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Eva von Engelberg-Dočkal: Rezension von: Winfried Nerdinger
(Hg.): Geschichte der Rekonstruktion. Konstruktion der Geschichte,
München: Prestel 2010, in sehepunkte 11 (2011), Nr. 2
[15.02.2011], URL:http://www.sehepunkte.de/2011/02/18975.html
First published: http://www.sehepunkte.de/2011/02/18975.html
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sehepunkte 11 (2011), Nr. 2
Winfried Nerdinger (Hg.): Geschichte der
Rekonstruktion
Der von Winfried Nerdinger herausgegebene Band erschien parallel zur
gleichnamigen Ausstellung, die vom 22. Juli bis 31. Oktober 2010 in der
Pinakothek der Moderne in München gezeigt wurde, ein Projekt des
Architekturmuseums der TU München und des Instituts für
Denkmalpflege und Bauforschung der ETH Zürich. Das über 500 Seiten
starke Buch ist ein weiterer Beitrag zum nach wie vor umstrittenen
Thema der gebauten Rekonstruktion, dem allein 2010 mehrere
deutschsprachige Publikationen gewidmet waren. [ 1 ]
Der reich bebilderte Band gliedert sich in die Einleitung von Winfried
Nerdinger, 15 "Überblicksaufsätze" unterschiedlicher Themenbereiche
sowie einen Katalog, der mit 285 Seiten den Hauptteil des Buches
ausmacht. Die dort vorgestellten rund 150 Einzelbeispiele sind in zehn
Themengruppen geordnet und zeigen ein bewusst breites Spektrum aus
Bauten und Ensembles unterschiedlicher Länder, Epochen und
Baugattungen.
Ausgangspunkt für das Konzept des Buches waren die vielfach synonym
verwendeten Begriffe "Rekonstruktion", "Restaurierung",
"Wiederaufbau", "Wiedererrichtung" und "Wiederherstellung", deren
Übergänge fließend sind und häufig noch mit "Kopie" und "Replik"
vermengt werden. Hinzu kommen die im Laufe der Zeit gewandelte
Bedeutung der Begriffe und deren unterschiedliche Verwendung in
einzelnen Ländern. Vielfalt und Komplexität der Vorgänge könnten mit
diesen Termini daher nicht präzise erfasst werden (6). Obwohl man sich
ausgehend von den Begriffserläuterungen im Glossar (478f.) auf
Definitionen hätte festlegen können, wird in Nerdingers Buch unter
"Rekonstruktion" im Folgenden jede Form der "Wiederherstellung"
verstanden (6).
Zweifellos sind Rekonstruktion, Wiederaufbau und Reparatur am
konkreten Gebäude kaum klar zu trennen: Mag man den Ersatz eines
Fensters noch unisono als Reparatur bezeichnen, wird es bei einem
neuen Geschoss oder Gebäudeflügel schon schwieriger. Auch die
allgemein gebräuchliche Unterscheidung zwischen
"Wiederaufbau" (unmittelbar nach der Zerstörung) und
"Rekonstruktion" (zeitlicher Abstand) ist subjektiv. Für Nerdingers
Konzept spricht daher zunächst einmal die Ehrlichkeit des Ansatzes:
Klare und eindeutige Zuordnungen gibt es nur in Sonderfällen wie
beispielsweise der 1931 zerstörten und 1994-99 rekonstruierten
Christus-Erlöser-Kathedrale in Moskau. Positiv ist zudem die
Konzentration auf das Spezifische jedes Einzelfalls und die dadurch in
der Gesamtschau zum Ausdruck kommende Vielfalt der Ausprägungen.
Die fehlende inhaltliche Differenzierung der "Rekonstruktion" und deren
Abgrenzung zum freieren "historisierenden Bauen" erweist sich jedoch
auch als Nachteil. Denn nur mit einem klar benennbaren
Forschungsgegenstand können Erkenntnisse gewonnen werden, die über
das Einzelbeispiel hinausgehen. Da es trotz fließender Übergänge
grundsätzliche Unterschiede gibt zwischen dem Wiederaufbau eines
(teil)zerstörten Gebäudes und der Rekonstruktion eines Bauwerks an
einem Ort, der eventuell jahrzehntelang einer anderen Nutzung diente,
müssen diese Sachverhalte auch unter anderen Fragestellungen
behandelt werden. Die begriffliche Zusammenfassung jeder Form der
Wiederherstellung verhindert hier weitere wissenschaftliche
Erkenntnisse zur Rekonstruktion im engeren und eigentlichen Sinne.
Problematisch ist diese Methode auch für Nerdingers Anliegen, die
"historische Bandbreite des Phänomens, die 'Geschichte der
Rekonstruktion'" (6) darzulegen. Die Kernthese "Rekonstruierende
Wiedergewinnung ist historisch so selbstverständlich wie bauen,
reparieren und abreißen" (6) zielt in erster Linie auf die RekonstruktionsGegner, die hier ausschließlich ein Phänomen der Moderne sehen und
nun vom Gegenteil überzeugt werden sollen. Versteht man
Rekonstruktion im Sinne Nerdingers als Sammelbegriff für jede Art der
Wiederherstellung, ist das sicherlich richtig: Natürlich wurden Gebäude
schon immer neu aufgebaut, repariert und in den historischen Formen
ergänzt. Der Streitpunkt richtet sich aber ganz konkret auf die
Rekonstruktion im engeren Sinne, also den Neubau eines lange
verlorenen Gebäudes. Die spannende Frage, ob es auch diese Form der
Rekonstruktionen in vormoderner Zeit gab, wird hier leider nicht explizit
untersucht, sondern taucht nur vereinzelt in den Aufsätzen und
Katalogbeiträgen auf.
Dem Buchkonzept folgend behandeln die Aufsätze alle Formen der
Wiederherstellung, erweitert noch um die zeichnerische
Rekonstruktionen und die Wiederbelebung der antiken Architektur in der
Renaissance, obwohl die Autoren Nerdingers weit gefasste
Begriffsdefinition nicht unbedingt teilen (vgl. 79). Die mehrheitlich sehr
informativen Beiträge zeigen ein buntes Spektrum unterschiedlichster
Themen, darunter Fragen nach der national-politischen Motivation für
Rekonstruktionen und der Rolle des bürgerschaftlichen Engagements,
aber auch die klassischen Konfliktfelder "Rekonstruktion in der
Denkmalpflege" und die Zeitgebundenheit konservatorischer Konzepte,
etwa bei David Chipperfields Neuem Museum in Berlin.
Nerdingers "Geschichte der Rekonstruktion. Konstruktion der
Geschichte" präsentiert anhand einer großen Zahl von Beispielen die
Vielfalt der baulichen Wiederherstellung. Anders als der Titel suggeriert,
handelt es sich damit nicht um eine Untersuchung der Geschichte der
Rekonstruktion im eigentlichen Sinne, angefangen mit einer exakten
Definition bis zur Darstellung ihrer Entstehung und zeitlichen
Entwicklung sowie nationalen bzw. lokalen Unterschieden. Dies war aber
offensichtlich auch gar nicht Ziel der Publikation, sondern vielmehr, dem
Phänomen durch die historische Ausweitung und begriffliche Öffnung
seine Exklusivität und Bedrohlichkeit zu nehmen. Zudem trifft man hier
auf ein generelles Manko der Forschung, denn trotz jahrzehntelang
geführter Diskussionen und zahlreicher gut erforschter Einzelbeispiele
finden sich nach wie vor wenig wissenschaftlich fundierte
Überblicksarbeiten zum Thema Rekonstruktion.
Die Debatte wird auch dadurch erschwert, dass sich die um 1900
entstandenen gegensätzlichen Lager nur sehr langsam auflösen. So wird
die Rekonstruktion von ihren Gegnern noch immer pauschal als "Lüge"
und "Täuschung" diskreditiert, wogegen sich Nerdinger zu Recht
verwehrt (14). Allerdings formuliert er ebenfalls ein Dogma, wenn er
anführt: "Wer einen verlorenen oder zerstörten Bau rekonstruiert, fälscht
nicht und verfälscht auch nichts, denn es handelt sich um einen Neubau,
der als solcher [...] zumindest für die Zeitgenossen bekannt und kenntlich
ist [...]." (10) Eine Untersuchung, unter welcher Bedingung
Rekonstruktionen als solche erkennbar sind, wie sie auf den Betrachter
wirken und welche Wertschätzung sie im Vergleich zu historischen
Bauten finden, steht noch aus.
Nerdinger legt ein informatives Buch vor, das sich vor allem an den
Nicht-Fachmann wendet, aber auch für Architekten, Kunsthistoriker und
Denkmalpfleger als umfangreiche Beispielsammlung mit zahlreichen
auch unbekannten Objekten eine Bereicherung darstellt. Der extrem weit
gefasste Untersuchungsgegenstand lässt jedoch wichtige Fragen offen.
Es bleibt daher zu wünschen, dass weitere Publikationen folgen werden,
die sich explizit mit dem komplexen wie faszinierenden Thema der
gebauten Rekonstruktion befassen. [ 2 ]
Anmerkungen :
[ 1 ] Vgl. Adrian von Buttlar u.a. (Hgg.): Denkmalpflege statt
Attrappenkult. Gegen die Rekonstruktion von Baudenkmälern - eine
Anthologie (= Bauwelt Fundamente, Bd. 14), Gütersloh u.a. 2010; Uta
Hassler und Winfried Nerdinger (Hgg.): Das Prinzip Rekonstruktion,
Zürich 2010, hervorgegangen aus einer Tagung der ETH Zürich und dem
Architekturmuseum der TU München aus dem Jahr 2008; Positionen zum
Wiederaufbau verlorener Bauten und Räume, hg. vom
Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, bearb. von
Uwe Altrock, Grischa Bertram und Henriette Horni, Bonn 2010, http://dnb.info/1003342736/34/ .
[ 2 ] Zur "nachmodernen Rekonstruktionswelle" in Deutschland vgl. vor
allem "Positionen zum Wiederaufbau" 2010 (wie Anm. 1).
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