Rezensionen - Fachzeitschriften Religion und Theologie

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Rezensionen
Jörg Hübner: »Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon!« Grundsatzüberlegungen zu einer Ethik der Finanzmärkte, Stuttgart: Kohlhammer
2009, ISBN: 978-3-89670-377-4, 200 S., e 24,80.
Für den Autor wie für die Öffentlichkeit ist es ein
Glücksfall, wenn eine wissenschaftliche Arbeit
punktgenau in eine aktuelle Diskussion trifft. In
der Ethik ist ein solches Zusammentreffen
besonders erfreulich. Schon deshalb ist Jörg Hübners Arbeit zur Ethik der Finanzmärkte zu begrüßen; sie nimmt die Fragestellungen, die sich mit
der Finanzmarktkrise seit 2007 verbinden, in bemerkenswert weitem Umfang auf.
Das Buch beginnt mit einer beispielhaften Skizze der aktuellen wirtschaftsethischen Diskussion an
Hand der Positionen von Karl Homann und Eilert
Herms. An Homann kritisiert der Vf. die Engführung, nach welcher die Wirtschaftsethik ganz im
Bereich der Rahmenordnung wirtschaftlichen Handelns verankert wird, statt auf den wirtschaftlichen
Gesamtprozess bezogen und als Mehrebenenproblem betrachtet zu werden; die Kritik gipfelt in der
These, dass die Ethik damit letztlich doch der Ökonomik geopfert werde. An Herms kritisiert der Vf.,
dass die begrüßenswerte Betonung von Tugenden
im Wirtschaftsleben und Bildung als dem Weg, solche Tugenden auszubilden, andere Steuerungsinstrumente – insbesondere Geld – unberücksichtigt lässt
und damit auf eine Auskunft über die Chancen, ethische Maßstäbe im wirtschaftlichen Handeln zu berücksichtigen, weitgehend verzichtet. Von diesen
beiden Positionen unterscheidet Hübner seinen Ansatz dadurch, dass er Wirtschaftsethik als »gemeinsame Suche von Ökonomie und Ethik nach einem
verbindenden Humanum« versteht (30).
Statt diesen Ansatz systematisch auszuführen
und methodisch zu erläutern, knüpft der Autor indessen an das Gefangenendilemma an und interpretiert Wirtschaftsethik als eine »Ethik der Anreizsysteme« – eine Konzeption, die in der anschließenden Darstellung freilich nicht weitergeführt
wird. Sie steht insofern ähnlich isoliert wie die
Anknüpfung an die Geldtheorie des scholastischen
Theologen und Universalgelehrten Nikolaus von
Oresme, die den Gegenstand des zweiten Kapitels
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bildet. So bahnbrechend diese Geldtheorie zu ihrer Zeit gewesen sein mag, so wenig kann sie eine
heutige Ethik des Geldes und der Finanzmärkte
begründen, zu der sich einige Überlegungen verblüffender Weise erst an einer viel späteren Stelle
des Buches finden.
Die Notwendigkeit einer solchen Ethik begründet der Vf. im 3. Kapitel mit Merkmalen der aktuellen Finanzmarktentwicklung. Ihre Möglichkeit
erläutert er im Anschluss an den Forschungsansatz
von Behavioral Finance dahingehend, dass auch
die Finanzwissenschaft Handlungsspielräume identifiziert, von denen her sich die Frage stellt, nach
welchen Kriterien zwischen unterschiedlichen
Handlungsmöglichkeiten gewählt wird. Als ethischer Maßstab wird im 4. Kapitel das »Potenzial
des Menschlichen« eingeführt. Zu dessen Erläuterung orientiert Hübner sich an den Menschenrechten, die er, die historische Entwicklung pathetisch
überhöhend, als »Kondensat der Menschheitsgeschichte« bezeichnet (83) und deren »Globalisierung« er fordert (85). Wirklich überzeugend ist diese Konzession an den gängigen GlobalisierungsDiskurs nicht; denn die These von der universalen
Geltung der Menschenrechte scheint nach wie vor
der präzisere Problemzugang zu sein. Vor allem
aber bleibt auf diese Weise die Frage unterbestimmt, in welcher Weise die Menschenrechte, die
die Rechtsstellung des einzelnen gegenüber der
Ausübung staatlicher Macht bestimmen sollen, auf
die Gestaltung wirtschaftlicher Machtverhältnisse
übertragen werden können. Für Hübners Konzeption bedeutungsvoller scheint auch die Anknüpfung
an das ökumenische Konzept der »verantwortlichen
Gesellschaft« zu sein, das er zu einem Konzept der
»verantwortlichen Weltgesellschaft« weiterentwickelt und in sieben orientierenden Maximen für die
Gestaltung eines globalen Finanzmarkts konkretisiert. Der Hinweis auf die Ausbildung neuer Verantwortlichkeiten am globalen Finanzmarkt leitet
zur Anwendung dieser Maximen auf verschiedene
Verantwortungsebenen über.
Auf jeder dieser Verantwortungsebenen folgt auf
die Problembeschreibung eine ethische Beurteilung, an die sich die Skizzierung von Reformschritten anschließt. Zunächst wird die dominante Rolle
Zeitschrift für Evangelische Ethik, 55. Jg., S. 62 – 70, ISSN 044-2674
© Gütersloher Verlagshaus 2011
institutioneller Investoren auf den Finanzmärkten
beschrieben und ethisch beurteilt. Sodann wird erörtert, in welcher Weise eine Regulierung der
Hedge-Fonds, eine Reform der Rating-Agenturen
und eine Gegenentwicklung gegen die Erosion bankenspezifischer Dienstleistungen möglich sind. In
all diesen Fällen plädiert Hübner für eine Kombination zwischen der Selbstregulierung dieser Bereiche durch vereinbarte Codes of Conduct und
einer wirksameren staatlichen Regulierung und
Aufsicht. Das führt mit innerer Folgerichtigkeit im
nächsten Schritt zur Frage nach dem Funktionieren der Bankenaufsicht und notwendigen Schritten zu einem besseren Sicherungssystem; erstaunlicherweise wird in diesem Zusammenhang das
Wechselverhältnis zwischen Bankenaufsicht und
staatlicher Intervention zur Rettung systemrelevanter Banken nicht behandelt. Schließlich wird unter
der Überschrift »Global Finance« die Frage untersucht, wo eine internationale Finanzaufsicht angesiedelt werden kann – der Internationale Währungsfonds, das Forum für Finanzmarktstabilität und der
Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen
(vom Vf. nur Wirtschaftsrat genannt) werden als
Kandidaten erörtert – und wie sie auszugestalten ist.
Das sind materialreiche und übersichtlich gestaltete
Kapitel, deren informierender und argumentativer
Gehalt beträchtlich ist; die Reformschritte, die der
Vf. vorschlägt, sind dabei plausibel aus der jeweiligen ethischen Beurteilung abgeleitet.
Abschließend wendet sich der Vf. der Ethik des
Geldes und der Finanzmärkte als einem, wie er sagt,
»zentralen Thema einer Wirtschaftsethik in christlicher Perspektive« zu. Gegenüber einer Tendenz
christlicher Ethik, den Geldumgang des Menschen
zu dämonisieren, möchte er den Umgang mit Geld
unter der Perspektive der Freiheit betrachten.
Leider wird diese Perspektive erst am Schluss, also
anhangsweise, skizziert. Hätte der Vf. dies zum
ethischen Leitgedanken seiner Untersuchung gemacht, hätte er auch das Konzept einer verantwortlichen Weltgesellschaft und die daraus abgeleiteten Maximen für eine verantwortliche Gestaltung
der Finanzmärkte wesentlich konsistenter begründen können. Freilich hätte er dabei die freiheitsdienliche Bedeutung des Geldes nicht auf die entlastende, entschuldende und die Verfügungsmöglichkeiten des einzelnen steigernde Funktion des
Geldes beschränken dürfen (187f.). Denn auch die
klassischen Geldfunktionen als Recheneinheit,
Tauschmittel und Wertaufbewahrungsmittel (192f.)
sind, recht betrachtet, freiheitsdienlich. Zum an-
deren könnte die theologische Betrachtung schon
dann an Konsistenz gewinnen, wenn man die beiden Grundaussagen Jesu über den Mammon im Zusammenhang bedenken würde. »Ihr könnt nicht
Gott dienen und dem Mammon« (Lk 16,13) schärft
ebenso die instrumentelle Bedeutung des Geldes
ein wie »Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon« (Lk 16,9). Auf diesem Hintergrund
braucht man auch die religionskritische Analyse
einer selbstzwecklichen Betrachtung des Geldes
und des Gelderwerbs um seiner selbst willen nicht
als »Dämonisierung« beiseite zu schieben, sondern
kann sie als Element eines ethischen Zugangs würdigen, der darauf zielt, den Umgang mit dem Geld
in den Dienst kommunikativer Freiheit zu stellen.
Vielleicht hängt die bloß anhangsweise vorgenommene Behandlung dieses Themas damit zusammen, dass das Buch um seiner Aktualität willen etwas überstürzt abgeschlossen wurde. Den
Eindruck der Hast erweckt auch eine nicht geringe
Zahl von – gelegentlich auch sinnentstellenden –
Fehlern. Dass dem durch einen sorgfältigen Korrekturgang von Seiten des Verlags vorgebeugt wird,
ist unter den gegenwärtigen Produktionsbedingungen wissenschaftlicher Bücher leider eine vergebliche Hoffnung. Das inhaltliche Verdienst, das Hübners Buch zukommt, wäre dann jedoch uneingeschränkter zur Geltung gekommen.
Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Huber, Berlin
Thomas Maak / Peter Ulrich, Integre Unternehmensführung. Ethisches Orientierungswissen für
die Wirtschaftspraxis, Stuttgart: Schäffer-Poeschel
2007, 532 S., ISBN 978-3-7910-2685-5, e 39,95.
An die theoretischen Ansätze der Wirtschafts- und
Unternehmensethik ist gelegentlich zumindest leise
die Kritik gerichtet worden, sie seien zu wenig
praxisrelevant, hätten mit dem Alltag von Führungskräften im Unternehmen wenig oder nichts
zu tun oder würden sich in ein moralisches Wolkenkuckucksheim verziehen, aus dem heraus der
Zeigefinger geschwungen wird. Helikopter-Management also in der Wirtschaftsethik: aus dem
Himmel herabschweben, viel Staub aufwirbeln und
dann wieder zurück in die Wolken.
Dass Wirtschafts- und Unternehmensethik nicht
nur theoretisch fundiert, sondern praxisrelevant im
Management einer Organisation verankert werden
kann (und nach Ansicht der Autoren: muss), be-
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weisen Thomas Maak und Peter Ulrich in ihrem
Buch »Integre Unternehmensführung. Ethisches
Orientierungswissen für die Wirtschaftspraxis«.
Die Autoren wollen »eine Lücke schließen – die
Lücke zwischen wissenschaftlich-abstrakten Abhandlungen der Unternehmensethik einerseits und
auf schnelle Wirkung bedachten Rezeptbüchern
zum Thema ›Corporate Social Responsibility‹ oder
›Ethik und Management‹ andererseits« (V).
Diesen Anspruch geht das Buch in drei Teilen,
die jeweils in fünf »Module« gegliedert sind, an.
Die Autoren folgen in der Unterteilung der
mittlerweile gängigen Unterscheidung der Zugangsweise in der Wirtschafts- und Unternehmensethik über Gesellschaft (System), Unternehmen
(Institution) und Einzelne / Einzelner (Individuum).
Teil 1 widmet sich unter dem Titel »Policies –
Gesellschaftliche Herausforderung und Mitverantwortung« (29ff) dem Unternehmen in seinen vielfältigen Bezügen zur Umwelt und Gesellschaft: Die
Autoren entfalten die Konzepte von Corporate Citizenship national und global, Corporate Stewardship (treuhänderischer Umgang mit Ressourcen unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit) sowie in zwei
Modulen Konzepte zur Kooperation zwischen Unternehmen und ihren Stakeholdern (»Cross-Sector
Partnerships« und »Stakeholder-Engagement und
-Dialog«).
Im zweiten Teil unter dem Titel »Processes – Die
Eckpfeiler integrativen Integritätsmanagements«
(205ff) wenden sich die Autoren unternehmensinternen Prozessen zu: Angefangen bei der Unternehmensführung (»Good Corporate Governance«) über
interne Integritätssysteme, den Blick auf die Produktionskette und das Thema Marketing bis hin zur
integren Unternehmenskultur. In diesem zweiten Teil
liegt nach Ansicht des Rezensenten der praxisrelevante Mehrwert des Buches: Denn die Autoren widmen sich hier in genauer Analyse konkreten Managementfragen und klopfen sie auf ihre ethische
Relevanz und Implikationen ab. Besonders interessant zu lesen ist Modul 9, das der Frage nachgeht,
inwieweit Organisationen moralisch lernfähig sind
(311ff). Im Blick auf die noch immer nicht überstandene Krise möchte man das Modul zur Pflichtlektüre für Führungskräfte in Wirtschaft und Politik
machen.
Der dritte Teil unter dem Titel »People – Individuelle Verantwortung und ihre Entwicklung« 365ff)
geht auf die einzelne Führungskraft zu: Themen
sind Fragen der Führungsethik, der ethischen Entscheidungsfindung in Konflikt- und Dilemmasitu-
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ationen sowie die Professionalisierung und Personalisierung der ethischen Integrität einer Unternehmung in Gestalt eines Ethics Officer.
Die klare Gliederung des Buches in drei Kapitel
mit je fünf Modulen setzt sich in den einzelnen
Kapiteln fort. Nach einer jeweiligen grundlegenden Einführung in das Modulthema mit in wenigen Stichworten zusammengefasster Zielangabe
und darin bereits formulierten Reflexionsfragen
geht der je Modul unter dem Buchstaben B geführte
Teil in die Tiefe und stellt Konzepte, Anleitungen
und Ideen vor. Teil C eines jeden Moduls fasst die
Inhalte noch einmal zusammen, stellt weiterführende Fragen und verweist auf Literatur.
Die vielen Praxisbeispiele machen die teils komplexen Überlegungen anschaulich und verdeutlichen zugleich, warum das Nachdenken über ethische Orientierung in der Wirtschaftspraxis so dringend geboten ist.
Die Stärke des Buches liegt darin, die gängigen
Fragen der Wirtschaftspraxis im Alltag aufzunehmen und deren ethische Implikationen klar herauszuarbeiten, abgesichert und verpackt in und mit
Konzepten sowie Ideen. Das Ganze geschieht auf
Grundlage eines theoretisch fundierten Konzepts,
für das Peter Ulrich steht: die integrative Wirtschaftsethik. Für die grundlegenden Fragen der
Wirtschafts- und Managementpraxis ist es den
Autoren in der Tat gelungen, Orientierungswissen
bereitzustellen, das handhabbar ist.
Zugleich liegt in der Umfänglichkeit des Buches
eine Schwäche. Mit über 530 Seiten wird es kaum
in der Wirtschaftspraxis von Anfang bis Ende gelesen werden (was schade ist). Freilich: Den Anspruch erheben die Autoren nicht, vielmehr seien
die Module vielfältig kombinierbar: Je nach eigenem Kenntnisstand können sich Leserinnen und
Leser das jeweils für sie Interessante herausnehmen.
Die vielen englischsprachigen Worte, mit denen
die Autoren jonglieren, mögen manche Leserinnen
und Leser abschrecken, sei es, weil die Begriffe
manchmal verwirrend sind, sei es, weil es doch zu
sehr an »auf schnelle Wirkung bedachte Rezeptbücher zum Thema« erinnert. Gleichwohl scheint
es angesichts einer global agierenden Wirtschaft
notwendig, international gängige Fachworte zu
verwenden. Die jeweiligen Begriffsklärungen in
den einzelnen Modulen ermöglichen es Leserinnen
und Lesern, die Bedeutung nachzuvollziehen.
Alles in allem kann man dem Buch viele Leserinnen und Leser wünschen, aus der Unternehmenspraxis, aber auch aus der Wissenschaft – dort
besonders die Personen, die sich von der eingangs
erwähnten Kritik, Wirtschafts- und Unternehmensethik sei häufig zu praxisfern, vielleicht angesprochen fühlten.
Dr. Daniel Dietzfelbinger, München
Marco Hofheinz: Gezeugt, nicht gemacht. In-vitroFertilisation in theologischer Perspektive (Ethik im
theologischen Diskurs, Bd. 15), Berlin: LIT Verlag
2008, ISBN: 978-3-8258-0596-8 (Deutschland) /
978-3-03735-154-3 (Schweiz), 670 S., e 44,90.
Mit seiner von der Berner Fakultät mit dem Eduard-Adolf-Stein-Preis und von der Karl-Heim-Gesellschaft mit dem Karl-Heim-Preis ausgezeichneten Dissertation legt Marco Hofheinz eine umfängliche Studie zu einer der brennenden Fragen im
Bereich der Bioethik des Menschen vor: Wie ist
die Technik der In-vitro-Fertilisation (abgekürzt:
IVF) in theologischer Perspektive zu bewerten?
Dabei wird diese Frage jedoch nicht in einer allgemeinen Weise behandelt. Vielmehr formuliert H.
als wesentliches Ziel: »Es geht in dieser Untersuchung darum, einen eigenständigen christologischen Ansatz zu präsentieren, in den die Grenzfrage nach der Legitimität der IVF integriert ist« (58).
Diese Zielsetzung und auch die grundlegende
Umsetzung, das sei bereits an dieser Stelle gesagt,
zeichnet die vorliegende Untersuchung vor vielen
vergleichbaren Versuchen aus. Hier wird wirklich
eine theologische Ethik betrieben, ohne dabei philosophische Fragestellungen aus dem Blick zu verlieren. Doch sind diese der theologischen Zielsetzung zugeordnet und nicht umgekehrt.
Dies zeigt sich im klaren und schlüssigen Aufbau der Untersuchung. Die Antwort auf diese Fragestellung wird in sieben Kapiteln entfaltet. Nach
einer Einleitung zum Stand der Forschung, den
medizinischen und ethischen Bedenken sowie zur
Frage, ob mit der IVF metaphorisch der Rubikon
biomedizinischen Forschungshandelns überschritten ist, verortet H. im zweiten Kapitel die Fragestellung nach der Bewertung der IVF in einer Ethik
der Geschöpflichkeit. Diese genuin theologische
Einbettung wird mittels phänomenologischer Überlegungen zu den Begriffen »herstellen«, »handeln«,
»Poiesis« und »Praxis« in Anlehnung an Hannah
Arendt präzisiert. Das dritte Kapitel dient dazu,
anhand von drei philosophischen Positionen (der
diskursorientierte Ansatz Kuhlmanns, Singers Prä-
ferenzenutilitarismus, Spaemanns onto-theologische Position), die »rudimentär« (59) für philosophische Positionierungen stehen, die Antwort auf
die Abschlussfrage vorzubereiten, wie sich Kirche
und Theologie dem öffentlichen Diskurs stellen sollen. Bevor H. im sechsten Kapitel das systematische Zentrum seiner Studie erreicht, untersucht er
im vierten Kapitel den Status des menschlichen
Embryos in biblisch-theologischer Sicht und stellt
er im fünften Kapitel Modelle theologischer Urteilsbildung zur IVF dar. Dabei kontrastiert er die
eher die IVF befürwortenden Ansätze M. Honeckers, U.H.J. Körtners und S.M. Daeckes mit den
eher ablehnenden Positionen E. Pelkners, S. Hauerwas’ und K. Ulrich-Eschemanns.
Das systematisch orientierte sechste Kapitel, das
Jesus Christus als Schöpfungsmittler und Erlöser für
die Fragestellung fruchtbar macht, erarbeitet das
zentrale Ergebnis der gesamten Untersuchung: »Mit
der IVF ist die Grenze des ethisch Erlaubten überschritten. Die IVF sprengt das Ethos des ›neuen
Menschen‹. Sie ist außerhalb jenes Umrisses lokalisiert, den das Sein der neuen Kreatur in Christo
markiert« (543), denn bei der IVF würden Embryonen verworfen und selektiert: »Jesu Zuwendung zu
den ›geringsten Schwestern und Brüdern‹ lässt sich
als Ausdrucksform seiner antiselektionistischen
Ethik interpretieren« (543). Vor dem Hintergrund
der leiblichen Auferweckung sei zudem die
Entleiblichungstendenz bei der IVF zu kritisieren.
Dabei besteht nach H., wie das abschließende siebte Kapitel zeigt, die Aufgabe der Kirche darin, Paare geduldig einzuladen, auf die IVF zu verzichten.
Wie gesagt, zeichnet diese Studie aus, dass hier
genuin theologisch argumentiert wird. Das Ergebnis leitet H. schlüssig aus seinen Annahmen zur
Technik der IVF und seinen theologischen Überlegungen her. Dabei zeigt H. ein außerordentlich
breites theologisches Wissen, das er in gelungener
Weise für diese spezielle Fragestellung einbringt.
Allerdings lassen sich an das theologische, aber
auch den Sachverhalt der IVF auslegende Interpretationsschema Anfragen stellen. H. benennt von
Anfang an medizinische und ethische Bedenken.
Die positive Seite der IVF, dass nämlich manche
Paare dank dieser Technik zu einem eigenen Kind
kommen, wird kaum in den Blick genommen und
zu wenig gewürdigt.
Auch die Sprechweise lässt erkennen, dass das
Interpretationsschema durch eine ablehnende Haltung geprägt ist. So gebraucht er Begriffe wie »Selektion«, die negativ konnotiert sind, und spricht
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ausdrücklich von »Selektionsverdacht« (131). Diesen bezieht er nicht nur auf die in vielen Ländern
mit der IVF verbundene genetische Präimplantationsdiagnostik (PGD), sondern auch auf die optische
Diagnostik von menschlichen Keimen im Vorkernstadium, die bei jeder IVF zum Standard gehört. Er
nimmt dabei nicht zur Kenntnis, dass diese optische
Diagnostik nicht das Ziel eines perfekten Kindes hat,
sondern einfach dazu dient, nur die Embryonen einzusetzen, die eine nach medizinischer Fachkenntnis gute Möglichkeit haben, überhaupt zu einer Geburt zu kommen. Ansonsten würde der Frau ein Embryo übertragen werden, der mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht lebensfähig ist, und damit entweder
keine oder nur eine kurze klinische Schwangerschaft
ermöglicht, letztere mit allen belastenden Folgen
eines Frühabgangs. Doch selbst wenn eine IVF mit
einer Polkörperdiagnostik oder einer PGD verbunden wird, bedeutet dies nicht, dass jede Form dieser
Diagnostiken einer selektiven Mentalität entspringen muss. Eine Nicht-Implantation bei einer festgestellten Trisomie 18 beispielsweise wäre mit passiver Sterbehilfe vergleichbar, selbst wenn man den
frühen Embryo als Person versteht.
Die Annahme, der Embryo sei von der Zeugung
an Person, ist jedoch ebenfalls bestreitbar. Es ist
eine große Stärke der Untersuchung, dies nicht nur
einzuräumen, sondern auch theologisch zu begründen. So schreibt H. völlig zutreffend: »Nach theologischem Verständnis fängt die Geschichte eines
Menschen […] nicht mit der Verschmelzung von
Ei- und Samenzelle oder einem beliebigen anderen Stadium der Zellentwicklung an« (247). Entscheidend ist theologisch also gerade nicht der
konkrete Vollzug, wie ein Mensch in die Welt
kommt, sondern dass der Mensch, der in die Welt
kommt, immer schon von Gott her »gedacht« ist.
H. wehrt sich sogar ausdrücklich gegen das kategorische Urteil, wonach der Mensch Person zum
Zeitpunkt der Zeugung sei (vgl. 518). Aufgrund
seines Tutiorismus kommt er jedoch zur bestreitbaren Forderung nach einer Praxis, »die den werdenden Menschen von Anfang an als Gegenüber
personalen Umgangs und niemals als Objekt technischer Verfügung behandelt« (518, hierbei Spaemann zitierend). Dabei greift er neben Spaemann
auf Kant und insbesondere Assel zurück (vgl.
516ff), deren Aussagen interpretationsoffen (Kant)
bzw. diskussionswürdig (Spaemann, Assel) sind.
Auch das weitere theologische Interpretationsschema lässt sich in Frage stellen. So wird der Fokus darauf gelegt, dass Gott allein über Fruchtbar-
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keit und Unfruchtbarkeit entscheidet (vgl. 240),
ohne vertieft das Drama der Kinderlosigkeit für den
alttestamentlichen Gläubigen hinreichend zu würdigen, man denke nur an Abraham und Sara. Man
könnte die IVF vor diesem Hintergrund auch als
eine Möglichkeit deuten, wie Menschen als Mitschöpfer Gottes daran mitwirken können, ein derartiges Drama zu einem guten Ende zu führen.
Darüber hinaus könnten die christologischen
Überlegungen mit einer anderen Stoßrichtung
durchgeführt werden. H. versucht die Christologie
von Nizäa und Konstantinopel dafür fruchtbar zu
machen, »die weltliche Zeugung der Kinder Gottes im Lichte dieser ewigen Zeugung des Sohnes
Gottes wahrzunehmen« (480). Dabei begeht er
freilich nicht den schweren theologischen Kategorienfehler, die Glaubensaussagen, die gerade das
Gottsein Jesu herausstreichen, auf den Menschen
zu beziehen. Vielmehr will H. diese Aussagen nur
»im Sinne einer Analogiebildung aufeinander beziehen« (15). Nach meiner Ansicht läge es jedoch
näher, die Differenz zwischen Jesus Christus als
gezeugt und nicht geschaffen/gemacht und uns als
geschaffen/gemacht ernst zu nehmen und zugleich
den theologischen Gedanken seiner ungeschlechtlichen Menschwerdung in der Jungfrau Maria für
die Fragestellung der IVF im Sinne einer Analogiebildung zu berücksichtigen. Freilich lässt sich
damit die berechtigte Annahme, die IVF impliziere eine Entleiblichungs- und Machbarkeitstendenz,
nicht grundsätzlich widerlegen. Nach meiner Meinung reicht dies aber nicht, um eine ethische Unzulässigkeit der IVF zu konstatieren.
Doch trotz dieser Anfragen bleibt dieses Buch
sehr empfehlenswert. Wer sich theologisch mit der
Fragestellung nach der ethischen Bewertung der
IVF auseinandersetzen will, kommt an diesem
materialreichen, viele Facetten hervorragend ausleuchtenden und dabei dezidiert theologisch argumentierenden Werk nicht vorbei.
Prof. Dr. mult. Nikolaus Knoepffler, Jena
Ulrich Eibach: Gott im Gehirn? Ich – eine Illusion? Neurobiologie, religiöses Erleben und Menschenbild aus christlicher Sicht, 3. Aufl., Witten:
R. Brockhaus 2010, ISBN: 978-3-417-24206-5,
152 S., e 10,90.
Nach dem Auftakt mit dem fiktiven Gespräch eines Neurowissenschaftlers mit seiner Frau über
verschiedene Perspektiven auf den Liebesbegriff
beginnt das Buch mit einer Einordnung der neueren neurowissenschaftlichen Forschung in die Geistesgeschichte des Abendlandes. Unterteilt ist dieses zweite Kapitel in eine kurze Darstellung der
Geschichte der Frage nach einem Dualismus bzw.
Monismus zwischen Geist und Materie, in der neben der eigentlichen historischen Darstellung auch
Begriffsklärungen hinsichtlich verschiedener Spielarten eines Monismus und Reduktionismus vorgenommen werden (14–26), in ein Teilkapitel über
die Bedeutung der soziobiologischen Reduktion
mittels des Genbegriffs bei Autoren wie Dawkins,
Wilson, Avise, Hamer und Sosis (26–36) und in
ein Teilkapitel über die Frage nach der praktischen
Bedeutung neurowissenschaftlicher Reduktionismen für das Menschenbild und in diesem implizierte Begriffe wie Subjektivität, Personalität und
Leiblichkeit (36–41).
Das anschließende Kapitel stellt die neuen bildgebenden Verfahren der Neurowissenschaften vor
(42–44), um anschließend ausführlich deren weltanschaulich-religiöse Interpretationen zu besprechen. Der Vf. unterscheidet hier zwei wesentliche
Typen: Die Möglichkeit, neurowissenschaftliche
Ergebnisse als Begründung oder Bestätigung einer natürlich-mystischen Theologie zu verwenden,
was v.a. am Beispiel Newbergs, Aquilis und Austins exemplifiziert wird (45–53), und die Möglichkeit, umgekehrt diese Ergebnisse im Rahmen einer neurobiologisch gestützten Religionskritik zu
verwenden, wofür v.a. die Deutungen Persingers
besprochen werden (53–60). Das Kapitel wird mit
einer Reflexion auf die grundsätzlich vorgängig
weltanschauliche Gebundenheit dieser Deutungsversuche und einem ersten Zwischenfazit beschlossen (61–65).
Das folgende vierte Kapitel (66–84) bezieht die
gewonnenen Ergebnisse nun auf den christlichen
Glauben in Praxis und Theologie und ist seinerseits
unterteilt in eine Besprechung der Relation von
religiösem Erleben und sprachlicher Deutung (68–
76) und in eine Besprechung der Rolle des subjektiven Erlebens und der Gefühle im Rahmen des
christlichen Glaubens (76–84). Eine Besprechung
des Verhältnisses von außergewöhnlicher religiöser Erfahrung und religiöser Alltagserfahrung (85–
91), die nach der Einteilung des Buches schon zum
folgenden Kapitel gehört, rundet diesen Gedankengang ab. Dieser Zusammenhang kann als die argumentative Mitte des ganzen Buches betrachtet werden.
Das fünfte Kapitel bietet, von der Einleitung
abgesehen, eine ausgewogene Besprechung der
sog. Nahtoderlebnisse im Rahmen des christlichen
Glaubens als Beispiel für eine als außergewöhnlich eingestufte religiöse Erfahrung (92–113). Der
Vf. zeigt hier in einer ausgewogenen und anschaulichen Darstellung, dass Nahtoderfahrungen von
höchster religiöser Relevanz sein können, aber
nicht müssen und setzt sich von bekannten esoterisch-verengenden Deutungen, wie etwa derjenigen von Kübler-Ross, wohltuend deutlich ab, wenn
man auch die Hochschätzung von out-of-body-Erlebnissen zur Stützung eines prinzipiellen LeibGeist-Dualismus als Überfrachtung der Beweislast
empfinden mag.
Das abschließende sechste Kapitel führt in die
durch die Neurowissenschaften aufgeworfene Fragestellung nach einer prinzipiellen Willensfreiheit
des Menschen oder einem deterministischen, den
Willen ausschließenden Weltbild ein (114–152).
Dabei werden die damit verbundenen philosophischen Fragen zwar recht kurz, aber dennoch für
ein Buch dieser Art konzise dargestellt (114–130),
um diese Ergebnisse anschließend auf einen theologischen Freiheitsbegriff reformatorischer Prägung zu beziehen (130–152). Dieser Darstellung
der christlichen Freiheit als relatives Befreitsein
vom Zwang der Sünde, die als gebundene Freiheit
in Bezogenheit zu Gott und den Mitmenschen beschrieben werden kann – eine Darstellung, die man
in populären Darstellungen dieser Art über das
Thema häufig vermisst –, wird erfreulicherweise
ein breiter Platz eingeräumt, so dass – ähnlich dem
Achtergewicht der hebräischen Poesie der Psalmen
– sich auch der Schlussteil dieses Buches mit Genuss lesen lässt.
Inhaltlich zeigt der Vf. die weltanschauliche
Gebundenheit von ontologischen Reduktionismen
auf, so dass lediglich methodischen Reduktionismen ein relativer Wert zugestanden wird. Neuronale Korrelate von geistigen Inhalten können auf
kompatibilistische Weise als notwendige Bedingungen derselben verstanden werden, unterscheiden sich jedoch vom Inhalt genauso, wie sich Empfindungen von Erfahrungen unterscheiden und letztere nicht auf erstere reduziert werden können. Die
sprachliche Erfassung von geistigen Inhalten und
mit ihr deren in Gemeinschaften und Traditionen
vermittelte Bedeutung ist ein durch neuronale Korrelate der Inhalte nicht beschreibbares, unreduzierbares Element. Darüber hinaus lässt der Vf. aber
erkennen, dass er selbst nicht für eine kompatibi-
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listisch-monistische Option, sondern für eine dualistische Option, die auch deutlich top-down-Konzeptionen zulässt, votiert. Hinsichtlich der religiösen Erfahrungen zeigt der Vf. plausibel auf, dass
diese nicht in bestimmten Empfindungen und deren neuronalen Korrelaten aufgehen, sondern
ebenfalls der sprachlich sozialen Vermittlung bedürfen und aus theologischer Sicht durch das Konzept der gewissheitsstiftenden Erfahrung des Heiligen Geistes ergänzt werden müssen. Aus der Alltagserfahrung herausgehobene (»mystische«) Empfindungen können mit der Erregung bestimmter
Hirnareale einhergehen. Aber die Erregung bestimmter Gehirnareale ist dabei genauso wenig hinreichend, um von religiösen Erfahrungen sprechen
zu können, wie die introspektive Selbstdiagnose
bestimmter aus der Alltagserfahrung herausgehobener Empfindungen. Darüber hinausgehend zeigt
der Vf., dass sich wichtige religiöse Erfahrungen,
die in den Bereich der Alltagserfahrung gehören,
nicht auf bestimmte Klassen von Erlebnissen reduzieren lassen und entsprechend nicht mit neuronalen Erregungen bestimmter Gehirnregionen verbunden sein müssen. Die Frage, was als religiös
zu betrachten ist, ist somit keine Frage der Erregung bestimmter Hirnareale, sondern die Definitionsmacht des Religiösen liegt auf der immer
sprachlich-kommunikativ vermittelten Sozialität
und Intersubjektivität. Positive Effekte der Beschäftigung des Dialogs mit philosophisch interpretierter Neurowissenschaft einerseits und Theologie
andererseits können in einer Hochschätzung der
Bedeutung der Affektivität für menschliches Handeln und Glauben bestehen, aber auch in einer Warnung vor rein subjektivistischen Zugängen zur
christlichen Religiosität des Menschen, die auch
dann, wenn sie nicht reduktiv-neurowissenschaftlich gedeutet wird, mit diesen Deutungen gemeinsame strukturelle Probleme teilt.
Nach seiner Anlage wendet sich das Buch an
einen breiten Adressatenkreis: von Oberstufenschülern und Religionslehrern über das engagierte Gemeindeglied und den gebildeten interessierten,
aber durchaus kirchenfernen Laien bis hin zu Theologiestudierenden. Naturgemäß ist es nicht einfach, eine solche vielfältige Adressatengruppe
unter einen Hut zu bringen. Man wird bei diesem
Versuch nicht allen Ansprüchen gerecht werden
können: Die historische Einführung in die Problemgeschichte zu Beginn des Buches etwa ist recht
knapp gehalten und setzt wohl schon Bekanntschaft
mit der Geistes- und Philosophiegeschichte vor-
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aus, was aber für den Argumentationsgang des
Buches kein Schaden ist. Sicherlich könnte man
auch kritisieren, dass viele materialethische Probleme, die mit dem Thema verbunden sind, nur
angerissen werden und sich das Buch eher auf
grundsätzliche Überlegungen beschränkt. Gerade
dieses Faktum bildet aber andererseits auch einen
positiven Wert, da die Darstellung dadurch für den
anvisierten breiten Leserkreis erst rezipierbar wird.
Im Großen und Ganzen wird man diagnostizieren müssen, dass dem Vf. seine Aufgabe erstaunlich gut gelingt: Ausgewogene Urteile, die die Vorteile verschiedener Positionen erkennen lassen –
auch derer, die der Autor nicht favorisiert – verbinden sich mit einer dezidierten Positionsbestimmung des Autors, ohne dass diese aufdringlich
apologetisch erscheint. Auch wenn gerade unterschiedliche fachtheologische Leserinnen und Leser naturgemäß nicht jeder Problemlösung des Vf.s
zustimmen werden, so wird man das Buch doch
rundherum empfehlen können: Es gibt nicht nur
eine Einführung in die neueren philosophischen
und religiösen Debatten um die Neurowissenschaften, sondern es bietet – als wohl wichtigste Leistung – auch eine vorzügliche aufklärende Einführung in theologisches Denken für den neurowissenschaftlich interessierten religiösen Skeptiker.
Prof. Dr. Markus Mühling, Heidelberg / Jena
Hermann Ringeling: Umbruch der Sitten – miterlebt und mitbetrieben. Ein Ethiker blickt zurück,
Zürich: Theologischer Verlag 2007, ISBN: 978-3290-17417-0, 280 S., e 24,00.
Hermann Ringeling, langjähriger Mitherausgeber
der Zeitschrift für Evangelische Ethik, blickt zurück und beteuert im Vorwort, »keine Autobiographie« geschrieben zu haben (7). In der Tat hat R.
zum einen mehr, zum anderen weniger vorgelegt
als eine übliche Autobiographie.
Zum einen ist das Buch mehr als eine Autobiographie: Der emeritierte Berner Ethiker (geb. 1928)
integriert in den narrativen Duktus des Rückblicks
zahlreiche ethische Reflexionen, Zeitungsnotizen
und Auszüge aus seinen Schriften (»Das Folgende
aus den Lutherischen Monatsheften: ...«; 143), bis
hin zum vollständigen Abdruck kleinerer Texte wie
z.B. einer Predigt (sieben Seiten im Kleindruck,
243–250). Dieses Verfahren ist sehr informativ, ge-
winnt man so doch einen authentischen Eindruck
vom jeweiligen Gesprächs- und Erkenntnisstand.
Mitunter wirken die z.T. recht langen Einschübe
allerdings retardierend und stellen die Geduld des
Lesers auf eine harte Probe.
Zum anderen ist das Buch weniger als eine Autobiographie: Bestimmte biographische Daten fehlen bzw. werden an unverhoffter Stelle nachgetragen oder vorgezogen. Mit dem chronologischen
Aufriss, der sich bis 1998 an Dekaden orientiert
und danach kleinschrittiger vorgeht (1998–2003,
2003–2006), verbindet sich ein thematischer Aufriss, der prägende Zeitströmungen und wesentliche Themen der Forschung R.s fokussiert (z.B.
»Protestkultur und die Pille 1958–1968«, »Umsturz
der autoritären Moral 1968–1978«). Natürlich kann
diese Zuordnung nicht glatt aufgehen – im Zweifel
erhält die thematische Orientierung den Vorzug,
während die Biographie einen recht lockeren Rahmen abgibt und weit mehr in Gestalt unterhaltsamer Anekdoten als in einer kontinuierlichen Lebensgeschichte präsentiert wird.
Als ein Beispiel, das einen Eindruck vom Ganzen vermittelt, kann das Kapitel »Ein Recht auf
das eigene Leben 1978–1988« (123–152) angeführt
werden. R. beginnt damit, dass er 1977 nach einem halben Jahrhundert der erste deutsche Rektor
der Universität Bern wurde, und schließt daran einen Rückblick auf die Berufung des ehemaligen
Münsteraner Assistenten (ab 1964) und Hamburger Oberkirchenrats (ab 1967) nach Bern im Jahr
1971 an. Diese wiederum wird nicht in biographischen Details geschildert, sondern zum Anlass
genommen, kulturelle Unterschiede zwischen
Deutschland und der Schweiz sowie darüber hinaus den Wandel der Umgangsformen zu reflektieren.
Danach gelangt R. zum »Recht auf das eigene
Leben« als dem »große[n] Thema der Zeit« (127),
näherhin den Fragen im Umkreis von Beginn und
Ende des Lebens. Auch hier wird mit der Chronologie wieder großzügig verfahren. Kerndatum für
die chronologische Einordnung ist wohl das Scheitern eines Schweizer Volksbegehrens für die Straflosigkeit von »Schwangerschaftsunterbrechungen«
im Jahr 1978. Referiert werden jedoch auch die
Diskussion in den Jahren zuvor sowie die folgende Entwicklung in der Schweiz und in Deutschland bis in die jüngste Zeit. Dabei bedenkt R. erfrischend selbstkritisch (»ein Frühdenker war ich
da nicht«, 128) die Entwicklung der eigenen Haltung von einer Ablehnung der Fristenlösung 1977
(128ff) bis zur Entscheidung, »Recht und Unrecht
des Schwangerschaftsabbruchs und damit
allerdings auch die Achtung vor dem Leben konsequent dem Bereich der privaten Moral zu überlassen« (138), die R. in Auseinandersetzung mit
der Reform des Abtreibungsrechts (1992/95) im
wiedervereinigten Deutschland entfaltet.
Chronologisch ähnlich ausgreifend ist R.s anschließende Darstellung seiner Position zur Sterbehilfe (139ff), die mit der maßgeblichen Beteiligung an den für die Schweiz wegweisenden Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften von 1976 einsetzt und bis
zur Auseinandersetzung mit der Entwicklung in den
Niederlanden und in Belgien Anfang des neuen
Jahrtausends reicht. Sie kreist – in dieser Frage
ohne größere Positionsverschiebungen – von Anfang an um die »Frage nach der Zumutbarkeit einer als sinnlos erscheinenden Lebensverlängerung«
(144) und vermeidet objektivierende Festlegungen
über das ›Wesen‹ des menschlichen Lebens zugunsten individueller Entscheidungsspielräume.
Neben der Würdigung des Freiheitsgewinns wird
aber auch der neue Zwang zu einem ›eigenen‹ Leben kritisch angesprochen (150f).
Eingestreut in die sachliche Darstellung der Sterbehilfeproblematik ist das persönliche Bekenntnis
R.s, mit seiner Frau Mitglied der Sterbehilfe-Vereinigung »Exit« zu sein (148). Diese Verknüpfung
von sachlicher und persönlicher Ebene prägt auch
sonst den Stil und die Anlage des Buches: Im Kapitel »Deutsches Unwesen 1928–1948« werden mit
der Darstellung von Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus politisch-ethische Gedanken über
Staat und Gesellschaft verbunden – einschließlich
eines längeren Auszugs aus der Rede zum 25. Abiturjubiläum 1970. Ausgehend von der freiwillig
vorgezogenen Emeritierung 1991 gelangt R. im
Kapitel »Freiheit, Gleichheit, Vielfalt 1988–1998«
zur Reflexion von Alter und demographischem
Wandel. Im Kapitel »Aufklärung und Steuerung
1998–2003« wird der eigene Weg zum Nichtraucher auf den entsprechenden gesellschaftlichen
Trend bezogen und die grundsätzliche Frage nach
der Berechtigung repressiver Steuerungsimpulse
diskutiert. Die enge Verzahnung von chronologischen und thematischen Gliederungsaspekten erweist sich letztlich als programmatisch: Das Individuelle wird zum Typischen, die eigene Biographie in ihrer Besonderheit zur exemplarischen. Die
Themen des wissenschaftlichen Lebenswerks werden nicht mühsam gesucht, sie begegnen R.
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gewissermaßen auf dem eigenen Lebensweg.
Insgesamt entsteht so auf originelle Weise eine bunte Collage, die einen lebendigen Eindruck theologischer Zeitgenossenschaft vermittelt.
Jeglicher autoritärer Gestus wird vermieden. R.
beansprucht keinen Erkenntnisvorsprung theologischer gegenüber philosophischer Ethik, ja er hätte
»nichts dagegen einzuwenden«, sich »als philosophischen Ethiker mit christlichem Hintergrund zu
bezeichnen. […] ›Ethiker‹ genügt durchaus, weil
es genügt, wissenschaftlich und überzeugend zu
argumentieren« (251).
Dass R. sich nicht scheut, in kontroversen Fragen pointiert Position zu beziehen, fordert an einigen Stellen zum Widerspruch heraus. So empfindet es der Rezensent als schwer erträglich, wenn
R. die Auffassung eines medizinischen Kollegen
wiedergibt, der zufolge ein Kind mit Down-Syndrom zwar »ein anhängliches, auch zufriedenes
Kind« würde, sich aber »damit nicht von einem
großen Hund« unterschiede, und dann fortfährt:
»Er riet indirekt zur Abtreibung. Und das, wie auch
ich meine, mit Recht« (132f; neutraler allerdings
208f).
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Der »Umbruch der Sitten« als Generalthema des
Buches und auch von R.s wissenschaftlichem Werk
konzentriert sich auf das »alltägliche[] Leben, wo
die Sitten ihren Ort haben« (196). Daraus ergibt
sich seit der 1962 veröffentlichten Dissertation zur
Gleichberechtigung der Frau (»Die Frau zwischen
gestern und morgen«) und der Habilitationsschrift
über »Theologie und Sexualität« mit dem bezeichnenden Untertitel »Das private Verhalten als Thema der Sozialethik«, die 1968 – im Umbruchs-Jahr
par excellence – erschien, ein durchgängiges Interesse an Ehe- und Familienethik als einem klassischen Themenfeld evangelischer Ethik, das R. unter den Bedingungen zunehmender Individualisierung und der Entstehung einer Pluralität von Lebensformen reflektiert sowie mit neuen Problemfeldern insbesondere der Bioethik verbunden hat.
Diese Perspektive sollte auch in der gegenwärtigen evangelischen Ethik nicht verloren gehen. Mit
der kritisch-konstruktiven Offenheit, in der R. den
von ihm erlebten »Umbruch der Sitten« aufmerksam begleitet hat, hat er Maßstäbe gesetzt.
PD Dr. Frank Surall, Bonn
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