Momentaufnahmen, Erkenntnisse und Folgerungen aus dem Projekt

Werbung
„Auf dem Weg zu einer inklusionsorientierten
Arbeit in der Diakonie Württemberg“
Momentaufnahmen, Erkenntnisse und
Folgerungen aus dem Projekt Inklusion
Oktober 2012 bis September 2015
Erkundungen und Erkenntnisse
Der gemeinsame Weg von Diakonischem Werk und Evangelischer Landeskirche in Württemberg hat sich gelohnt. Das Ringen um ein gemeinsames
Verständnis von Inklusion, die abteilungsübergreifende Zusammenarbeit,
die kritische Reflexion und das offene Abwägen von Chancen und Grenzen
haben das Projekt geprägt und vieles in Bewegung gebracht. Inklusion wird
in einem weiten Sinne verstanden, im Blick sind alle Menschen mit eingeschränkten Teilhabechancen. Um ihnen eine gleichberechtigte Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, braucht es die Sensibilisierung für
jegliche Art von Ausgrenzung und Barrieren, die Förderung von Selbstartikulation und Selbstorganisation sowie die Entwicklung inklusionsorientierter
Haltungen und Handlungsformen. Dies verlangt einen Kulturwandel durch
entsprechende Veränderungsprozesse von Einrichtungen und Systemen.
Der Dank gilt der Evangelischen Landeskirche in Württemberg und der Lechler-Stiftung für die großzügige Unterstützung und allen Ehrenamtlichen, die
das Projekt im Zeitraum Oktober 2012 bis September 2015 entscheidend
mitgestaltet haben.
Inklusion lebt von Beteiligung.
Die angemessene Beteiligung von
Menschen mit eingeschränkten
Teilhabechancen ist Voraussetzung
für das Gelingen von Inklusion. Sie
ist weit mehr als ein „Mit-DabeiSein“. Sie braucht klare Regelungen
und Rahmenbedingungen, denn
Assistenz, Publikationen in leichter
Sprache oder Gebärdensprach-Dolmetscher kosten Geld. Beteiligungsprozesse erfordern wechselseitige
Aufmerksamkeit und die Bereitschaft, sich auf längere Prozesse
einzustellen. Beteiligung verändert
Bilder voneinander, fördert das gegenseitige Verständnis, macht aber
auch Grenzen deutlich. Angemessene Beteiligung heißt: Es ist jeweils
zu klären, wer, wo, wann und wozu
beteiligt werden soll. Menschen mit
Behinderung haben bei mehreren
Veranstaltungen deutlich gemacht,
dass sie von einer „Pseudo-Beteiligung“ nichts halten und sich für die
Teilhabe von Menschen mit hohem
Unterstützungsbedarf stark gemacht.
Alle von Ausgrenzung betroffenen Menschen sind im Blick.
Im Projekt standen Menschen mit
Behinderungen und psychischen
Beeinträchtigungen im Mittelpunkt.
Doch auch arme, arbeitslose, wohnungslose, alte Menschen, Kinder mit
Verhaltensauffälligkeiten oder Menschen mit Migrationshintergrund sowie Flüchtlinge sind an vielen Stellen
von Exklusion betroffen. Sie haben
die Sorge, nicht genügend im Blick zu
sein, wenn sich Aufmerksamkeit und
Finanzmittel auf die Inklusion von
Menschen mit Behinderung oder auf
Flüchtlinge konzentrieren. Inklusion
muss alle von Ausgrenzung betroffenen Menschen und ihre jeweiligen
Bedarfe im Blick haben. Arbeiten zu
können im Sinne einer sinnvollen
Beschäftigung ist eine zentrale Teilhabekategorie in unserer Gesellschaft.
Arbeiten, sich einbringen und etwas
beitragen können, ist eine Frage des
Selbstwertes und Selbstbildes.
Inklusion lässt die wenigsten kalt.
Zu unseren Erfahrungen gehört, dass
das Schlagwort Inklusion vielfältige
Reaktionen auslöst und kaum jemanden kalt lässt. Die einen sehen darin
ein berechtigtes, auch biblisch begründetes Anliegen. Andere sprechen
von einem ideologisch aufgeladenen
Begriff, der eine sachgerechte Diskussion verhindere. Spannend war hier
unsere Diskussion über die „Grenzen
von Inklusion“. Dabei wurde herausgearbeitet, dass der Rechtsanspruch
durch die UN-Behindertenrechtskonvention nicht zur Disposition stehen
darf. Dass jedoch über Umfang,
Geschwindigkeit und benötigte personelle und finanzielle Ressourcen
zu diskutieren ist. Diese Auseinandersetzungen dienen der Klärung
von berechtigten Interessen und
Möglichkeiten der Umsetzung. Das
„Konturenpapier eines diakonischen
Verständnisses von Inklusion“ hat
hier wichtige begriffliche Unterscheidungen und tragfähige Perspektiven
für Teilhabegerechtigkeit entwickelt.
Sie gründen im Verständnis des Menschen als Ebenbild Gottes und einer
von allen Zuschreibungen unabhängigen Würde.
Inklusion braucht fachübergreifende Kooperation.
Inklusionsorientierung ist ein Prozess, der viele zielgerichtete und
koordinierte Schritte braucht. Hier
trugen die abteilungsübergreifende
Zusammenarbeit, die ausgeprägte
Orientierung am Gemeinwesen und
die Förderung von Kooperationen
vor Ort zum Projekt-Erfolg bei. Eine
Erkenntnis ist deshalb: Inklusion
braucht fachübergreifende Kooperation, vernetze Akteure, gesammeltes
Know-how, unterschiedliche Perspektiven und Koordination. Hier hat das
im Rahmen des Projektes gegründete
„Netzwerk Inklusion in der Landeskirche“ (NIL) das vernetzte Denken und
Handeln in Landeskirche und ihrer
Diakonie vorangebracht.
Regel- und Sondersysteme sind
neu auszubalancieren.
Für diakonische Einrichtungen der
Behindertenhilfe ist die politisch
gewollte Dezentralisierung eine Herausforderung, der sie sich stellen.
Sie bestehen jedoch zurecht darauf,
dass für den dafür notwendigen
Umbau finanzielle Mittel bereit
gestellt werden und neue Formen
der Leistungserbringung refinanziert werden. Wenn beispielsweise
eine Nachtwache nicht mehr für 50
sondern ‘nur‘ noch für 12 oder 24
Menschen zuständig ist, muss sich
auch die bisherige Finanzierungslogik
ändern. Dazu ist ein allgemein gültiges, fachlich anerkanntes Instrument
erforderlich, um den individuellen
Bedarf messen zu können. Angehörige schwerst mehrfach behinderter
Menschen sorgen sich um eine verlässliche Unterstützung, wenn vertraute Einrichtungen verkleinert oder
komplett aufgegeben werden. Im
Projekt wurde deutlich, dass genau
geprüft werden muss, wer welche
Unterstützungs-Bedarfe hat und wie
leistungsfähige und bedarfsgerechte
Strukturen aussehen müssen, die
Selbstbestimmung und Wahlfreiheit
ermöglichen.
Es müssen noch viele Barrieren
beseitigt werden.
Nach wie vor behindern bauliche und
sprachliche Barrieren die Wahrnehmung selbstbestimmter Teilhabe.
Vielerorts ist Barrierefreiheit nur
unvollständig umgesetzt, entsprechen Gebäude nicht den gängigen
DIN-Normen. Oftmals erschweren
schon kleine Schwellen den ungehinderten Zugang. Viel ist noch zu tun,
damit Menschen mit Hör- und Sehbehinderungen mit Hilfe technischer
Unterstützung Informationen auch
erfassen können. Nicht zuletzt schließen fehlende Angebote in leichter
Sprache viele Menschen von Informationen und von Wissen aus.
Auf den Anfang kommt es an.
Eine inklusive Gesellschaft baut auf
einer gemeinsamen Erziehung, Bildung und Betreuung aller Kinder auf.
Inklusionsorientierung bedeutet,
dass alle in höchstmöglichem Maß
gemeinsam aufwachsen, lernen und
leben können. Gleichzeitig muss
aber jede und jeder Einzelne die für
sie oder ihn notwendige Förderung
und Unterstützung bekommen. Die
Kunst des Zusammenlebens verschiedener Menschen will gelernt sein,
am besten von Anfang an. Hier ist
es im Projekt gelungen, den Gesetzgebungsprozess für ein inklusives
Schulgesetz in Baden-Württemberg
mitzugestalten.
traits von Projekten und Vorhaben
in Diakonie und Landeskirche erstellt
(www.diakonie-wue.de/inklusion).
Hier wird deutlich: Unsicherheiten
lassen sich am besten mit Begegnungen überwinden. Diese helfen, Vorurteile abzubauen und führen dazu,
Haltungen und Wertvorstellungen zu
überdenken. Für Rückenwind sorgte
die Mitarbeit am Schwerpunkttag der
Sommersynode 2013, am „Wort des
Landesbischofs zur Inklusion“ sowie
am Film „Fremdwort Inklusion“.
Inklusion ist kein Selbstläufer.
Nächster Schritt ist ein Gesamtkonzept Inklusion.
Wie die Einrichtungen der Behinderten- und Jugendhilfe sind auch
Kirchengemeinden in der Regel offen
für Inklusion, fühlen sich aber häufig
überfordert. Dies zeigte eine Umfrage, an der sich über 500 Pfarrämter
beteiligten. Deshalb haben wir im
Projekt zielgerichtete und überschaubare Schritte aufgezeigt und Unterstützung angeboten. Wir haben Por-
Das Projekt hat gezeigt, dass ein
breit und systematisch angelegtes
Gesamtkonzept Inklusion für die Landeskirche und ihre Diakonie der konsequente nächste Schritt ist auf dem
Weg zu einer inklusiven Kirche. Im
Projekt gemachte Erfahrungen und
geknüpfte Wissens-Netzwerke können so in die Breite kommen, nachhaltig genutzt und vermehrt werden.
Folgerungen und Empfehlungen
Für die Landeskirche und ihre Diakonie:
Inklusion wird in kirchlicher und diakonischer Arbeit in unterschiedlicher
Weise gelebt. Um Inklusion systematisch, zielorientiert und nachhaltig
voranzubringen, braucht es jedoch
einen handlungsfeldübergreifenden
Aktionsplan, der die verschiedenen
Bemühungen um Inklusionsorientierung reflektiert, koordiniert und in
einem systematischen Gesamtkonzept zusammenführt und weiterentwickelt.
Inklusion braucht Kümmerer, Brückenbauer und Ressourcen. Deshalb
hat die Qualifizierung von Multiplikatorinnen und Multiplikatoren eine
große Bedeutung für die weiteren
Prozesse, ebenso die Bereitstellung
entsprechender Mittel und die Beratung von Kirchengemeinden vor Ort.
Inklusion benötigt, wenn sie gelingen
soll, die Orientierung am Gemeinwesen. Lebensräume inklusiv zu gestalten, erfordert die Vernetzung von
Akteuren vor Ort und eine Zusammenführung verschiedener Themen
wie Quartiersentwicklung, Teilhabe
an Arbeit, Gesundheit oder Migration. Wichtig ist, dass sich Kirchengemeinden und soziale Institutionen
als Teil des Gemeinwesens begreifen,
sich mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren vernetzen und in
kommunale Teilhabeplanungen
einbringen. Prozesse der Konversion
bieten die Chance zu verstärkter Zusammenarbeit von diakonischen Einrichtungen und Kirchengemeinden.
„Kirche mit allen“ im Sinne von Galater 3, 28 könnte das Leitbild bei der
Förderung einer inklusiven Kultur in
Kirche und ihrer Diakonie sein, das zu
einer Offenheit für den Umgang mit
Anders-Sein und Vielfalt motiviert
Hier haben unter anderem die Veranstaltungen von „Miteinander Kirche
sein“ und „Empowerment“ schon
vieles vorangebracht.
Diakonie und Kirche sollten im Sinne
einer Selbstverpflichtung langfristig
dafür sorgen, dass Gebäude und Veranstaltungen so gut wie möglich barrierefrei erreichbar und nutzbar sind
sowie Informationen so aufbereitet
sind, dass sie von möglichst vielen
Mitgliedern der Gesellschaft genutzt
werden können.
Für Politik und Gesellschaft:
Die Bemühungen um eine Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention haben in den vergangenen
Jahren deutlich zugenommen.
Kampagnen wie die von der Liga
mitgestaltete Inklusionskampagne
„DuIchWir“ wollen Bewusstsein
schaffen. Behindertenbeauftragte auf
Landes- und Kommunalebene sollen
notwendige Prozesse zielführend
koordinieren.
Inklusion gibt es nicht zum Nulltarif.
Damit Menschen mit Behinderung
die ihnen garantierten Rechte auch
wahrnehmen können, braucht es entsprechende Ressourcen. Mittel für
die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention müssen bereitgestellt werden, um beispielsweise den
Umbau von Regel- und Sondersystemen im sozialen und Bildungsbereich
ohne Verlust an Qualität bewältigen
zu können.
Damit Beteiligung keine Worthülse
bleibt, sind unterstützende Rahmenbedingungen notwendig. Assistenz
muss professionalisiert und bezahlt
werden. Menschen mit Behinderungen können wichtige Aufklärungsund Lobbyarbeit leisten und müssen
gegebenenfalls für ihre Mitarbeit
eine Aufwandsentschädigung erhalten. Sie brauchen entsprechende
Rahmenbedingungen und personelle
Ressourcen, um sich selbst im politischen Raum vertreten und Verantwortung übernehmen zu können. Die
forcierte gesellschaftliche Teilhabe
und Ermöglichung von Wunsch- und
Wahlrechten darf nicht zu einer
vorschnellen Auflösung bewährter
Förder- und Spezialeinrichtungen
führen. Es braucht eine sorgfältige
Neujustierung des Verhältnisses von
allgemeiner und spezifischer Infrastruktur und der Zusammenarbeit
von Regel- und Sondersystemen.
„Alle gemeinsam“ als alleiniges
Leitbild reicht nicht. Inklusionsorientierung bedeutet, dass alle in
höchstmöglichem Maße gemeinsam aufwachsen, lernen und leben,
gleichzeitig aber auch jede und jeder
Einzelne die für sie oder ihn notwendige Förderung und Unterstützung
erhält. In diesem Sinne ist eine von
Anfang an inklusionsorientierte
Bildung, Erziehung und Förderung
grundlegend für eine Gesellschaft der
Vielfalt.
Baugrundstücken und Fördermitteln
erbracht werden. Das gilt auch für
die Teilhabe an Arbeit in verschiedensten öffentlich geförderten und
unterstützten Formen.
Eine große Herausforderung für die
Politik besteht darin, bezahlbaren
Wohnraum zu schaffen für von Ausgrenzung betroffene Gruppen wie
Menschen mit Behinderung und
psychisch Kranke, arme Familien,
Wohnungslose, Arbeitslose oder
Flüchtlinge. Hierauf sollten von Politik und Gesellschaft große Anstrengungen in Form von Programmen,
Leitende Vision könnte das Bild einer solidarischen und gerechten
Gesellschaft sein, in der es „normal
ist, verschieden zu sein“ (Richard von
Weizsäcker). Bis dahin ist es noch ein
weiter Weg vielfältiger kleiner und
großer Schritte.
Stuttgart, im Oktober 2015
Strategiegruppe Projekt Inklusion
Projektergebnisse, Arbeitshilfen und Veranstaltungs-Dokumentationen stehen
unter www.diakonie-wue.de/inklusion zum Download bereit.
Herausgeber
Diakonisches Werk Württemberg, Heilbronner Straße 180, 70191 Stuttgart
Kontakt: Wolfram Keppler Tel. 0711/1656 167; [email protected]
Lechler
Stiftung
Herunterladen