Der islamische Staat Staat und Religion in der islamischen Welt Materialien Arbeitsblatt 1: Islamisches Recht in den westlichen Medien (2 Seiten) Arbeitsblatt 2: Scharia, Koran, Sunna (2 Seiten) Arbeitsblatt 3: Selbstbilder - Fremdbilder (1 Seite) Arbeitsblatt 4: Die Stellung der Frau im Islam (1 Seite) Arbeitsblatt 5: Islam und Staat (2 Seiten) Arbeitsblatt 6: Der Islam und der „Westen“ - ein spannungsreiches Verhältnis (1 Seite) Arbeitsblatt 7: 7 Fragen zum Islam (4 Seiten) Lernziele Die Arbeitsblätter zum Thema Staat und Religion in der islamischen Welt verfolgen im wesentlichen zwei Ziele: zum einen soll SchülerInnen brauchbare Information zu wichtigen Bestandteilen des islamischen Rechts und seiner Verankerung im Staat zur Verfügung gestellt werden, zum anderen geht es um die Schaffung eines Bewusstseins für die Zerrbilder und Missverständnisse, die das Verhältnis Westen – islamische Welt dominieren. Es finden sich in dieser Einheit daher sowohl Definitionen und Erklärungen als auch Anleitungen zur selbständigeren Auseinandersetzung mit dem Thema (Lektüre von Texten aus verschiedenen Blickwinkeln sowie einige Anstöße zu Diskussionen), die eine eigene Meinungsbildung ermöglichen sollen. Arbeitsblatt 1: Medienberichte Das Brainstorming zu Beginn der Einheit und die Diskussion aktueller Medienberichte soll den SchülerInnen den Zugang zum Thema islamisches Recht erleichtern und eine gemeinsame Ausgangsbasis für die weitere Auseinandersetzung mit der Scharia schaffen. In den beiden zitierten Artikeln wird die Schari‘a als grausames Strafgesetzbuch dargestellt, das im Widerspruch zu den Menschenrechten steht. Die Ergebnisse der Gruppenarbeit sollten © 2002 by Bundesheer Lehrerinformation 1 Der islamische Staat Staat und Religion in der islamischen Welt festgehalten werden (Tafel, Plakat), damit sie später noch zur Verfügung stehen. Quellen: http://de.news.yahoo.com/020425/71/2qp6p.html http://www.n-tv.de/2999962.html Arbeitsblatt 2: Definitionen Hier geht es in erster Linie darum, möglichst kompakte Information über das islamische Rechtssystem und seine Entwicklung zu bieten. Ein bei uns sehr häufig angesprochener Punkt – die Körperstrafen – wird herausgegriffen und gesondert erklärt. Arbeitsblatt 3: Diskussion: Selbstbilder – Fremdbilder Zwei einflussreiche Texte aus der Frühzeit des Islam, einer davon von Muhammad selbst, sollen die Ausgangsbasis für eine Reflexion über das Zustandekommen von falschen Klischees darstellen. Die im ersten Kapitel zitierten Medienberichte vermitteln ein völlig anderes Bild vom islamischen Recht als die hier angeführten Texte. Mögliche Gründe für diese Diskrepanz sollen von den SchülerInnen selbst herausgefunden werden. Die Erarbeitung von möglichen entstellenden Österreich-Klischees dient dem Zweck, das Zustandekommen solcher Klischees besser nachvollziehen zu können (und kann darüber hinaus für die SchülerInnen durchaus unterhaltsam sein). Wenn die Möglichkeit dazu besteht, würde in diesen Zusammenhang auch das gemeinsame Ansehen des Films „Das Fest des Huhns – eine Reise ins rätselhafte und unbekannte Oberösterreich“ passen. Der Grundgedanke, Selbst- und Fremdbilder gegenüberzustellen, wird im weiteren Verlauf der Einheit beibehalten und vertieft. Arbeitsblatt 4: Die Stellung der Frau im Islam Die Unterdrückung von Frauen in vielen islamischen Ländern ist bei uns ein medialer Dauerbrenner. Doch gerade in diesem Bereich ist die Diskrepanz zwischen der durch die Scharia vorgesehenen Rolle der Frau und der gesellschaftlichen Realität in islamischen Ländern besonders groß. Die Kopftuchdebatte, ein für SchülerInnen naheliegendes Thema, dient als Aufhänger. Im Anschluss daran werden einige bei uns eher wenig geläufige Grundlagen der von der Scharia vorgesehenen Rolle der Frau vorgestellt. In weiterer Folgesoll einerseits einmal mehr über bei uns vorhandene vorgefasste Meinungen diskutiert bzw. diese dem islamischen Recht gegenübergestellt werden. Auf den Unterschied © 2002 by Bundesheer Lehrerinformation 2 Der islamische Staat Staat und Religion in der islamischen Welt zwischen diesem Recht und anderen ihm teilweise widersprechenden Traditionen wird hingewiesen. Dass es solche Unterschiede aber nicht nur in der islamischen Welt, sondern auch bei uns gibt, wird abschließend angesprochen. Arbeitsblatt 5: Islam und Staat Hier werden in groben Zügen wichtige Grundzüge islamischer Gesellschaften dargelegt. Eine aktuelle Presseaussendung der Islamischen Glaubensgemeinschaft steht für deren Aktualität. Im Anschluss an das Lesen und Besprechen dieses Kapitels sollen die bisherigen Diskussionsergebnisse zu den erwähnten Teilaspekten des islamischen Rechts noch einmal zusammengefasst, eindeutig falsche Klischees festgehalten werden. Die SchülerInnen werden dazu angehalten, Überlegungen zur Überwindung dieser falschen Bilder anzustellen. Arbeitsblatt 6: Der Islam und der Westen Abschließend werden noch einige Ereignisse, die das Verhältnis zwischen westlicher und islamischer Welt nachhaltig geschädigt haben, in Erinnerung gerufen. Gerade die Kolonisierung der meisten islamischen Staaten im 19. und 20. Jahrhundert, teilweise noch früher, wird bei uns heute sehr selten erwähnt, spielt aber eine wichtige Rolle bei der Bildung kollektiver Identitäten in der islamischen Welt. Die historische Betrachtung des gespannten Verhältnisses soll dabei helfen, die oft sehr problematische Haltung westlicher Politiker im Zuge der jüngsten Anti-Terror-Offensive zu beurteilen. Möglichkeiten zur Überwindung der wechselseitigen Ablehnung sollen zuguterletzt angedacht werden. Arbeitsblatt 7: 7 Fragen zum Islam Frau Baghajati ist Medienreferentin der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich. In einem Interview werden noch einmal die gängigsten Cliches angesprochen und aus der Sicht der islamischen Glaubensgemeinschaft beantwortet. Eine ausführliche Informationsquelle für alle interessierten LehrerInnen und/ oder SchülerInnen, die sich nicht mit vorschnellen Urteilen über andere Religionsgemeinschaften zufrieden geben wollen! © 2002 by Bundesheer Lehrerinformation 3 Der islamische Staat Staat und Religion in der islamischen Welt Verwendete und weiterführende Literatur Heine, Susanne (Hg.): Islam zwischen Selbstbild und Klischee. Eine Religion im österreichischen Schulbuch. Köln; Weimar; Wien: Böhlau 1995 Hofmann, Murad W.: Islam. München: Hugendubel 2001 (= Diederichs kompakt) Hofmann, Murad W.: Der Islam im 3. Jahrtausend. Eine Religion im Aufbruch. München: Hugendubel 2000 Ramadan, Said: Das islamische Recht. Theorie und Praxis. Wiesbaden: Otto Harrassowitz 1980 Rasoul, Fadil: Kultureller Dialog und Gewalt. Aufsätze zu Ethnizität, Religion und Staat im Orient. Hg. von Susanne Rockenschaub-Rasoul. Wien: Junius 1991 Wichtige Kontaktadresse für weitere Informationen: Islamische Glaubensgemeinschaft Österreich. 1070 Wien, Bernardgasse 5. Tel. 01 526 31 22 © 2002 by Bundesheer Lehrerinformation 4 Der islamische Staat Das islamische Recht – die Schari‘a Islamisches Recht und westliche Medien Die Schari‘a, das islamische Recht, wird immer wieder in den Medien erwähnt, meist in Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen und/oder grausamen Strafen. Ausführliche Informationen über seine Grundlagen und Bestandteile sind allerdings Mangelware. ð Führen Sie in Gruppen ein Brainstorming zum Thema „Schari‘a“ durch. Was verbinden Sie spontan mit diesem Begriff? Halten Sie die Ergebnisse als Assoziogramm (mindmap) an der Tafel oder auf einem Plakat fest! ð Lesen sie die beiden folgenden Artikel zum Thema Schari‘a und diskutieren Sie in Grup- pen, was diesen Berichten zufolge wesentliche Merkmale des islamischen Rechts sind. Ergänzen Sie gegebenenfalls das zuvor gestaltete Plakat/Tafelbild. Donnerstag 25. April 2002 Sechs verurteilte Diebe in Teheran gehängt Teheran (Reuters) - Sechs wegen bewaffneten Diebstahls Verurteilte sind Medienberichten zufolge am Donnerstag in Irans Hauptstadt Teheran hingerichtet worden. Vier von ihnen seien öffentlich gehängt worden. Die Hingerichteten sollen die Anführer einer Verbrecherbande gewesen sein und hätten mehrere Überfälle begangen, wie örtliche Medien berichteten. In den vergangenen Wochen waren landesweit Dutzende mutmaßliche Verbrecher festgenommen worden. Im Gegensatz zu © 2002 by Bundesheer anderen Regionen des Landes sind öffentliche Hinrichtungen in der Hauptstadt Teheran selten. Dem iranischen Präsidenten Mohammad Chatami nahe stehende Reformer hatten vergangenes Jahr öffentliche Hinrichtungen und Auspeitschungen kritisiert. Iran hält sich an die Durchsetzung des islamischen Rechts (Scharia), das die Todesstrafe für bestimmte Verbrechen vorschreibt. Internationale Organisationen kritisieren den Staat wegen Menschenrechtsverletzungen. Arbeitsblatt 1 1 Der islamische Staat Das islamische Recht – die Schari‘a Montag, 25. März 2002 Hussaini-Freispruch löst Streit nicht Die Scharia in Nigeria bleibt Als der erlösende Urteilsspruch verkündet wurde, brach Safyiatu Hussaini in lauten Jubel aus. Umringt von Fotografen aus aller Welt schloss die Mutter strahlend ihre kleine Tochter in die Arme und lobte Allah. Die uneheliche Existenz der einjährigen Adama hätte die 35-Jährige um ein Haar das Leben gekostet. Tod durch Steinigung für Ehebruch hieß das Scharia-Urteil, das das Berufungsgericht im nordnigerianischen Sokoto am Montag nach Monaten des Bangens aufhob. Doch während Safyiatu Husseini ihr Leben zurückbekam, zittert darum bereits die nächste angebliche Ehebrecherin im Bundesstaat Katsina im Norden Nigerias. Die weltweit beachteten Urteile der SchariaGerichte, die es in zwölf nigerianischen Bundesstaaten gibt, wirbeln auch in dem westafrikanischen Land selbst Staub auf: Zwei Jahre nach der Einführung der Scharia im ersten Bundesstaat ist in Nigeria die Debatte über die Verfassungsmäßigkeit der Anwendung des islamischen Rechts erneut entfacht. Ausgerechnet Safyiatu Hussaini hat daran keinen Zweifel. Als Moslemin lebe sie gern und selbstverständlich unter dem Gesetz des Islams, erklärte sie dem Radiosender BBC. Doch ihr Richter habe sie bei der Verhandlung in dem kleinen Ort Gwadabawa im Oktober unfair behandelt. „Weil ich arm bin, weil ich eine Frau bin“, sagte sie. „Andere haben schlimme Verbrechen begangen. Aber weil sie Männer sind oder mehr Einfluss haben, werden sie nicht bestraft.“ Nach Ansicht des nigerianischen Justizmininisters Godwin Agabi werden durch die Einführung der Scharia-Gerichte nicht nur Frauen diskriminiert. Er hält sie deshalb für unvereinbar mit der Landesverfassung. „Moslem sollte nicht strenger für ein Vergehen bestraft werden als jeder andere Nigerianer“, schrieb er an die betroffenen Bundesstaaten. In den blutigen Auseinandersetzun© 2002 by Bundesheer gen zwischen Moslems und Christen um die Einführung der Scharia sind in den vergangenen zwei Jahren in Nordnigeria rund 2.000 Menschen ums Leben gekommen. Mit derart harscher Kritik hat die Regierung von Präsident Olusegun Obasanjo - ein überzeugter Christ - bislang jedoch gespart. Ob es der öffentliche Druck aus dem Ausland oder die bevorstehenden Wahlen sind“, meint ein Anwalt in der Hauptstadt Abuja, „nach Monaten des Stillschweigens macht die Regierung nun ein Fass wieder auf, das lange verschlossen war“. Agabis Bitte um Mäßigung der Scharia-Richter bei künftigen Urteilen versetzt viele Moslems in Empörung. „Die Christen verstehen die Scharia falsch“, sagte ein Vertreter der Regierung in Zamfara.“Es ist nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht jedes Moslems, nach ihren Vorschriften zu leben.“ Lokale Protestgruppen wie die Organisation für „Gemeinschaftsentwicklung und Wohlfahr“ sprachen hingegen von einer fundamentalen Bedrohung für die Souveränität und Legalität des nigerianischen Staates. Nach ihrer Ansicht unterwandert die Einführung der Scharia das Prinzip der Trennung von Kirche und Staat. Während internationaler Menschenrechtsorganisationen den erkämpften Freispruch Hussainis noch feierten, verbreitete sich die Nachricht von der nächsten Todeskandidatin. Im kleinen Dorf Bakori im Bundesstaat Katsina wurde Amina Lawal angeblich des Ehebruchs überführt. Im vergangenen Jahr war in diesem Staat bereits ein Mann nach der Scharia gehenkt worden. Menschenrechtler bereiten sich auf den nächsten Kampf vor. „Es sieht so aus, als müsse erst der erste Fall nach abgelehntem Berufungsverfahren vor das Oberste Gericht nach Abuja kommen „, meint der dort ansässige Anwalt. „Das nämlich wäre der wirkliche Prüfstand dafür, ob die eigenmächtige Einführung des islamischen Rechts verfassungskonform ist.“ Arbeitsblatt 1 2 Der islamische Staat Das islamische Recht – die Schari‘a Definitionen: Schari‘a, Koran, Sunna Die Schari‘a ist nicht einfach - wie oft suggeriert wird - ein Strafgesetzbuch, sondern das umfassende Rechtssystem des Islam. Es beruht auf Koran und Sunna. Die beiden Begriffe sollen im Folgenden kurz erklärt werden. Der Koran: Der Koran ist für gläubige Muslime das wahrhaftige Wort Gottes und wurde zwischen 610 und 632 n. Chr. dem Propheten Muhammad offenbart („Eurer Gefährte Muhammad befindet sich weder im Irrtum noch im Unrecht. Noch spricht er aus eigenem Begehr. Es ist nichts anderes als eine Eingebung, die offenbart wird.“). Er ist seiner Natur nach weniger ein Buch der Rechtswissenschaften als vielmehr ein Aufruf zum rechten Glauben, eine Zusammenfassung göttlicher Ermahnungen und ethischer Prinzipien. Allerdings finden sich darin auch einige Vorschriften zu den Bereichen Familien- und Erbrecht sowie Verse, die sich auf Staats- und Wirtschaftsverfassung sowie das Strafrecht beziehen. Ethische Prinzipien und Grundwerte, die aus dem Koran hervorgehen, sind u. a.: Gerechtigkeit, Gleichwertigkeit der Menschen, Verantwortlichkeit, Familiensinn, Güte, Ehrlichkeit, Unbestechlichkeit, Mitgefühl, Bescheidenheit. Die Sunna: So wird die authentische Überlieferung dessen, was Muhammad gesagt, getan und gebilligt hat, bezeichnet. Die Aufzeichnungen wurden größtenteils nach dem Tod Muhammads angefertigt. Im Koran wird den Muslimen empfohlen, dem Propheten in religiösen und moralischen Dingen zu folgen. Die Sunna ist daher eine wichtige Autorität, allerdings dem Koran untergeordnet. Zusätzlich zu diesen beiden zentralen Quellen gelten noch der Meinungs-Konsens der Rechtsgelehrten (al-idschma‘) und das Urteil aufgrund des juristischen Analogieschlusses (al-qijas) als Hauptquellen islamischen Rechts. Diese sind notwendig, da die Schari‘a nicht alle Details des Zusammenlebens regelt. Die Haupttätigkeit islamischer Juristen ist eher Rechtsauffindung in Koran und Sunna als Gesetzgebung. Dabei müssen bestimmte Kriterien (z. B. das öffentliche Wohl) beachtet werden. Im Laufe der Geschichte hat sich auf der Grundlage der Schari‘a ein sehr komplexes Rechtsgebäude entwickelt, wobei auch verschiedene Rechtsschulen und Denkrichtungen entstanden sind. Da in einem muslimischen Staat alles Recht islamisch ist, müssen auch Gesetze für eine moderne Gesellschaft (von der Luftfahrt bis zur Gentechnik) mit Koran und Sunna in Einklang zu bringen sein. © 2002 by Bundesheer Arbeitsblatt 2 1 Der islamische Staat Das islamische Recht – die Schari‘a Al-Idschtihad: Ein wichtiges Prinzip des islamischen Rechts ist die „Selbständige Meinungsbildung“ (AlIdschtihad). Bereits von Muhammad wurde ausdrücklich gebilligt, dass in Fällen, die mit Hilfe der Schari‘a nicht gelöst werden können, sich Richter ein eigenes Urteil bilden. Diese Vorgangsweise ermöglicht dem islamischen Recht Flexibilität. Sie soll auch davor bewahren, sich blind den Meinungen bestimmter Rechtsschulen anzuschließen. Durch historische Entwicklungen, auch den allgemeinen Niedergang der islamischen Kultur am Ende des Mittelalters (Mongoleneinfall in Bagdad, Vertreibung von der iberischen Halbinsel), gab es allerdings oft Tendenzen, die Beweglichkeit des Rechts zu bekämpfen - eigentlich ein Widerspruch zu einem wichtigen Prinzip des Islam. Im 18. und 19. Jahrhundert entstanden einflussreiche Bewegungen (u. a. die Wahabiten), die sich um eine Rückbesinnung auf die durch Al-Idschtihad mögliche Dynamik bemühten. Anmerkungen zu den Körperstrafen: Steinigungen, Amputation von Gliedmaßen und Todesstrafe sind oft der einzige Bereich des islamischen Rechts, der in der westlichen Welt wahrgenommen wird. Bei der Diskussion dieser Punkte wird meistens stark vereinfacht. Eine Grundvoraussetzung der Einführung dieser Strafen ist eine höchst entwickelte, „ideale“ Gesellschaft. Die Strafen für Diebstahl beispielsweise wurden in Zeiten von sozialer Not stets ausgesetzt und sind daher in armen Ländern völlig widersinnig. Die Todesstrafe soll so selten wie möglich verhängt werden. Richter können sie in bestimmten Situationen aussprechen, sie erfolgt aber nicht automatisch bei bestimmten Verbrechen. Das menschliche Leben gilt als höchstes Gut, daher sind islamische Richter dazu angehalten, wenn schon, dann eher durch zu große Milde als durch zu große Härte zu irren. Die Praxis der Steinigung, die in manchen islamischen Ländern angewandt wird, ist umstritten sie ist vom Koran nicht vorgesehen (allerdings vom Alten Testament). Eigentlich unexekutierbar sind Strafen für Ehebruch: dieser muss von vier Augenzeugen bestätigt werden. Ein uneheliches Kind gilt nicht als Beweis, und die Beteuerung der Unschuld eines/r Beklagten unter Eid genügt zum Freispruch. Fälschliche Beschuldigung gilt als schweres Delikt. Handeln unter Zwang (wie z. B. die Vergewaltigung Safiyatu Hussainis) kann nach islamischem Recht nicht als Verfehlung gelten. © 2002 by Bundesheer Arbeitsblatt 2 2 Der islamische Staat Das islamische Recht – die Schari‘a Diskussion: Selbstbilder - Fremdbilder ð Lesen Sie die beiden folgenden Texte. Der erste ist ein Brief des zweiten Kalifen, Omar, an seinen Richter. Er gilt als einer der einflussreichsten Texte zur Auslegung des islamischen Rechts. Die darauffolgenden Aussprüche Muhammads gelten als Begründung für das islamische Prinzip „Was nicht verboten ist, ist erlaubt“. Brief des zweiten Kalifen, Omar, an seinen Richter: „Die Rechtssprechung hat auf der Grundlage von Koran und Sunna zu erfolgen. Zuerst musst du dir über den Fall, der dir vorgetragen wird, ganz klar sein, ehe du ein Urteil fällst... Volle Gleichberechtigung gilt für alle (Parteien): in der Art, wie sie in deiner Gegenwart Platz nehmen, in der Art, wie du sie ansiehst und in deiner Rechtsprechung. Auf diese Weise kann sich weder eine hochgestellte Persönlichkeit in der Hoffnung auf eine Ungerechtigkeit deinerseits wiegen, noch wird ein Schwacher an deiner Gerechtigkeit zweifeln müssen... Die Beweislast liegt beim Kläger, und der Eid ist von der beklagten Partei zu leisten. Die streitenden Parteien haben jederzeit das Recht, einen Vergleich zu schließen, es sei denn, dieser mache etwas zulässig, was (nach dem Islam) verboten ist oder verbiete etwas, was (nach dem Islam) erlaubt ist. Unerlässlich ist das klare Verständnis eines jeden Falles, der dir vorgetragen wird und für den es keine anwendbaren Textstellen in Koran und Sunna gibt. Dir fällt dann die Aufgabe zu, zu vergleichen und Analogieschlüsse zu ziehen, auf dass du zu einer klaren Unterscheidung der Gleichartigkeit und Ungleichheit gelangst und demzufolge den Weg zur Urteilsfindung zu gehen bestrebt bist, der der Gerechtigkeit am nächsten kommt und (darum) vor Gottes Angesicht der am besten geeignete zu sein scheint. Lasse dich nie zu Zorn oder Ängstlichkeit hinreißen und werde den Streitenden gegenüber niemals ungeduldig oder ihrer überdrüssig.“ (In: Ramadan 1980, S. 33) Aussagen Muhammads: „Gott hat euch bestimmte Anweisungen gegeben, darum lasst sie nicht außer acht. Er hat bestimmte Grenzen abgesteckt, darum überschreitet sie nicht. Er hat bestimmte Dinge verboten, darum lasst euch nicht zu ihnen verleiten. Er hat zu vielen Fragen geschwiegen, und zwar aus Barmherzigkeit und mit Absicht.“ „Die schlimmste Schuld, die ein Muslim den anderen Muslimen gegenüber auf sich laden kann, ist, wenn er durch sein ungebührliches Fragen ein Verbot für etwas herbeiführt, was erlaubt geblieben wäre, wenn er nicht gefragt hätte.“ (In: Ramadan 1980, S. 60) ð Welche Grundhaltung spricht aus diesen Texten? Sammeln Sie Adjektive. Passen diese zu den Begriffen, die Sie im ersten Brainstorming über die islamische Rechtssprechung festgehalten haben? Diskutieren Sie die Unterschiede und suchen Sie nach Begründungen dafür! © 2002 by Bundesheer Arbeitsblatt 3 1 Der islamische Staat Teilaspekte des islamischen Rechts Die Stellung der Frau im Islam ð Oft wird das Kopftuch, das gläubige Musliminnen tragen, als Symbol für die Unterdrückung der Frauen gesehen. Sehen Sie das auch so? Kennen Sie Frauen, die aus religiösen Gründen ein Kopftuch tragen? Was denken diese darüber? Diskutieren Sie die die „Kopftuch-Frage“ in der Klasse und halten Sie divergierende Meinungen fest. Durch Koran und Sunna ist das Tragen des Kopftuchs für Mädchen ab der Pubertät vorgesehen. Was in den Augen vieler westlich geprägter Menschen wie ein Symbol für Unterdrückung aussieht, wird von muslimischen Frauen oft als Teil ihrer Identität gesehen, bzw. als Ausdruck ihrer Würde. Viele sehen islamische Kleidung (neben dem Kopftuch ist auch nicht-figurbetonte Kleidung vorgeschrieben) als Alternative zum bei uns oft herrschenden Zwang, bestimmten Schönheitsidealen nachzueifern. Frauen sehen also in der islamischen Kleidung die Chance, nicht nur aufgrund ihres Körpers bewertet, sondern auch menschlich und intellektuell ernstgenommen zu werden. Man sollte in der Diskussion aber nicht übersehen, dass das Tragen eines Kopftuchs nur ein untergeordnetes Detail des religiösen Lebens einer Muslimin ist – die „fünf Säulen“ der praktischen Glaubensausübung für Männer und Frauen sind: Bekenntnis zum Monotheismus, Gebet, sozial-religiöse Pflichtabgabe von 2,5% des Vermögens, Fasten im Ramadan und die Pilgerfahrt nach Mekka. Das Thema Kopftuch ist daher auch im islamischen Religionsunterricht wenig bedeutend; Schülerinnen mit und ohne Kopftuch nehmen daran teil. Abseits der Kopftuch-Debatte... Muslimische Männer und Frauen haben die gleichen religiösen Rechte und Pflichten. Zu diesen gehört auch Bildung. Ehelosigkeit ist nicht wünschenswert, da Mann und Frau als einander ergänzend angesehen werden. Die Wahl des Partners bzw. der Partnerin muss aus freien Stücken erfolgen, die Ehe wird durch einen Vertrag, der auch die gerechte Aufteilung des Vermögens beinhaltet, besiegelt. Materielle Gerechtigkeit ist wichtig, das Verhältnis der Partner soll durch Liebe und Güte bestimmt sein. Polygamie ist nur in Grenzsituationen zulässig (Versorgung von Witwen und Waisen nach einem Krieg u. ä.). Mann und Frau haben das Recht auf Scheidung, im Scheidungsfall muss die Frau vermögensrechtlich abgesichert sein. Die Ehe ist auch der Ort für die Entfaltung von Sexualität (im Gegensatz zum Christentum wird z. B. Empfängnisverhütung als völlig normal bzw. notwendig betrachtet). Frauenbeschneidungen u. ä. sind streng verboten. ð Stimmen diese Prinzipien mit dem Bild, das Sie von der Position der Frauen in islamischen Ländern hatten, überein? Wodurch entstehen die Abweichungen bzw. Unterschiede1? Oft gibt es in islamischen Ländern Traditionen, die nicht-islamische Wurzeln haben (z. B. die Burka in Afghanistan, arrangierte Ehen in der Türkei usw.), aber bei Außenstehenden als repräsentativ für den Islam gelten. Auch in Österreich waren beispielsweise Ehen nicht immer das Ergebnis freier Partnerwahl, sondern wurden von den Eltern in Hinblick auf erbrechtliche und andere Überlegungen festgelegt. © 2002 by Bundesheer Arbeitsblatt 4 1 Der islamische Staat Teilaspekte des islamischen Rechts Islam und Staat Der Koran enthält nur wenige Bausteine für ein islamisches Staatswesen; allerdings ist die Gestaltung einer Gesellschaft, die nach islamischen Grundsätzen lebt, ein wesentliches Ziel. Eine bestimmte Staatsform (Monarchie oder Demokratie) ist nicht vorgeschrieben. Als Modell für islamische Staaten gilt daher das von Muhammad 622 gegründete Gemeinwesen in Medina. Dieses kann als jüdisch-muslimische Republik bezeichnet werden, in der weltliche und geistliche Autorität getrennt waren. Demokratie und Gewaltenteilung sind daher mit dem Islam seit seinen Anfängen vereinbar, wenn nicht sogar erwünscht. Das vom Islam vorgesehene Wirtschaftssystem ist im wesentlichen eine soziale Marktwirtschaft. Privateigentum ist geschützt, wobei Wälder, Gewässer und Luftraum Allgemeingut sein müssen. Wucher und Zinsen sind verboten, Spekulation auch. Im militärischen Bereich sind Angriffskriege durch den Islam nicht rechtfertigbar. Nur zur Verteidigung ist der Kampf erlaubt. Den „Heiligen Krieg“ bzw. die Verbreitung des Glaubens durch „Feuer und Schwert“ sieht der Islam nicht vor – es handelt sich hier um ein weit verbreitetes Vorurteil. In Koran und Sunna wird Minderheiten und Angehörigen anderer Religionen in einem islamischen Staat ein hohes Maß an Autonomie bzw. Schutz zuerkannt. Insbesonders werden Christen- und Judentum respektiert (Angehörige dieser beiden Religionen gelten auch nicht als „Ungläubige“, sondern als „Völker der Schrift“). Das Bekenntnis zu einer Gesellschaft, in der auch das Andere seinen Platz hat, liegt auch folgender Presseaussendung der Islamischen Glaubensgemeinschaft für Österreich zugrunde: Presseaussendung zum 8. Mai 2002 „Oh ihr Menschen. Wir haben euch von Mann und Frau erschaffen und euch zu Völkern und Stämmen gemacht, dass ihr einander kennen lernen möchtet. Wahrlich, der Angesehenste von euch ist vor Gott der, der unter euch der Gerechteste ist.“ (Koran 49/14) Der Islam steht für eine klare Haltung in bezug auf Rassismus. Rassismus widerspricht dem in dem zitierten Koranvers dargelegten göttlichen Prinzip der Vielfalt untereinander, welches zu gegenseitigem Austausch einladen soll. Gerechtigkeit als für alle Menschen verbindlicher Wert bildet dabei die ethische Grundlage für ein gedeihliches und friedliches Miteinander. Als Muslime stehen wir so mit ganzem Herzen hinter der Aufforderung „Nie wieder!“. Eingängig beschwört dieses Motto die Entschlossenheit, Faschismus und die damit verbundene menschenverachtende rassistische Politik keinesfalls zuzulassen. [...] Gerade wenn man sich vor Augen führt, dass es keine Selbstverständlichkeit bedeutet, Demokratie in einem freien Land leben zu können, leitet sich daraus ein sehr bewusster Umgang mit © 2002 by Bundesheer Arbeitsblatt 5 1 Der islamische Staat Teilaspekte des islamischen Rechts allen damit verbundenen Elementen wie Meinungs- und Glaubensfreiheit oder Bürgerrechten ab. Somit obliegt es uns, Zeitgeschichte auch für die Jugend in einer Weise darzustellen, dass die belastete Vergangenheit deutliche Vorgaben für unser Heute und für die Zukunft gibt. Prof. Anas Schakfeh, Präsident ð Sie haben nun bereits verschiedene Bereiche des islamischen Rechts bzw. der islami- schen Gesellschaft kennengelernt und diesbezügliche Texte, teils aus westlicher, teils aus islamischer Perspektive gelesen. Welche der in unserer Gesellschaft gängigen Klischees über die islamische Welt stehen offenbar zum Islam bzw. zur Scharia im Widerspruch? Fertigen Sie eine Liste an! Woher kommen die Unterschiede? Wie könnte man falsche Klischees in Zukunft vermeiden, ohne wieder neue zu produzieren? © 2002 by Bundesheer Arbeitsblatt 5 2 Der islamische Staat Hintergründe Der Islam und der Westen – ein spannungsreiches Verhältnis Die islamische und die westliche Welt haben eine wichtige Gemeinsamkeit: das Gefühl einer Bedrohung durch den jeweils anderen. Das Islambild bei uns ist oft geprägt von einer Abwehrhaltung, die offenbar aus der Zeit der Türkenkriege stammt. Durch die Terroranschläge vom 11. September und die damit verbundene neue Angst vor rauschebärtigen Turbanträgern, die unschuldige Zivilisten ermorden, wird diese Islamophobie heute verstärkt. Umgekehrt fühlt man sich in der islamischen Welt seit jeher vom Westen bedroht: bereits im Hochmittelalter vollbrachten die Kreuzfahrer im kulturell viel weiter entwickelten Orient barbarische Gräueltaten. Später führte die bei uns meist positiv bewertete Reconquista Spaniens zur gewaltsamen Vertreibung der Muslime von der iberischen Halbinsel, die dort seit über 800 Jahren gelebt und eine blühende Kultur entwickelt hatten. Auch die Juden, die wie die Christen unter der muslimischen Herrschaft unbehelligt in Spanien leben konnten, wurden nach der Reconquista vertrieben. Mit Napoleons Ägypten-Abenteuer beginnt eine neue Phase der gemeinsamen Geschichte: die der Kolonisierung und Ausbeutung der islamischen Welt durch Europa. 1830 begann Frankreich, Algerien in einem brutalen Eroberungskrieg zu unterwerfen, und in der Folge wurden das islamische Nordafrika sowie beinahe die ganze arabische Halbinsel zur europäischen Kolonie. Die Eliten der kolonisierten Länder waren Objekt einer Politik der De-Islamisierung. Nachdem die islamischen Länder im Laufe des 20. Jahrhunderts ihre Unabhängigkeit wiedererlangt hatten, kam dem Islam bei der Suche nach einer neuen, eigenen Identität erneut große Bedeutung zu. Westlich geprägte Regierungen kamen in Bedrängnis oder wurden gestürzt (z. B. im Iran). Oft hatten Staatengründungen nach dem Ende des europäischen Kolonialismus (Pakistan, Saudiarabien, Libyen) das Ziel, das islamische Recht wieder einzuführen. Das Schlagwort lautete „Islamisierung der Moderne“, und nicht „Modernisierung des Islam“. ð Wie wurden Ihrer Meinung nach Aussagen westlicher, insbesondere US-amerikanischer · Spitzenpolitiker, die den Afghanistan-Krieg mit einem Kreuzzug gegen das Böse verglichen, von den Menschen in islamischen Ländern aufgenommen? Was halten Sie davon, dass im Zuge der Anti-Terror-Aktionen immer wieder vom christlichen Abendland die Rede war, das sich gegen den islamistischen Terror wehrt? Wie könnte das gegenseitige Misstrauen zwischen Westen und islamischer Welt überwunden werden? Welche Schritte müssten unternommen werden, und was darf nicht passieren? © 2002 by Bundesheer Arbeitsblatt 6 1 Der islamische Staat Interview mit Frau Baghajati, Medienreferentin der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich Frage 1: Es gibt einige Staaten und Regimes, die in Europa als typisch für DEN islamischen Staat gesehen werden – zum Beispiel der Iran oder das inzwischen gestürzte Taliban-Regime in Afghanistan (das oft als „Steinzeit-Islam“ bezeichnet wurde). Ist diese Sichtweise gerechtfertigt? Frau Baghajati: Es ist generell ein großes Problem, dass die nötige differenzierte Betrachtungsweise schon daran scheitert, dass der Islam und damit eingeschlossen die Muslime vor allem vor dem Hintergrund dessen betrachtet werden, was durch die Medien bekannt ist – meistens Informationen zu Krisenschauplätzen und Missständen. Dabei möchte ich bemerken, dass die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich sich primär als österreichische Institution versteht, die von daher spezifisch auf die hiesige Situation eingeht und hier primär ihre Aufgabenfelder sieht. Mitunter ist es wichtig zu betonen, dass man im Sinne eines umfassenderen Bildes und als Beitrag zu mehr allgemeinem Wissen darüber hinaus Stellung bezieht, aber nicht in einen „Rechtfertigungsdruck“ hineingeraten möchte – denn oft sind Dinge nicht zu rechtfertigen. Bereits lange vor dem 11. September stieß die Vorgehensweise der Taliban unter Muslimen auf Kritik. In Österreich wurde die Glaubensgemeinschaft in Bezug auf die Situation der Frauen aktiv und wandte sich in einer Aussendung gegen die Zerstörung der Buddhastatuen. Geht es um den Iran, stehen Geschichten wie „Nicht ohne meine Tochter“ oft als einzige „Information“ über Land und Leute. Dass dort selbstbewusste Frauen im Parlament sitzen und eine Vizepräsidentin gewählt wurde, weiß kaum jemand. In der Medienwelt gilt meistens „bad news is good news“ – über Positves wie zivilgesellschaftliche Modelle, z.B. Fraueninitiativen oder die für viele Länder funktionierende dringend benötigte Grundsicherung durch die Zakat (sozialreligiöse jährliche Pflichtabgabe von 2,5 % des stehenden Vermögens für Bedürftige) erfährt man in der Regel nichts. Natürlich muss Kritik immer zumutbar sein, insbesondere in den Menschenrechtsfragen, aber Sachlichkeit ist ebenfalls gefragt. Mit dem Begriff des „Islamischen Staates“ sollte man sehr vorsichtig umgehen. Wo gäbe es ein bestehendes voll funktionierendes heutiges Modell? Wer hierzulande weiß schon, welche Eigenschaften einen islamischen Staat ausmachen sollten? Die Systeme der islamischen Welt sind von ihren Regierungen her häufig alles andere als islamisch, sondern aus den verschiedensten Interessen heraus geduldete Regime, oft mit Tendenzen der Diktatur. Für die muslimische Welt ist die eingeschränkte Sichtweise, die Angstbilder zu bestätigen scheint und diese weiter fördert, auch darum so problematisch weil sie das Verhältnis von Muslimen zu Menschen anderen Glaubens oder anderer Weltanschauung belasten können und Feindbilder aufbauen. Frage 2: Oft heißt es, dass es für Muslime keine Trennung zwischen Staat und Religion gibt, wie das in vielen westlichen Demokratien der Fall ist. Müssen Politiker in islamischen Staaten auch Theologen sein? Frau Baghajati: Was genau ist mit der Trennung zwischen Staat und Religion gemeint? Auch hier gibt es verschiedene Ausformungen, die gerade in Europa jeweils vor dem Hinter- © 2002 by Bundesheer Arbeitsblatt 7 1 Der islamische Staat grund der eigenen Geschichte zu betrachten sind. Laizismus wie in Frankreich, der Religion an den gesellschaftspolitischen Rand drängt und zur nicht öffentlich zu machenden Privatsache erklärt, steht etwa für eine andere Situation als in Österreich. Übrigens sind auch einige Länder mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung laizistisch ausgerichtet, was zu Konflikten in der Glaubensausübung für die eigene Bevölkerung führen kann. Etwas anderes ist dagegen eine Trennung zwischen legislativer und theologischer Autorität. Fast nie im Lauf der islamischen Geschichte lag die weltliche Herrschaft und die geistliche Führung in Händen nur einer Person. Einzig der Prophet Muhammad während der Zeit in Medina bildet hier eine Ausnahme. Schon die beiden ersten Khalifen Abu Bakr und Omar Ibn al Khattab waren zwar politische Führer und anerkannte Geistliche zugleich. Eine absolute theologische Autorität wurde ihnen von der muslimischen Gemeinschaft jedoch nicht zugebilligt. Unterschiedliche Rechtsauffassungen bildeten den Hintergrund für lebhafte Diskussionen, was in unzähligen Berichten über „ikhtilafu as-sahaba“, Meinungsverschiedenheiten unter den Gefährten des Propheten, seinen Niederschlag gefunden hat. Dabei meldeten sich Frauen, allen voran die Tochter des Propheten Fatima, seine Gattin Aisha und viele andere nachhaltig im gesellschaftspolitischen Diskurs zu Wort. Keiner der bekanntesten Begründer von Rechtsschulen, Jaafar al-Sadiq, Malik, Abu Hanifa, Asch-Schafii und Ibn Hanbal, bekleidete je ein politisches Amt. Frage 3: Ist eine religiöse Begründung einer Staatsverfassung nicht demokratiepolitisch bedenklich, vor allem in Hinblick auf Minderheiten? Ich möchte hier auch auf Länder wie den Sudan verweisen, in dem manche Gebiete die Schari‘a eingeführt haben, manche nicht. Gibt es da noch Gleichheit vor dem Gesetz? Frau Baghajati: Schari‘a wurde im Laufe der islamischen Geschichte nie auf Andersgläubige angewendet. Die Christen und Juden genießen eine Art Autonomie und können ihre Angelegenheit selbst regeln. Es gibt daher nicht nur die Gleichheit vor dem Gesetz, sondern es sind Menschen anderer Religion auch von für den Islam verbindlichen Dingen ausgenommen (Beispiel Alkoholverbot). Was den Sudan betrifft, so ist hier vor allem ein politischer Konflikt Ursache für Spannungen, auch wenn immer wieder der religiöse Zusammenhang in den Medien hochgespielt wird. Frage 4: Manchmal fällt es schwer, von einer islamischen Welt zu sprechen, denkt man an die Verschiedenheit von Ländern wie der Türkei, dem Iran oder Malaysia. Ist die Schari‘a so unterschiedlich interpretierbar? Frau Baghajati: Der Islam hat einen universellen Charakter und akzeptiert die Unterschiede der Menschen zum Beispiel aufgrund geographischer, geschichtlicher aber auch kultureller Hintergründe. Diesen Pluralismus sehen wir Muslime als ein positives Zeichen und eine Bereicherung. Aber nochmals zum Schari‘abegriff: Man kann nicht oft genug darauf verweisen, dass hiermit sehr umfassend auch die Glaubenspraxis angesprochen wird, also etwa die zentralen fünf Säulen des Islam wie Monotheismus, Gebet, Zakat, Fasten und Pilgerfahrt. Damit liegt für die islamische Welt ein sehr starkes verbindendes Element vor, denn so wie ein muslimischer Indonesier sein Fasten hält, tut dies auch ein Muslim in Amerika. Daneben soll die Schari‘a ja auch ihr lebendiges Wesen zeigen und dynamisch betrachtet werden können, wenn es um konkrete Situationen geht. Zeit, Ort und handelnde Personen © 2002 by Bundesheer Arbeitsblatt 7 2 Der islamische Staat sind mit zu berücksichtigende Faktoren bei der Ableitung eines Rechtgutachtens. Dass sich ein so vielfältiges Bild zeigt, liegt aber auch daran, dass die Verfassungen der Staaten sehr unterschiedlich mit ihrem islamischen Hintergrund umgehen und dementsprechend sehr verschiedene Gewichtungen, was die Einarbeitungen von Elementen aus der Scharia betrifft, vornehmen. Frage 5: Wie ist das mit muslimischen Minderheiten in Europa – können Muslime z. B. als österreichische Staatsbürger aktiv am politischen und gesellschaftlichen Leben teilnehmen, oder verbietet das das islamische Recht? Frau Baghajati: Die Theologie schafft einen Zugang, der in der Betonung der Verantwortung des Einzelnen innerhalb einer Gemeinschaft ein starkes Gewicht auf Partizipation legt. Der Koran hat als 42. Sure „Asch-Schura“ – „Die Beratung“ und legt damit unmissverständlich demokratische Prozesse der Entscheidungsfindung als Grundlage nieder. Die Islamische Glaubensgemeinschaft ist sich der Verantwortung bewusst, hier aktiv zu sein und ermutigt ihre Mitglieder, positive Zeichen gesellschaftlicher Teilhabe zu setzen. Die Anerkennung der Gesetze und der Verfassung ist schon theologisch geboten und schlüssig. Der Islam ist eine seit 1912 anerkannte Religonsgesellschaft in Österreich. Auf der Basis dieses Gesetzes konnte sich 1979 die Islamische Glaubensgemeinschaft als offizielle Vertretung aller in Österreich lebenden Muslime konstituieren und bildet eine Körperschaft öffentlichen Rechts. Dies schafft sehr gute Voraussetzungen für eine angestrebte Entwicklung mit folgenden Eckpunkten, die sich bereits konkret herausbilden: · Zugehörigkeitsgefühl zu Österreich · Überwindung des Klischeebildes vom „Gastarbeiter“, Islam als ein lebendiger Aspekt in Österreich · Kompatibilität „Muslim/e und Europäer/in“ · Teilnahme am demokratischen Prozess Aktive Partizipation in der Politik bis hin zur Mitwirkung in einer Partei ist bereits Realität. Frage 6: Viele Länder der islamischen Welt sind heute mit religiös motivierten, militanten Bewegungen konfrontiert – zum Beispiel Algerien, Ägypten oder auch die Philippinen. Das Wort „radikal-islamisch“ fällt in den Medien meist in Zusammenhang mit paramilitärischen oder terroristischen Gruppierungen. Ruft der Islam zu Gewalt oder Terror auf? Frau Baghajati: Es gibt im Islam nichts, was Gewalt gegen unschuldige Menschen in irgendeiner Weise rechtfertigt. Einhellig wird dies in der islamischen Welt von allen Gelehrten vertreten. Wörter wie „radikal-islamisch“, Fundamentalismus, Scharia, Jihad werden in einer Weise verwendet, die oft vom mangelnden Wissen der Verfasser zeugt. Dass diese Begriffe so allgemein verwendet werden, heißt leider noch lange nicht, dass sie allgemein bekannt wären. „Radikal islamisch“ ist eine Umschreibung, wie sie geradezu modisch geworden ist. Einziges Kriterium dabei ist die angenommene Gewaltbereitschaft der so beschriebenen Gruppe oder Person. Für praktizierende Muslime liegt hier eine mit Sorge beobachtete Entwicklung, weil durch die mangelnde Definition, wie sie ja auch beim aus dem amerikanisch-protestantischen Bereich übertragenen Fundamentalismusbegriff nie stattgefunden hat, eine abschrekkende Klassifizierung vorgenommen werden kann. Welcher Maßstab wird nun seitens der Öffentlichkeit angelegt, um radikal-islamische Tendenzen auszumachen? In verschiedenen © 2002 by Bundesheer Arbeitsblatt 7 3 Der islamische Staat Medien wurden alltägliche Elemente des Glaubens schon als Indizien für Radikalität eingestuft – Abstinenz vom Alkohol etwa. Frage 7: Was halten Sie von der These des „clash of cultures“? Stehen sich die westliche und die islamische Welt wirklich so unversöhnlich gegenüber? Frau Baghajati: Natürlich nicht. Die besondere Herausforderung scheint auch viel mehr darin zu liegen, mit der Nähe zueinander umgehen zu lernen. Die monotheistischen Buchreligionen sind als abrahamitische Religionen eng miteinander verwandt. Wir teilen streckenweise eine gemeinsame Geschichte, die nicht immer friedlich war. Dass sich von den Kreuzzügen bis zu den sogenannten Türkenkriegen Spannungen weniger auf religiöse Konflikte, denn auf geopolitische und wirtschaftliche Interessen zurückführen lassen und der religiöse Hintergrund zur Diffamierung des Anderen herhalten musste, ist zu wenig bewusst. Die Kolonialzeit hat weitere tiefe Wunden entstehen lassen. Gleichzeitig wird das reiche orientalische Erbe oft vergessen. Errungenschaften der Medizin, Mathematik, Astrologie und Philosophie bildeten mehr als nur eine wichtige Basis für Weiterentwicklung. Sogar in den europäischen Sprachen legen viele Wörter davon Zeugnis ab - von A wie Algebra bis Z für Zucker. In den letzten Jahren entstehen Frustrationen in vielen islamischen Gesellschaften, weil spürbar wird, dass sich nach dem Ende des kalten Krieges mit dem Islam ein neues Feindbild abzeichnet. Dies zusammen mit der Unzufriedenheit über die Regierungen der eigenen Länder und der Tatsache, dass von Menschenrechten viel geredet wird, de facto aber mit zweierlei Maß gemessen zu werden scheint, bildet einen spannungsgeladenen Hintergrund. Dieses ohnehin schon belastete Klima wird durch das Gefühl von Ohnmacht im Angesicht des Nahostkonflikts verschärft, der als eine schier ausweglose Lage permanenten Unrechts wahrgenommen wird. Auf diesem Boden finden Verschwörungstheoretiker genauso leicht ihr Publikum wie Analysten, die vereinfachende Darstellungen abliefern, um das Unbehagen angesichts sich immer mehr verzweigenderer und komplexerer Probleme zu nehmen. – Eine Tendenz, die wohl für beide Seiten gilt. Respekt für den anderen empfinden zu können, erscheint wichtiger denn je und der ehrliche Dialog das einzige probate Mittel. Die Bereitschaft, einander gleichberechtigt zu begegnen, Standpunkte zu vergleichen und auf Gemeinsamem aufzubauen scheint weniger eine Schwierigkeit der prinzipiellen Möglichkeit zu sein wie die Frage, inwieweit der große politische Wille dazu vorhanden ist. Immer wieder geben einzelne Initiativen aber wichtige Impulse, dass auf dem Wege des Dialogs für alle nur positive Ergebnisse erzielt werden können. In Österreich sind diese Tendenzen erfreulicherweise auch im Kleinen auf der Ebene vieler Begegnungsveranstaltungen gelebte Realität. © 2002 by Bundesheer Arbeitsblatt 7 4