Begutachtung endokriner Störungen nach Hirntraumen Ilonka Kreitschmann-Andermahr Neurochirurgische Klinik Universitätsklinikum Aachen Fallbeispiel: FD, 49 Jahre, männlich 1976 im Alter von 18 Jahren schwerer Autounfall Schädel-Hirn-Trauma mit Schädelbasisbruch 5 Tage Koma Anschließend erfolgreiche Rehabilitation mit Wiedereintritt in das Berufsleben (Ausbildung als Bankkaufmann) Kurz nach dem Unfall: Ausbleiben des Bartwuchses keine Brust-, Bein-, Scham- und Achselbehaarung Gewichtsabnahme ohne ersichtlichen Grund Sonst keine grösseren Beschwerden berichtet 2 30 Jahre nach SHT Ambulante Aufnahme in Aachener KH aufgrund einer geplanten Zahn-OP Direkt nach OP Dekompensation: zunehmende Verschlechterung des AZ Übelkeit, Erbrechen, Schweißausbrüche Bewusstseinseintrübung Hypoglykämie, Hyponatriämie Körperliche Untersuchung: fast vollständiges Fehlen der Brust-, Bein-, Schamund Achselbehaarung Fehlen der seitlichen Augenbrauen wenig maskuline Aspekte (Hodenvolumen 1ml) 3 Endokrinologische Abklärung TRH-, LHRH-, CRH-Stimulationstest: Thyreotrope Achse: TSH stimulierbar. fT3+fT4 erniedrigt Corticotrope Achse: ACTH im unteren Normbereich, Cortisol nicht stimulierbar Gonadotrope Achse: LH und FSH nicht stimulierbar, Östradiol, Testosteron und Prolaktin basal erniedrigt GHRH-Arginin-Test Somatotrope Insuffizienz 4 Diagnose: Addison-Krise bei posttraumatischer HVLInsuffizienz Eine unerkannte Hypophyseninsuffizienz nach SHT kann lebensbedrohlich sein! Wer SHT-Patienten behandelt, sollte diese Komplikation erkennen können. 5 Überblick Die Hypophyseninsuffizienz Hypophyseninsuffizienz nach SHT / SAB Pathophysiologie Aktuelle Studienlage Diagnostik und Therapie der Hypophyseninsuffizienz Gutachterliche Aspekte von Hormonstörungen 6 Hypophysär-hypothalamisches System Schneider HJ, Aimaretti G, Kreitschmann-Andermahr I, Stalla GK, Ghigo E. Hypopituitarism. Lancet. 2007 7 Hormone der Hypophyse und ihre Wirkungen TSH ACTH Thyroxin Cortisol Gedächtnis Stimmung Stoffwechsel Antrieb Neuromuskuläre Funktion Stimmung Elektrolyte Antrieb Stress FSH LH PRL Testosteron Östrogen Antrieb Stimmung Libido Reproduktion Muskelmasse GH IGF-I Muskelmasse Antrieb Belastbarkeit 8 Ursachen der Hypophyseninsuffizienz Hirnverletzung Hypophysentumore Nicht hypophysäre Tumore Infektion Hypophyseninfarkt Autoimmunerkrankung Diverse Schneider HJ, Aimaretti G, Kreitschmann-Andermahr I, Stalla GK, Ghigo E. Hypopituitarism. Lancet. 2007 9 Das Schädel-Hirn-Trauma (SHT) Häufigste Ursache für Tod oder Behinderung bei jungen Erwachsenen Jährlich 200-300 Patienten/ 100.000 Einwohner stationäre Behandlungen Vor allem junge Männer betroffen 10 Häufige Beschwerden nach SHT Masel, 2004 11 Die aneurysmatische Subarachnoidalblutung 5% aller Schlaganfälle 6-10/100.000 Einwohner/Jahr; m:w = 1:1.6 Alter bei Blutung häufig 4. - 6. Dekade Verlust produktiver Lebensjahre vergleichbar zu dem bei ischämischem Schlaganfall und ICB 12 Häufige Beschwerden nach SAB ca. 50% der Überlebenden haben signifikante Beeinträchtigungen (neurologisch / neuropsychologisch) ca. 2/3 erreichen nie mehr die gleiche Lebensqualität wie vor der SAB 13 Wiedereinstieg in das Berufsleben nach SHT / SAB 44% volle Wiederaufnahme „produktiver“ Arbeit (bezahlte Arbeit, Ausbildung, Kindererziehung) nach SAB mit gutem neurologischen Resultat (Powell et al. 2004) 20-30% Wiederaufnahme der Arbeit nach schwerem SHT (Greenwood 2002) 14 SHT/SAB-Patienten und Patienten mit Hypophyseninsuffizienz Lebensqualitätseinbußen und psychosoziale Einschränkungen Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen Fatigue Depression und Angststörung vermindertes sexuelles Interesse verminderte gesundheitsbezogene Lebensqualität soziale Isolation Arbeitsunfähigkeit 15 SHT / SAB-Patienten und Patienten mit unbehandelter Hypophyseninsuffizienz haben ähnliche Einschränkungen 16 Neuroendokrine Störungen nach SHT und SAB 1918 erstmals von Cyran beschrieben (SHT)* 1961 erstmals von Kahana beschrieben (SAB) Bis vor wenigen Jahren als selten angesehen Aber: seit 2000 neue Datenlage …“Auffallend ist das Fehlen der Haare in den Achselhöhlen und der Genitalgegend“ 17 Potentielle Schädigungsmechanismen Schneider HJ, Aimaretti G, Kreitschmann-Andermahr I, Stalla GK, Ghigo E. Hypopituitarism. Lancet. 2007 18 Pathomechanismen? Autoptische Befunde der Hypophyse nach SHT Ceballos N = 102 Kornblum N = 100 Pierucci N = 241 Crompton N = 53 Normale Hypophyse 14 % 38 % 46 % 74 % Pathologische Befunde 86 % 62 % 54 % 26 % Kapsel/Perihypophys. Gewebe (Blutung, Fibrose, Thrombose) 58 % 59 % 23 % - Stiel Einblutung Nekrose 27 % 6% 6% 10 % 6% - Hypophysenvorderlappen Einblutung Nekrose Fibrose 4% 22 % 5% 0% 22 % - 6% 14 % - 4% 13 % - Hypophysenhinterlappen Einblutung Nekrose 20 % 0% 42 % a 42 % a 16 % 1% 13 % - - - 4% - Pars intermedia Einblutung a Daten als Einblutung und/oder Nekrose angegeben 19 Neuroendokrine Dysfunktion nach SAB Crompton 1963: 68% hypothalam. Läsionen bei 106 SAB-Fällen 20 Neuroendokrine Dysfunktion nach SAB Crompton 1963: 68% hypothalam. Läsionen bei 106 SAB-Fällen 21 Hypophyseninsuffizienz nach SHT Schneider HJ, Aimaretti G, Kreitschmann-Andermahr I, Stalla GK, Ghigo E. Hypopituitarism. Lancet. 2007 22 Hypophyseninsuffizienz nach SAB Schneider HJ, Aimaretti G, Kreitschmann-Andermahr I, Stalla GK, Ghigo E. Hypopituitarism. Lancet. 2007 23 Hormonstörungen nach SAB / SHT Achsenausfälle nach SAB Achsenausfälle nach SHT Gepoolt aus 5 Studien 2000-2004 (n=122) Gepoolt aus 10 Studien 2000-2006 (n=749) Eine Achse 48% Kein Ausfall 43% Kein Ausfall 58% Eine Achse 33% Mehrere Achsen 9% Mehrere Achsen 9% GH 26,2 ACTH 16,4 LH/FSH ACTH 11,2 13,2 TSH 4,9 0 11,5 LH/FSH 10,7 TSH GH 10 20 30 6,3 0 10 20 30 24 Aktueller Stand der Forschung SHT 749 10 33,4 % SAB Patienten Studien hormonelle Dysfunktion 122 5 47,5 % Patienten Studien hormonelle Dysfunktion Hormonstörungen nach SHT und SAB sind häufig! Hormonstörungen können transient sein und mit Latenz entstehen Unterschiedliche diagnostische Kriterien für Hormonmangel Klinische Prädiktoren für das Auftreten von Hormonstörungen sind nicht klar Schädelbasisfraktur 25 Welche Relevanz hat eine Hormonstörung nach Hirnschädigung für den betroffenen Patienten? 26 Folgen Hypocortisolismus Ermüdbarkeit, Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Apathie Leistungsknick Hypotonie Muskelschwäche Muskel- und Gelenkschmerzen Übelkeit, Erbrechen, diffuse Bauchschmerzen Gewichtsabnahme Normochrome Anämie, Lymphozytose, Eosinophilie Addison-Krise 27 Folgen Hypothyreoidismus Müdigkeit, Depression, Adynamie, Antriebslosigkeit, geistiger Abbau Muskelschwäche, Hypotonie, Bradykardie, Herzinsuffizienz Gewichtszunahme, Ödeme Hypercholesterinämie Obstipation Kälteintoleranz Haarausfall Libidoverlust Frauen Zyklusstörungen 28 Folgen Gonadotropin-Mangel (LH, FSH) Verlust der Achsel - und Augenbrauenbehaarung Muskelatrophie Osteoporose Leichte Anämie Libidoverlust Männer Potenzverlust Abnahme des Hodenvolumens Frauen sekundäre Amenorrhoe Vegetative Symptome (Hitzewallungen, Schlaflosigkeit, Depression) 29 Folgen Wachstumshormonmangel Vermehrtes Körperfett mit veränderter Verteilung (v.a. Abdomen) Verminderte Muskelmasse und Kraft (verminderte Herzleistung) Reduzierte Knochendichte (Osteopenie) Veränderte Blutfette LDL - Cholesterin ↑ Arterosklerose → Risiko Herzinfarkt/Schlaganfall ↑ Verminderte Glukosetoleranz Psychische Veränderungen Abnahme der Leistungsfähigkeit 30 Relevanz für den Patienten Tragen Hormonstörungen nach Hirnschädigung auch zu psychosozialen Folgen der Erkrankung bei? 31 Literatur-Update Kelly, D.F., McArthur, D.L., Levin, H., Swimmer, S., Dusick, J.R., Cohan, P., Wang, C., Swerdloff, R. (2006) Neurobehavioral and quality of life changes associated with growth hormone insufficiency after complicated mild, moderate, or severe traumatic brain injury. Journal of Neurotrauma, 23 (6). SHT-Patienten mit Wachstumshormonmangel haben mehr Depressionen (p=.01) schlechtere Werte in SF-36 Subskalen Energie und Fatigue körperliche Gesundheit emotionales Wohlbefinden Schmerz allgemeine Gesundheitswahrnehmung * 5. bwz. 10. Perzentile einer gesunden Kontrollgruppe 32 Prävalenz psychosozialer Folgen nach SAB 40 Patienten mit gutem Outcome > 1 Jahr nach SAB Symptomatik Kriterium / Cut-Off 27.5 % (11) mittlere Depressivität BDI Wert 11-17 10.0 % (4) klinisch relevante Depression BDI Wert > 17 reduzierte Lebensqualität im Hinblick auf körperliche Beschwerden SF-36 körperlicher Summenscore -2 SD 25.7 % 9/35 reduzierte Lebensqualität im Hinblick auf psychische Beschwerden SF-36 psychischer Summenscore -2 SD 30.0 % 12/40 PTSD-Symptomatik IES Gesamtscore ≥ 26 Depression 37.5 % 15/40 Lebensqualität 11.4 % 4/35 PTSD 33 Literatur-Update Kreitschmann-Andermahr, I., Poll, E., Hütter, B.O., Reineke, A., Kristes, S., Gilsbach, J.M., Saller, B. (in press) Quality of life (QoL) and psychiatric sequelae following aneurysmal subarachnoid haemorrhage (SAH): Does neuroendocrine dysfunction play a role? Clinical Endocrinology 8:00-Serum-Cortisol korreliert mit BDI NHP Energie NHP Soziale Isolation AGHDA SF-36 ps. Ss -Alter (r= (r= (r= (r= (r= -,56 -,44 -,50 -,55 ,37 p<.01) p<.01) p<.01) p<.01) p=.02) Regressionen ITTACTHmax erster Prädiktor NHP-Schlaf GHD erster Prädiktor für NHP-Energie 34 Diagnostik der endokrinen Störung Klinischer Eindruck Hormon-Basiswerte Stimulationstests Zeitpunkt der Diagnostik? 35 Hormonbasiswerte FSH, LH, Sexualsteroide fT4, fT3, TSH ACTH, Cortisol Circadiane Rhythmik Stressanfälligkeit Insulin-like Growth Factor I (IGF-I) als Mediator der GH-Wirkung Cave: altersbezogene Normwerte verwenden Niedrige Werte nicht nur bei GH-Mangel möglich 36 Hormonbasiswerte - Fazit Im Serum bestimmte Hormone sind hilfreich bei der Diagnostik einer thyreotropen und gonadotropen Insuffizienz Aufgrund der pulsatilen Ausschüttung von GH und der circadianen Rhythmik von Cortisol sind für die Diagnostik dieser beiden Achsen Stimulationstests zu fordern 37 Stimulationstests Releasinghormon-Tests Z.B. TRH-, GnRH-, GHRH-, CRH-Test erfassen hypophysäre – nicht hypothalamische – Störung, schlechte Trennschärfe für den GHRH-Arginin-Test insbesondere bei Übergewicht ACTH-Kurztest eigentlich zur Diagnostik der primären NNR-Insuffizienz Insulin-Hypoglykämiestest „Goldstandard“ zur Diagnose eines GH- und ACTH-Mangels Kontraindiziert bei KHK (und Epilepsie) 38 BMI-abhängige Referenzwerte für den GHRH-ARG-Test Corneli et al. 2005 Normalgewichtig Übergewichtig Adipös BMI Sensitivität Spezifität ≤ 25 kg/m2 98,7% 83,% 25-30 kg/m2 96,7% 75,5% ≥ 30 kg/m2 93,5% 78,3% GH Cut-Off 11,5 µg/l 8 µg/l 4,2 µg/l Positiver Vorhersagewert* 51,64% 41,05% 43,19% Negativer Vorhersagewert* 99,72% 99,23% 98,55% *Annahme 15% isolierter GH-Mangel 39 Zeitpunkt der Diagnostik Hypocortisolismus schon in der Akutphase erkennen 3-6 Monate nach Trauma „endokrinologische Anamnese“ Basales Cortisol > 200 nmol/l ist verdächtig Körperliche Müdigkeit, Ermüdbarkeit, Mittagsschlaf Verminderter Bartwuchs, Achselbehaarung Zyklusunregelmäßigkeiten Libido, Potenz Ggf. ACTH, Cortisol, IGF-I, FSH, LH, Sexualsteroide, fT4, fT3 im Serum 40 Unbehandelte Hormonstörung Was passiert, wenn eine Hormonstörung unbehandelt bleibt? Gegenseitige Beeinflussung der Hormonmangelzustände Folgeerkrankungen, z.B. reduzierte Leistungsfähigkeit Depression Hyperlipidämie → kardiovaskuläre Erkrankungen Osteoporose 41 Substitutionstherapie Bei Ausfall mehrerer Partialfunktionen des HVL Reihenfolge des Beginns der Substitution beachten wegen möglicher Wechselwirkung! Cortisol Thyroxin Sexualsteroide Ggf. Wachstumshormon Isolierter GH-Mangel im Erwachsenenalter ist keine zugelassene Substitutionsindikation Relevanz des GH-Mangels nach Hirntraumen bedarf weiterer Klärung 42 Hypophysär-hypothalamische Krankheitsbilder nach stumpfen Schädeltrauma von Hermann W i t t e r und Rolf T a s c h e r Die Frage, ob interne Krankheitsbilder durch eine zerebrale Schädigung als Folge stumpfer Schädeltraumen auftreten können, ist besonders in der Begutachtung von großem Interesse. [...] Fortschr Neurol Psychiatr. 1957 Oct;25(10):523-46 43 Gutachterliche Aspekte Was bedeutet das alles für die Begutachtung von Patienten mit Hormonstörungen nach SHT / SAB? Meh als r Fra gen An t wor ten 44 Gutachterliche Aspekte „Für die Anerkennung eines schweren Kopftraumas als Ursache einer HVL-Insuffizienz sind ein adäquates Trauma und ein direkter zeitlicher Zusammenhang von einigen Monaten zu fordern.“ Aber… Ein Zusammenhang zwischen Schwere des SHT und neuroendokriner Dysfunktion ist nicht gesichert Bildgebung (Hypophysen-MRT) oft nicht pathologisch 45 Gutachterliche Aspekte Es gibt keine speziellen GdB-Werte für Hypophysenerkrankungen! Es werden die funktionellen Beeinträchtigungen durch die Hormonstörung beurteilt Gesamt-Gdb: Ermittlung durch wechselseitige Beziehungen der Funktionsbeeinträchtigungen 46 Gutachterliche Aspekte Vorschlag: Einstufung von Hypophysenerkrankungen in Analogie zum Diabetes Mellitus Einschränkungen Körperlich Geistig Seelisch Gefahr von Entgleisungen 47 Gutachterliche Aspekte Hypothyreose Gonadotrope Insuffizienz Gut behandelbar In der Regel kein GdB GH-Mangel Kortikotrope Insuffizienz Trotz Substitution Probleme unter • Stresssituationen (psychisch/physisch) • unvorhergesehenen Stressbelastungen • unregelmäßigen Tagesabläufen • Schichtarbeit Empfehlung: Leistungsminderung zwischen 20-30 % Folgeerscheinungen (z.B. Osteoporose) werden im Rahmen der Funktionsbeeinträchtigung separat eingestuft. 48 Fazit für den Neurologen Hormonstörungen nach Hirntraumen sind häufig SHT SAB Neurochirurgische Eingriffe Schlaganfall Unklarheiten noch in Bezug auf Zeitlichen Verlauf der Hormonstörung Klinische Prädiktoren Zeitpunkt und Art der Diagnostik Rolle des (isolierten) Wachstumshormonmangels 49 Fazit für den Gutachter Bei einer guten Einstellbarkeit der Insuffizienz kein GdB! Begutachtung allein aufgrund der Folgeerscheinungen der Hormonstörung, z.B. Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Abnahme der Leistungsfähigkeit Depressivität Osteoporose Muskelschwäche Eingeschränkte Lebensqualität 50