Teil II Allgemeine Behandlungsgebiete 20. Neurotraumatologie . Trentz, Th. Kossmann und R. Stocker H. Tscherne und G. Rege Problemstellung Die Überlebenswahrscheinlichkeit für schwerverletzte Patienten hat sich in den letzten Jahrzehnten durch die in der präklinischen Phase beginnenden therapeutischen Maßnahmen, einen effizienten Patiententransport, verbesserte klinische Rahmenbedingungen und konsequente Behandlungskonzepte entscheidend verbessert. Trotzdem findet sich in der Gruppe der schwerverletzten Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma (SHT) die höchste Letalität. Post-mortem-Studien zeigten, daß in bis zu 50% Verletzungen des Zentralen Nervensystems die Todesursache sind, gefolgt vom Blutungsschock und Multiorganversagen. Forschungsresultate der letzten Jahre haben einen Teil der pathophysiologischen Veränderungen nach einem SHT aufgeklärt und insbesondere die nach dem initialen Trauma auftretenden sekundären Schäden und deren Auswirkungen auf das spätere funktionelle Ergebnis nachgewiesen. Das Ziel der therapeutischen Maßnahmen ist die Vermeidung zusätzlicher Sekundärinsulte. Diese Erkenntnisse haben zur Entwicklung eines speziellen Neurotrauma-Monitoring geführt in Kombination mit differenzierten Behandlungskonzepten. Historisches Ausführlich beschäftigte sich im 19. Jahrhundert Prof. Krönlein in Zürich mit der Diagnostik und Therapie von Hirnverletzungen. Detailliert geht er in seinen Schriften auf verschiedene Operationsverfahren am Schädel ein. Während der beiden Weltkriege sowie im Korea- und Vietnamkrieg wurden wichtige neurotraumatologische Erkenntnisse gewonnen. So konnte Harvey Cushing im 1. Weltkrieg durch ein frühzeitiges Debridement bei schädelhirnverletzten Patienten die Letalität von 54% auf 29% senken. Die Einführung der Langzeitbeatmung und intensivmedizinische Behandlungsmethoden in den sechziger Jahren führten zu weiteren ermutigenden Ergebnissen. In den siebziger und achtziger Jahren wurde die früher häufig durchgeführte Probetrepanation durch die Verbreitung der Computertomographie verdrängt. Heute stehen noch sensitivere Untersuchungsmöglichkeiten in Form des Magnet Resonance Imaging (MRI), der Positron Emission Tomography (PET) und der Single Photon Emission Computed Tomography (SPECT) zur Verfügung. Neben dem Nutzen der neuen diagnostischen Möglichkeiten wird besonders an der Verbesserung des intensivmedizinischen Managements und der Entwicklung von Pharmaka, die in die pathophysiologischen Kaskaden eingreifen sollen, gearbeitet. Heutiger Stand Die posttraumatischen Veränderungen, die nach einem SHT auftreten, sind vielfältiger Natur und laufen parallel oder sequentiell ab. Bisher wurden nur teilweise die verletzungsbedingten Veränderungen innerhalb des Gehirnes sowie der zerebral-mediierte Einfluß auf andere Organsysteme untersucht. Generell lassen sich vorbestehende, d.h. patientenspezifische Faktoren von unfallbedingten und posttraumatischen Faktoren unterscheiden, welche das Behandlungsergebnis maßgeblich beeinflussen (Abb. 1). Pathophysiologische Veränderungen nach Schädel-Hirn-Trauma Die primären Traumafolgen am Zentralen Nervensystem werden durch die initiale Krafteinwirkung hervorgerufen. Diese imponieren als fokale Verletzungen (Frakturen, Gefäßzerreißungen, epi-, subdurale und intrazerebrale Hämatome) und/ oder diffuse Läsionen (sog. shearing injuries, diffuse axonal injury) und können weitere sogenannte sekundäre Schäden triggern. Während Fokalschäden durch ein direktes Trauma hervorgerufen werden und als Gehirnkontusionen, Lazerationen oder Blutungen imponieren, werden diffuse axonale Verletzungen durch Akzelerations- und Dezelerationsbewegungen hervorgerufen. Sekundäre Schäden, auf die das bereits verletzte Gehirn besonders empfindlich reagiert, treten mit einer Zeitverzögerung auf und vergrößern die primären Verletzungen. Als Sekundärinsulte gelten vor allem die häufig nach einem Unfall auftretende Hypotonie und Hypoxie sowie ein gesteigerter intrakranieller Druck (ICP), Ischämie/Reperfusionssyndrome und intrakranielle Ödembildung. Monitoring und Therapiekonzepte Ein Behandlungskonzept für SHT-Patienten muß in erster Linie Sekundärinsulte vermeiden. Darüber hinaus soll es erlauben, optimale Bedingungen für die Erholung von nicht irreversibel geschädigtem Hirngewebe zu schaffen. Absolute Voraussetzung jeder erfolgreichen Behandlung ist die integrative Therapie des Gesamtorganismus durch ein eingespieltes Team vom Unfallort bis zur Neurorehabilitation. Es gibt eine Reihe von Therapiestrategien, die auf unterschiedliche Weise der Vermeidung von Sekundärinsulten entgegenwirken sollen. In dieser Arbeit wird das an der Klinik für Unfallchirurgie des Universitätsspitals Zürich entwickelte Therapiekonzept für Patienten mit SHT vorgestellt. Die folgenden Richtlinien haben, den örtlichen Gegebenheiten entsprechend modifiziert, am Unfallplatz, im Schockraum (SR), im Operationssaal (OP) und in der Intensivbehandlungsstation (IPS) Gültigkeit. Beurteilung Die Beurteilung des Verletzten ist ein "kontinuierlicher Prozeß mit erheblichen Konsequenzen". Das Ziel ist • • • • • den Schweregrad der Verletzung zu quantifizieren, die Art der Behandlung festzulegen, die Ausgangslage für Verlaufskontrollen zu fixieren, den Verlauf zu überprüfen und schließlich die Prognose abschätzen zu können. Vordringlich zu beurteilen und zu stabilisieren (siehe unten) sind die Vitalfunktionen. Anschließend wird der Kurzneurostatus erhoben. Dieser umfaßt die Beurteilung der Bewußtseinslage (Wachheit, Grad der Orientierung), der Pupillen (Form, Weite, Reaktion) und der Motorik der Extremitäten (fokale neurologische Ausfälle) des Verletzten. Die Bewußtseinslage ist der wichtigste Einzelfaktor für die Beurteilung des SHT-Patienten. Sie läßt sich mit der 1974 eingeführten Glasgow Coma Scale (GCS) quantifizieren. Der MaximalScore von 15 bedeutet nicht, daß der Patient "neurologisch unauffällig" ist; psychisches Verändertsein oder fokale neurologische Ausfälle schlagen sich im GCS nicht nieder! Bei einem Bewußtlosen kann der GCS-Wert maximal 8 betragen. Für die Beschreibung der Bewußtseinslage soll der GCS idealerweise nicht nur aufsummiert werden; als Minimalvariante ist der Motorscore zu erheben. Quantifiziert wird der Schweregrad eines SHT aufgrund des nach der Stabilisation von Atmung und Kreislauf ("post resuscitation") erhobenen GCS. So gilt ein SHT als mild, wenn der GCS 13-15 beträgt, bei einem GCS 9-12 als mäßig schwer, während ein GCS 3-8 definitionsgemäß Ausdruck eines schweren SHT ist. Eine Differenz der Pupillenweite, eine Halbseitensymptomatik und eine progrediente neurologische Verschlechterung gelten, jede für sich allein genommen, bereits als Ausdruck des schweren SHT, ebenso die Diagnose eines offenen SHT und einer palpierbaren Impressionsfraktur. Als neurologische Verschlechterungen gelten: • • • • zunehmende oder ungewöhnliche Kopfschmerzen, größer werdende Pupillen, das Auftreten einer Hemisymptomatik und die Zunahme der Bewußtseinsstörung (qualitativ und/oder quantitativ). Eine zunehmende Verschlechterung des Zustandes weist auf ein progredientes Geschehen hin, das einer raschen Abklärung bedarf. Prozedere Zu intubieren und zu beatmen sind • • • alle Verletzten, bei denen die Atmung ungenügend ist (Zyanose, Apnoe, paO2 < 60 mm Hg (7,8 kPa), paCO2 > 50 mm Hg) oder möglicherweise ungenügend wird, beispielsweise im Zusammenhang mit Thoraxverletzungen; alle Verletzten, bei denen die Durchgängigkeit der Atemwege bedroht ist, beispielsweise bei Verletzungen des Gesichtsschädels; unabhängig davon alle Verletzten, die nicht mindestens "lokalisieren", die einen GCS von 8 oder weniger aufweisen. Hintergrund dieser Maßnahme ist die Tatsache, daß bei bewußtlosen Verletzten die vitalen Schutzreflexe oder die Atemsteuerung ausfallen kännen. Anzustreben ist eine Normoxämie, d.h. ein paO2 von mindestens 100 mm Hg (13 kPa), sowie ein paCO2 von 40-45 mm Hg (4,85,5 kPa). Die prophylaktische Hyperventilation ist abzulehnen, weil die infolge Vasokonstriktion resultierende Minderung der zerebralen Durchblutung möglicherweise eine Ischämie zur Folge hat. Intubiert wird in der Regel primär oral. Die orale Intubation ist obligat, wenn eine schwere Schädelbasisfraktur, eine Liquorrhoe oder eine schwere maxillofaziale Verletzung vorliegt. Anzustreben ist die Intubation am Unfallort. Dies ermöglicht es, 60% der Verunfallten innerhalb 30 Minuten nach dem Unfallereignis zu intubieren, gegenüber lediglich 17% der nach dem Prinzip "Einladen und Losfahren" direkt ins Zentrum eingewiesenen Patienten. Gleichzeitig mit der Atmung muß der Kreislauf optimiert werden. Anzustreben ist ein systolischer Blutdruck von mindestens 130 mm Hg (arterieller Mitteldruck (MAP) über 100 mm Hg). Keinesfalls soll ein erhöhter Blutdruck gesenkt werden, sofern der Verletzte adäquat sediert und analgesiert ist, weil die Blutdrucksteigerung meist einer Bedarfshypertonie bei gesteigertem ICP entspricht. Ziel ist die Normovolämie, wenn nötig zu erreichen durch aggressiven Volumenersatz, bevorzugt mit Ringerlaktat und/oder Kolloiden. Die Verwendung von hypoosmolarer Flüssigkeit ist wegen der Gefahr der Provokation/Exazerbation eines Hirnödems unbedingt zu vermeiden. Selbstverständlich sind äußere Blutungen zu stillen. Der Kreislauf ist bedeutend schwieriger zu normalisieren bzw. zu stabilisieren als die Atmung. Die Höhe des intrakraniellen Drucks kann an der Unfallstelle bzw. beim Eintreffen im Schockraum nur geschätzt werden. Er ist bei Patienten mit offenem SHT und Austritt von Hirngewebe praktisch nie gesteigert, weil sich das Gehirn selbst dekomprimiert. Auf einen progredienten Anstieg des ICP weisen Bradykardie, Hypertension und verlangsamte Atmung hin, ebenso langsam weiter werdende Pupille(n). Nur in dieser Situation ist die unkontrollierte ICP-Beeinflussung gerechtfertigt. Auch wenn die Hyperventilation den ICP senken kann, ist ihr prophylaktischer Einsatz ebenso abzulehnen wie die eine Hypovolämie provozierende prophylaktische Gabe von Diuretika oder Osmotherapeutika (z.B. Mannitol). Auch die "blinde" Barbituratgabe ist bei diesen potentiell immer hypovolämen Verletzten wegen der negativ inotropen Wirkung außerordentlich gefährlich. Unter ICP-Registrierung richtet sich die Positionierung nach den gemessenen ICP-Werten bzw. nach dem Einfluß der Oberkörperhochlagerung auf den zerebralen Perfusionsdruck (CPP). Hospitalisation Ein Verunfallter mit mäßiggradigem oder schwerem SHT muß, auch wenn er voraussichtlich nicht kraniotomiert werden wird, in eine Klinik eingewiesen werden, die über einen permanenten neurotraumatologischen Dienst verfügt. Diese Verletzten benötigen wie die Kraniotomierten neben dem Monitoring der Vitalfunktionen ein aufwendiges Neuromonitoring. Schockraum Als erstes wird der Verletzte erneut bezüglich seiner vitalen und neurologischen Funktionen beurteilt. Sobald er kardiopulmonal stabil ist - möglicherweise sind hierzu chirurgische Eingriffe zur Blutstillung bzw. Sicherung der Lungenfunktion (z.B. Thoraxdrainagen) notwendig - werden weiterführende diagnostische Untersuchungen, in erster Linie die Computertomographie (CT) des Schädels, durchgeführt. Wenn die kardiopulmonale Situation oder ein rasch progredientes Mittelhirnsyndrom ("Einklemmung") die Durchführung eines CT verbietet und die Wahrscheinlichkeit des Vorliegens eines intrakraniellen Hämatoms groß ist (älterer Patient, Sturz/Schlag, Bewußtseinsstörung, Fraktur, Anisokorie, Hemisymptomatik), ist die Probetrepanation indiziert. Notfallsituation Patienten mit leichtem SHT - sie weisen entweder eine Prellmarke am Kopf bei direkter oder eine passagere Hirn-Funktionsstörung (Bewußtseinsverlust, amnestische Lücke) bei indirekter Gewalteinwirkung auf - sind ebenfalls durch Sekundärinsulte gefährdet. Bei ihnen hat das Konzept, Sekundärinsulte zu verhüten, zum Ziel, aus der Vielzahl der Betroffenen die wenigen, die durch das Auftreten von Komplikationen gefährdet sind, möglichst zuverlässig herauszulesen. Bei diesen Komplikationen handelt es sich in erster Linie um intrakranielle extrazerebrale Hämatome. Dies läßt sich dadurch erreichen, daß bei allen Verletzten, die eine Erinnerungslücke aufweisen bzw. einen Bewußtseinsverlust erlitten haben, ebenso wie bei Verletzten mit erheblichen Prellmarken und/oder ausgedehnten Rißquetschwunden am Kopf Schädel-Leeraufnahmen (ap., seitlich, halbaxial) angefertigt werden. Findet sich eine Schädelfraktur, wird obligat ein CT durchgeführt, weil eine Schädelfraktur bei einem orientierten Patienten die Wahrscheinlichkeit des Vorliegens eines Hämatoms um das 200 fache steigert. Operationsindikation Zeigt das CT ein Hämatom (epi-, subdural oder intrazerebral), das die Strukturen der Mittellinie um mehr als 4 mm verlagert, wird es mittels Kraniotomie evakuiert. Ebenfalls operativ versorgt werden offene Verletzungen, um die Infektionsgefahr möglichst gering zu halten. Bei Patienten mit einem präoperativen GCS von 8 oder tiefer wird intraoperativ eine ICP-Meßsonde implantiert. Die Evakuation raumfordernder akuter intrakranieller Hämatome hat erste Priorität, d.h. sie wird als vitale Indikation notfallmäßig durchgeführt, sobald der Verletzte kreislaufstabil ist. Ist eine Probetrepanation indiziert, so können diese und die sich daraus allenfalls ergebende Hämatomevakuation mittels Erweiterung eines Bohrlochs gleichzeitig mit den Maßnahmen zur kardiopulmonalen Stabilisation durchgeführt werden. Das CT muß nach Beendigung der Eingriffe nachgeholt werden. Die Implantation einer Sonde zur kontinuierlichen Messung des ICP ist indiziert bei • • • • • Patienten, die sediert/relaxiert und beatmet im Schockraum eintreffen, Patienten mit einem GCS < 8; Voraussetzung ist, daß entweder das initiale Computertomogramm pathologisch ist, oder daß - bei initial unauffälligem CT - der Bewußtseinsverlust andauert (länger als sechs Stunden ab "Zeitpunkt Unfall"), Patienten, die im Anschluß an eine Kraniotomie kontrolliert beatmet werden, Patienten, deren Zustandsverschlechterung den GCS unter 9 absinken läßt und/oder die Aufnahme einer kontrollierten Beatmung notwendig macht, Mehrfachverletzten, die eines sofortigen langdauernden (extrakraniellen) Eingriffes bedürfen, vorausgesetzt, das initiale CT ist pathologisch. Die ICP-Sonde der Wahl ist der Ventrikelkatheter, weil er sofort nach der Implantation zuverlässige Meßwerte liefert und es erlaubt, den intrakraniellen Druck nicht nur zu messen, sondern ihn über die Drainage von Liquor zu beeinflussen. Wegen des Komplikationsrisikos wird bei folgenden Verletzten in der Regel anstelle des Ventrikelkatheters ein weniger invasives ICP-Meßsystem (Wilkinson-Cup Subduralsonde, Caminosonde) zum ICP-Monitoring implantiert: • • • • • mehrfachverletzte Patienten mit geringen zerebralen Läsionen, die ein ICP-Monitoring nur benötigen, weil entweder ein langdauernder extrakranieller chirurgischer Eingriff geplant ist oder bei denen aus extrazerebralen Gründen eine neurologische Beurteilung über einen längeren Zeitpunkt nicht möglich ist (z.B. Beatmung mit notwendiger Sedation), Patienten, die eine wesentliche Gerinnungsstörung aufweisen, Patienten mit sehr engem oder verlagertem Ventrikelsystem (Punktion schwierig oder unmöglich, Kollaps des Ventrikelsystems, Blockierung des Ventrikelkatheters), Patienten mit offenen Schädel-Hirn-Verletzungen, die ein hohes Infektrisiko haben, Patienten mit einem Okklusivhydrocephalus infolge Kompression des Aquädukts oder des 4. Ventrikels durch ein raumforderndes Hämatom der hinteren Schädelgrube (Risiko der Aufwärtsherniation). Statt dessen ist eine Druckmeßsonde in den Subduralraum oder ins Hirnparenchym einzulegen. Intensivmedizinische Therapiekonzepte Oberstes Prinzip der Intensivbehandlung ist die Vermeidung von Sekundärinsulten bzw. die Schaffung von Rahmenbedingungen, welche die Erholung nicht irreversibel geschädigter Hirnareale erlaubt. Beides ist an eine optimale Substratversorgung gebunden, insbesondere mit Sauerstoff, weshalb die Beurteilung und Optimierung der zerebralen Hämodynamik eine zentrale Rolle spielt. Da das Gehirn gleichzeitig Steuerorgan seiner eigenen Versorgung ist, hat nur eine Systemtherapie Aussicht auf Erfolg, d.h. der Gesamtorganismus muß in die Therapie einbezogen werden. Monitoring Die Überwachung und Beeinflußung des regionalen zerebralen Blutflusses (rCBF) bzw. der zerebralen metabolischen Sauerstoffrate (CMRO2) aller Regionen des Gehirns wäre eine ideale Steuergröße der Therapie. Da dies in der klinischen Routine nicht möglich ist, müssen verschiedene regionale oder indirekte Größen integrativ monitorisiert werden. Dazu gehören heute: • • Kontinuierliche Registrierung des ICP bzw. des zerebralen Perfusionsdruckes (CPP), Registrierung der Liquordrainagemenge. Kontinuierliche Registrierung der gemischt venösen Sättigung im Bulbus venae jugularis (SvjO2): Erlaubt unter Einbezug der arteriellen Sättigung und Bestimmung des Sauerstoffgehaltes die Abschätzung des globalen Verhältnisses zwischen • • • Sauerstoffangebot und -verbrauch. Das Nebeneinander von minder- und luxusperfundierten Hirnarealen kann damit allerdings nicht erkannt werden. Zielgröße: SvjO2 > 65%. Sequentielle arteriobulbusvenöse Laktatdifferenzbestimmung (a-vj DL): Erlaubt das Erkennen einer zerebralen Ischämie; eine lokale Zuordnung ist damit aber nicht möglich. Zielgrösse: a-vj DL < 0,2 mmol/l. Transkranielle Doppleruntersuchung der zerebralen Gefäße. Über Messung der Blutflußgeschwindigkeiten können indirekte Perfusionshinweise gewonnen werden; dieses Verfahren erlaubt beispielsweise die Abschätzung des zerebrovaskulären Widerstandes, gibt Anhaltspunkte für die Beurteilung der zerebralen Perfusion und erlaubt das Erkennen von Vasospasmen. Eine direkte Messung des zerebralen Blutflusses ist aber nicht möglich. Gewebe-pO2-Messung (ptiO2): Erlaubt die direkte Messung des Gewebesauerstoffpartialdruckes in einem sehr begrenzten Gewebeareal. Zielgrössen: ptiO2 > 15 mm Hg. Bei Werten unter 15 mm Hg besteht ein Ischämierisiko, bei Werten unter 5 mm Hg kommt es zu irreversiblen hypoxischen Zellschäden. Liquordrainagetests sowie Manipulationen von Blutdruck und Ventilation geben über diese Monitoringmodalitäten hinaus zusätzlich Auskunft über die Compliance des zerebralen Kompartimentes (Pressure-Volume-Index = PVI) und über die CO2-Reaktivität und Autoregulation. Zur Abschätzung der funktionellen Beeinträchtigung, zur Erkennung von epilepsiespezifischen Potentialen bzw. zum Monitoring während eines etwaig notwendigen Barbituratkomas werden darüber hinaus elektrophysiologische Untersuchungen wie repetitive oder auch kontinuierliche Elektroenzephalographie (EEG) und somatosensorisch evozierte Potentiale (SEP) vorgenommen. Die systemische Überwachung erfolgt mit auch sonst allgemein üblichen Verfahren wie EKG, blutiger arterieller und venöser Druckmessung, sequentiellen oder kontinuierlichen Blutgasanalysen, Blasenkatheter, Kapnographie usw., wobei die Überwachung der Hämodynamik mittels sequentieller oder kontinuierlicher Herzzeitvolumenbestimmung eher großzügig, bei Barbituratapplikation jedoch obligatorisch eingesetzt wird. Therapeutische Maßnahmen Zur Verhinderung sekundärer Hirnschäden stehen folgende Maßnahmen zur Verfügung: • • • • Liquordrainage: Reduziert das Volumen des Liquorkompartementes zugunsten des Gewebevolumens. Osmotherapie: Reduziert Hirnödem, reduziert zerebrales Blutvolumen (CBV) über viskositätsbedingte Vasokonstriktion, Mannitol dient zudem als Radikalfänger. Cave: Elektrolytstörungen, Osmodiurese, Hyperosmolarität (Grenze: < 315 mOsm/l). Hyperventilation: Sofern die zerebrale CO2-Reaktivität erhalten ist, führt die Senkung des arteriellen pCO2 um 2-4 mm Hg über eine Vasokonstriktion mit konsekutiver Reduktion des CBV zu einer Senkung des ICP um 1 mm Hg. Unter ungünstigen Umständen kann damit allerdings eine zerebrale Ischämie induziert werden. Milde Hypothermie (33-34°C): Reduziert ICP, CBF und CMRO2. Zusätzlich gibt es Hinweise, daß die Exkretion der exzitatorischen Aminosäuren Glutamat und Aspartat erniedrigt und die Zellmembranen stabilisiert werden. Inwieweit das Infektrisiko erhöht wird, ist bis jetzt nicht abschließend geklärt. • Barbiturate: Erniedrigen dosisabhängig CMRO2 und CBF und erhöhen die intrazellulären Energiespeicher. Sie erhöhen den zerebrovaskulären Widerstand und reduzieren damit CBV und ICP. Postuliert werden zudem Effekte auf ischämische Penumbrazonen, auf die Stabilisierung von lysosomalen Membranen, auf die Freisetzung von exzitatorischen Aminosäuren und den intrazellulären Kalziumeinstrom sowie auf die Reduktion von freien Radikalen. Eine Reihe von Risiken begleitet allerdings die Anwendung hochdosierter Barbiturate, da sie kreislauf- und immundepressorische Nebenwirkungen haben. Ein Barbituratkoma verlangt deshalb nach unserer Auffassung ein hämodynamisches Monitoring mittels Swan-Ganz-Katheter sowie eine kontinuierliche EEG-Überwachung, um eine optimale Dosiswirkung zu erzielen. Therapeutisches Stufenschema Grundbehandlung • • • • • • Aggressive hämodynamische Stabilisierung (primär Volumen-/Flüssigkeitszufuhr, Katecholamine nur, wenn unbedingt notwendig) mit dem Ziel einer Normo- bis leichten Hypervolämie, CPP > 70 mmHg, MAP > 80 mm Hg, Hämatokrit > 30%. Keine Routine-Oberkörperhochlagerung (reduziert CPP, erhöht Volumensequestration). Keine Blutdrucksenkung bis MAP 130 mm Hg (Bereich der Autoregulation). Normoxämie (paO2 >100 mm Hg [13 kPa]), Normokapnie, keine prophylaktische Hyperventilation (Ischämierisiko). Adäquate Sedation, Relaxation, Analgesie. Normothermie, Verhinderung von Hyperglykämien. Bei jedem unklaren ICP-Anstieg CT-Kontrolle zum Ausschluß einer interventionsbedürftigen intrakraniellen Raumforderung. Therapeutisches Stufenschema bei ICP-Anstieg (Interventionsschwelle ICP > 15 mm Hg) bzw. bei ungenügendem CPP (Interventionsschwelle CPP < 70 mm Hg) • • • • • • • Vertiefung der Sedation und Analgesie, Volumenersatz, Kreislaufstützung (ggf. mit Katecholaminen). Liquordrainage, sofern möglich. Einlage eines Bulbus venae jugularis-Katheters auf der Seite der Läsion oder rechts (kortikaler Abfluß). Hyperventilation, solange SvjO2 > 65%, a-vj DL < 0,2 mmol/l und ICP durch Hyperventilation gesenkt werden kann. Osmotherapie: Mannitol 25-50-100 ml langsam (25 ml pro 15 min) i. v. solange wirksam und Serumosmolarität < 315 mOsm/L. Milde Hypothermie (33-34°C). Barbituratkoma unter kontinuierlicher EEG-Registrierung. Ziel: Burst-SuppressionMuster mit 6 Bursts/min. Beginn mit Thiopental 10 mg/kgKG/h unter Kreislaufüberwachung (Pulmonaliskatheter). Dauer mindestens 5 Tage. Endpunkt: Stabilisierung des ICP unter 15 mm Hg. • Erhalt einer suffizienten zerebralen Hämodynamik (CPP, SvjO2, a-vj DL, Dopplerflußmuster) durch Manipulation von MAP, HZV, Hämatokrit, paCO2. Aufwachversuch Beim Aufwachversuch wird die Sedation und Muskelrelaxation abgebrochen und der Patient baldmöglichst auf unterstützte Spontanatmung umgestellt. Die Bedingungen für diesen Schritt sind: • • • • • Keine therapiebedürftigen ICP-Anstiege > 15 mm Hg während 24 Stunden unter Normothermie und Normoventilation, Liquordrainagemenge < 80 ml/24 h, unverdächtiger CT-Befund (Ödem, Raumforderung), SvjO2 und a-vj DL im Normbereich, PVI > 18 ml. Der Aufwachversuch wird abgebrochen und die Therapie wieder aufgenommen, wenn erneut ICP- Anstiege über 15 mm Hg während mehr als 5 Minuten auftreten. Entfernung des Monitorings • • sofern klinisch-neurologische Evaluation möglich, wenn während der vorangegangenen 24 Stunden keine Interventionen mehr notwendig waren. Wesentliche Erkenntnisse • • • • ICP-Anstiege sind häufig, auch bei komatösen Patienten mit primär unauffälligem CT. Venöse Entsättigung und Zunahme der a-vj DL sind häufig während Hyperventilation; die unkontrollierte, prophylaktische Hyperventilation ist deshalb abzulehnen. Oberkörperhochlagerung führt zum Abfall des zerebralen Perfusionsdruckes und zur gesteigerten Volumensequestration und begünstigt damit eine hämodynamische Instabilität. Eine multimodale Therapie senkt die Mortalität (1995: 26%), ohne den Anteil an Patienten in persistierendem vegetativem Koma zu erhöhen (1995: 4%). Ökonomische Bedingungen und soziale Folgen für den einzelnen und die Gemeinschaft Die Bedeutung der Folgen von Verletzungen des Zentralen Nervensystems wird ersichtlich aus der Tatsache, daß das SHT mit Abstand die häufigste Todesursache oder der Grund für körperliche oder geistige Behinderung für Patienten vor dem 45. Lebensjahr ist. In den industrialisierten Nationen wird von einer Inzidenz des Schädel-Hirn-Trauma von 200-220 Patienten pro 100000 Einwohner pro Jahr ausgegangen. Dabei erleiden 80% ein leichtes, 10% ein mäßiges und weitere 10% ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Überlebt ein Patient seine schweren Schädel-Hirn-Verletzungen, sind die medizinischen wie psychischen Folgen für den Patienten selbst wie auch für die Angehörigen meistens sehr schwerwiegend und erfordern eine langwierige Neuro-Rehabilitation bzw. eine Dauerpflege. Neben der Akutversorgung fallen vor allem die Kosten für die aufwendige Rehabilitation und die lebenslange Dauerpflege an. Offene Fragen und zukünftige Entwicklung Die medizinische und sozioökonomische Bedeutung des SHT wird häufig unterschätzt, z.T. wegen fehlender "Lobby". Die früher oft frustrierende Behandlung von Patienten mit schwerem SHT wurde durch neue Erkenntnisse der pathophysiologischen Abläufe nach einem SHT und differenzierte Therapieansätze deutlich verbessert. Die zunehmende Kenntnis der pathophysiologischen und neurochemischen Veränderungen nach akutem SHT erlaubt die Entwicklung und Prüfung verschiedener Substanzen, welche in die neurotoxische Kaskade eingreifen könnten. In verschiedenen experimentellen sowie klinischen Prüfungsstadien stehen Substanzen wie N-methyl-D-Aspartat-(NMDA)Rezeptorantagonisten, Kalziumantagonisten, Radikalfänger, Antioxidantien, Modulatoren des Arachnoidonsäuremetabolismus, Opioid-Rezeptorantagonisten und eine Reihe andere Mediatoren. Die Zukunft wird zeigen, ob diese pharamakologischen Ansätze tatsächlich mit dazu beitragen können, die immer noch hohe Morbidität und Letalität von Patienten mit Schädel-Hirn-Tauma weiter zu senken. Zusammenfassung In den industrialisierten Ländern werden jährlich 200-220/100000 Einwohner wegen eines Schädel-Hirn-Traumas (SHT) hospitalisiert, davon erleiden etwa 80% ein leichtes, 10% ein mittelschweres und 10% ein schweres SHT. Wichtig ist die Identifizierung derjenigen Patienten mit einem leichten SHT, bei denen im weiteren Verlauf intrakranielle Komplikationen auftreten. Polytraumatisierte Patienten weisen in bis zu 65% eine SchädelHirn-Verletzung auf. Die Patienten mit schwerem SHT müssen mit einem klar definierten diagnostischen und therapeutischen Konzept behandelt werden, um Sekundärschäden zu vermeiden und dem traumatisierten Gehirngewebe eine Erholungschance zu bieten. Neuere pathophysiologische Erkenntnisse, Verbesserung in der bildgebenden Diagnostik und im physiologischen Monitoring erlauben differenzierte Therapiekonzepte. Diese logistisch und personell aufwendige Intensivtherapie führt sowohl zu einer Senkung der Sterblichkeit als auch zu einem besseren funktionellen Endergebnis mit höherer Lebensqualität als noch vor wenigen Jahren. Durch die Entwicklung neuer Medikamente zur Hirnprotektion wird eine weitere Reduktion der Morbidität und Letalität dieser Patientengruppe erwartet. Literatur 1. The Brain Trauma Foundation (1995) Guidelines for the management of severe head injury. American Association of Neurological Surgeons, New York 2. Cooper PR (1993) Head injury. Williams & Wilkins, Baltimore 3. Imhof HG, Pomaroli A (1997) Gehirnschädel. In: Platzer W, Trentz O (Hrsg) Posttraumatische Defekt- und Infektsanierung. Schädel, Wirbelsäule, Becken. Thieme, Stuttgart 4. Narayan RK, Wilberger JE, Povlishock JT (1995) Neurotrauma. MacGraw-Hill, New York 5. Rüter A, Trentz O, Wagner M (1995) Unfallchirurgie. Urban & Schwarzenberg, München Wien Baltimore 6. Stocker R, Kossmann T, Imhof HG (1996) Das Neurotrauma - Aktuelles Behandlungskonzept. Unfallchirurg 10:806-810