Christliche Sozialethik zwischen Theologie und Philosophie

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Arbeitspapiere des ICEP
ICEP Working Papers
1/2005
Christliche Sozialethik zwischen
Theologie und Philosophie: ein Spagat?
von
Christof Mandry
Mandry, Christof: Christliche Sozialethik
zwischen Theologie und Philosophie: ein
Spagat?.
Arbeitspapiere des ICEP 1/2005, S. 1-14.
ISSN: 1860-5850
© Christof Mandry 2005
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3
Ethik als die normative Reflexion auf das
dung im Sinne einer Bereichstrennung je-
gute und richtige Handeln ist sowohl in Phi-
doch in Frage gestellt worden: Jedes ethi-
losophie als auch in Theologie beheimatet.
sche Problem lässt sich nämlich zugleich
Einer theologischen Ethik muss sich daher
individualethisch und sozialethisch formulie-
die Frage nach ihrem Verhältnis zur philoso-
ren. Wie Dietmar Mieth mit Recht ausführt,
phischen Ethik stellen. Für die theologische
geht es in der neueren Sozialethik nicht
oder christliche Sozialethik stellt sich diese
mehr „um ein materiales Teilgebiet der E-
Frage mit gleichem Recht, jedoch mit der
thik, sondern um eine formale Betrach-
Vorfrage, was eigentlich als „Gegenüber“
tungsweise ethischer Probleme überhaupt“.
auf der nicht-theologischen Seite anzusehen
Unter den Bedingungen der spätmodernen
ist. In der philosophischen Ethik oder prakti-
hochausdifferenzierten Gesellschaft ist jedes
schen Philosophie ist die Bezeichnung „Sozi-
Handeln institutionell strukturiert, so dass
alethik“ weitgehend ungebräuchlich. „Sozi-
das „sozialethische Erkenntnisinteresse ü-
alethik“ ist ein Terminus, der traditionell in
berall dort einschlägig, ja sogar führend [ist],
der theologischen Ethik zuhause ist und dort
wo das Einzelverhalten institutionengeprägt
die Arbeitsteilung mit der Moraltheologie
ist und institutionelle Bedingungen sowohl
markiert: Beschäftigt sich die Sozialethik mit
um ihrer selbst als auch um ihrer individual-
der Einrichtung der Gesellschaft, der richti-
ethischen Auswirkungen willen befragt wer-
gen Organisation des menschlichen Zusam-
den müssen“. Damit wird die Segmentie-
menlebens und der es gestaltenden Instituti-
rung der ethischen Zuständigkeiten zwi-
onen, so richtet sich die Moraltheologie der
schen einer Individualethik und einer Sozial-
gängigen Unterscheidung nach auf das Han-
ethik zu einer Frage des methodischen Zu-
deln des Individuums, sein gutes und richti-
gangs und nicht zu einer Bereichsfrage. Al-
1
2
3
ges Leben. Dem entsprechend ist Gerech-
lerdings sind wegen der unterschiedlichen
tigkeit das zentrale Thema der Sozialethik,
Entstehungsgeschichten der beiden akade-
und
Institutio-
mischen Disziplinen faktisch auch gegenwär-
nen“,während sie in der moraltheologischen
tig bereichsspezifische Zuordnungen zwi-
Individualethik eine Tugend (unter mehreren)
schen theologischer Sozialethik und Moral-
des gut handelnden Einzelnen ist. Unter dem
theologie anzutreffen, die natürlich auch
Einfluss der neueren philosophischen Ethik
eine wissenschaftspragmatische Seite haben.
und Sozialphilosophie ist diese Unterschei-
Gleichwohl ist festzuhalten, dass sich – bei
zwar
als
„Tugend
der
aller historischen Prägung und akademi1
Vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Art. Sozialethik, in: Joachim
Ritter/Karl Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 9, Basel 1995, Sp. 1134-1138; Wilhelm Korff,
Art. Sozialethik, in: ders. u.a. (Hg.), Lexikon der Bioethik, Band
3, Gütersloh 1998, 377-388, bes. 377f.
2
Dietmar Mieth, Sozialethik als hermeneutische Ethik, in:
Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 43 (2002), 217240, hier 218.
3
Ebd., 219.
4
schen Arbeitsteilung – christliche Sozialethik
für Grundinstitutionen des Gemeinwesens
als theologisch und ethisch, das heißt also als
aufzustellen. In der ersten Bedeutung wäre
eine theologisch-ethische Zugangsweise zu
sie gleichbedeutend mit politischer Philoso-
moralischen Phänomenen und ethischen
phie. In der zweiten Verwendung, als Be-
Problemen versteht.
reichsethik, wird der Gegenstandsbezug in
In der philosophischen Ethik oder praktischen Philosophie ist der Begriff „Sozialethik“ weitaus weniger geläufig und wird
kaum zur Selbstbezeichnung verwendet, wie
auch von einer vergleichbaren Disziplinbildung innerhalb der Philosophie nicht gespro-
4
der Philosophie häufig deutlich enger aufgefasst als in der theologischen Sozialethik, da
weitere Bereichsethiken wie Wirtschaftsethik, Medienethik, Rechtsethik usw. als
eigenständig verstanden werden, anstatt sie
als sozialethische Teilbereiche zu sehen.
5
chen werden kann (jedenfalls nicht im
Für die Frage nach dem Standort der theolo-
deutschsprachigen Raum). Ein ethisches und
gischen Sozialethik zwischen Theologie und
moralphilosophisches Interesse an Institutio-
Philosophie scheint es, so möchte ich aus
nen ist im Rahmen der praktischen Philoso-
diesem kurzen Überblick folgern, interessan-
phie bzw. der politischen Philosophie anzu-
ter zu sein, den Ausgangspunkt von Sozial-
treffen, dort aber vordringlich mit grundle-
ethik als einer Zugangsweise zu ethischen
genden Fragestellungen befasst und ver-
Problemstellungen zu nehmen, als von einer
gleichweise weniger an ethischen Einzelfra-
Bereichsethik auszugehen. Um zu vermei-
gen (wie Steuergerechtigkeit, Gesundheits-
den, unter der Hand doch wieder in eine
system usw.) interessiert. Diese Diagnose in
Abgrenzung zu verfallen, die Individualethik
puncto philosophische „Sozialethik“ hat sich
hier und Institutionenethik dort unterschei-
erst mit der Zuwendung auch der philoso-
det, ist es hilfreich, von einem handlungs-
phischen Ethik zu Anwendungsfragen in den
theoretischen Ethikverständnis aus ihren
6
letzten Jahrzehnten etwas verändert – v.a.
auch durch die Rezeption von Rawls' Ge-
4
rechtigkeitstheorie und die sich daran an-
2000, 68f, Zitate auf S. 68.
schließenden Debatten. Sozialethik kann nun
5
einerseits als das „exentensive Moment“ der
Urs Turnherr, Angewandte Ethik zur Einführung, Hamburg
Vgl. Karl-Heinz Nusser, Sozialethik, in: A. Pieper/U. Turnherr
(Hg.), Angewandte Ethik. Eine Einführung, München 1999,
156-175.
Moral gesehen werden und die „sittlichen
6
Normen und Prinzipien menschlichen Zu-
weil sie in diesem Kontext weniger irreführende Assoziatio-
sammenlebens“
nen weckt als „christliche Sozialethik“: Der „Gegenbegriff“
schlechthin
untersuchen,
oder in einer engeren Bedeutung als eine
Ich ziehe die Bezeichnung „theologische Sozialethik“ vor,
zur theologischen Sozialethik ist m.E. nach eben „philosophische Sozialethik“, während „christliche Sozialethik“ entweder
Bereichsethik zur angewandten Ethik zählen,
eine „nicht-christliche“ als Gegenbegriff nahe legt (und
und sich dort mit dem Leitprinzip der sozia-
philosophische Ethik ist nicht zwangsläufig nicht-christlich)
len Gerechtigkeit darum bemühen, Normen
5
oder an jüdische, muslimische etc. Sozialethik denken lässt,
was hier nicht im Blick ist.
Zusammenhang zu bedenken. Sozialethik, so
eingegliedert sind, die wiederum eine ge-
sollte dabei deutlich werden, ist eine ethi-
schichtliche und damit soziale Gestalt ha-
sche Betrachtungsweise, die sich aus der
ben. Hinzu kommt, dass die Realisierung
Einsicht in die fundamentale und unhinter-
des Handlungsvermögens der Person die
gehbare Sozialität menschlichen Handelns
Vermittlung über den anderen benötigt; das
ergibt und die bei den überindividuellen In-
gute Leben, das das Individuum für sich er-
stitutionen ansetzt, die dem Handeln der
strebt, ist weder für sich allein möglich, noch
Individuen immer schon vorausgehen, es als
erschöpft es sich in zwischenmenschlichen
intelligibles Verhalten konstituieren und es
Beziehungen. Vielmehr erstreckt es sich auch
von vornherein in ein moralisches Koordina-
auf Institutionen als die Struktur des Zu-
tennetz einfügen. Sozialethik wäre damit
sammenlebens einer geschichtlichen Ge-
komplementär zu einem individualethischen
meinschaft, die nicht auf die Handlungen
Ansatz und gleichermaßen grundlegend wie
der einzelnen zurückgeführt werden kann –
dieser. Die anschließenden Überlegungen
wenn sie natürlich auch an sie zurückge-
werden dann versuchen, die theologische
bunden ist. Der Basissatz des Ethischen lau-
(Sozial-)Ethik im Spannungsfeld zwischen
tet daher für Ricœur „Streben nach dem
Theologie und Philosophie zu verorten, in-
guten Leben, mit und für den Anderen, in
dem eine doppelte Frage verfolgt wird: Wie
gerechten Institutionen“ und bezeichnet die
verhält theologische Sozialethik sich zum
grundlegenden Dimensionen des Ethischen
philosophischen Denken in ihr selbst, oder
mit der Selbstorientierung, der Orientierung
anders herum: was ist an ihr über das Ethi-
am Anderen und dem Leben mit den ano-
sche hinaus theologisch? Und an wen richtet
nymen vielen Anderen, mit denen die Insti-
sie sich – verglichen mit philosophischer E-
tutionen vermitteln. Die Gemeinschaft und
thik – mit welchem Anspruch auf Gehör?
ihre institutionelle Struktur sind dabei weder
7
8
als Summe individuellen Handelns noch als
1. Das Feld der Sozialethik
Handlungen sind grundlegend sozial, so hat
eigenständige Entitäten zu verstehen, sondern, wie Ricœur mit Rawls ausführt, als
Verteilungssystem. Verteilt wird in doppelter
Paul Ricœur in Das Selbst als ein Anderer
gezeigt, weil die Bestimmung einer Hand-
7
Dieses Thema verfolgt Ricœur nicht erst in Das Selbst als ein
lung als diese spezifische eine intersubjektive
Anderer (München 1996), sondern bereits in vielen voraus-
Handlungssemantik voraussetzt, weil Hand-
gehenden Studien, die um das Thema der „Lesbarkeit“ von
lungen inhärenten Gütestandards folgen, die
Handlungen kreisen, vgl. z.B. seinen Aufsatzband Du texte à
l’action. Essais d'hérmeneutique II, Paris 1986; vgl. auch
angeben, wann eine Handlung gelungen
Wayne Froman, From the Language Dynamic of Hermeneu-
oder (technisch) „gut“ ist und weil sie in
tics to a Philosophy of Action in: Journal Phänomenologie Nr.
größere Handlungsabläufe oder Praktiken
21 (2004), 18-24.
8
Vgl. Paul Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, 236; vgl. 221.
6
Weise, nämlich einerseits die Teilhabe an der
len Lebenszielen und -bildern) Leitbilder für
Gemeinschaft selbst und andererseits (bzw.
das gemeinschaftliche Gute vorgeben, stel-
damit zugleich) die Rechte und Pflichten,
len die Gerechtigkeitsprinzipien unbedingte
Güter und Lasten des gemeinschaftlichen
und universal geltende Forderungen auf. Sie
9
Lebens. Der ethische Gerechtigkeitssinn hat
stellen damit eine kritische Instanz dar, an
für dieses Verteilungssystem intuitiv und ide-
denen auch die sozial vertretenen Ideale und
alerweise die Idee der Gleichheit vor Augen –
gesellschaftlichen Zielsetzungen zu messen
das spricht sich darin aus, dass Ungleichheit
sind. Nun ist es freilich mit dem Begründen
in der Anteilhabe oder in der Zuteilung für
von Gerechtigkeitsnormen alleine nicht ge-
gewöhnlich als ungerecht empfunden wird.
tan. Sie müssen in einem zweiten Schritt in
Dieses „ursprüngliche Wollen“,das Ricœur
konkrete
phänomenologisch-ethisch rekonstruiert, ist
soziale Bereiche und ihre spezifischen Institu-
jedoch nur noch im moralischen Aufschrei
tionen eingeführt und auf sie angewendet
„ungerecht!“ zu verspüren, weil wir bereits
werden – vieles spricht dafür, dass hier min-
in Verhältnissen der Herrschaft der einen
destens ebenso viele moralische Probleme zu
über die anderen und in Institutionen leben,
erwarten sind wie bei ihrer Formulierung.
die nicht dem Gleichheitssinn entsprechen.
Die moralische Kunst besteht darin, den
Was überhaupt „gleich“ im Sinne von „ge-
möglichen Konflikt, der in der Spannung
recht“ bedeutet, muss erst durch eine nor-
zwischen
mative Gerechtigkeitsregel eingefordert wer-
spruch und Abstraktheit der moralischen
den – in Form von Gerechtigkeitsprinzipien,
Norm und der Indivdualität und Kontextuali-
die normativ aufzustellen und zu begründen
tät der jeweils gegebenen Situation liegt, zu
sind, wie Rawls dies für moderne pluralisti-
bestehen, indem eine Entscheidung getrof-
sche Gesellschaften mit seinen beiden Ge-
fen wird, die sowohl der Situation als auch
rechtigkeitsprinzipien getan hat.
10
Im Gegensatz zur strebensethischen Formulierung von anzustrebenden Gestalten des
Zusammenlebens und von wünschenswerten
Institutionsformen, die (analog zu individuel-
gesellschaftliche
Allgemeinheit,
Kontexte
und
Universalitätsan-
dem Sinn der Norm entspricht. Ricœur bezeichnet es als „praktische Weisheit“,die
dazu befähigt, zwischen Praxiskontext und
Norm zu vermitteln, und zwar gerade indem
der strebensethische Sinn, der von einer
moralischen Norm geschützt werden soll, als
interpretatorische Hilfe in Erinnerung geru-
9
Vgl. ebd. 243f.
10
John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/Main
1979. Vgl. dazu insgesamt meinen Aufsatz Ricœur und Rawls.
Zugleich ein Querschnitt durch Ricœurs „kleine Ethik", in:
Andris Breitling/ Stefan Orth/ Birgit Schaaf (Hg.), Das herausgeforderte Selbst. Perspektiven auf Paul Ricœurs Ethik, Würzburg 1999, 37-58.
7
fen wird. Dabei spielen die moralischen Überzeugungen der Subjekte eine große Rolle, da sie mit der geschichtlichen Identität
der sittlichen Subjekte, die moralische Kon-
flikte zu bestehen haben, eng verbunden
sind.
11
Wertprioritäten soll das Gemeinwesen realisieren? Ideologische Verengungen können
Was heißt das für die Sozialethik, wie werden Gerechtigkeitsprinzipien praktisch? Die
moralische Entscheidungsfindung von Gemeinschaften ist ein eminent politischer Vorgang, an dem mehrere unterschiedlich tiefgehende Konfliktlagen unterschieden wer12
den können.
In einem funktionierenden
demokratischen Gemeinwesen gehört der
Konflikt über die Verteilungsprioritäten zur
Politik wie die Tagesschau zum Fernsehprogramm. Auf dieser Ebene stehen bei anerkannten Entscheidungsverfahren und effektiv vorhandener Öffentlichkeit die politischen
Mehrheitsverfahren für die „gute Entscheidung“ ein – sie sind prinzipiell unabschließbar, aber nicht ohne eine Entscheidung.
Grundsätzlicher sind dagegen die Konflikte
angelegt, die über die Großrichtung ausgetragen werden, die die Politik nehmen soll.
Hier spielen aufgeladene und ideologieanfällige Begriffe wie Sicherheit, Wohlstand, Freiheit, Solidarität, Gleichheit usw. eine Schlüs13
selrolle. Sie sind zudem mehrdeutig, da sie
eine beachtliche politische und ideengeschichtliche Vergangenheit haben. Welche
nur durch kluge Deliberation überwunden
werden, der es gerade darum geht, den
ethischen Sinnkern der Begriffe herauszuarbeiten. Die Orientierung des Gemeinwesens
dreht sich letztlich um die Frage „worum
geht es uns eigentlich in unserem Zusammenleben?“,also die Frage nach dem „guten Leben“ der Gemeinschaft, das aber die
moralische Kritik der Gerechtigkeitsprinzipien durchlaufen hat und die diesen gerecht
werden will. Auf diese Frage gibt es keine
objektiv richtige Antwort. Die kluge Entscheidung ist die öffentlich diskursiv erzielbare, die letztlich über die Überzeugung der
Beteiligten hinaus keine weiteren (und vor
allem: keine von diesen Überzeugungen
unabhängigen) Richtigkeitsgründe für sich in
Anspruch nehmen kann. Die diskursethischen Motive sind hier unverkennbar, wobei
Ricœur mit seinem Vorschlag insofern über
die (reine Lehre der) Diskursethik hinausgeht, als er von einer „Dialektik“ zwischen
rationaler Argumentation und Überzeugun14
gen ausgeht. Denn der kritische Anspruch
der sollensethischen Argumentation kann
nur kontextuell und praktisch wirksam werden, wenn er als kritische Instanz innerhalb
Ricœurs Theorie der ethischen Identität habe ich eingehend
von Überzeugungen fungiert, in denen die
erörtert in meinem Buch Ethische Identität und christlicher
„Lebensangelegenheiten“,um die es geht,
11
Glaube. Theologische Ethik im Spannungsfeld von Theologie
und Philosophie, Mainz 2002, bes. 223-260.
12
Vgl. zum folgenden Paul Ricœur, Das Selbst als ein Anderer,
312ff.
13
zur Sprache kommen. Dazu ist es notwendig, andere Sprachspiele wie Erzählungen,
Gleichnisse, Sinnbilder etc. zu berücksichti-
Vgl. dazu Stephan Lessenich (Hg.), Wohlfahrtsstaatliche
Grundbegriffe. Historische und aktuelle Diskurse, Frank-
14
furt/New York 2003.
347-351.
Vgl. Paul Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, 314-316 und
8
gen, in denen sich die geschichtlichen Erfah-
nach liegt die Antwort darauf in der Rolle,
rungen und Überzeugungen der Beteiligten
die religiöse (hier: christliche) Überzeugun-
aussprechen. Nur so können sie in den Rang
gen in der theologischen Ethik, also im
„wohlerwogener Überzeugungen“ überführt
christlichen Nachdenken über das gute und
werden und kann ein „Überlegungsgleich-
richtige Handeln und Leben spielen.
gewicht“ als praktische Lösung zwischen
unterschiedlichen Überzeugungen erreicht
werden.
15
17
Überzeugungen sind eng mit der personalen, geschichtlichen Identität des Subjekts
verbunden. In der personalen Identität ver-
Diesen Aspekten des Ethischen entsprechend
schränken sich religiöse und ethische Identi-
gliedert sich die Aufgabe der sozialethischen
tät. Eine ethische Identität besteht darin, ein
Reflexion in unterschiedliche Elemente, je
Verhältnis zu sich selbst zu entwickeln, das
nachdem, ob sie strebensethische Fragestel-
die strebensethische Lebensführungskompe-
lungen, normative-sollensethische oder sol-
tenz und die authentische Übernahme sol-
che der konkreten „Anwendung“ reflektiert.
lensethischer Forderungen in einen biogra-
Welche Rollen eine theologische Sozialethik
phischen
dabei jeweils übernimmt, werde ich in Ge-
ethische Identität umfasst einen offenen,
genüberstellung zu einer philosophischen im
narrativ strukturierten Lebensplan, der die
Schlussabschnitt erörtern. Zunächst muss es
miteinander verbundenen Aspekte des eige-
nun darum gehen, was theologische Sozial-
nen Lebens in zwischenmenschlichen und
ethik als theologische Reflexion charakteri-
sozial-gemeinschaftlichen Beziehungen zu-
siert.
sammen hält. Als Überzeugungen werden
Zusammenhang
integriert.
Die
dabei die Einstellungen und Werthaltungen
2. Religiöse Überzeugungen und Ethik
bezeichnet, die eine Person oder eine Gemeinschaft als für sich wesentlich erfahren
Da ich den Zugang über den Begriff der „E-
haben. In ihnen artikulieren sich die grund-
thik“ gewählt habe und damit vorausgesetzt
legenden Vorstellungen des „Guten“,die
habe, dass auch theologische Ethik sich an
sich auch in moralischen Konfliktsituationen
16
einem Gemeinbegriff von Ethik orientiert –
bewährt haben, so dass Personen bzw. Ge-
schließlich operiert sie mit philosophisch-
meinschaften nicht ohne Bezug auf diese
ethischen Begriffen, Theorien und Argumen-
Überzeugungen von sich erzählen können.
tationsweisen, die sie mit anderen Ethiken
Überzeugungen sind also erfahrene, ge-
gemeinsam hat –, stellt sich nun die Frage,
schichtliche Werthaltungen, die neue Hand-
was an ihr theologisch ist. Meiner Ansicht
lungskontexte und –herausforderungen mo-
15
16
9
Vgl. ebd. 348f.
17
Vgl. D. Mieth, Sozialethik als hermeneutische Ethik, 219.
Identität und christlicher Glaube, 260-279.
Das Folgende habe ich ausführlich dargelegt in Ethische
ralisch aufschließen, aber nicht abgeschlos-
gestalten und Leitbildern in Bewegung und
sen, sondern integrationsoffen sind.
treiben sie zur Vermittlung mit ethischer
In ethischer Hinsicht sind unter diesen Überzeugungen auch die christlichen Glaubenshaltungen anzusiedeln. Christlich Glaubender zu sein bedeutet dann, sich in den christlichen, d.h. den biblischen und kirchlich tradierten Vorstellungen selbst zu verstehen –
dass man in einer Welt lebt, die „Schöpfung“ ist, dass man selbst von Gott angesprochen und gerufen ist, den eigenen Le-
Lebensgestaltung an, d.h. zur Vermittlung
mit strebensethischer und sollensethischer
Rationalität, ohne die der Glaube keine praktische Relevanz erlangen könnte. Kurzgefasst ist die christliche Identität eine bestimmte kulturelle Weise, eine ethische Identität auszuprägen und schlägt sich in erster
Linie in bestimmten, geschichtlich wandelbaren, Lebenstiloptionen nieder.
bensentwurf in ein Nachfolgemodell zu stel-
Wie steht es aber hinsichtlich sollensethi-
len, das Teil des wachsenden Reiches Gottes
scher Normen? Stehen die Glaubensüber-
ist, dessen Vollendung erhofft wird, usw.
zeugungen nicht für eine ganz andere Logik,
Diese Vorstellungen verwenden eine poeti-
die im Gebot der Feindesliebe und in den
sche, symbolreiche und metaphorische Spra-
Seligpreisungen der Bergpredigt eindrucks-
che – gerade deshalb ist es möglich, dass
voll ausgesagt wird – nämlich die andere
Menschen das eigene Leben in diesem Sym-
Wange auch noch hinzuhalten? Und ist da-
bolnetz verstehen, deuten und entwerfen
gegen die Goldene Regel, die eine ethisches
können. Diese Glaubensvorstellungen und
Gegenseitigkeitsdenken
die mit ihm verbundenen Praxismodelle bie-
geradezu harmlos? Tatsächlich ist das Ge-
ten Raum für unterschiedliche Ausprägun-
genseitigkeitsprinzip im Sinne der Gleichheit
gen, charakteristisch ist ihnen aber die Über-
in der Interaktion, wie es die Goldene Regel
zeugung, einer „Ökonomie der Gabe“ an-
anschaulich formuliert und der kategorische
zugehören. Damit ist das Bewusstsein ge-
Imperativ unbedingt fordert, ein essentieller
meint, vor aller eigenen Aktivität bereits
ethischer Grundsatz. Versteht man die Moral
selbst angesprochen und angerufen zu sein –
formal als Sphäre eines Ausgleichs (von In-
und gerade deshalb selbst frei zu sein und
teraktionsanteilen,
freiwillig geben zu können.
kann man ihr mit Ricœur eine Logik der Ent-
Die christlichen Glaubensvorstellungen liegen
also nicht direkt auf der ethischen Ebene,
vielmehr gehen sie weit darüber hinaus. Sie
stehen jedoch in enger Beziehung zur ethischen Identität. Ihre Wirkung liegt im Einfluss, den sie auf die Vorstellungskraft ausüben. Sie setzen die Imagination mit Sinn-
empfiehlt,
zwischen
nicht
Interessen),
sprechung zuschreiben. Die Liebe hingegen
wird von einer Logik des Exzess oder des
Übermaßes regiert, die auf Ausgleich nicht
achtet, sondern freimütig, „ohne Maß“ sich
schenkt. „In dem Augenblick, in dem die
Ökonomie der Gabe das Feld der Praxis
betritt, entwickelt sie eine Logik der Überfül10
le, die zumindest zunächst der Entspre-
Die Spannung zwischen ethischer Gerech-
chungslogik der Alltagsethik völlig entge-
tigkeitsregel und supra-ethischem Liebesge-
gengesetzt ist."
18
Nun sind beide Logiken, die der Moral wie
die der Liebe, auf Handlung hin ausgerichtet.
In der Zuordnung von religiöser Überzeugung und moralischer Überlegung kommt
man weiter, wenn sie auf unterschiedlichen
Ebenen gesehen und diese in ein „dialektisches“ Verhältnis gesetzt werden. Entsprechend ist das biblische Gebot der Feindesliebe als „supra-ethisches“ Gebot zu erkennen:
Es geht über die Trennung zwischen Freund
und Feind hinweg, weil es sich aus der Erfahrung der Gabe speist, dass ich bereits empfangen habe und daher im Stande, ja verpflichtet bin, selbst zu geben. Mit der Überwindung des Denkens in Feindschafts- und
Freundschaftskategorien stellt das Liebesgebot zugleich einen ethischen Entwurf vor,
der zum Handeln auffordert und sich darin
anschickt, die Reziprozitätslogik der üblichen
Moral zu überwinden. Allerdings muss sich
der religiöse Impetus auch ethische Kritik
gefallen lassen. Unterminiert es nicht jede
soziale Praxis, wenn die Entsprechung zwischen dem Tun der einen und dem der anderen außer Acht gelassen wird? Was kann
man noch moralisch gegen Ungerechtigkeit
vorbringen, wenn bereitwilliges Nachgeben
gefordert ist, das ja die Verzerrung im Handeln nicht aufhebt?
18
Paul Ricœur, Amour et justice/ Liebe und Gerechtigkeit,
bot kann nicht aufgehoben, sondern muss
produktiv gemacht werden. Das Liebesgebot
muss einerseits auf dem Weg zur Praxis über
die moralische Norm laufen und sie reinterpretieren. Andernfalls riskiert eine religiöse „Liebesmoral“,hinter ethischen Standards
zurückzubleiben und selbst unmoralisch zu
werden. Die praktischen Folgerungen des
Liebesgebots müssen den moralischen Forderungen Genüge tun, wie sie im Gerechtigkeitsprinzip formalisiert sind. Die Spannung zwischen beiden wird jedoch auch in
der umgekehrten Richtung produktiv. Die
Logik der Gegenseitigkeit ist nämlich nicht
eindeutig, sondern offen für verschiedene
Interpretationen. Vor unmoralischen Verinnahmungen der moralischen Norm soll nun
ihre Interpretation vom Liebesgebot her be19
wahren. Denn das Gegenseitigkeitsdenken
der Moral kann zu einer Haltung führen, die
das eigene Verhalten grundsätzlich am Nutzen orientiert, das es für das handelnde
Selbst erwarten läßt. Dies ist dann der Fall,
wenn die Gegenseitigkeit einseitig auf das
handelnde Selbst bezogen wird, so dass es
sich stets so verhält, wie es erwartet, behandelt zu werden. Dann schlägt die geforderte
Reziprozität in die berechnende Einstellung
um, die in allem auf den eigenen Anteil lauert und die moralische Norm als Garantin
der eigenen Interessendurchsetzung interpretiert. Eine Interpretation der ethischen
Tübingen 1990, 49 (Übersetzung von mir modifiziert). Die
Bezeichnung „Logik der Überfülle" spielt auf Röm 5,17-20
an.
11
19
Vgl. Paul Ricœur, Liebe und Gerechtigkeit, 57f.
Reziprozität, die vom Liebesgebot und seiner
reflektiert zu einer „moralischeren Moral“
Logik der Überfülle her erfolgte, orientierte
beizutragen.
sich hingegen im Handeln an dem, was der
andere von mir erwarten darf, weil sie aus
den Ressourcen der Erfahrung heraus lebt
und handelt, selbst bereits empfangen zu
haben. Es ist also der Blick in der Ethik, der
3. Theologische und philosophische
Ethik – Gemeinsamkeiten und Unterschiede
von der religiösen Exzess-Logik der Liebe
Theologische und philosophische Sozialethik
umgelenkt wird, so dass die Moralität nicht
haben gemeinsam, dass sie Ethik sind. Sie
vom Selbst her, sondern vom Anderen als
unterscheiden sich darin, dass theologische
einem Selbst her denkt.
Ethik auf die christlichen Glaubensvorstel-
Theologische Sozialethik versteht sich also als
die ethische Reflexion gesellschaftlicher Prozesse, Institutionen und Strukturen mit dem
Ziel, Orientierungen für gelingendes Zusammenleben von Menschen zu geben. In ihrem
ethischen Denken ist es ihre Motivation und
ihr Anliegen, die Überzeugungen des christlichen Glaubens mit der strebensethischen
und sollensethischen Rationalität kritisch zu
vermitteln und sie so für das bewusste ethische Handeln und Leben fruchtbar zu ma20
lungen und Überzeugungen Bezug nimmt,
die sie entsprechend der Dialektik zwischen
„Liebe“ und „Gerechtigkeit“ ethisch fruchtbar zu machen versucht, und dass theologische Ethik nicht nur – wie philosophische
Ethik – sich in den moralischen Auseinandersetzungen der modernen Gesellschaft mit
ethischen Reflexionen zu Wort melden kann,
sondern dass sie auch eine spezifische Funktion innerhalb der Glaubensgemeinschaft,
der Kirche, hat.
21
chen. Gerade aus christlicher Überzeugung
Der Stellenwert der christlichen Überzeu-
heraus versucht sie, die ethischen Glaubens-
gungen ist innerhalb der theologischen Sozi-
ressourcen auch für Nichtglaubende und die
alethik allerdings unterschiedlich zu bestim-
säkularisierte Gesellschaft fruchtbar zu ma-
men, je nachdem, ob es sich um eine stre-
chen. So ist sie Teil des Auftrages von Theo-
bensethische Reflexion auf die Leitbilder und
logie insgesamt, die wissenschaftliche „Ar-
Werthaltungen handelt, an denen eine Ge-
gumentation der Überzeugung“ zu sein und
meinschaft ihr kollektives Leben und ihre
Institutionen ausrichtet, oder ob es um die
sollensethische Bestimmung dessen geht,
was einem jeden geschuldet und von jedem
20
Vgl. auch Marianne Heimbach-Steins, Sozialethik als kontex-
tuelle theologische Ethik. Eine programmatische Skizze, in:
zu berücksichtigen ist. In der postteleologi-
Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 43 (2002), 4664. Auch Heimbach-Steins fordert die Integration von Fragen
der Gerechtigkeit und des guten Lebens in die Sozialethik,
21
betont aber die Kontextualität von Ethik insgesamt stärker.
Ethische Identität und christlicher Glaube, 279-297.
Vgl. zum Folgenden meine ausführlichen Darlegungen in
12
schen,
pluralistischen
Gesellschaft
über-
für wenige, sondern ein intentional Univer-
nimmt Ethik bei der strebensethischen Frage
sales für alle anzuzielen, gründet sich auf die
nach dem Guten, d.h. bei der Wahl der Ziele
den Glauben tragende und die Theologie
und der Wertprioritäten der Gesellschafts-
insgesamt motivierende religiöse Erfahrung.
ausrichtung grundsätzlich eine beratende
Der Geltungsstatus, mit dem sie dabei spre-
Funktion: Da es keine allgemein anerkannte
chen kann, hängt jedoch von der Adressa-
Vorstellung der guten Gesellschaftsordnung
tengemeinschaft ab. In die plurale moderne
mehr gibt, kann es nur noch darum gehen,
Gesellschaft hinein versucht sie, christliche
Konsistenz, Kohärenz und eventuelle Alter-
Wertoptionen als geschichtlich gewachsene
nativen zu den Zielvorstellungen zu klären
subjektive Präferenzen ethisch einsichtig zu
und als Vorschläge in die öffentliche Diskus-
machen, also den allgemeinen Wert der
sion um das „Gemeinwohl“ einzubringen.
partikularen Überzeugungen und Erfahrun-
Unter postteleologischen Vorzeichen kann
gen darzulegen.
philosophische Ethik für das Gelingen des
meinschaft der Glaubenden hinein versucht
Lebens nur formale Bedingungen der Le-
sie hingegen, die „Verbindlichkeit der Kon-
bensgestaltung formulieren, aber keine in-
sequenz“
haltlich gehaltvollen Vorgaben machen. Falls
biblische Vorstellungen für die Lebenspraxis
sie sich auf solche bezieht, kann dies nur
und für die kirchlichen Institutionen haben
hypothetisch und als subjektive, kontingente
sollten. Zwischen den Glaubensvorstellungen
Präferenz erfolgen.
und den Lebensstiloptionen, die aus dem
Die theologische Sozialethik wird in diesen
Debatten die christlichen Überzeugungen
und Modelle der gelingenden Gemeinschaft
für die jeweilige gesellschaftliche Entscheidungssituation verständlich und fruchtbar zu
machen versuchen. Sie bringt in die Diskusssion also – über die Konsistenzprüfung der
vertretenden Wertalternativen hinaus – eine
wertende Grundoption ein. Wenn hierbei
eine deliberative Verständigung der partiku-
22
In die Kirche als die Ge-
aufzuweisen,
die
christlich-
„supraethischen“ Glauben erwachsen, herrschen zwar keine einfachen Ableitungsverhältnisse, sie sind aber dennoch nicht beliebig. Theologische Ethik versucht, das christlich-biblische Modell der Existenz für die
Praxis einer bestimmten Zeit und Situation
ethisch aufzuschlüsseln. Sie unterscheidet
sich darin von einer philosophischen Strebensethik, dass sie innerhalb der Glaubensgemeinschaft die ethische Selbstreflexions-
laren Standpunkte gelingt, so deshalb, weil
es ihnen formal-intentional mit der guten
und gerechten Gemeinschaftsgestaltung um
22
Zur Artikulation von christlichen Überzeugungen in der
modernen Gesellschaft und zur Gestalt einer „öffentlichen
Theologie“ vgl. auch Maureen Junker-Kenny, Capabilities,
dasselbe geht. Die von christlicher Theologie
Convictions, and Public Theology, in: dies./ Peter Kenny (Hg.),
vertretene Überzeugung, hinsichtlich des
Memory, Narrativity, Self and the Challenge to Think God:
ethischen Sinngehalts kein partikuläres Gutes
13
The Reception within Theology of the Recent Work of Paul
Ricoeur, Münster 2004, 153-201, bes. 194-201.
funktion wahrnimmt und sich im Zuge des-
tiven Begründung Akzente setzen, indem sie
sen an substantiellen Überzeugungen und
prüft, ob den Optionen der ethischen Auf-
Überlieferungen orientiert, deren ethische
merksamkeit nicht vielleicht Desiderate der
Relevanz sie auf der Höhe der allgemein-
normativen Begründung gegenüber stehen.
ethischen Reflexion aufbereitet.
Dem christlichen Selbst- und Weltverstehen
Im Gegensatz zur strebensethischen Beratung geht es der sollensethischen Argumentation darum, vor dem Hintergrund pluraler
Vorstellungen des Guten und angesichts
konfligierender
Interessen
das
allgemein
Verbindliche und von jedermann Geforderte
(bzw. das einem jeden und einer jeden moralisch Geschuldete) zu bestimmen und normativ-ethisch zu begründen. Theologische
und philosophische Ethik haben hier dieselben Aufgaben und müssen denselben Begründungsstandards
genügen.
können hier Intuitionen erwachsen, die das
moralische Denken in Gang halten und die
Begründungsarbeit anstacheln. Es gibt auch
in der deontologischen Moral einen Kairos,
den Theologie vor dem Hintergrund ihrer
Überzeugungen zu nutzen hat. Dies hängt
damit zusammen, dass sollensethische Überlegungen ihren Geltungsnachweis zwar Argumenten verdanken, diese aber geschichtlich zustande kommen und politisch rezipiert
werden.
Christliche
Gesellschaftlich am relevantesten wird Sozi-
Glaubensüberzeugungen steuern keine ei-
alethik dort, wo es um konkrete Abwä-
genen religiösen Argumente bei, die es der
gungs- und Entscheidungsfragen geht, wo
theologischer Sozialethik erlauben würden,
also die „praktische Weisheit“ gefordert ist.
moralische Normen mit unbedingtem, uni-
Hier wird auch der christliche Glaube für die
versalem Geltungsanspruch „außerphiloso-
allgemeine Moral mit am fruchtbarsten, da
phisch“ herzuleiten. Dennoch würde es zu
es darum geht, die Moralität der Moral da-
kurz greifen, den christlichen Überzeugun-
durch voranzubringen, dass vor-moralische
gen keinerlei Wert für die sollensethische
Sinnerfahrungen und Sinnpotentiale in die
Begründungsarbeit beizumessen. Dieser liegt
moralische
jedoch nicht auf der Ebene der Begründung,
Problemstellungen und Konflikten einge-
sondern in der ihr vorausliegenden Einsicht
bracht werden. Die Erzählungen, Bilder, Me-
in das moralisch Belangvolle oder Gefährde-
taphern und Denkweisen des christlichen
te. Die mit den christlichen Überzeugungen
Glaubens können mit Visionen und Hoff-
verbundenen Sensibilisierungen für Benach-
nungen den begrifflichen Moraldiskurs an-
teiligte, Marginalisierte und Unterdrückte,
stoßen, sie können aber auch mit der ihnen
die Aufmerksamkeit für gefährdete Instituti-
eigenen Realistik ein Mehr an Gerechtigkeit
onen des Humanen und die geschichtlichen
und an Anerkennung zwischen Personen zu
Akzentuierungen für Humanisierung lassen
denken geben, das als bislang unentdecktes
theologische Sozialethik auch bei der norma-
Potential im menschlichen Dasein eingefaltet
Erschließung
von
konkreten
14
liegt. Eine Reformulierung des ethischen
Sinns von Konzepten der theologischen Tradition auf der begrifflichen Höhe der aktuellen Diskussion kann schließlich das EthischRationale historischer Einsichten für den gegenwärtigen Kontext verfügbar und fruchtbar machen. Diese Arbeit ist nur im Detail zu
leisten, in geduldigem Hören und Nachdenken der christlichen Überzeugungen und der
Einsichten der Moralität.
Wenn theologische Sozialethik somit einen
„Spagat“ vollzieht, dann indem sie die
Spannung aushält und ethisch produktiv
macht, die in ihr selbst herrscht, zwischen
dem philosophisch-begrifflich vorgehenden
ethischen Denken und dem Hören auf die
christliche Botschaft und ihre Herausforderungen an das Denken und Handeln.
Zum Autor
Dr. Christof Mandry ist Professor für Christliche Sozialethik an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin. Er ist Gründungsmitglied des ICEP und dessen Geschäftsführer. Eine ausführliche Publikationsliste kann über das ICEP bezogen werden:
www.icep-berlin.de oder [email protected]
Dieser Text ist erschienen in:
Bohmeyer, Axel und Frühbauer, Johannes J. (Hrsg.):
Profile - Christliche Sozialethik zwischen Theologie und
Philosophie, LIT-Verlag, Münster - Hamburg - London
2005, S. 83-93
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