannung angnommen; erklärt Bindungsenergien und Stabilitätsbedingungen • Fermigas–Modell: beschreibt den Kern als Gas von nicht wechselwirkenden Nukleonen (Fermionen) in einem Kastenpotential; erklärt qualitativ diskrete Energienieveaus und liefert den Zusammenhang zwischen Kerngrösse und Potentialtiefe • Schalenmodell: berechnet die Wellenfunktion eines Nukleons in mittleren effektiven zentralen Kernpotential; erlaubt näherungsweise Berechnung des diskreten Energieniveaus Diese Modelle sollten im folgenden kurz umrissen werden. 5.1 Tröpfchenmodell Die annähernd konstante Bindungsenergie von ca. 7 − 8 MeV pro Nukleon und die gleichmäsig verteilte Kerndichte (Gl. 4.28) der meisten Kerne entsprechen in etwa dem Verhalten einer inkompressiblen Flüssigkeit. Da die Bindungsenergie pro Nukleon nur schwach von der Massenzahl abhängt, kann man sie mit wenigen Parametern beschreiben und die Kernmassen in Abhängigkeit von A und Z parametrisieren. Carl-Friedrich von Weizsäcker und andere entwickelten 1935 in Analogie zu Wassertröpfchen das Tröpfchenmodell. Von der Quantenmechanik wird das Pauli–Prinzip verwendet, Schaleneffekte werden jedoch nicht mitberücksichtigt. Die Bindungsenergie stabiler Kerne wird als positiv definiert. Die Masse eines Atomes mit Z Protonen und N Neutronen ist durch die folgende, phänomenologische Formel gegeben: M (A, Z) = N Mn + ZMp + Zme − av A + as A2/3 + ac δ (N − Z)2 Z2 + + a (5.1) a A1/3 4A A1/2 76 Kernmodelle Mit Gl. 4.32 folgt dann die Bindungsenergie. Die genauen Werte der Parameter müssen empirisch bestimmt werden und haben die folgenden Größen (u: ungerade Zahl, g: gerade Zahl): av as ac aa = = = = BP = 15.67 17.23 0.714 93.15 ( MeV/c2 MeV/c2 MeV/c2 MeV/c2 +11.2 MeV/c2 für gg – Kerne 0 für ug/gu – Kerne 2 −11.2 MeV/c für uu – Kerne Im wesentlichen ist die Masse eines Atomes durch die Summe der Massen seiner Konstituenten (Protonen, Neutronen und Elektronen) gegeben. Die Kernbindung, die für die Abweichung von der Massensumme verantwortlich ist, spiegelt sich in den zusätzlichen fünf Beträgen wieder, deren physikalische Interprätation mit der Relation R ∝ A1/3 verständlich wird. Volumenterm Der dominierende Term ist proportional zur Zahl der Nuleonen A: Bv = av ·A. Jedes Nukleon im Innern eines hinreichend großen Kernes liefert den gleichen Beitrag von etwa 16 MeV, woraus folgt, dass die Reichweite der Kernkraft kurz ist und nur etwa dem Abstand zweier Nukleonen entspricht. Das ist das Phänomen der Sättigung1 , woraus auch die konstante Kerndichte folgt (Gln. 4.28 und 4.29), der mittlere Abstand der Nukleonen beträgt etwa 1.8 fm. Oberfächenterm Da Nukleonen an der Oberfäche von weniger Nachbaren umgeben sind, ist der Volumenterm an der Oberfäche reduziert. Dieser Beitrag ist proportional zur Oberfäche des Kerns (also zu R2 bzw. zu A2/3 ). Coulombterm Die elektrische Abstoßung zwischen den Protonen führt zu einer Reduktion der Bindungsenergie, dieser Term errechnet sich mit Ecoulomb = 3 Z(Z − 1)α~c · 5 R (5.2) woraus die Proportionalität zu Z 2 /A1/3 ersichtlich ist. 1 Bei einer Wechselwirkung aller Nukleonen untereinader hätte man eine Proportionalität von ∝ A(A − 1). 5.1 Tröpfchenmodell 77 Asymmetrieterm Bei kleinen Massenzahlen sind Kerne mit der gleichen Zahl von Protonen und Neutronen energetisch günstiger. Um bei größeren Kernen die abstoßende Coulombkraft durch die starke Kernkraft teilweise zu kompensieren, werden mit zunehmender Kerngröße immer mehr Neutronen benötigt, wodurch eine Asymetrie in Z und N entsteht. Dieser Neutronenüberschuss wird durch (N − Z)2 /(4A) beschrieben, woraus ersichtlich ist, dass die Symmetrie mit wachsender Kernmasse abnimmt. Dies ist in Abb. 5.2 dargestellt. Paarungsterm Eine systematische Betrachtung der Kernmassen zeigt, dass eine gerade Zahl von Protonen und/oder Neutronen die Stabilität der Kernes erhöht, was als Kopplung von Protonen und Neutronen zu Paaren interprätiert wird. Die Paarungsenergie ist von der Massenzahl abhängig, da der Überlapp der Wellenfunktionen dieser Nukleonen in größeren Kernen geringer ist (BP aar ∝ δ · A−1/2 , Abb. 5.3). Die A–Abhängigkeiten sind so gewählt, daß man insgesammt eine gute Anpassung der Vorhersagen an die Daten erhält. Das Modell erlaubt die Bindungsenergie pro Nukleon und damit die Stabilität der Kerne zu berechnen. Die Genauigkeit des Abbildung 5.1: Beiträge der einezelnen Terme der Weizsäcker–Massenformel zur Bindungsenergie pro Nukleon. Tröpfchenmodelles ist recht hoch, bei Kernen mit A > 40 werden die Bindugsenergien auf ca. 1 % genau vorhergesagt. Viele Parameter der Kernphysik sind nicht 78 Kernmodelle durch monotone Funktionen von A und Z beschreibbar, deshalb werden die Vorhersagen des Tröpfchenmodelles bei kleinen Kernen falsch. Ferner benutzt das Tröpfchenmodell keine Schaleneffekte. Verschiedene Stabilitätsgrenzen sind in Abb. 5.4 dargestellt: • Maximum bei A ≈ 60 durch gegenläufiges Verhalten des Oberflächen und Coulombtermes. • die maximale Bindungsenergie, entsprechend der minimalen Masse, liegt für festes A bei N ≥ Z = Z0 (Abb. 5.2) • für Z 6= Z0 bei festem A ist der Kern β–instabil (Abb. 5.3) • instabil gegen n-Emission wird ein Kern, falls gilt: En = [m(Z, A) − m(Z, A − 1) − mn ] > 0 (5.3) • Kernspaltung wird für A > 90 exotherm • Kernfusion ist für leichte Kerne exotherm Abbildung 5.2: Lage der stabilen Kerne in der N − Z–Ebene. 5.2 Fermigasmodell Im Fermigasmodell wird der Atomkern als Gas nicht–wechselwirkender Fermionen beschrieben, die sich in einem Potentialtopf befinden, in dem alle Zustände bis zu einer maximalen Energie, der Fermi–Energie EF , besetzt sind. Da die Nukleonen als Fermionen dem Pauli–Prinzip unterliegen, gibt es genau ein Nukleon pro Zustand. 5.2 Fermigasmodell 79 Abbildung 5.3: β–Übergänge zum Massenminimum inerhalb einer Isobarenreihe für A ungerade (a) (ug oder gu) oder für A gerade (b) (gg oder uu). Die beiden Parablen bei (b) treten wegen der unterschiedlichen Paarungsenergie ±δ für gg– und uu– Kerne auf. Dies rechtfertigt die Annahme der nicht–wechselwirkenden Fermionen, die Zustände bleiben also ungestört, und es kann sich wie in der Atomhülle eine Schalenstruktur herausbilden. Dies ist wieder ein klassisches quantenmechanisches Problem: die Zustände im Potentialtopf erhält man durch Lösung der Schrödinger Gleichung (Gl. 1.31) mit der Randbedingung, dass die Wellenfunktionen am Rand des Potentialtopfes verschwinden müssen2 . Die Zustandsdichte im Phasenraum3 ist (dabei ist V das Kernvolumen, E = p2 /2m die nicht relativistische Impuls–Energie–Relation und m die Nukleonenmasse): √ p2 dp 4πV 2m3 E dn d3 p~ dE = dE (5.4) dn = V · 3 = 4πV 3 = 3 h h h dE Gl. 5.4 ist hier die nicht–relativistische From von Gl. 1.102. Die Anzahl der besetzten Zustände ergibt sich dann durch Integration bis zur Fermi–Energie EF , wobei für Fermionen (Spin 1/2) alle Orts–Impuls–Zustände doppelt besetzt werden können: n(E < EF ) = 2 2 3 Z 0 EF 3 dn 2 4πV 2 dE = (2mE ) F dE 3 h3 Dadurch werden die Energiezustände quantisiert! Dem Orts–Impulsraum ⇒ EF = ~2 2m 3π 2 n 23 V (5.5) 80 Kernmodelle Abbildung 5.4: Stabilitätsgrenzen für Teilchenemision und Spaltung in der A–N/Z– Ebene. Mit der Konstanz der Nukleonendichte ρN = 3 n = V 4πr03 (5.6) erhält man in diesem Modell eine konstante Fermi–Energie von EF ≈ 30 MeV was bedeutet, dass der Phasenraum der Zustände nur mit dem Volumen anwachsen kann, was durch die Forderung der konstanten Nukleondichte im Kern (Gl. 5.6) als Annahme in das Modell hineingesteckt wurde. Damit erhält man auch in diesem Modell eine konstante Bindungsenergie pro Nukleon. Wegen der Separationsenergie für ein Nukleon von ca. 8 MeV ist der Potentialtopf etwas tiefer als die Fermi– Energie: V0 = EF + ES ≈ − 40 MeV, wie in Abb. 5.5 dargestellt. Ferner sind wegen √ dn ∼ E dE (5.7) (Gl. 5.5) die Zustände nach oben hin etwas dichter dargestellt. Es ist auch ersichtlich, dass das Pauli–Prinzip für Protonen und Neutronen getrennt gilt (zwei Potentialtöpfe). Wegen der Coulombabstoßung, die dem Potetial V0 überlagert ist, ist die Potentialwand für das Proton etwas höher. Ferner gilt wegen der Coulombabstoßung auch Z ≤ N . Für stabile Kerne gilt, dass beide Töpfe etwa gleich gefüllt sind, also EF (n) ≈ EF (p). Wenn einer der Töpfe höher gefüllt ist, wird der Kern β–instabil und die Nukleonzahlen gleichen sich durch den β–Zerfall aus (Kap. 6.4.2): n → p + e− ν̄e p → n + e + νe 5.3 Schalenmodell 81 Abbildung 5.5: Potentialtopf und Fermi–Gas–Zustände eines Kernes und Potential für Protonen und Neutronen mit dem Coulomb–Wall für Protonen. 5.3 Schalenmodell Es gibt auch Effekte, die auf eine Schalenstruktur des Kernes hinweisen, wie etwa die Sprünge in der Bindungsenergie pro Nukleon B/A in Abb. 4.8. Für die magischen Zahlen 2, 8, 20, 28, 50, 82 und 126 ist die Bindungsenergie pro Nukleon besonders groß, was auf einen besonders stabilen Zustand hindeutet, ähnlich wie man dies in der Struktur der Atomhülle beobachten kann. Diese Energieszustände liegen deutlich getrennt von den anderen Energienieveaus. Im Schalenmodell beschreibt man den Kern als Potentialtopf, in dem sich die Nukleonen wie Moleküle in einem Gas frei bewegen können. Im Unterschied zum Fermi–Gas–Modell, das ein Spezialfall des Schalenmodelles ist, ersetzt man bei der Betrachtung eines Nukleons die Summe der Wechselwirkungen der A − 1 anderen Nukleonen durch ein effektives Potential. Wie in der Atomphysik ist diese Näherung hinreichend gut für ein Nukleon der äußeren Schalen. Im Atom bewegen sich die Elektronen im zentralen Coulomb–Potential des Atomkernes, im Kern hingegen bewegen sich die Nukleonen in einem Potential, das von den übrigen Nukleonen erzeugt wird. Die Form des effektiven Potentiales muss allerdings empirisch bestimmt werden, eine gute Näherung ist das Wood–Saxon–Potential: Vef f (r) = −V0 1+e r−R a (5.8) Analog zur Atomphysik erhält man Zustände gleicher Energie. Die magischen Zahlen entsprechen dann gefüllten Schalen, wie die Edelgase im Falle der Atomphysik auch besonders stabile Zustände bilden. Allein mit dem Wood–Saxon–Potential kann man die Schalenstruktur noch nicht vollständig erklären, die richtige, experimentell gemessene Niveaustruktur kann erst durch die Hinzunahme der Spin–Bahn– Kopplungen exakt beschrieben werden. 82 Kernmodelle Abbildung 5.6: Ausschnitt aus der Karlsruher Nuklidkarte. Bei den stabilen Nukleonen (schwarz) sind das Elementsymbol, die Nukleonenzahl A die Häufigkeit im natürlichen Element und die (n,γ)–Wirkungsquerschnitte angegeben, für die instabilen Nuklide sind das Elementsymbol, die Nukleonenzahl A, die Halbwertszeit und die Zerfallsarten mit den Maximalenergien gegeben.