SWR2 Musikstunde

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Musikstunde mit Sabine Weber
« Von schönen Formen »
Folge 1
Die Passacaglia – Pathos und Drohgebärde
MODERATION
Musik ist tönend bewegte Form! Oder kulinarischer ausgedrückt:
„Der musikalische Champagner (…) wächst mit der Flasche!“
Will sagen: der Inhalt, die Idee, sie braucht die passende Form, um sich zu
entfalten, um zu reifen. Auch und vor allem in der Musik!
Formuliert hat das ein Musikwissenschaftler und Musikkritiker. Eduard Hanslick.
Seine Abhandlung „Vom Musikalisch-Schönen“ ist 1854 in Wien erschienen. Der
musikalische Formenkanon ist seit Hanslicks Zeiten natürlich enorm
angewachsen. Musikalische Formen sind für entartet erklärt worden oder
haben sich erledigt, weil mit der Auflösung der harmonischen Systeme auch
die Form-bildende-Kraft verloren gegangen sei. Dennoch, einige musikalische
Formen haben hartnäckig überdauert und schreiben bis auf den heutigen Tag
Geschichte. Die in der Barockzeit entstandene Passacaglia ist eine solche Form
ohne Verfallsdatum. Sie wird in der heutigen swr2-musikstunde unter die Lupe
genommen. Zu der ersten von insgesamt fünf Folgen unter der Überschrift
„Von schönen Formen“ lade ich Sie herzlichst ein.
Was ist schön an der Passacaglia … Ihr Markenzeichen ist jedenfalls eine sich
unendlich wiederholende Bassmelodie. Langweilig? Im Gegenteil. Diese
Eintönigkeit wird nämlich durch immer neue Variationen aufgebrochen. Das ist
ein einfaches aber wirkungsvolles Kunstprinzip. Und das liegt nicht nur auf der
Hand. Es liegt auf der Straße! Denn der Begriff Passacaglia kommt aus dem
Spanischen, beziehungsweise Französischen. „Passacaille“ – übersetzt bedeutet soviel wie „der Weg durch die Straße“ oder „sich einen Weg bahnen“.
Und die ideale Form des "Durch-die-Straße-Schlenderns" ist für die Franzosen
im 17. Jahrhundert ein nobles Tanzvergnügen!
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1) Länge: 3'03
François Couperin
Chaconne ou Passacaille aus Les nations 1ère ordre: La Françoise
Hesperion XX
(Ltg) Jordi Savall
04543 ASTRÉE 93
MODERATION
Hesperion XX unter der Leitung von Jordi Savall mit einer Chaconne ou
Passacaille von François Couperin. François Couperin hat in seinem
Instrumental-Zyklus „Les Nations“ von 1726 vier Nationen beschrieben. Und in
der Franzosen-Suite gehört natürlich die Chaconne oder Passacaille dazu. Und
Sie merken an dem 'oder', dass schon damals diese beiden Formen nicht ganz
leicht auseinander zu halten waren. Bei der Passacaglia ist das sich endlos
wiederholende Thema „plus grave“ also ernster und eigentlich immer in der
Basslinie zu finden. Bei der Chaconne kann es auch in die Mittel- oder
Oberstimme wandern, und es gibt Zwischenspiele! Der Chaconne widmet sich
übrigens die swr2-musikstunde kommenden Freitag.
Heute steht die Passacaglia auf dem Prüfstein. Ein Kunstprinzip, dass es also
schon zu Bachzeiten gegeben hat. Denn François Couperin und Johann
Sebastian Bach waren ja Zeitgenossen.
Ein einziges Werk hat Johann Sebastian Bach mit Passacaglia überschrieben.
Die Passacaglia für Orgel in c-moll, eine Passacaglia par excellence! Neun
Minuten dauert sie. Und die genügen nicht nur, um zu zeigen, wie wirkungsvoll
das einfache Kunstprinzip der Passacaglia ist. Nämlich Vielfalt in die
Eintönigkeit zu bringen. Sie macht auch den Unterschied zwischen
französischer und deutscher Mentalität deutlich: Die eben noch leichte und
beschwingte Tanzgeste, hier wird sie „plus grave“ zu Pathos. Während sich die
immer gleiche Bassmelodie insgesamt 21 Mal wiederholt, wird ein Tonkosmos
ungeahnten Ausmaßes darüber entfesselt. Als wolle Bach den Zuhörer
Allmächtigkeit erahnen lassen.
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2) Länge: 7'16
Johann Sebastian Bach
Passacaglia c-moll BWV 582
Bernard Foccroulle, Orgel
RICERCAR 026006
MODERATION
Johann Sebastian Bachs Passacaglia in c-moll, Werkverzeichnis 582, zu der
auch noch eine Fuge gehört … Der belgische Organist Bernard Foccroulle
schlug die von Hans Wolff Schonat erbaute Barockorgel an der Nieuwe Kerk in
Amsterdam, die 1673 auf 43 Register erweitert wurde.
Die swr2-musikstunde prüft heute die Passacaglia auf ihre Gesinnung, wobei
auf das Bach'sche Pathos jetzt eine Drohgebärde als ein weiterer Extremwert
auf der Emotionsskala folgt. Was mit Drohgebärde gemeint ist, macht
Benjamin Britten in seiner Oper „Peter Grimes“ deutlich. Da geht es um
jemanden, der durch das soziale Netz fällt. Ein Fischer wird von der
Dorfgemeinschaft immer mehr isoliert. Als er unter Mordverdacht gerät, hat
das Dorf einen Grund, den Außenseiter zur Rechenschaft zu ziehen. Die
Männer marschieren auf seine Hütte zu. Britten beschreibt diese paranoide
Situation mit einer instrumentalen Passacaglia. Einsame Bratschenklänge
erhalten durch das sich unablässig wiederholende Bass-Ostinato einen
Kontrapunkt, der am Ende wie ein gnadenloses Anmarschieren klingt. Da braut
sich etwas unheilvoll zusammen.
3) Länge: 7'00
Benjamin Britten
Passacaglia aus dem 2. Akt „Peter Grimes“
Bundesjugendorchester
(Ltg) Howard Griffiths
WDR Produktion
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MODERATION
Die Passacaglia aus dem 2. Akt aus Benjamin Brittens Oper „Peter Grimes“ mit
dem Bundesjugendorchester unter der Leitung von Howard Griffiths.
Brittens Fischer Peter Grimes trägt übrigens autobiografische Züge. Nicht nur,
weil die Oper in einem alten Fischerdorf spielt, das haargenau auf die
Beschreibung von Aldeburgh an der englischen Ostküste zutrifft, wo Britten
gelebt hat. Britten hat sich in England in mehrfacher Hinsicht als ein
Ausgeschlossener gefühlt. Auch wegen seiner rigoros pazifistischen Einstellung,
die immer wieder mit dem empfindlichen Nationalstolz der Engländer kollidiert
ist. Mehr über Britten erfahren Sie übrigens hier bei uns in den swr2musikstunden ab dem 18. bis zum 22. November, dem Tag, an dem sich sein
Geburtstag zum 100. Male jährt. Wir erinnern heute schon einmal daran.
Diese Woche handeln die swr2-musikstunden von „Schönen Formen“ in der
Musik und heute von der Passacaglia. Ursprünglich ein Straßentanz, wie das
Wort Passe caille – Passacaille sagt, ist sie unter anderem durch Johann
Sebastian Bachs Orgelpassacaglia zu einer Kunstform geworden, die durch ihre
Unerbittlichkeit immer wieder Komponisten herausgefordert hat. Nach dem
Motto: „Freiheit sei der Zweck das Zwanges!“ Angekettet an einen immer
wiederkehrenden Bass, Einfallsreichtum und Variationsfreude hervor zu locken.
Der ungarische Komponist György Ligeti, ein Pionier neuer, sich überlagernder
Formen und Schichten im Kompositionsprozess, auch er hat in mehreren
Werken mit der alten Passacaglia-Form experimentiert. „Exemplarisch“ nennt
er seine Passacaglia, die er 1978 für das Cembalo komponiert hat. Er stehe der
neotonalen und neoromantischen Richtung kritisch gegenüber, hat er in einem
Interview gesagt. Das habe er in diesem halb-ironischen und halb-ungarischen
5 Minuten-Stück non verbal diskutieren wollen. Das Passacaglia-Thema steigt
erst einmal aus dem Himmel herunter. Und was am Anfang sofort schräg klingt
ist die von Ligeti vorgeschriebene mitteltönige Stimmung, die mit reinen Terzen
aber unsauberen Quinten arbeitet. Das klingt, als zöge das Thema mit schlecht
gebundener Krawatte los. Drumherum beginnt es zu necken und zu spotten, zu
rasen und zu stolpern. Ligeti schüttelt eine Idee nach der anderen aus dem
Ärmel. Die Cembalistin Elisabeth Chojnacka hat zu tun!
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4) Länge: 5'02
György Ligeti
Passacaglia Ungherese
Elisabeth Chojnacka, Cembalo
SONY SK62307
MODERATION
Eine Passacaglia mit Augenzwinkern – oder „halb-ironisch“, wie György Ligeti
seine Passacaglia ungherese in mitteltöniger Stimmung bezeichnet hat. 1978
habe er sie als Kompositionsprofessor an der Hamburger Musikhochschule
komponiert, um die Verwendung von alten Formen zur Diskussion zu stellen.
Denn, so Ligeti, auch die Erfindung von neuen Materialen oder Effekten sei
keine Garantie für gute Musik. Es kommt auf die musikalische Idee und die
Originalität des Stückes an. Und natürlich auf die Interpretin: Elisabeth
Chojnacka hieß die Cembalistin in dieser Aufnahme.
Von ironisch zu ernst! Johann Sebastian Bachs berühmte Orgelpassacaglia
steht in c-moll. Das ist die Tonart, die im Barockzeitalter mit Dunkelheit,
unheimlichen Stimmungen aber auch Dramatik in Verbindung gesetzt wurde.
Auch Dimitri Schostakowitsch hat eine c-moll – Passacaglia komponiert. Sie
taucht in seiner 8. Sinfonie auf. Und die Tonart ist ein Indiz. Von Anfang an gilt
diese Achte, 1943 komponiert, als ein „Epos der Qual“. Die verheerende
Niederlage der Deutschen vor Stalingrad löst keine russischen Siegesgefühle
aus. Zu groß ist die Not, sind Kälte und Hunger. Schrecken und Entbehrungen
thematisiert Schostakowitsch. Sowohl auf dramatische als auch auf groteske
Weise. Auch der langsame vierte Satz, eine Passacaglia, ist von durchdringend
tragischem Duktus. Zwölfmal erscheint das Bassthema, vor dessen
Hintergrund immer neue Gedanken auftauchen. Es ist eine stille Klage in
fahlen, eisigen Farben, die der Kriegsmaschinerie „Inne-Halten“ gebietet. Nicht
ohne Widerstand, wie Trommelwirbel, großes Tam Tam und die apokalyptischen
Posaunen zu Anfang verdeutlichen.
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5) Länge: 10'04
Dmitri Schostakowitsch
Attacca-Largo aus der Sinfonie Nr. 8 op 65
WDR Sinfonieorchester Köln
(Ltg) Rudolf Barshai
BRILLANT CLASSIC 6324/ 5
MODERATION
Das WDR Sinfonieorchester Köln unter Rudolf Barshai mit dem langsamen Satz
aus Dmitri Schostakowitschs 8. Sinfonie von 1943. Largo steht als Überschrift
über diesem Satz, eine Passacaglia. „Schostakowitsch sei möglicherweise der
einzige Musiker des 20. Jahrhunderts, der immer noch versuche, mit Hilfe
sinfonischer Mittel das aktuellste menschliche Drama darzulegen“, hat ein
französischer Musikkritiker nach der Uraufführung dieser Sinfonie in Moskau
1943 behauptet. Und das verdient unsere Aufmerksamkeit, auch wenn das am
Morgen schwere Kost ist. In diesem Satz hat Schostakowitsch jedenfalls die
stetig voranschreitende Bewegung der Passacaglia mit lähmender
Unerträglichkeit gepaart. Eine Klage, nach der es unbedingt wieder
zuversichtliche Töne braucht. Und die bringt uns ein Schutzengel und …
natürlich eine Passacaglia. Wir finden beides, wenn wir 300 Jahre in der
Musikgeschichte zurückgehen, in Heinrich Ignaz Franz Bibers berühmten
Rosenkranzsonaten. Dieser Zyklus über die Mysterien des Rosenkranzes
besteht aus 15 Sonaten für Violine und Basso continuo, und einer Passacaglia
für Violine solo. Diese Passacaglia in g-moll trägt den Untertitel „Der
Schutzengel“. Der Passacaglia-Bass besteht aus vier vom Grundton g
absteigenden Tönen. Auf diesem Tonfundament arbeitet sich der Geigenbogen
in Richtung obere Saiten vor und zurück, zaubert betörende Streichersounds,
aber auch allerhand Irritationen und Bizarrerien. Der Bass darf natürlich nicht
aus der Ruhe kommen, so, wie ein Engel einen wilden Schützling über holprige
Wege sicher und ruhig geleitet. Ein geigerisches Bravurstück. Es spielt:
Reinhard Goebel.
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6) Länge:6'42
Heinrich Ignaz Franz Biber
Passacaglia in g-moll (Der Schutzengel) aus den Rosenkranzsonaten
Reinhard Goebel, Violine
ARCHIV Produktion 431656 2
MODERATION
Das war die Passacaglia in g-moll von Heinrich Ignaz Franz Biber mit dem
Untertitel „Der Schutzengel“. Das Schlussstück seiner Rosenkranzsonaten, die
er für seinen Dienstherrn, den Salzburger Fürsterzbischof Max-Gandolph 1678
komponiert hat. Reinhard Geobel war der Interpret.
Die swr2-musikstunde nähert sich ihrem Ende. Morgen geht es weiter zum
Thema „Schöne Formen“ in der Musik. Das Capriccio wird durch einige
Jahrhunderte der Musikgeschichte verfolgt.
Heute hat uns die Passacaglia tänzerische, pathetische, bedrohliche, ironische
Anklänge beschert, eine Klage und wieder versöhnliche Töne. Zum Abschied
kehren wir zu einer Passacaglia mit tänzerischem Inhalt zurück. Denn wie
könnte ich Sie besser in das weitere Morgengeschehen entlassen, als mit
dieser fröhlich beschwingten Passacaille aus Frankreich. La Petite Bande unter
Sigiswald Kuijken spielt die Passacaille aus der Oper „Armide“ von JeanBaptiste Lully.
Ich hoffe, Sie haben unsere Reise in und durch das Innenleben der Passacaglia
genießen können.
Und wenn Sie mögen: bis morgen um die gleiche Zeit!
7) Länge: 3'39
Jean-Baptiste Lully
Passacaille aus der Oper „Armide“
La petite Bande
(Ltg) Sigiswald Kuijken
ACCENT 25001
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