Programmheft - Badisches Staatstheater Karlsruhe

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O SINK HERNIEDER,
NACHT DER LIEBE,
GIB VERGESSEN,
DASS ICH LEBE;
NIMM MICH AUF
IN DEINEN SCHOSS,
LOSE VON
DER WELT MICH LOS!
TRISTAN UND ISOLDE
Handlung in drei Aufzügen von Richard Wagner
Libretto vom Komponisten
In deutscher Sprache mit deutschen & englischen Übertiteln
Tristan König Marke Isolde
Kurwenal
Melot
Brangäne
Ein junger Seemann /
Ein Hirt
Ein Steuermann ERIN CAVES a. G.
Ks. KONSTANTIN GORNY* / RENATUS MESZAR*
HEIDI MELTON a. G.* / RACHEL NICHOLLS a. G.
SEUNG-GI JUNG* / Ks. ARMIN KOLARCZYK*
Ks. KLAUS SCHNEIDER* / MATTHIAS WOHLBRECHT*
CHRISTINA NIESSEN* / KATHARINE TIER*
** Opernstudio
CAMERON BECKER* / ELEAZAR RODRIGUEZ*
MEHMET ALTIPARMAK*/**
* Rollendebüt
Doppelbesetzungen in alphabetischer Reihenfolge
Musikalische Leitung Regie Bühne Kostüme
Licht
Chor Movement director
Dramaturgie JUSTIN BROWN
CHRISTOPHER ALDEN
PAUL STEINBERG
SUE WILLMINGTON
STEFAN WOINKE
ULRICH WAGNER
ELAINE BROWN
RAPHAEL RÖSLER
BADISCHE STAATSKAPELLE
Englischhorn MICHAEL ANDREAS HÖFELE a. G. / SEBASTIAN RÖTHIG a. G.
Holztrompete JENS BÖCHERER / WOLFRAM LAUEL
HERREN DES BADISCHEN STAATSOPERNCHORS
STATISTERIE DES STAATSTHEATERS KARLSRUHE
PREMIERE 27.3.16 GROSSES HAUS
Aufführungsdauer ca. 5 Stunden, zwei Pausen
1
Regieassistenz CHRISTINE HÜBNER, GLEN SHEPPARD a. G. Abendspielleitung CHRISTINE
HÜBNER Musikalische Assistenz & Einstudierung RAINER ARMBRUST a. G., PAUL
HARRIS, ALISON LUZ Studienleitung STEVEN MOORE Mitarbeit Choreinstudierung
MARIUS ZACHMANN Bühnenbildassistenz MEGAN ROLLER Kostümassistenz STEFANIE
HOFMANN Dramaturgiehospitanz & Übertitel SOPHIE SCHWARZENBERGER Soufflage
EVELYN WALLPRECHT Inspizienz GABRIELLA MURARO Leitung der Statisterie OLIVER
REICHENBACHER
Technische Direktion HARALD FASSLRINNER, RALF HASLINGER Bühneninspektor RUDOLF
BILFINGER Bühne EKHARD SCHEU, STEPHAN ULLRICH Leiter der Beleuchtungsabteilung
STEFAN WOINKE Leiter der Tonabteilung STEFAN RAEBEL Ton HEIDRUN WEISLINGKENSY, JAN PALLMER Leiter der Requisite WOLFGANG FEGER Werkstättenleiter GUIDO
SCHNEITZ Malsaalvorstand GIUSEPPE VIVA Leiter der Theaterplastiker LADISLAUS
ZABAN Schreinerei ROUVEN BITSCH Schlosserei MARIO WEIMAR Polster- und
Dekoabteilung UTE WIENBERG
Kostümdirektorin CHRISTINE HALLER Gewandmeister/-in Herren PETRA ANNETTE
SCHREIBER, ROBERT HARTER Gewandmeisterinnen Damen TATJANA GRAF, KARIN
WÖRNER, ANNETTE GROPP Waffenmeister MICHAEL PAOLONE, HARALD HEUSINGER
Schuhmacherei NICOLE EYSSELE, THOMAS MAHLER, VALENTIN KAUFMANN Modisterei
DIANA FERRARA, JEANETTE HARDY Kostümbearbeitung ANDREA MEINKÖHN
Chefmaskenbildner RAIMUND OSTERTAG Maske MELISSA DÖBERL, KARIN GRÜN,
NIKLAS KLAIBER, MARION KLEINBUB, JESSICA MOLNAR, DOROTHE SONNTAG-MOLZ
WIR DANKEN
der Privatbrauerei Hoepfner GmbH für die Unterstützung der Premierenfeier.
Wir machen darauf aufmerksam, dass Ton- und/oder Bildaufnahmen unserer
Aufführungen durch jede Art elektronischer Geräte strikt untersagt sind.
DA SCHRIE’S MIR AUF
AUS TIEFSTEM GRUND!
2
Heidi Melton
3
GRENZENLOSE
LIEBE
ZUM INHALT
VORGESCHICHTE
1. AUFZUG
Tristan tötet im Kampf Morold, den Verlobten von Isolde, und wird dabei selbst
schwer verwundet. In dem Wissen um
Isoldes Heilkünste fährt er zu ihr: Er will
sich heilen lassen.
Isolde ist in ihrer Ehre verletzt. Sie fühlt sich
von Tristan verraten, der sie zu der Ehe mit
Marke gedrängt hat und den sie insgeheim
liebt. Sie schickt ihre Freundin Brangäne zu
ihm, um Tristan zu einer Aussprache zu bewegen. Tristan und sein Vertrauter Kurwenal
verspotten sie und schicken sie fort.
Isolde erkennt in ihm Morolds Mörder und
möchte ihren Verlobten rächen. Doch als
Tristan ihr in die Augen blickt, verwandelt
sich ihr Hass in Liebe. Statt ihn zu töten,
pflegt sie ihn und lässt ihn nach Hause
fahren.
Einige Zeit später kehrt Tristan zu Isolde
zurück, um sie als Braut für seinen Onkel
Marke zu werben. Mit der Ehe soll der
Friede zwischen beiden Familien besiegelt
werden.
Isolde folgt Tristan in Markes Reich.
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Isolde weiht Brangäne in die Vorgeschichte
ein. Daraufhin erinnert Brangäne Isolde an
die Zaubermittel, die Isoldes Mutter ihr mitgegeben hat. Isolde möchte mit Tristan einen Todestrank trinken, um sich zu rächen.
Brangäne ist bestürzt, bereitet dennoch den
Trank vor.
Tristan beugt sich Isoldes erneutem
Wunsch nach einer Aussprache und begibt
sich zu den beiden Frauen. Isolde fordert
Sühne für den Mord an ihrem Verlobten.
Tristans alte Wunde beginnt zu schmerzen.
Er willigt ein, mit Isolde gemeinsam den
Todestrank zu trinken. In dem Glauben, Gift
zu sich genommen zu haben, gestehen sich
beide im Angesicht des vermeintlichen
Todes ihre Liebe. Brangäne gibt zu, die Zaubermittel vertauscht und ihnen absichtlich
einen Liebestrank serviert zu haben.
Marke, vom misstrauischen Melot herbeigeführt, überrascht das liebesversunkene
Paar. Tristans Vertrauensbruch trifft ihn
tief. Tristan beschließt, Isolde ins „Wunderreich der Nacht“ vorauszugehen. Isolde
verspricht, ihm zu folgen. Eine erneute
Annäherung der beiden provoziert Melot.
Todesmutig bietet Tristan ihm die Brust.
2. AUFZUG
3. AUFZUG
In der Nacht bereitet Brangäne das heimliche Treffen von Isolde und Tristan vor. Sie
warnt Isolde vor Tristans Freund Melot: Sie
ist überzeugt, dass er den Liebenden nachspioniert und alles aufdecken könnte. Isolde hört nicht auf sie und löscht das Licht,
das vereinbarte Zeichen für Tristan, zu ihr
zu kommen.
Tristan ist schwer verletzt und seine Wunde
will nicht heilen. Ein Bewacher spielt eine
traurige Weise, die ihn aus der Ohnmacht
holt. In seinen Fieberfantasien durchlebt
Tristan erneut seine traurige Kindheit und
die Ereignisse der letzten Zeit. Er verzehrt
sich nach Isolde und verflucht den Liebestrank und die Liebe.
Tristan und Isolde verfluchen die Welt des
Tages und preisen die Nacht der grenzenlosen Liebe. In dem Bewusstsein, dass sie
ihre Liebe auf Erden nicht ausleben können,
beschließen sie, gemeinsam in den Tod zu
gehen. Von Liebesglut und Todeswunsch
ergriffen, überhören sie Brangänes Warnruf.
Als er Isolde entdeckt, reißt Tristan sich den
Verband von der Wunde und stirbt. Marke
vergibt den Liebenden. Brangäne hat ihm
vom Liebestrank berichtet. Doch weder seine noch Brangänes Worte erreichen Isolde.
Verklärt gibt sie sich ihrer Todessehnsucht
hin.
ER SAH MIR IN DIE AUGEN.
SEINES ELENDES
JAMMERTE MICH!
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Herren des Staatsopernchors, Katharine Tier, Ks. Klaus Schneider, Heidi Melton, Erin Caves & Seung-Gi-Jung
7
UNBEZWINGBARE
LEIDEN-
SCHAFT
Allerdings aber bestätigt es auch die Erfahrung,
wenngleich nicht die alltägliche, dass das, was
in der Regel nur als eine lebhafte, jedoch noch
bezwingbare Neigung vorkommt, unter gewissen
Umständen anwachsen kann zu einer Leidenschaft, die an Heftigkeit jede andere übertrifft und
dann alle Rücksichten beseitigt, alle Hindernisse
mit unglaublicher Kraft und Ausdauer überwindet,
so dass für ihre Befriedigung unbedenklich das
Leben gewagt, ja, wenn solche schlechterdings
versagt bleibt, in den Kauf gegeben wird.
aus Arthur Schopenhauer Die Welt als Wille und
Vorstellung, Kapitel Metaphysik der Geschlechtsliebe
8
Katharine Tier
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DAS
HÖCHSTE
LEBENSFEUER
ZUM WERK
Es könnte so einfach sein: Ein Komponist
setzt sich vor einen Stapel leerer Notenblätter, spitzt die Feder, taucht sie in die
Tinte und fängt an zu komponieren. Nach
einer Zeit ungestörter genial-musischer
Schöpfertätigkeit zieht er hinter den letzten
Noten einen doppelten Schlussstrich, legt
das Schreibwerkzeug beiseite, trocknet
die Tinte und lehnt sich voller Zufriedenheit
und Vorfreude auf die zeitnah anstehende
Uraufführung zurück. Wie das mit Idealvorstellungen so ist, sieht die Realität
weniger reibungslos aus: Auch die größten
Tonkünstler litten unter Schreibblockaden,
Schaffenskrisen, finanziellen Engpässen
oder anderen künstlerischen und privaten
Schwierigkeiten, die dazu führten, dass
sich der Schaffensprozess in die Länge
zog, Projekte zur Seite gelegt und andere
in Angriff genommen wurden. Leben und
Werk Richard Wagners sind bekanntlich
von derartigen Krisen und Umwegen stark
geprägt: Wiederholt brach Wagner die
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Arbeit an einem Vorhaben ab und wendete
sich unter anderem aus Geldnot einem
neuen zu. Einige Projekte blieben dabei als
Fragment auf der Strecke, andere kamen
nie über das Entwurfsstadium hinaus.
Ein künstlerischer Seitensprung
Beim Ring des Nibelungen, ursprünglich
als eine Oper über Siegfrieds Tod konzipiert,
war das Gegenteil der Fall: Das Werk wuchs
und gedieh und aus der einen geplanten
Oper wurde schließlich ein vierteiliger
Opernzyklus mit einer Spieldauer von ca.
14 Stunden. Es wundert wenig, dass solch
ein Projekt von bis dahin ungekannten Ausmaßen, in dem nicht weniger als „der Welt
Anfang und Untergang“ dargestellt werden
sollten, Wagner an seine Grenzen führte.
„Ich kann mich nicht mehr für den Siegfried
stimmen, und mein musikalisches Empfinden
schweift schon weit darüber hinaus, da wo
meine Stimmung hinpasst, in das Reich der
Schwermut.“ Als Richard Wagner diese
Worte im Dezember 1856 an den befreundeten Kaufmann Otto Wesendonck richtete,
ging er schon eine Zeit lang mit einem neuen
Vorhaben schwanger. Bereits im Dezember
1854 hatte er Franz Liszt davon in einem viel
zitierten Brief berichtet: „Da ich nun aber
doch im Leben nie das eigentliche Glück
der Liebe genossen habe, so will ich diesem
schönsten aller Träume noch ein Denkmal
setzen, in dem von Anfang bis zum Ende diese Liebe sich einmal so recht sättigen soll:
ich habe im Kopfe einen Tristan und Isolde
entworfen, die einfachste, aber vollblutigste musikalische Conception.“ Zwei Jahre
später, im Dezember 1856, konkretisierte
sich der Plan und Wagner zog in Erwägung,
„die Nibelungen aufzugeben, und dafür ein
einfaches Werk – wie den Tristan – vorzunehmen.“ Er zweifelte an der Aufführbarkeit
der Ring-Tetralogie, deren Abschluss noch
in weiter Zukunft lag; außerdem plagten ihn
Geldsorgen. So heißt es weiter in dem Brief
an seinen Freund Liszt, es gehe ihm darum,
die neue Oper „schnell auf die Theater zu
bringen“ und sich dadurch „Honorare zu
verschaffen“.
Die endgültige Entscheidung, die Komposition des Rings zu unterbrechen, fällte
Wagner im Sommer 1857, während er am
zweiten Siegfried-Akt arbeitete. Am 28.
Juni 1857 schrieb er dahingehend an Liszt:
„Ich habe meinen jungen Siegfried noch in
die schöne Waldeinsamkeit geleitet; dort
hab’ ich ihn unter der Linde gelassen und
mit herzlichen Thränen Abschied genommen.“ Kaum war die Entschluss gefasst,
machte Wagner sich an die Arbeit und ging
das neue Projekt zügig an: Bereits im September des Jahres hatte er die Textdichtung in seinem Zürcher Exil abgeschlossen.
Nachdem er bereits während der Dichtung
einzelne musikalische Ideen notiert hatte,
begann er wenige Wochen später mit der
eigentlichen Komposition. Doch hier stockte die Arbeit. Ein Grund für die Verzögerung
war, dass Wagners legendäre außereheliche Liebesaffäre mit Mathilde Wesendonck,
der Frau seines Freundes und Förderers
Otto Wesendonck, im April 1858 von Wagners Ehefrau Minna aufgedeckt wurde. Er
sah sich gezwungen, im August aus dem
Schweizer Exil nach Venedig zu flüchten,
wo er den Tristan weiterkomponierte. Den
doppelten Schlussstrich zog Wagner erst
ein Jahr später, im August 1859, in Luzern.
Ein „einfaches Werk“?
Wagners Absicht, mit dem Tristan ein
leichtes, einfach aufführbares und somit
einträgliches Werk vorzulegen, ging einher
mit frühzeitigen Verhandlungen für eine
mögliche Uraufführung. Noch bevor er
überhaupt mit der Komposition begonnen
hatte, verhandelte er mit dem Karlsruher
Intendanten Eduard Devrient, einem Freund
aus Dresdener Tagen, und informierte 1857
seinen Verleger Breitkopf & Härtel über
eine zeitnahe Uraufführung im Herbst 1858
am Karlsruher Hoftheater. Auch wenn das
Datum aus den genannten Gründen nicht
gehalten werden konnte, hoffte Wagner
noch im Juli 1859 auf eine Karlsruher Premiere im Oktober des Jahres. Doch wenige
Wochen später lehnte Devrient das Werk
ab, was Wagner seinem Verleger gegenüber als „Gewissenlosigkeit“ bezeichnet.
Zwar ist die Sängerbesetzung im Tristan
verglichen mit dem Ring-Personal überschaubar und auch der Chor kommt anders
als im Fliegenden Holländer, Lohengrin
oder Tannhäuser wenig zum Einsatz, doch
Wagner wurde sich zunehmend bewusst,
welche Herausforderung sein jüngstes
Werk an die Sänger der Titelpartien stellte.
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Das zeigte sich insbesondere in Wien, wo
Wagner nach langwierigen Verhandlungen
ein weiteres Mal auf eine Uraufführung
hoffte. Vor allem Alois Anders, der Sänger
des Tristan, hatte mit der Partie zu kämpfen.
Wagner war einsichtig und zu zahlreichen
Konzessionen bereit: Er passte die Partie
an Anders’ stimmlichen Fähigkeiten an,
reduzierte die Lautstärke des Orchesters
und genehmigte etliche Kürzungen. Er ging
sogar so weit und zog in Erwägung, fast
den gesamten, für den Tristan besonders
anstrengenden 3. Aufzug zu streichen. Nur
„Isoldes Verklärung“, heute gemeinhin
als „Isoldes Liebestod“ bezeichnet, sollte
bleiben und direkt an das Ende des 2. Aufzugs anschließen. Doch Wagners Bemühungen wurden auch dieses Mal nicht von
Erfolg gekrönt: 1863 platzte nach ganzen
77 Proben auch die Wiener Uraufführung.
Erst 1865 hatte Wagner – dank der finanzkräftigen Unterstützung von Ludwig II. von
Bayern – Erfolg und konnte am 10. Juni im
Königlichen Hof- und Nationaltheater in
München der Uraufführung beiwohnen.
Ein persönliches Werk
Wie prekär Wagners Lebenssituation während der Entstehung des Tristan und wie
wichtig ihm ein baldiger Erfolg war, klingt
in zahlreichen Briefen und Tagebucheinträgen an. Doch Wagner sah in dem Werk
weit mehr als nur eine schnelle Möglichkeit, den eigenen Geldbeutel zu füllen. Mit
großer Leidenschaftlichkeit schrieb er über
sein neues Projekt und darüber, wie sehr
ihn Handlung und Musik begeisterten, aber
auch emotional in Anspruch nahmen, so
beispielsweise im April 1859 an Mathilde
Wesendonck: „Sehr griff mich noch der
zweite Akt an. Das höchste Lebensfeuer
loderte in ihm mit so unsäglicher Glut hell
auf, dass es mich fast unmittelbar brannte
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und zehrte.“ Die enge emotionale Bindung
an das Werk, die aus diesen Zeilen spricht,
mag verschiedene biografische Hintergründe haben. Vor allem seine Beziehung
zu Mathilde Wesendonck bzw. das Erleben
einer heftigen, aber unmöglichen Liebe wird
nicht nur zur Verzögerung bei der Komposition beigetragen, sondern auch produktive
Kräfte freigesetzt haben. Die Gestalt eines
Kunstwerks auf die Biografie des Künstlers
zurückzuführen, birgt sicherlich so manche
interpretatorische Untiefe. Wer kennt schon
die wahre Intention des Künstlers? Und
selten sind die Zusammenhänge zwischen
Leben und Werk eindeutig. Doch im Fall von
Tristan und Isolde ist es unvorstellbar, dass
seine Beziehung zu Mathilde Wesendonck,
die Wagner noch 1863 als seine „erste und
einzige Liebe“, als „Höhepunkt“ seines
Lebens bezeichnete, keinen Einfluss auf
das Werk hatte. Mit Mathilde Wesendonck
verband ihn weit mehr als nur eine kurze
Affäre, war sie ihm doch Muse und Seelenverwandte, der Wagner über viele Jahre
hinweg in Briefen und Notizen seine innersten Gefühle offenbarte und Einblicke in
seine kreative Arbeit gewährte. 1853 komponierte Wagner für sie eine Klaviersonate.
Im Herbst 1857 schenkte er ihr die Urschrift
der Tristan-Dichtung. Silvester 1857 folgte
die musikalische Skizze zum 1. Aufzug,
der er ein rührendes Widmungsgedicht
beilegte. In die gleiche Zeit fällt auch die
Komposition der Fünf Dilettanten-Gedichte
für eine Frauenstimme, mit denen Wagner,
der bislang nur eigene Dichtungen in Klang
setzte, fünf Texte der verehrten Mathilde
vertonte. Die Musik aus zwei dieser Wesendonck-Lieder – Im Treibhaus und Träume
– floss später in die Komposition des Tristan
ein. Wie eng Leben und Werk in diesem Fall
miteinander verbunden sind, legt auch ein
Brief von Wagners Noch-Ehefrau Minna
vom 15. Dezember 1858 nahe, in dem sie an
Renatus Meszar, Heidi Melton & Erin Caves
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den gemeinsamen Dresdner Freund Johann
Jakob Sulzer schreibt: „Nächste Ostern soll
die Aufführung des Tristan und Isolde unter
eigner Aufsicht W[agners] in Karlsruhe
statt haben, wohin ich kommen soll und mit
ihm weiter zu ziehen; allein ich gehe nicht,
will nichts von dem Triumph und dieser
Oper wissen, die ich ohnehin nicht leiden
kann, da ich ihre Veranlassung kenne. Der
Text ist abscheulich, fast unanständig liebesglühend.“
Ein Gegenentwurf zu Schopenhauer
Einen weiteren wichtigen Hintergrund zum
Tristan gibt Wagner in seiner Autobiografie
Mein Leben an, wo er das geplante Werk
mit seiner Schopenhauer-Lektüre im Herbst
1854 in Verbindung bringt: „Es war wohl
zum Teil die ernste Stimmung, in welche
mich Schopenhauer versetzt hatte und die
nun nach einem ekstatischen Ausdrucke
ihrer Grundzüge drängte, was mir die Konzeption eines Tristan und Isolde eingab.“
Wagner war ein begeisterter Anhänger des
Philosophen: Sein zweibändiges Hauptwerk
Die Welt als Wille und Vorstellung, das
er gegenüber Mathilde als „Himmelsgeschenk“ bezeichnete und das auch für die
Konzeption des Rings von Bedeutung ist,
studierte er gleich mehrmals. Doch inwieweit die Philosophie Schopenhauers, dem
laut Wagner „größten Philosophen seit
Kant“, die Gestalt des Tristan beeinflusst
hat, war und ist Gegenstand von Kontroversen. So begeistert sich Wagner von Schopenhauer auch zeigte, so kritisch diskutierte er seine Theorie im Detail, beispielsweise die Liebesphilosophie, die der Denker im
Kapitel „Metaphysik der Geschlechtsliebe“
entwickelt hatte. Liebe ist für Schopenhauer, mit Ausnahme von Mitleid, negativ
besetzt. In der triebhaften Geschlechtsliebe
sieht er einen Willensdrang, den es zu
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unterdrücken gilt. Schopenhauers Losung
lautet: Willensberuhigung durch asketische
Liebesverneinung. In einem Briefentwurf an
Schopenhauer persönlich skizzierte Wagner diesbezüglich eine Gegenargumentation. Folgt man Wagners Briefentwurf, sieht
er in der Geschlechtsliebe nichts, was es zu
verdammen gilt, sondern einen „Heilsweg
zur Selbsterkenntnis“. Doch das größte Gegenargument gegen Schopenhauer ist der
Tristan; schließlich zeigt Wagner in seiner
Liebesoper, wie der Liebesdrang dazu führt,
das zwei Menschen einen Dritten betrügen
und hintergehen, und dieser ihnen letztlich
mit großer Emphase vergibt.
Eine unmoralische Vorlage
Indem Wagner in seiner Liebesoper einen
Ehebruch ins Zentrum stellte und damit die
Liebe über Ehe bzw. Treue hob, setzte er
sich auch Kritik aus. Sein Tristan galt nicht
nur seiner Noch-Ehefrau Minna als „unanständig liebesglühend“ und die Liebenden
als „ekliges Paar“. Schon die Wahl seiner
Vorlage wurde von seinen Zeitgenossen
negativ bewertet. Wagner hatte sich mit
Gottfried von Straßburgs unvollendet gebliebenem Tristan-Roman von 1210 eines
umstrittenen Stoffes angenommen. Einerseits wurde der mittelalterliche Epos von
den Philologen des 19. Jahrhunderts wegen
seiner sprachlichen Schönheit bewundert,
andererseits beurteilte man den Inhalt als
„unsittlich“; man sprach sogar von „Gotteslästerung“. Auch der Wagner-Freund
Hans von Wolzogen nannte die Vorlage in
den Wagner-freundlichen Bayreuther Blättern einen „Wust sinnlich-frivoler MinneSpielereien“.
Wagner hatte zwei Tristan-Ausgaben in
mittelhochdeutscher Sprache und eine
neuhochdeutsche Übersetzung von Her-
mann Kurz (1844) in seinem Besitz, welche
die Grundlage für sein Opernlibretto darstellt. Aus Gottfrieds Version des mehrfach
adaptierten, ursprünglich keltischen Stoffs
übernahm er den Grundkonflikt und einige
wenige Grundsituationen. Wagner stellt genau das ins Zentrum, was seine Zeitgenossen an Gottfried kritisierten: die Darstellung
einer bedingungslosen Liebe verbunden mit
dem Bruch von gesellschaftlichen Konventionen, wie Ehe und Freundschaft.
Indem Wagner einige Details veränderte,
Nebenhandlungen und Schauplätze wegließ, reduzierte er den Stoff in seinem Musikdrama auf den Kern, konzentrierte sich
auf das Paar und ihre Liebe und veränderte
die Psychologie der Figuren. Gottfrieds Isolde tötet Tristan schlicht deswegen nicht,
weil eine Dame nicht zum Schwert greift
– Wagner begründet das Unterlassen des
Rachestoßes mit einem Blick, den Tristan
Isolde zuwirft und Isoldes aufkeimender
Liebe. Die mehreren heimlichen Zusammenkünfte von Tristan und Isolde bei Gottfried fasst Wagner zu einer großen Liebesszene im 2. Aufzug zusammen. Im Gegenzug
dämpft Wagner das sexuelle Feuer im 1.
Aufzug und lässt Tristan und Isolde erst
in Markes Reich ihre Liebe ausleben. Bei
Gottfried gibt es schon auf dem Schiff kein
Halten mehr, nachdem ein Dienstmädchen
– nicht Brangäne – Todes- und Liebestrank
nicht aus Absicht, sondern versehentlich
vertauscht hat. Der bereits auf der Überfahrt vollzogene Liebesakt hat bei Gottfried
zur Folge, dass Brangäne als Isolde verkleidet die Hochzeitsnacht mit Marke verbringt,
um Isoldes Defloration zu kaschieren. Auch
die Hochzeit, die Tristan mit einer zweiten
Isolde eingeht, nachdem der Ehebruch
aufgedeckt wurde, übernimmt Wagner
nicht. Ein weiterer Unterschied liegt darin,
dass der getötete Morold bei Gottfried nicht
Isoldes Mann, sondern ihr Bruder ist, was
Isoldes Zuneigung zu Tristan nicht weniger
brisant wirken lässt.
Wagners Konzentration auf das Wesentliche wird umso deutlicher, wenn man die
klare Dramaturgie seines Tristan mit dem
überbordenden Handlungs- und Personenreichtum des Ring-Projekts vergleicht.
Jedem der ungefähr gleich langen TristanAkte kann eine Grundsituation zugeordnet
werden: Im Mittelpunkt des ersten steht
Tristans und Isoldes Bewusstwerdung ihrer
Liebe bzw. ihr Bekenntnis zueinander durch
den Todes-/Liebestrank, im zweiten dominiert das heimliche Ausleben der Liebe, die
schließlich aufgedeckt wird, und letztlich im
dritten die Transzendierung von Liebe und
Liebespaar in eine jenseitige Welt. Dabei
hält Wagner auch die Personenkonstellation denkbar schlicht: Das titelgebende
Liebespaar steht im Vordergrund, wobei
jeder in Kurwenal und Brangäne einen Vertrauten an seiner Seite hat. Dieses Quartett
wird ergänzt von Marke, den von beiden
bzw. allen vieren Betrogenen.
Der revolutionäre Klang der Liebe
Die Musik, mit der Wagner sein TristanDrama in Klang setzte, ist von einer besonderen Qualität und gilt wegen ihrer
Innovationskraft als Meilenstein der Musikgeschichte. Wagner schreibt 1860 in
einem offenen Brief rückblickend, dass er
im Tristan „endlich mit der vollsten Freiheit
und mit der gänzlichsten Rücksichtslosigkeit gegen jedes theoretische Bedenken“
komponieren konnte. Seine „Freiheit“
erstreckte sich hierbei nicht nur auf allgemein gültige Normen, wie beispielsweise
harmonische Konventionen, sondern auch
auf sein eigenes „System“, das er – wie
er schreibt – „überflügelte“. So fällt neben
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dem großen Reichtum an Klangfarben auf,
dass die Leitmotive im Tristan – anders als
im Ring – weniger stark profiliert sind. Statt
einer rhapsodischen Abfolge verschiedenster Leitmotive, die leicht erkannt und auf
Figuren und Handlungselemente bezogen
werden können, ist das motivische Material
des Tristan in die Tiefenstruktur der Partitur
eingearbeitet. Ebenso fällt auf, dass Wagner seine Abneigung gegen Ensemblegesang überwindet und mit der Liebesszene
im 2. Aufzug ein raumgreifendes und raffiniert gegliedertes Duett ins Zentrum seines
Werkes stellt.
Zum Meilenstein wurde Tristan und Isolde
jedoch deswegen, weil Wagner schon in
den emotionsgeladenen ersten Takten zu
kompositorischen Mitteln greift, die 1865
einer Revolution gleichkamen und musikalische Türen öffneten, durch die die Komponisten der Spätromantik und Moderne
zuhauf gehen sollten. Mit einem zarten, in
der anfänglichen Unruhe einer Opernvorstellung oft kaum zu erhaschenden SextAufschwung der Celli bricht Wagner zu
einem Musikdrama auf, das sich schon im
berühmten Vorspiel zu einem überwältigenden Klangrausch steigert. Diesem Auftakt
folgt mit dem so genannten Tristan-Akkord
F-H-Dis-A mit vorgehaltenem Gis eine
Harmonie, die einen musikgeschichtlichen
Wendepunkt darstellt. Genauer gesagt ist
es nicht der Akkord als solcher, findet er
sich doch unter anderem schon bei Beethoven und Schubert. Das Besondere dieser
irrlichternd-erregten Tonschichtung im
Tristan liegt im harmonischen Verlauf, also
darin, dass Wagner die Spannung des faszinierenden Klangs in einen Dominantseptakkord münden lässt. Der dissonante
16
Tristan-Akkord wird also – verbunden durch
eine chromatisch aufsteigende Linie in den
Oboen – in einen harmonisch immer noch
dissonant-gespannten Klang überführt. Eine
Auflösung gemäß der Regeln der Harmonik
findet nicht statt und Wagner überschreitet
hierin die Grenzen der Konvention. Wagner
wiederholt mehrmals den Tristan-Akkord
und den damit verbunden Vorgang der
„Nicht-Auflösung“ wie ein Leitmotiv – mit
dem Ergebnis, dass sich die chromatische
Melodielinie immer weiter in „unendliche“
Höhen schraubt und auch nach dem fünften
Mal keine Auflösung eintritt. Wagner erzeugt im Zusammenspiel mit anderen kompositorischen Mitteln einen Zustand musikalischer Hochspannung, die mit der erotischen Erregtheit der Titelfiguren einhergeht, einem Paar, das in seiner qualvollen
und in den Tod reichenden Liebe ebenfalls
Grenzen überschreitet. Die beschriebene
Sequenz mit dem leitmotivischen TristanAkkord wird im Vorspiel exponiert und kehrt
jeweils am Ende der drei Aufzüge wieder:
Im 1. Aufzug erklingt das sehnsuchtsvolle
Motiv in dem Moment, in dem Isolde Tristan
den vermeintlichen Todestrank reicht; im
2. nach Markes Klage, wenn Tristan die
Wut und Trauer seines Herrn mit „O König,
das kann ich dir nicht sagen“ erwidert
und im letzten Aufzug in dem Moment,
wenn Tristan und Isolde sich kurz vor
seinem Tod ein letztes Mal anblicken. Mit
diesen und anderen unaufgelösten Spannungen, chromatischen Fortschreitungen,
aufgewühlten und aufwühlenden Orchesterpassagen gelingt es Wagner, vor dem
Hintergrund einer reduzierten äußeren
Handlung die Psychologie der handelnden
Personen und ihre emotionale Entwicklung
mit Tönen und Klängen zu beleuchten.
Ks. Klaus Schneider
Folgeseiten Katharine Tier, Seung-Gi Jung, Erin Caves & Heidi Melton
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WAGNERS
ERLÄUTERUNG DES
VORSPIELS
Ein altes, unerlöschlich neu sich gestaltendes, in allen Sprachen des mittelalterlichen
Europas nachgedichtetes Ur-Liebesgedicht
sagt uns von Tristan und Isolde. Der treue
Vasall hatte für seinen König diejenige
gefreit, die selbst zu lieben er sich nicht
gestehen wollte, Isolden, die ihm als Braut
seines Herrn folgte, weil sie dem Freier
selbst machtlos folgen musste. Die auf ihre
unterdrückten Rechte eifersüchtige Liebesgöttin rächt sich: den, der Zeitsitte gemäß
für den nur durch Politik vermählten Gatten
von der vorsorglichen Mutter der Braut
bestimmten Liebestrank, lässt sie durch ein
erfindungsreiches Versehen dem jugendlichen Paare kredenzen, das, durch seinen
Genuss in helle Flammen auflodernd, plötzlich sich gestehen muss, dass nur sie einander gehören. Nun war des Sehnens, des
Verlangens, der Wonne und des Elendes der
Liebe kein Ende: Welt, Macht, Ruhm, Ehre,
Ritterlichkeit, Treue, Freundschaft – alles
wie wesenloser Traum zerstoben; nur eines
noch lebend: Sehnsucht, unstillbares, ewig
neu sich gebärendes Verlangen, Dürsten
und Schmachten; einzige Erlösung: Tod,
Sterben, Untergehen, Nichtmehrerwachen!
Der Musiker, der dieses Thema sich für die
Einleitung seines Liebesdramas wählte,
konnte, da er sich hier ganz im eigensten,
unbeschränktesten Elemente der Musik
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fühlte, nur dafür besorgt sein, wie er sich
beschränkte, da Erschöpfung des Themas
unmöglich ist. So ließ er denn nur einmal,
aber in lang gegliederten Zuge, das unersättliche Verlangen anschwellen, von dem
schüchternsten Bekenntnis, der zartesten
Hingezogenheit an, durch banges Seufzen,
Hoffen und Zagen, Klagen und Wünschen,
Wonnen und Qualen, bis zum mächtigsten
Andrang, zur gewaltsamsten Mühe, den
Durchbruch zu finden, der den grenzenlos
begehrlichen Herzen den Weg in das Meer
unendlicher Liebeswonne eröffne. Umsonst!
Ohnmächtig sinkt das Herz zurück, um in
Sehnsucht zu verschmachten, in Sehnsucht ohne Erreichen, da jedes Erreichen
nur wieder neues Sehnen ist, bis im letzten Ermatten dem brechenden Blicke die
Ahnung des Erreichens höchster Wonne
aufdämmert: es ist die Wonne des Sterbens,
des Nichtmehrseins, der letzten Erlösung in
jenes wundervolle Reich, von dem wir am
fernsten abirren, wenn wir mit stürmischster
Gewalt darin einzudringen uns bemühen.
Nennen wir es Tod? Oder ist es die nächtige Wunderwelt, aus der, wie die Sage uns
meldet, ein Efeu und eine Rebe in inniger
Umschlingung einst auf Tristans und Isoldes
Grabe emporwuchsen?
(Einem Brief an Mathilde Wesendonck vom
19. Dezember 1859 beigelegt.)
ZEITTAFEL
6. Jh.
Im südlichen Cornwall steht ein Grabstein mit der Aufschrift „Drustans hic
jacit Cunomori filius“: „Hier ruht Drustans, Sohn des Cunomorus“. Drustans
ist möglicherweise die latinisierte Form von Tristan. Cunomorus ist laut einer
Handschrift aus dem 9. Jh. identisch mit König Marcus (Marke) von Cornwall.
1813 Richard Wagner wird am 22. Mai in Leipzig geboren.
1825
August von Platen verfasst sein Dramenfragment Tristan, von dem nur das Gedicht Tristan und Isolde erhalten ist. Da es eine ähnlich todessüchtige Grundstimmung wie Wagners späteres Libretto aufweist, wird davon ausgegangen,
dass Wagner das 1834 veröffentlichte Gedicht kannte. Weitere Texte, die
Wagner angeregt haben könnten, sind Schlegels Lucinde (1797), Julius Mosens
König Mark und Isolde (1842) und Karl Ritters Drama Tristan (1854).
1840Wagner liest in Paris Texte von Novalis, darunter wahrscheinlich auch Hymnen
an die Nacht, die im Jahr 1800 erschienen waren.
1841
Gaetano Donizettis Komische Oper Der Liebestrank wird in Dresden aufgeführt. Wagner dürfte die Oper nach seiner Rückkehr aus Paris im April 1842
dort einige Male dirigiert haben.
1844 Eine neuhochdeutsche Übersetzung von Gottfried von Straßburgs unvollendet gebliebenem Versepos Tristan erscheint, die sich in Wagners Dresdener
Bibliothek findet.
1846 Robert Schumann plant zusammen mit dem Dichter Robert Reinick eine TristanOper, die jedoch nie verwirklicht wird. Wagner weiß wahrscheinlich von dem
Projekt.
1852 In Zürich lernt Wagner den reichen Geschäftsmann Otto Wesendonck und
seine Frau Mathilde kennen.
21
1854
Wagner liest erstmals Schopenhauers Werk Die Welt als Wille und Vorstellung und trägt sich mit dem Gedanken, eine Oper zu Tristan und Isolde zu
schreiben.
1856 Wagner entwirft erste musikalische Skizzen zu Tristan und Isolde.
1857 Wagner zieht am 28. April mit seiner Frau Minna in das Haus neben der Villa
Wesendonck am Zürichsee.
Noch vor Beginn der Komposition schreibt Wagner in einem Brief vom 26. Juni
an Liszt, dass er den Theatern in Karlsruhe und Straßburg seinen Tristan zur
Uraufführung angeboten habe.
Wagner unterbricht seine Arbeit an Siegfried und widmet sich Tristan: Nach
einmonatiger Arbeit am Prosaentwurf (20. August – 18. September) beginnt er
am 1. Oktober mit der Komposition.
Am 31. Dezember ist die Kompositionsskizze zum ersten Akt vollendet, die
Wagner Mathilde mit folgendem Gedicht widmet: „Hochbeglückt, / Schmerzentrückt, / frei und rein / ewig dein – / was sie sich klagten / und versagten, /
Tristan und Isolde, / in keuscher Töne Holde, / ihr Weinen und ihr Küssen / leg’
ich zu Deinen Füssen, / dass sie den Engel loben, / der mich so hoch erhoben.“
1858
Minna erfährt am 7. April durch einen abgefangenen Brief von Mathildes und
Richards Liebesbeziehung. Der Wagner’sche Haushalt wird aufgelöst, Wagner
verlässt Luzern am 17. August und zieht nach Venedig, wo er den 2. Akt von
Tristan vollendet.
1859
Wagner wird am 24. März aus politischen Gründen aus Venedig ausgewiesen
und vollendet daraufhin die Partitur zu Tristan und Isolde am 6. August in Luzern.
Der Plan einer Uraufführung des Werkes in Karlsruhe zerschlägt sich nach
langwierigen Verhandlungen: Das Werk ist laut Eduard Devrient, dem damaligen Direktor des Hoftheaters, unaufführbar.
1860
Wagner dirigiert am 25. Januar in einem Konzert in Paris, bei dem u. a. die Komponisten Auber, Berlioz, Gounod und Meyerbeer anwesend sind, neben Teilen
aus Tannhäuser, Lohengrin und Holländer auch das Vorspiel zu Tristan. Um es
konzerttauglich zu machen, hat Wagner einen Konzertschluss komponiert.
1863
Wagner dirigiert im Februar „Vorspiel“ und „Isoldes Verklärung“ aus dem Tristan in einem Konzert in Sankt Petersburg.
22
Eine geplante Uraufführung des Tristan in Wien scheitert im März nach 77 Proben endgültig: Die Presse schreibt, das Werk sei unmöglich aufzuführen, die
Sänger träfen keinen Ton. Wagners finanzielle Situation wird immer aussichtsloser.
1864
Wagner reist am 3. Mai auf Einladung Ludwigs II. nach München. Wagner und
der König von Bayern bleiben sich über Jahre freundschaftlich verbunden und
der König finanziert (Ur-)Aufführungen von vielen Opern Wagners, beispielsweise 1869 Das Rheingold oder 1870 Die Walküre.
1865
Wagners Tristan und Isolde wird am 10. Juni am Königlichen Hof- und Nationaltheater zu München unter der Leitung von Hans von Bülows, mit Ludwig
Schnorr von Carolsfeld als Tristan und seiner Frau Malwine als Isolde uraufgeführt. Beide Sänger waren bis 1860 am Hoftheater Karlsruhe engagiert.
1883
Wagner stirbt am 13. Februar in Venedig.
1884
Am 3. Dezember findet die Karlsruher Erstaufführung von Tristan und Isolde
unter der Leitung von Felix Mottl statt. Zwei Jahre danach leitet Mottl die erste
Aufführung des Werkes bei den Bayreuther Festspielen.
Folgeseiten Heidi Melton & Erin Caves
23
24
25
TIEF INS
HERZ
ZUR PRODUKTION
Generalmusikdirektor Justin Brown (JB)
und Regisseur Christopher Alden (CA) im
Gespräch mit Operndramaturg Raphael
Rösler
Christopher, bei der ersten Probe hast du
den Sängern gesagt, „Tristan und Isolde“
sei ein überwältigend schönes, aber auch
ein einschüchterndes Werk. Warum?
CA Der Tristan ist schlicht und ergreifend
der Mount Everest der Operngeschichte
und den muss man erst einmal erklimmen.
Und damit meine ich nicht nur die musikalische Herausforderung, vor der die Sänger
stehen, sondern auch den inhaltlichen
Reichtum, der allen Beteiligten einiges zu
denken gibt.
JB Man könnte meinen, dass der Ring des
Nibelungen die größere Herausforderung
ist, was in manchen Punkten sicherlich
zutrifft. Aber der Tristan ist doch ein ganz
besonderes, außergewöhnliches Werk.
Allein die Harmonik, beispielsweise der
berühmte Tristan-Akkord, stellt einen bis
26
heute vor Rätsel und kann unterschiedlich
gedeutet werden. Man kann diese Oper
nie allumfassend begreifen und deswegen
ist es auch so eine große Aufgabe, sie
szenisch und musikalisch umzusetzen.
Außerdem haben wir es hier mit einer hoch
emotionalen Musik zu tun, die so intensiv
ist und tief ins Herz dringt, dass es kaum
auszuhalten ist. Es gibt viele Menschen,
die Wagners Werke schätzen, jedoch vor
der emotionalen Kraft des Tristan zurückschrecken.
Christopher, warum lässt du die mittelalterliche Handlung um 1940 spielen?
CA Das ist eine gute Frage: Einerseits
inszeniere ich gerne in einem modernen
Ambiente, insbesondere wenn es sich
um ein so zeitloses Stück wie den Tristan
handelt. Historische Kostüme finde ich
deswegen oft schwierig, weil das Historische von der Psychologie der Figuren
ablenken kann. Andererseits wollte ich die
Handlung nicht in der Gegenwart spielen
lassen, weil ich mich nicht zu weit von der
Epoche entfernen wollte, in der die Oper
entstanden ist. Unsere Zeit unterscheidet
sich doch stark von der Lebenswirklichkeit
des 19. Jahrhunderts. So fiel unsere Entscheidung auf die späten 30er bzw. frühen
40er Jahre, eine Zeit, in der man mit einem
Fuß noch im 19. Jahrhundert stand. Das
war mir wichtig, denn schließlich werden
in der Oper gesellschaftliche Zwänge thematisiert, die wir heute glücklicherweise
nicht mehr erleben.
JB Ich habe mich diesbezüglich oft gefragt, warum viele Opernliebhaber immer
wieder auf Aufnahmen aus den 30er, 40er
und 50er Jahren zurückgreifen. Vielleicht
hat es damit etwas zu tun, dass das eine
Zeit war, in der das Leben von existentiellen Nöten und den Erfahrungen des 1. und
aufkommenden 2. Weltkriegs geprägt war.
Wir, die westliche Nachkriegsgeneration,
leben doch weitaus unbeschwerter. Wir
alle haben diese extreme Erfahrung einer
einstürzenden Welt, in der es um Leben
und Tod ging, glücklicherweise nicht gemacht. Und das ist es, was die Aufnahmen
beispielsweise eines Furtwänglers so
besonders macht, da sie von einem Lebensgefühl und einer Lebenswirklichkeit
gespeist werden, die von unserer heutigen
weit entfernt ist.
Warum spielen alle drei Aufzüge in dieser
Inszenierung in einem Raum?
CA Ich finde es bezeichnend, dass Wagner die vielen äußerlichen Ereignisse
und dramaturgisch sicherlich reizvollen
Handlungsaspekte, die die Romanvorlage
von Gottfried von Straßburg in Fülle bietet,
nicht in die Opernhandlung übernommen
hat. Stattdessen hat er sich auf die inneren Zustände der Figuren konzentriert
und bei den äußeren Vorgängen auf das
Nötigste beschränkt. In diesem Punkt
erinnert mich der Tristan an die Tradition
der Barockoper, wo die Handlung in den
Arien zum Stillstand kommt und der Fokus ganz auf dem Affekt liegt. Mit bzw. in
diesem einheitlichen Bühnenraum möchte
ich mich auf die psychologischen Vorgänge konzentrieren und die tiefliegenden
Gefühlsschichten der Figuren szenisch
beleuchten, die diesen hellen Innenraum
beleben. Es war auch für uns eine Herausforderung, die drei Aufzüge in einem Raum
zu denken, und wir haben lange an einer
schlüssigen szenischen Umsetzung gearbeitet. Aber nach einer Weile überzeugte
mich unsere Entscheidung mehr und mehr,
da die Opernhandlung von Raum und Zeit
weitgehend losgelöst ist, und es unerheblich ist, ob man sich auf einem Schiff, in
Irland oder Cornwall befindet.
JB Interessanterweise lässt dieser Raum
viele Assoziationen zu. Paul Steinberg,
unser Bühnenbildner, hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass die Architektur
der Moderne, also der 20er und 30 Jahre,
häufig prägnante, runde Fassaden und andere architektonische Elemente aufweist,
die sich auf den Schiffsbau beziehen, wie
beispielsweise Bullaugen-Fenster. Hier
spielen wir in einem Raum, der im 1. Akt
als Ballsaal oder Empfangshalle auf einem
luxuriösen Kreuzfahrtschiff, aber gleichzeitig auch als repräsentative Residenz
von Marke interpretiert werden kann.
Wie können die psychologischen Vorgänge, die Wagner in Text und Musik genau
nachzeichnet, szenisch abgebildet werden?
CA Tristan und Isolde ist ein geniales,
sehr dichtes Musikdrama, in dem trotz der
Länge kein Takt oder Wort zu viel ist. Mei27
ne Aufgabe als Regisseur ist es, mit den
Sängern eine entsprechende Haltung für
ihre Figur zu erarbeiten, eine starke Atmosphäre und eine dramatische Spannung
zu erzeugen, die die Zuschauer durch das
Stück trägt.
Wie wird die Innenperspektive musikalisch erfahrbar?
JB Auf den ersten Blick empfindet man
die Musik und den Text möglicherweise
als form- oder strukturlos, und tatsächlich
stellt die Oper einen vor einige analytische
Schwierigkeiten – Stichwort Harmonik.
Trotzdem ist das Werk klar und sinnvoll
strukturiert. So sind beispielsweise die
drei Akte analog aufgebaut. Jeder Akt
setzt auf einer realistischen Außenebene
ein, von der Wagner nach kurzer Zeit auf
eine innere Gefühlsebene wechselt. Für
diese Übergänge hat Wagner klare musikalische Zeichen gefunden. Jeder Akt
beginnt – nach dem jeweiligen Vorspiel –
mit konkreter, handlungsinhärenter Musik:
Der 1. Akt setzt ein mit einem Lied, dem
Lied des Seemanns, der 2. wird mit den
Hornrufen der Jagdgesellschaft eingeleitet und der 3. beginnt mit der alte Weise
des Hirten. Jeder Akt beginnt also auch
musikalisch auf einer realistischen Ebene,
die die Außenwelt symbolisiert. Anschließend blendet Wagner diese Ebene aus
und widmet sich den Reflexionen seiner
Protagonisten, die in der Tat den größten
Raum einnehmen. Gegen Ende eines jeden
Akts werden die Protagonisten aus ihrer
Innerlichkeit wieder in die Wirklichkeit
geholt, eine Wirklichkeit, von der sich die
Liebenden zunehmend entfernen und an
der sie immer weniger teilnehmen.
CA Diese Momente sind jeweils mit einem
Auftritt von Marke und seinen Mannen
28
verbunden, die das Liebespaar plötzlich
aus ihrer kontemplativen Versenkung reißen. Für das Liebespaar ist das jeweils ein
Ereignis von großer Heftigkeit und Intensität, insbesondere im 2. Akt.
Die Oper wird oft als persönliches, wenn
nicht gar autobiografisches Werk des zur
Ruhe gekommenen Revolutionärs Richard
Wagner gedeutet.
JB Ich finde nicht, dass der Tristan ein autobiografisches Werk ist, und es ist auch
nicht politisch. Ich betrachte es eher als
ein religiöses oder philosophisches Werk.
Es geht nicht um die Liebe von Tristan
und Isolde oder irgendeine romantische
Liebesgeschichte, sondern um die Liebe
als solche. Christopher, du hast es in einer
Probe gut auf den Punkt gebracht, als du
den Sängern gesagt hast, „Spielt nicht
realistisch. Lächelt euch nicht an.“ Die
Liebe, die Wagner in Tristan und Isolde
verhandelt, ist ein hohes, fast metaphysisches Gut der idealen Zweisamkeit. Und
das hat wenig mit alltäglicher Liebe zu tun.
Tristan und Isolde befinden sich bereits als
Lebende in einer jenseitigen Sphäre. Brangäne hingegen kann das nicht nachempfinden, für sie ist Liebe etwas Diesseitiges
und reine Romantik.
CA Das stimmt. Trotzdem gibt es im Tristan
auch politische Aspekte. Zwar war Wagners politisch aktive Zeit auf den Dresdner
Barrikaden längst vorbei, als er die Oper
schrieb, doch seine politischen Ansichten
waren sicherlich noch die gleichen. Ich
sehe in der Liebe von Tristan und Isolde,
die sich gesellschaftlichen Regeln und
Konventionen widersetzt, etwas Revolutionäres, Umstürzlerisches. Die beiden
ziehen sich, motiviert von Isolde, aus der
liebesfeindlichen Welt des Tages zurück
Erin Caves & Renatus Meszar
29
und begeben sich auf die Nachtseite, wo
Gefühle dominieren. Die Nacht der Liebe
stellt für die rationale Tagwelt eine Bedrohung dar. Ihre Liebe hat eine kriminelle,
subversive Kraft. Deswegen legen Tristan und Isolde in dieser Inszenierung im
2. Aufzug – unterstützt von Brangäne und
Kurwenal – in König Markes Residenz Feuer. Doch dieses Feuer und auch ihr Liebestraum erlöschen in dem Moment, in dem
Marke mit seinem Gefolge auftritt, und
sich alles als eine Fantasie herausstellt.
Wie wird die Tag- und Nachtseite musikalisch dargestellt?
JB Wagner findet für diese beiden Extreme starke musikalische Gegensätze. An
manchen Stellen geht er sogar so weit,
dass er die Tagseite mit einem eindeutigen, strahlenden, aber auch harten C-Dur
in Klang setzt, das von chromatisch mäandernden Sequenzen ab- oder aufgelöst
wird. Am Ende der Oper, wenn der Tod die
Bühne betritt, wendet Wagner sich einem
sehr viel wärmeren H-Dur zu, der Tonart
der Nacht. Ein anderes Zeichen für die
Tagwelt finden wir in der harten, blitzartigen Eröffnungsgeste des Vorspiels zum
2. Aufzug. Diese kehrt später an den Stellen wieder, wenn Tristan und Isolde sich
mit der Tagwelt auseinandersetzen, die
zwischen ihnen stand und die sie auch
wieder trennen wird.
Ich möchte noch einmal auf den politischen Aspekt zurückkommen, den Christopher angesprochen hat. Es stimmt, Tristan
und Isolde sind gegen das Establishment
und handeln dementsprechend. Bezeichnend ist jedoch, dass sie das bestehende
System nicht durch eine neue Ordnung
ersetzen wollen. Sie handeln nicht strategisch ...
30
CA ... und sie kommen nicht über ihre eigenen Gefühlswelt hinaus, sie bleiben immer
privat. Die einzige Lösung, die sie anstreben, ist der gemeinsame Tod. Hinzukommt,
dass sie nicht rational handeln, sondern
unter dem Einfluss einer Droge stehen –
dem Liebestrank.
JB Auch hier, wenn es um den angestrebten Tod geht, ist Wagner wieder sehr präzise in der Aussage. Ihr Ziel, gemeinsam
sterben zu dürfen, erreichen sie nämlich
nicht.
Ihr habt den Tod angesprochen. Wie wird
das Ende szenisch umgesetzt, das allgemein als „Isoldes Liebestod“, von Wagner
jedoch als „Isoldes Verklärung“ bezeichnet wird?
JB Darüber haben wir viel diskutiert und
wie die reiche Inszenierungsgeschichte
zeigt, ist vieles möglich: Isolde könnte
aufstehen und innerlich „verklärt“ weiterleben, sie könnte aber auch über dem
Leichnam zusammenbrechen und sterben.
Ich habe mir immer vorgestellt, dass Isolde
am Ende stirbt. Doch vielleicht wäre beides – weiterleben oder sterben – zu trivial
für dieses besondere Ende. Hinzu kommt,
dass Wagner nirgendwo in seinen sehr
genauen Regieanweisungen vorgibt, dass
Isolde stirbt, sondern dass sie „verklärt“
auf Tristans Leiche „sinkt“. Wagner war in
dieser Hinsicht wieder sehr genau. Christopher hat letztlich eine spannende und
überzeugende szenische Lösung gefunden,
die deswegen so spannend ist, weil sie
offen ist.
CA Darüber hinaus finde ich eine sterbende Isolde auch deswegen problematisch,
weil Wagner hier einen bestimmten und
recht patriarchalischen Operntopos
bedient: den Topos der leidenden und
schließlich sterbenden Frau – und das zur
Unterhaltung des Publikums. Hinzu kommt
bei Wagner, dass viele seiner Heldinnen
bekanntlich sterben, um einen Mann zu erlösen. In den Proben haben wir auch über
diesen Aspekt viel diskutiert und darüber,
ob in einem „Liebestod“ möglicherweise
etwas Antifeministisches steckt. Heidi
Melton sah in Isolde keine Frau, die ihr
Leben dem Manne opfert, sondern eine
Frau, die sich für ein Ideal opfert, an das
sie glaubt. So haben wir letztlich eine Version entwickelt, die offen lässt, ob Isolde
am Ende stirbt oder nicht.
JB Es stimmt, dass Wagners Senta, Elisabeth und in gewisser Hinsicht auch Elsa
sich für das Wohl des Mannes opfern.
Isolde jedoch unterscheidet sich in diesem
Punkt von den anderen Wagner-Heldinnen.
Sie hat etwas Resolutes und Selbstständiges. Sie ist es schließlich, die im 1. Akt
die entscheidenden Impulse setzt. Und
ihre Worte im 3. Akt, die sie an den gerade
verstorbenen Tristan richtet, sind nicht gerade unterwürfig, sondern eher vorwurfsvoll. Wir haben es mit einer sehr starken
Frauenfigur zu tun.
Im 3. Akt durchlebt der verletzte Tristan
ein fieberhaftes Delirium und verzehrt
sich nach Isolde. In dieser Inszenierung
ist sie währenddessen zumindest zeitweise auf der Bühne und somit räumlich in
seiner Nähe. Warum?
CA Um diese Frage zu beantworten, möchte ich etwas ausholen und die Entwicklung
skizzieren, die zu dieser Szene führt. Wir
befinden uns in diesem hellen Innenraum,
der König Markes Reich darstellt. Es ist
eine männliche und rationale Welt, in der
es um Regeln, Hierarchien und Macht geht.
Im 1. Akt betritt Isolde, eine hoch emotionale Frau, diese Welt des Tages, und mit
ihr verändert sich so einiges. Sie bringt
Gefühle mit, Verletzlichkeit, eine weibliche
Perspektive, die Zauberkünste ihrer Mutter, den Liebestrank und die Nacht. Zusammen mit Tristan stürzt sie dieses System
in eine Krise und es kommt am Ende des 2.
Akts zur Katastrophe. Eine Katastrophe,
die alle Figuren nachhaltig erschüttert. Im
3. Akt sehen wir, wie alle mit den Folgen
umgehen. Ich möchte zeigen, dass Tristan
und Isolde nach dieser für sie traumatischen Katastrophe nicht nur räumlich,
sondern auch emotional getrennt sind.
Die Tragik dieser Liebe wirkt umso größer,
wenn sich beide im gleichen Raum befinden und trotzdem nicht zueinander können,
weil das Licht des Tages mit Gewalt über
sie hereingebrochen ist und sie getrennt
hat. Tristan ist verletzt, fiebert und halluziniert, und Isolde steht unter Schock, ist
hilflos und vielleicht sogar entfremdet.
Justin, du hattest Einblick in die Noten
der Karlsruher Erstaufführung 1884 mit
Eintragungen von Felix Mottl, Wagners
Assistent bei der Bayreuther Erstaufführung des „Ring des Nibelungen“. Gibt es
Erkenntnisse, die in die musikalische Einstudierung eingeflossen sind?
JB Das war ein spannender Fund und ein
tolles Erlebnis, die Partitur meines Vorgängers mit den vielen Eintragungen studieren
zu können, die auf Wagner persönlich oder
auch auf Hermann Levi zurückgehen. Das
sind zum einen zahllose und sehr wichtige
Vortragsanweisungen, zum anderen wurde
aber die Dynamik an vielen Stellen nachgebessert und die Lautstärke des Orchesters
reduziert. Eine Besonderheit hinsichtlich
der Orchestrierung gibt es am Ende des
1. Akts bei Markes Ankunft: Wagner hatte
31
hier ursprünglich Beckenschläge vorgesehen, die in allen Notenausgaben notiert
sind und die in fast allen Aufführungen
auch gespielt werden. Wagner hat diese Beckenschläge anscheinend später
wieder gestrichen, und Mottl hat diesen
„ausdrücklichen Wunsch Wagners“, wie
er schreibt, in den Noten handschriftlich
festgehalten. Deswegen lassen wir sie
ebenfalls weg.
Auf dem steinigen Weg zur Uraufführung
hat Wagner einige Striche genehmigt.
Gibt es in dieser Produktion Striche?
CA Nein, wir spielen ohne Striche. In vielen Aufführungen gibt es beispielsweise
im 2. Akt vor dem großen Liebesduett, das
mit „O sink hernieder, Nacht der Liebe“
einsetzt, einen Strich von ungefähr neun
Minuten Dauer. Ich finde diese Stelle
wunderschön und dramaturgisch wichtig,
weil hier gezeigt wird, wie sich Tristan und
Isolde annähern. Die beiden fallen nach
der Vorgeschichte, die auf beiden Seiten
zu Verletzungen geführt hat, keineswegs in
heiß entbrannter Liebe übereinander her,
sondern haben einiges zu besprechen. Und
diese Annäherung, in der sie die Vergangenheit verarbeiten und hinter sich lassen,
möchte ich auch szenisch zeigen.
JB Wagner hat tatsächlich einige Striche
genehmigt, vor allem um die Sänger zu entlasten, aber bestimmt nicht diesen langen
Strich, der oft gemacht wird. Letztlich hat
Cosima alle Striche nach seinem Tod verboten. Ausnahmsweise halte ich es in diesem Punkt wie Cosima: Ich möchte nichts
von diesem großartigen Werk verlieren.
Und nicht nur wegen der Musik; Wagner
hat Tristan und Isolde musikdramaturgisch
so genau durchdacht, es wäre schlichtweg
unvorstellbar.
DIR NICHT EIGEN,
EINZIG MEIN,
MIT LEIDEST DU,
WENN ICH LEIDE:
NUR WAS ICH LEIDE,
DAS KANNST DU
NICHT LEIDEN!
32
Erin Caves & Seung-Gi Jung
33
34
Eleazar Rodriguez, Erin Caves, Seung-Gi Jung & Heidi Melton
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JUSTIN BROWN Musikalische Leitung
CHRISTOPHER ALDEN Regie
Justin Brown studierte an der Cambridge
University und in Tanglewood bei Seiji
Ozawa und Leonard Bernstein. Als Dirigent
debütierte er mit der britischen Erstaufführung von Bernsteins Mass. Er leitete
zahlreiche Uraufführungen und dirigierte
wichtige Werke bedeutender zeitgenössischer Komponisten wie Elliott Carter und
George Crumb. Er musizierte mit namhaften
Solisten wie Yo-Yo Ma, Leon Fleisher und
Joshua Bell. Zahlreiche Gastengagements
führten ihn weltweit an renommierte
Opernhäuser, so jüngst zur Uraufführung
von Elena Langers Figaro Gets A Divorce
an die Welsh National Opera. Als Generalmusikdirektor am STAATSTHEATER, der er
seit 2008 ist, wird Brown vor allem für seine
Dirigate von Werken Wagners, Berlioz’,
Verdis und Strauss’ gefeiert. Neben der
musikalischen Leitung von Tristan und Isolde dirigiert er 2015/16 auch Rheingold und
dirigiert vier Sinfoniekonzerte, drei Sonderkonzerte sowie das Neujahrskonzert.
Bereits seit drei Jahrzehnten bereichert
Christopher Alden die internationale Opernwelt. Seit seinem europäischen Debüt mit
Don Giovanni in Basel 1980 waren seine
fantasievollen Inszenierungen u. a. mit
Idomeneo am Grand Théâtre in Genf und
2008 mit Aida an der Deutschen Oper Berlin
zu sehen. Seine Inszenierung von Händels
Partenope an der English National Opera
in London wurde mit dem renommierten Olivier Award für die beste britische
Operninszenierung 2008/09 ausgezeichnet.
Höhepunkte der vergangenen Spielzeiten
waren seine vielbesprochene Inszenierung
von Bernsteins A Quiet Place für die New
York City Opera und Ein Sommernachtstraum für die English National Opera. Zu
den Projekten der Spielzeit 2015/16 gehören u. a. Der Türke in Italien in Dijon und
Der fliegende Holländer in Seattle. Am
STAATSTHEATER inszenierte er 2012/13
mit großem Erfolg Peter Grimes von Benjamin Britten.
36
PAUL STEINBERG Bühne
SUE WILLMINGTON Kostüme
Der New Yorker Ausstatter schuf zahlreiche Bühnen- und Kostümbilder für
namhafte Opernhäuser. Jüngste Arbeiten
umfassen Die Meistersinger von Nürnberg
an der English National Opera, Falstaff am
u. a. Royal Opera House Covent Garden
London, der Mailänder Scala und der Metropolitan Opera New York, Rosenkavalier
in Glyndebourne, Billy Budd, Peter Grimes
und Die Liebe zu den drei Orangen an der
Deutschen Oper Berlin, Chowanschtschina
in Antwerpen, Deidamia und Ercole
Amante in Amsterdam, die Uraufführung
von Pyramus und Thisbe in Toronto und
Ein Maskenball an der New Yorker Met.
Zusammen mit Christopher Alden hat er
über 40 Produktionen in den USA und Europa herausgebracht. Zukünftige Projekte
sind Don Giovanni an der ENO und dem
Theater Basel, Semiramide an der Bayerischen Staatsoper und Rosenkavalier am
Royal Opera House und der Met.
Die aus North Yorkshire stammende Kostümbildnerin studierte Bildende Kunst am
Maidstone College of Art sowie Bühnenund Kostümbild an der Motley Theatre
Design School. Ihre Arbeiten waren an den
großen Opernhäusern weltweit zu sehen,
wie beispielsweise Norma an der Opera
North, Die Sache Makropoulos an der English National Opera, Djamileh an der Opera
National de Lyon, Der Rosenkavalier am
Bolschoi-Theater Moskau, Orfeo ed Euridice am Theater an der Wien oder La Rondine
am La Fenice Venedig. Mehrere Produktionen entstanden für die renommierte Royal
Shakespeare Company in London. Für das
Opernhaus Zürich entwarf sie die Kostüme
zu Die Schweigsame Frau, Don Carlos
und La Fanciulla del West sowie bei den
Bregenzer Festspielen zu Porgy and Bess,
Fidelio und Nabucco. Neben Stephen Lawless und David Pountney arbeitet sie regelmäßig mit Christopher Alden zusammen.
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ERIN CAVES a. G. Tristan
Seit Beginn seiner europäischen Karriere am Opernstudio in Amsterdam
ist der amerikanische Tenor häufiger Gast an den Opernhäusern u. a. in
Basel, Wiesbaden, Essen, St. Gallen, Berlin, Zürich und Antwerpen. Zuletzt sang er u. a. Hans Schwalb in Mathis der Maler in Zürich, Sellem in
The Rake’s Progress in Berlin und Tristan und Isolde in Stuttgart.
Ks. KONSTANTIN GORNY König Marke
Mit seinem Debüt bei den Bregenzer Festspielen 1993 startete der russische Bass seine Weltkarriere, die ihn u. a. an die Wiener Staatsoper,
nach Tokio, Sydney, Paris, Verona und an viele weitere wichtige Bühnen
der Welt führte. Seit 1997 ist er Mitglied des STAATSTHEATERS KARLSRUHE, seit 2006 Kammersänger. 2015/16 singt er u. a. Banco in Macbeth.
RENATUS MESZAR König Marke
Der studierte Kirchenmusiker gab 1990 bei der Münchner Biennale
sein Operndebüt. Über Braunschweig, Weimar, Bonn kam er 2012 ans
STAATSTHEATER, wo er die großen Wagner-Partien, aber auch Eichmann in Wallenberg und Groves in Doctor Atomic sang. Gastpiele führten ihn zuletzt als Kaspar nach Darmstadt und Wotan nach Minden.
HEIDI MELTON a. G. Isolde
Die amerikanische Sopranistin sang u. a. an der Metropolitan Opera New
York, der Deutschen Oper Berlin, dem Musikverein in Wien und zuletzt
in der Carnegie Hall in New York. Sie arbeitete mit Dirigenten wie Zubin
Mehta und Valery Gergiev. Sie war 2011/12 bis 2013/14 Ensemblemitglied
am STAATSTHEATER und ist dem Haus seither als Gast verbunden.
RACHEL NICHOLLS a. G. Isolde
Die britische Sopranistin startete eine steile Karriere als Barocksolistin
u. a. in Masaaki Suzukis gefeiertem Bach-Projekt, aber auch mit Hauptrollen in Opern von Monteverdi bis Mozart. 2012 wechselte sie mit der Götterdämmerungs-Brünnhilde ins dramatische Fach. In Karlsruhe sang sie
2014 Eva in den Meistersingern und 2015/16 die Lady in Verdis Macbeth.
SEUNG-GI JUNG Kurwenal
Der koreanische Bariton studierte in Seoul und Karlsruhe. Engagements
führten ihn nach Bern, Augsburg, Gstaad, Toulouse und ans Teatro La
Fenice in Venedig. Seit 2011/12 ist er im Ensemble des STAATSTHEATERS KARLSRUHE. 2015/16 ist er hier als Verdis Macbeth, als Donner in
Rheingold und als Ford in Falstaff zu erleben.
Ks. ARMIN KOLARCZYK Kurwenal
Der Bariton war zehn Jahre in Bremen engagiert, bevor er 2007 ans
STAATSTHEATER kam. Er sang hier u. a. Wagnerpartien wie den Wolfram und Beckmesser sowie die Titelpartie in Doctor Atomic. 2015 wurde
er zum Kammersänger ernannt. 2015/16 ist er u. a. als Higgins in My Fair
Lady zu erleben. 2017 wird er bei den Bayreuther Festspielen debütieren.
38
Ks. KLAUS SCHNEIDER Melot
Der Rheinländer debütierte 1989 an der Opéra National de Paris. Seit
1990 gehört er dem Karlsruher Opernensemble an. Hier sang er u. a. Max
im Freischütz sowie die Titelpartien in Parsifal, Ritter Blaubart, Hoffmanns Erzählungen, Werther und Peter Grimes. 2003 wurde er zum Kammersänger ernannt. 2015/16 ist er u. a. als Mime in Rheingold zu erleben.
MATTHIAS WOHLBRECHT Melot
Der Tenor studierte in Würzburg und Mailand und kam über Rostock,
Darmstadt, Mannheim 2004 ans STAATSTHEATER KARLSRUHE. Gastspiele führten ihn nach Venedig, Bari, Moskau, München, Seoul und
Berlin unter Ingo Metzmacher. In Karlsruhe singt er 2015/16 u. a. Loge in
Rheingold.
CHRISTINA NIESSEN Brangäne
Die Sopranistin wurde mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet. Seit 2006/07 ist sie am STAATSTHEATER engagiert und war hier als
Eva in den Meistersingern, Senta im Fliegenden Holländer, Kundry in Parsifal und als Feldmarschallin im Rosenkavalier zu erleben. 2015/16 singt
sie u. a. Erste Dame in Die Zauberflöte und Mrs. Pearce in My Fair Lady.
KATHARINE TIER Brangäne
Die australische Mezzosopranistin war an zahlreichen Opernhäusern u. a.
in San Francisco, Dallas und Berlin zu hören.Seit 2011 ist sie Ensemblemitglied des STAATSTHEATERS und sang u. a. Octavian in Der Rosenkavalier, Didon in Les Troyens und Waltraute in Die Götterdämmerung. 2015/16
gestaltet sie u. a. die Titelrollen in Iphigenie auf Tauris und Carmen.
CAMERON BECKER Ein junger Seemann / Ein Hirt
Der amerikanische Tenor wurde an der Arizona State University und am
Salzburger Mozarteum ausgebildet. Bevor er 2015/16 ans STAATSTHEATER wechselte, war er am Theater Regensburg engagiert. In Karlsruhe ist
er u. a. als Tamino in Die Zauberflöte, Pedrillo in Die Entführung aus dem
Serail, Freddy in My Fair Lady und Froh in Rheingold zu erleben.
ELEAZAR RODRIGUEZ Ein junger Seemann / Ein Hirt
Der Plácido Domingo-Stipendiat gehört seit 2011 dem STAATSTHEATER
KARLSRUHE an. Er studierte in seiner Heimat Mexiko und San Francisco.
Gastspiele führten ihn an die English National Opera und Graz. In Karlsruhe ist er 2015/16 u. a. als Belmonte in Die Entführung aus dem Serail
und Tebaldo in Bellinis I Capuleti e i Montecchi zu hören.
MEHMET ALTIPARMAK Ein Steuermann
Der junge Bariton studierte an der Mimar-Sinan-Universität in Istanbul.
Meisterkurse bei Elena Filipova, Amelia Felle und Christa Ludwig ergänzten seine Ausbildung. 2014 ging er als Gewinner aus dem 14. Siemens
Gesangswettbewerb in Istanbul hervor und gehört somit seit 2014/15
dem Karlsruher OPERNSTUDIO an.
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BILDNACHWEISE
IMPRESSUM
TITELFOTO
Felix Grünschloß
PROBENFOTOS Falk von Traubenberg
HERAUSGEBER
BADISCHES STAATSTHEATER KARLSRUHE
GENERALINTENDANT
Peter Spuhler
TEXTNACHWEISE
Arthur Schopenhauer Die Welt als Wille
und Vorstellung Bd. 2, hrsg. v. Wolfgang
Freiherr Wolfgang von Löhneysen,
Frankfurt/Main u. Leipzig 1996, S. 679f.
KAUFMÄNNISCHER DIREKTOR
Johannes Graf-Hauber
VERWALTUNGSDIREKTOR
Michael Obermeier
Richard Wagner Erläuterung des Vorspiels,
in Richard Wagner – Tristan und Isolde:
Text – Materialien – Kommentare, hrsg. v.
Attila Csampai u. Dietmar Holland, Hamburg
1983, S. 157f.
OPERNDIREKTOR
Michael Fichtenholz
Nicht gekennzeichnete Texte sind
Originalbeiträge für dieses Heft von Sophie
Schwarzenberger (Zum Inhalt & Zeittafel)
und Raphael Rösler (Zum Werk & Zur
Produktion).
REDAKTION
Raphael Rösler
Sollten wir Rechteinhaber übersehen
haben, bitten wir um Nachricht.
KONZEPT
DOUBLE STANDARDS BERLIN
www.doublestandards.net
BADISCHES STAATSTHEATER
KARLSRUHE 2015/16
Programmheft Nr. 307
www.staatstheater.karlsruhe.de
LEITENDER DRAMATURG OPER
Carsten Jenß
REDAKTIONELLE MITARBEIT
Sophie Schwarzenberger
GESTALTUNG
Kristina Schwarz
DRUCK
medialogik GmbH, Karlsruhe
SOLL ICH SCHLÜRFEN,
UNTERTAUCHEN?
SUSS IN DUFTEN MICH
VERHAUCHEN?
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Heidi Melton
WIE SICH DIE HERZEN
WOGEND ERHEBEN!
WIE ALLE SINNE
WONNIG ERBEBEN!
SEHNENDER MINNE
SCHWELLENDES BLÜHEN,
SCHMACHTENDER LIEBE
SELIGES GLUHEN!
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