Grundlagen der Neurobiologie 1 Bau und Funktion von Nervenzellen 1.1 Die Frösche des Luigi Galvani P O RT R ÄT 16.1 Originalabbildung aus Galvani Luigi GALVANI experimentierte um 1780 mit elektrischem Strom, der mit einer Reibungsmaschine erzeugt wurde. Einmal fühlte sich seine Frau unwohl und verlangte zur Stärkung nach Froschschenkeln. GALVANI bereitete einige Frösche in seinem Arbeitszimmer zu, während seine Assistenten mit der Elektrisiermaschine Funken erzeugten. GALVANI trennte die Schenkel zusammen mit einem kleinen Teil des Rückens vom Rumpf des Frosches und zog die Haut ab. Dabei legte er mit einem Messer die Nerven bloß. Plötzlich begannen die Muskeln des Frosches zu zucken. Dies geschah jedes Mal, wenn die Nerven des Frosches mit der Klinge berührt und gleichzeitig mit der Maschine Funken gezogen wurden. In weiteren Experimenten fand GALVANI heraus, dass Froschmuskeln auch dann zucken, wenn die Schenkel zwei unterschiedliche Metalle berühren. Damit hatte er die Urform der GALVANIschen Elemente gefunden, bei der der fließende Strom gleichzeitig durch das Zucken des Muskels angezeigt wurde. Allerdings konnte GALVANI das elektrische Phänomen nicht erklären. Santiago Ramon y Cajal (1852–1934) 16 Grundlagen der Neurobiologie Der Mediziner und Histologe aus dem spanischen Petilla de Aragón, arbeitete nach seinem Studium zuerst als Militärarzt in Cuba, kehrte dann jedoch an die Hochschule zurück. Er untersuchte Nervenbahnen, Rückenmark und Gehirn und entwickelte zum Aufbau des Nervensystems die NeuronenTheorie. Er erhielt dafür zusammen mit Camillo GOLGI (1844–1926), der wichtige Färbemethoden entwickelt hatte, 1906 den Nobelpreis. Die Aufklärung der neurophysiologischen Grundlagen der Muskelzuckungen dauerte bis ins vorige Jahrhundert. Das Nervensystem als solches war bereits seit dem Altertum bekannt. GALVANI fehlten jedoch entscheidende Kenntnisse über den zellulären Aufbau der Nerven, um die physiologischen Vorgänge zu verstehen, die zum Zucken der Muskeln führen. Diese sollen im weiteren Verlauf erarbeitet werden. Nervenzellen wurden erstmals um 1830 bei der Präparation des Nervensystems von Wirbellosen beschrieben, aber nicht erkannt. Bald darauf fand man diese Strukturen weit verbreitet in Rückenmark und Gehirn auch bei Wirbeltieren. Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird das Nervensystem in der Retikulartheorie (lat. reticulum, kleines Netz) als komplexe netzartige Struktur gesehen: Die Nervenzellen bilden Knoten eines Röhrensystems und sind mit sich stark verzweigenden Fasern untereinander verbunden. Erst um 1890 setzt sich dank Santiago RAMON Y CAJAL die Erkenntnis durch, dass das Nervensystem aus einzelnen, unabhängigen Zellen besteht. Jede Zelle ist von einer Membran vollständig umhüllt. Mit der von RAMON Y CAJAL entwickelten Neuronen-Theorie (gr. neuron, Nerv) waren erste Ansätze zur Erklärung der elektrischen Leitung gegeben: Nervenzellen empfangen mit feinen Verzweigungen auf der einen Seite elektrische Impulse und geben sie auf der anderen Seite über baumartige Endaufzweigungen ihrer langen Fortsätze weiter. 1 Welche Beobachtungen haben wohl bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Idee vom Nervensystem als durchgängiger, netzartiger Struktur entstehen lassen? 1.2 Bau eines Neurons Erst 1950 konnte durch elektronenmikroskopische Aufnahmen der Zellcharakter der Neuronen endgültig nachgewiesen werden: Jedes einzelne ist durch eine Lipid-Doppelschicht abgegrenzt und somit vollständig von den benachbarten Neuronen isoliert. Neuronen sind zwar sehr vielgestaltig, haben aber trotzdem meist drei Bauabschnitte mit speziellen Funktionen gemeinsam. An dem einen Ende finden sich fein verästelte Dendriten (gr. dendron, Baum). Ihre Anzahl ist variabel, von einigen wenigen bis zu mehreren Tausenden, und sie sind bis 0,3 Millimeter lang. Die Dendriten nehmen Informationen von benachbarten Zellen auf und leiten sie weiter zum Soma. 17.1 REM-Aufnahme eines Neurons Endknöpfchen anderer Neuronen Mitochondrium Zellkern Das Soma (gr. Körper) ist der eigentliche Zellkörper mit einem Durchmesser von 0,01 bis 0,1 Millimeter. In ihm selbst liegen sehr viele Mitochondrien sowie ein stark ausgeprägtes raues Endoplasmatisches Retikulum (ER) mit vielen Ribosomen. Im Cytoplasma des Soma laufen die üblichen Stoffwechselvorgänge einer Zelle ab. Das Soma geht über in das weiterleitende Axon (gr. Achse), das auch Neurit genannt wird. Der Übergangsbereich zwischen beiden heißt Axonhügel. Axone können sehr lang werden, beim Ischias-Nerv zum Beispiel bis zu einem Meter. Neuronen sind somit die größten Zellen im menschlichen Körper. Vom Axon können Verzweigungen wegführen, die Kollateralen (lat. collateralis, seitlich). Das Axon endet üblicherweise in Verdickungen. Diese Endknöpfchen ermöglichen die Informationsübertragung zu benachbarten Zellen wie anderen Nerven-, Muskel- oder Drüsenzellen. Sie bilden zusammen mit Teilen der Membran der benachbarten Zelle eine Synapse (gr. synapsis, Verbindung). Bei Wirbeltieren sind die Axone von Zellen ummantelt, die nach dem Entdecker SCHWANNsche Zellen heißen. Diese bilden um das Axon eine Hüllschicht, die auch Myelinscheide (gr. myelinos, markhaltig) genannt wird. Der Querschnitt eines solchen ummantelten Axons erinnert an den Sprossquerschnitt einer Pflanze. Dabei entspräche das Axon dem Mark und deshalb wird die Myelinscheide auch Markscheide genannt. Dendriten stark ausgeprägtes raues ER Endknöpfchen eines anderen Neurons Zellkörper (Soma) Axonhügel Neurit Myelinscheide (SCHWANNsche Zelle) Nervenfaser RANVIERscher Schnürring Nervenfasern anderer Zellen Bindegewebshüllen Nerv Axonverzweigung = Kollaterale Endknöpfchen eines anderen Neurons Endknöpfchen anderes Neuron 17.2 Idealisiertes Neuron (Schema) Grundlagen der Neurobiologie 17 Myelinscheide Axon SCHWANNsche Zellen RANVIERscher Schnürring 18.1 Markhaltige Nervenfaser (Schema) Solch ein ummanteltes Axon wird auch als Nervenfaser bezeichnet. Mehrere Nervenfasern werden durch Bindegewebshüllen zu einem makroskopisch sichtbaren Nerven zusammengefasst. Zellkörper Axon 1 Dendrit Die Myelinscheiden werden beim Menschen vom Stadium des Fetus bis zum zweiten Lebensjahr ausgebildet. Dabei wächst die SCHWANNsche Zelle mehrfach um das Axon. Die Myelinscheide wird im Abstand von etwa einem Millimeter durch RANVIERsche Schnürringe unterbrochen. Neben markhaltigen Nervenfasern gibt es auch marklose. Sie sind auch von einfachen Hüllzellen umgeben, diese haben aber kaum isolierende Wirkung. Zu solchen marklosen Fasern gehören sowohl alle Nerven wirbelloser Tiere als auch einige Nerven des Vegetativen Nervensystems der Wirbeltiere. Marklose Nervenfasern können sehr dick werden. Bei Tintenfischen der Gattungen Sepia und Loligo erreichen einzelne Riesenaxone einen Durchmesser von 0,25 bis 1 Millimeter. Sie eignen sich deshalb besonders für experimentelle Untersuchungen. Dendrit Zellkörper Zellkörper Zellkörper Axon Axon 2 1 Welche Funktionen üben die Mitochondrien und das raue Endoplasmatische Retikulum in einer Zelle aus? Welche Schlussfolgerung lässt die Anhäufung dieser beiden Zellorganellen für ein Neuron zu? Axon A B C D 18.2 Verschiedene Typen von Neuronen. A Korbzelle; B Purkinje-Zelle; C Pyramidenzelle; D Neuron eines wirbellosen Tieres; E Spinalganglionzelle 2 Neuronen werden nach den vorhandenen Fortsätzen klassifiziert. Vergleichen Sie die abgebildeten fünf Typen nach morphologischen Gesichtspunkten tabellarisch. E MEDIZIN Gliazellen – lebenswichtig und lebensbedrohlich 18 SCHWANNsche Zellen gehören neben den Neuronen zu einem zweiten Zelltyp des Nervensystems, den Gliazellen (gr. glia, Leim). Durch die Umhüllung des Axons mit einer Myelinscheide wird dieses gegen seine Umgebung elektrisch isoliert. Dies hat Auswirkungen auf die Leitungsfähigkeit des Axons. Es gibt etwa 10- bis 50-mal so viele Gliazellen wie Neuronen. Da erstere meist jedoch deutlich kleiner sind, machen sie insgesamt nur etwa die Hälfte des Gesamtvolumens des Nervensystems aus. Gliazellen haben unter anderem auch eine Stützfunktion zur strukturellen Verstärkung des Nervensystems, außerdem liefern sie den Neuronen Nährstoffe und können in deren Stoffwechsel eingreifen. Gliazellen spielen jedoch auch eine außerordentlich wichtige Rolle bei einigen Krankheiten des Menschen wie zum Beispiel der Multiplen Sklerose. Bei Grundlagen der Neurobiologie dieser Autoimmunkrankheit richtet sich das Immunsystem gegen körpereigene Zellen und zerstört diese, vor allem Myelinscheiden in verschiedenen Regionen des Zentralen Nervensystems wie Großhirn, Stammhirn, Kleinhirn und Rückenmark. In diesen Entzündungsherden, die Plaques heißen, werden auch die Nervenfasern geschädigt. Außerdem kommt es durch Wucherungen weiterer Stützzellen zu vielfacher Narbenbildung. Daher rührt der Name „multiple Sklerose“ (lat. multiplex, vielfach; gr. skleros, hart). Die Krankheit verläuft in Schüben und zeigt vielseitige Symptome, je nachdem, welche Regionen des ZNS jeweils betroffen sind: So sind beispielsweise Sehstörungen, Zittern, Schwindelanfälle, Lähmungen, Sprachstörungen oder psychische Veränderungen möglich.