Peter Höyng Emory University, Atlanta Kleist und Beethoven als ‚Generation Napoleon‘ oder Ästhetische Darstellungen von Gewalt Als GermanistInnen 2005 pflichtschuldigst des 200. Todestages Schillers gedachten, begann ich meinen Aufsatz zur „Geistesverwandtschaft zwischen Schiller und Beethoven“ wie folgt: „Um Schillers Verhältnis zu Beethoven zu ermessen, erübrigt sich die Hinwendung zum Biographischen, denn weder begegnete Schiller dem Tondichter noch wurde er anderweitig auf ihn oder seine Werke aufmerksam.“¹ Im November 2011 fiel das nämliche Gedenkritual auf Heinrich von Kleist. Und der obige Satz lässt sich auch auf den krisenerprobten Offizierspreußen und den vaterlandslosen Gewohnheitsösterreicher übertragen. Historisch-biographische Funde lassen sich nicht vermelden, weder in Kleists privaten Briefen noch in seinen veröffentlichten Werken. Anders als etwa der in Staatsdiensten agierende Schreibgenosse E. T. A. Hoffmann, im Übrigen ein „Bewunderer und aufmerksamer Leser Kleists“,² der 1810 ausführlich Beethovens c-Moll Symphonie, seine Fünfte, rezensierte und wegweisend analysierte, blieb Beethovens Musik dem Klarinettenspieler Kleist unbekannt. Dies mag auch deshalb verwundern, weil Kleist in einem Brief vom Sommer 1811 die Musik als „die Wurzel […] aller übrigen“ Künste erklärte und die Dichtkunst als ein synästhetisches Phänomen ‚auf Töne bezog‘, anstatt wie Goethe auf Farben, bevor er Gedanken und Brief mit dem enigmatischen Satz unvermittelt schloss: „Ich glaube, d(a)ß im Generalbaß die wichtigsten Aufschlüße über die Dichtkunst enthalten sind […].“³ 1 Peter Höyng, „‚Laufet Brüder Eure Bahn‘. Zur Geistesverwandtschaft zwischen Schiller und Beethoven“, in: Monatshefte 97.3 (2005), 468–477, hier 468. 2 Gerhard Schulz, Kleist. Eine Biographie, München 2007, 475. 3 An Marie von Kleist, Mai (?) 1811, in: Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden, hg. v. Ilse-Marie Barth, Klaus Müller-Salget, Stefan Ormanns und Hinrich C. Seeba, Frankfurt/M. 1987–1997, Bd. IV, Briefe von und an Heinrich von Kleist 1793–1811, hg. v. Klaus Müller-Salget und Stefan Ormanns, Frankfurt/M. 1997, 485. Alle Zitate Kleists werden nach dieser Ausgabe unter Angabe von Band- und Seitenzahl mit der Sigle „SW“ angegeben. Die dichtungstheoretische Grundsatzäußerung, eine der wenigen in Kleists Briefen, verwundert nicht nur insofern, als dass der basso continuo als harmonische Unterfütterung der Melodie und dargestellt in einer Ziffernschrift längst außer Mode war, sondern auch, weil sie eine Antwort suggeriert anstatt sie zu geben. Verstand er etwa die sprachlich-musikalische Qualität der Dichtung als Brought to you by | Cambridge University Library Authenticated Download Date | 1/7/17 3:55 PM 288 Peter Höyng Reziprok hierzu wissen wir nur allzu gut, für wie zentral Beethoven das Lesen von Literatur war, das durch die tragische Taubheit weiter an Bedeutung gewann, und dass er die daran geknüpfte Bildung als Auftrag internalisierte: „Es gibt keine Abhandlung die sobald zu gelehrt für mich wäre, ohne auch nur im mindesten Anspruch auf eigentliche Gelehrsamkeit zu machen, habe ich mich doch bestrebt von Kindheit an, den Sinn der bessern und weisen jedes Zeitalters zu fassen.“⁴ Zeit seines Lebens las Beethoven u.a. Shakespeare, Klopstock, Goethe und Schiller; bekanntlich befand er dessen minder gelungene Ode An die Freude (1785) auch noch gut drei Jahrzehnte nach der Jugendlektüre für kompositionswürdig. Dennoch findet sich bei dem eifrigen Vielleser Beethoven kein Beleg für die Wahrnehmung des ihm geistesverwandten Heinrich von Kleist.⁵ Daher gilt auch aus der Sicht Beethovens die ernüchternde Feststellung: kein Heinrich von das dem Suggestiv-Emotionalen Zugewandte, zu dem sich das inhaltlich Kommunizierte wie der Generalbass in Bezug auf die Melodie verhält? Greift Kleist bewusst Novalis’ Ästhetik auf, wenn dieser in seinen Fragmenten und Studien nicht weniger kryptisch notiert: „Aller Genuß ist musikalisch, mithin mathematisch. Das höchste Leben ist Mathematik“ (Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hg. v. Hans-Joachim Mähl, Richard Samuel und Hans-Jürgen Balmes, 3 Bde., München 1978–1987, Bd. 2, Das philosophisch-theoretische Werk, München 1978, 791). Carl Dahlhaus weist diesbezüglich zu Recht darauf hin, dass Musik nicht schon deshalb ‚tönende Mathematik‘ sei, weil sie ein mathematisches Moment enthalte (Carl Dahlhaus, „Kleists Wort über den Generalbass“, in: Kleist-Jahrbuch (1984), 13–24, hier 19). Trotz dieses konventionellen Missverständnisses nimmt Dahlhaus Kleists „dichtungstheoretisches Paradox“ ernst genug und deutet das Reden über die ‚algebraische Formel‘ als die sinnlich erfahrene ‚dunkle Mitte‘ oder den intuitiv erprobten ‚anderen Zustand‘ (ebd., 23f.). Jedenfalls äußert Kleist einen verschlüsselten Gedanken, dessen „Tragweite“ nach Rüdiger Görner „für Kleists Poetik noch nicht zureichend ausgeschöpft worden ist“ (Rüdiger Görner, „Generalbaß, malerische Schrift und Dichtkunst. Überlegungen zum Sprachkunstbegriff Heinrich von Kleists“, in: Publications of the English Goethe Society, 73.1/2 (2009), 106–115, hier 113). Es sei denn, man folgt Christine Lubkolls semiotisch-orientierter Interpretation, die Kleists Cäcilien-Novelle, die er zum Zeitpunkt des Briefes überarbeitete, als ‚plausible und konsequente‘ Umsetzung „der musikgeschichtlichen Entwicklung und der ästhetischen Diskussion des 18. Jahrhunderts“ liest (Christine Lubkoll, „Die heilige Musik oder die Gewalt der Zeichen. Zur musikalischen Poetik in Heinrich von Kleists Cäcilien-Novelle“, in: Gerhard Neumann (Hg.), Heinrich von Kleist. Kriegsfall, Rechtsfall, Sündenfall, Freiburg/Br. 1994, 337–364, hier 338). Beispielsweise interpretiert sie Kleists Rede von der ‚Musik als Wurzel aller Künste‘ und ‚der algebraischen Formel‘ wörtlich, indem die temperierte Stimmung im 18. Jahrhundert durch Wurzelrechnung, also mathematisch künstlich, gewonnen und mithin die Mängel der Natur durch künstliche Mittel kompensiert wurden (ebd., 338–341). 4 Ludwig van Beethoven, Briefwechsel Gesamtausgabe, hg. v. Sieghard Brandenburg, 7 Bde., München 1996–1998, Bd. 2, München 1996, 88. 5 Weder in der Gesamtausgabe seiner Briefe, den Konversationsheften noch im Tagebuch findet sich ein Verweis auf Heinrich von Kleist. Brought to you by | Cambridge University Library Authenticated Download Date | 1/7/17 3:55 PM Kleist und Beethoven als ‚Generation Napoleon‘ 289 Kleist – nirgends. Kleist kannte Beethovens Musik nicht, und Beethoven wird mit größter Wahrscheinlichkeit Kleists Werke nicht gelesen haben.⁶ So weit, so schlecht. Doch die Negation historisch-biographischer Nähe setzt umso ungetrübter den Blick frei auf die geistige Nähe dieser zwei außergewöhnlichen Zeitgenossen. Denn zu innovativ und unangepasst erscheinen ihre ästhetischen Positionen, um der Versuchung zu widerstehen, erhellende Querverbindungen und Analogien aufzudecken, mittels derer Kleists Werke neu einzurahmen und zu sehen sind. Die in der Kleist-Forschung wiederkehrenden Topoi von der Krise des Subjekts und der Sprache, von dem Widerstand, Schwierigen, Eruptiv-Plötzlichen, Erhabenen, Dialektischen, Unbewussten, denen er eine ‚Gestalt‘ abrang und verlieh,⁷ decken sich vielfach mit denen in der Beethoven-Forschung. So bringt beispielsweise Johannes Picht die Modernität von Beethovens Musik prägnant auf den Punkt: „Die Bedeutung von Beethovens Musik liegt darin, dass er den Raum des Subjekts wie kein anderer vor oder nach ihm durchmessen hat.“⁸ Außerdem gelten für beide Künstler private Krisen, Pathologien, ja das Abarbeiten an Krisen in ihren Werken und durch ihre Werke, als gemeine Charakteristika. Des Weiteren stellen beide in Bezug auf ihre künstlerischen Strömungen, ihre Biographien und erst Recht in Bezug auf ihre Werke Extreme und Ausnahmezustände dar. Und nicht zuletzt speisten sich ab 1800 ihre Werke zunehmend aus den revolutionären Umbrüchen und den durch die napoleonischen Kriege verursachten Traumata. Kurzum, die ästhetischen Mittel beider Künstler blieben einerseits ihrer Zeit verhaftet, fielen andererseits jedoch dank ihrer Modernität, verstanden als Bewusstsein und Darstellung von Krise, aus der Zeit. Um diese ästhetische Verwandtschaft zu erörtern, lassen sich methodologisch drei Varianten denken. Zum einen könnte man sich des begrifflich schillernden Konzepts des Zeitgeistes als „intellektueller Epochenidentität“ oder 6 Zwar könnte Heinrich Joseph von Collin (1771–1811), Wiener Dramenautor und Hofsekretär, als ein Bindeglied zwischen beiden Künstlern fungiert haben, da Kleist in Collin einen gleichgesinnten Kollegen fand und sich mit ihm brieflich austauschte, Beethoven seinerseits mit Collin gut bekannt war und von dessen Drama Coriolan (1804) zu der gleichnamigen Ouvertüre (op. 62, 1807) angeregt wurde. Doch bestätigt diese lose Verbindung über einen Dritten nur einmal mehr, dass weder Beethoven Kleist noch Kleist Beethoven bewusst wahrgenommen oder rezipiert hat. 7 „[…] doch in der Kunst kommt es überall auf die Form an, und Alles, was Gestalt hat, ist meine Sache“ (an Heinrich Collin, 14. Februar 1808, SW IV, 413). 8 Johannes Picht, „Beethoven und die Krise des Subjekts“, in: Musik und Ästhetik 11.44 (2007), 5–26, hier 6. Brought to you by | Cambridge University Library Authenticated Download Date | 1/7/17 3:55 PM 290 Peter Höyng kollektiver Dispositionen bedienen.⁹ Zum anderen aber ließe sich die soziale Persönlichkeitsstruktur beider Künstler untersuchen, die durch Bourdieus Terminus des ‚Habitus‘ und den damit verbundenen soziologischen Ansatz eine historische Verifizierbarkeit gegenüber des vageren Konzeptes vom Zeitgeist für sich beanspruchen kann. Als dritten Weg könnte man sich auf die Suche nach einem gemeinsamen ästhetischen Nenner begeben, der die kreative Denkweise des jeweils anderen erhellend in eine neue und erweiternde Perspektive stellt. Für den folgenden Essay wähle ich alle drei methodischen Vorgehensweisen, insofern ich einen ‚Zwitter‘ aus Zeitgeist und Habitus kreiere, indem ich als Tertium Comparationis den Begriff der ‚Generation‘ als identitätsstiftende Schnittmenge heranziehe. Dazu sei lediglich angemerkt, dass der Generationsbegriff ein generisches Prinzip erlaubt und als Folge Vergleichbarkeit auf unterschiedlichen Erfahrungsebenen ermöglicht, also nicht auf ausschließende Homogenität und Kongruenz hinausläuft. Soziale Herkunft, Ausbildungsweg, Lektüreverhalten, berufliche Netzwerke und ihre soziale Differenzierung sowie im vorliegenden Fall öffentliche Domänen künstlerischer Aktivitäten lassen sich anhand des Begriffs ‚Generation‘ sowohl individuell als auch generalisierend herausarbeiten, anstatt diese vorschnell unter einem homogenisierenden Geist oder Sozialtyp subsumieren zu müssen. Außerdem erprobe ich skizzierend, dabei methodisch wechselnd, eine ästhetische Dimension des Gemeinsamen, die sich auch, aber nicht ausschließlich, aus dem Generationsbegriff ableitet: Gemeint sind Beethovens und Kleists Reaktionen auf und Faszination von Gewalt durch künstlerische Mittel. Letztere Methode lässt sich sowohl aus der historischen Konvergenz als auch aus der inhaltlichen Kongruenz begründen. Denn zum einen emanzipierte sich nicht zuletzt durch Beethoven die instrumentale Musik vom sprachgebundenen Gesang, so dass für Romantiker wie E. T. A. Hoffmann, aber auch Kleist, „die Gegenstands- und Begriffslosigkeit“ der absoluten Musik zum Beweggrund wurde, „sie als eine der niederen Empirie entrückte Sprache über die Wortsprache zu überhöhen. In der Hierarchie der Sprachen tauschten die Begriffs- und Empfindungssprache gewissermaßen die Plätze.“¹⁰ Demnach kann auch nach Gerhard Schulz für Kleist die Musik zum „Denkmedium“ werden.¹¹ Die Aufwertung der instrumentalen zur absoluten Musik bewirkte nach Adorno, dass die musikalische Sprache ein zweites Mal durch die ‚philosophische Reflexion‘ vermittelt wird, demnach durch die begriffliche Sprache der musikalische 9 Ralf Konersmann, „Zeitgeist“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter u.a., 13 Bde., Basel und Stuttgart 1971–2007, Bd. 12, 1266–1271, hier 1266. 10 Dahlhaus, Kleists Wort über den Generalbaß, 15. 11 Schulz, Kleist, 73. Brought to you by | Cambridge University Library Authenticated Download Date | 1/7/17 3:55 PM Kleist und Beethoven als ‚Generation Napoleon‘ 291 Wahrheitsgehalt sich in neuer Form entäußert.¹² Insofern im Falle Kleists die Musikalität der Sprache ihre Begrifflichkeit und Bedeutung transzendiert, lässt sich deshalb von einer historischen Konvergenz sprechen, da im Falle Beethovens umgekehrt gilt, dass seine Musik „innere Zerrissenheit“ den HörerInnen erfahrbar macht.¹³ Zum anderen lässt sich eine gemeinsame ästhetische Position denken, weil, nach Picht, „Beethovens Musik darstellt, wie das, was sich als Subjekt zu konstituieren sucht, mit einer Vernichtungsdrohung konfrontiert ist, und daß an dieser Stelle Gewalt sowohl als Erfahrung als auch als Reaktion auf diese Erfahrung musikalisch-ästhetisch real wird.“¹⁴ Da zu offensichtlich, erübrigt sich an dieser Stelle eine detaillierte Übertragung von Pichts These auf das Kleist’sche Werk, dem sowohl die Erfahrung als auch die Darstellung von Gewalt eingeschrieben ist. Diese inhaltliche Kongruenz hinsichtlich der produktiven Verarbeitung und Darstellung von Gewalt werde ich weiter unten umreißen. Doch wäre ich womöglich nicht so kühn, überhaupt nach Spuren der Verbindung zwischen beiden Künstlern zu suchen, die konturlos und daher unsichtbar scheinen, wenn nicht der Musikwissenschaftler Stephen Rumph in seiner Studie zu Beethoven after Napoleon eine Fährte gelegt hätte. Er vertritt u.a. folgende Thesen: Die politische Romantik etwa der Schlegel-Brüder und Novalis’, aber auch Heinrich von Kleists sei kein vorübergehendes und bloß modisches Interesse Beethovens gewesen, sondern habe seinen Spätstil geprägt.¹⁵ Beethovens Spätwerk sei gekennzeichnet von ‚progressiven wie konservativen, dynamischen wie stabilisierenden Tendenzen‘. Dieser eingeschriebenen Ambivalenz eigneten unversöhnliche Gegensätze.¹⁶ Dabei gilt 1809 als das Jahr, das Beethovens Biographie und seine künstlerischen Arbeiten neu prägen sollte.¹⁷ Die im Zuge der ersten Niederlage Österreichs gegen napoleonische Truppen im Juli 1809 einsetzende Inflation zog Beethovens finanzielle Unabhängigkeit in Mitleidenschaft und bewirkte in der Folge u.a. antifranzösische Ressentiments, die bereits durch die Selbstkrönung Napoleons im Dezember 1804 genährt worden waren. Zu jener Zeit, so der seither bestehende Mythos, habe Beethoven die Widmung der heroischen Symphonie in Es-Dur an den gebürtigen Korsen ausradiert. Künstlerisch zeige sich des Komponisten Wende zum Konservativen dadurch, dass er 12 Lydia Goer, „Doppelbewegung“, in: Elective Affinities, New York 2008, 1–45, hier 27. 13 Picht, Beethoven und die Krise des Subjekts, 5. 14 Ebd., 7. 15 Stephen Rumph, Beethoven after Napoleon. Political Romanticism in the Late Works, Berkeley 2004, 5. 16 Ebd., 6. 17 Ebd., Kap. 4, 92–108. Brought to you by | Cambridge University Library Authenticated Download Date | 1/7/17 3:55 PM 292 Peter Höyng sich a) verstärkt für historische Musikrichtungen zu interessieren begann, wozu auch das intensive Studium des Kontrapunktes gehörte, und b) sein heroischer Stil einem lyrischeren gewichen sei.¹⁸ In Rumphs eigenen Worten: Beethoven’s return to archaism, to counterpoint, to lyrical introspection, and to textualism coincides with the most engaged, active period of his political life in Vienna. The changes in his musical style, like the explicit texts of patriotic works, all line up with the Romantic political movement – a movement that entertained genuinely utopian hopes from the Befreiungskriege and that directly linked spiritual reform to political meliorism. […] To put it bluntly, the same ideology that shaped Beethoven’s late style helped create the Restoration.¹⁹ Dass aufgrund dieser These hier indirekt Kongruenzen zu Kleist zum Vorschein kommen, wie z.B. diejenige, dass dieser ab 1809 in seinem aggressiv-xenophobischen Katechismus für die Deutschen, inklusive der Ode Germania an ihre Kinder und ihrer prosodischen Analogie zu Schillers Ode An die Freude, eine Kehrtwende gegenüber der früheren Napoleon-Begeisterung einschlug, weist eine erste generationsbedingte Gemeinsamkeit auf. Noch aufschlussreicher wird der Vergleich hingegen, wenn sich, wie Rumph betont, ein Nexus zwischen der politischen Konstellation und der ästhetischen Produktion herstellen lässt. Wenn die ästhetische Produktion ihren ursächlichen Grund in der gewaltsamen und kriegerischen Politik Napoleons hat – man denke an Kleists Herrmannsschlacht (1809) und Beethovens zeitlebens populärstes Werk Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria (1813) –, so folgt daraus, dass die künstlerischen Arbeiten des Schriftstellers und des Komponisten trotz ihrer unterschiedlichen Domänen vergleichbare Inhalte bereithalten können.²⁰ Und in der Tat lässt sich Kleists Poetik in einer Weise beschreiben, die sich durchaus auch auf Beethovens Musik beziehen lässt, etwa wenn Siegfried Streller Kleists Literatur generell wie folgt charakterisiert: Seine „Gewaltsamkeit der Bilder, die Maßlosigkeit der Gefühlsausbrüche, die Krassheit der Situationen, die Missachtung schöner Konventionen“ wirkten auf die Zeitgenossen ebenso faszinierend wie verstörend und lassen uns gerade darin die Kennzeichen der Moderne erkennen.²¹ Ähnlich hatte schon Grillparzer in seiner Rede anlässlich von Beethovens Beerdigung im März 1827 das Maßlose 18 Ebd., 101. 19 Ebd., 107. 20 Kleist sandte am 1. Januar 1809 sein auf den „Augenblick berechnet[es]“ Werk an besagten Heinrich Joseph von Collin, um eine Aufführung am Burgtheater zu erwirken (an Heinrich Collin, 22. Februar 1809, SW IV, 429). 21 Siegfried Streller, „Einleitung“, in: Heinrich von Kleist. Werke und Briefe, hg. v. Siegfried Streller, 4 Bde., Frankfurt/M. 1986, Bd. 1, Dramen I, 6. Brought to you by | Cambridge University Library Authenticated Download Date | 1/7/17 3:55 PM Kleist und Beethoven als ‚Generation Napoleon‘ 293 und die Regelwidrigkeiten als die dominierenden Kennzeichen seiner Musik in ihrer Ambivalenz für die Zeitgenossen hervorgehoben: Wie der Behemoth die Meere durchstürmt, durchflog er die Grenzen seiner Kunst. Vom Girren der Taube bis zum Rollen des Donners, bis zu dem furchtbaren Punkte, wo das Gebildete übergeht in die regellose Willkür streitender Naturgewalten, alles hatte er durchmessen, alles erfaßt. Der nach ihm kommt, wird nicht fortsetzen, er wird anfangen müssen, denn sein Vorgänger hört nur auf, wo die Kunst aufhört.²² Diese erste politisch-ästhetische Annäherung zwischen beiden Künstlern eröffnet daher die Möglichkeit, eine genauere Schnittstelle zu suchen, die einen Vergleich nicht nur zulässt, sondern zwingend macht. Rumph bietet hierzu am Endes seines Buches eine Steilvorlage, indem er Kleists letztes Werk für die Sprechbühne, Prinz Friedrich von Homburg (entstanden 1810), mit Beethovens letzter Symphonie (1824) vergleicht.²³ Seine Argumentation lässt sich wie folgt skizzieren: Eine Analogie zwischen der Struktur des Dramas und der Symphonie bestehe in dem bewusst angelegten zyklischen Charakter beider Werke. Das jeweilige Ende kehre zurück zum problematischen Anfang.²⁴ In der Symphonie sei dies der Fall, wenn der Schlusssatz mit der von Richard Wagner so bezeichneten „Schreckensfanfare“ einsetze.²⁵ Und so wie die Symphonie im ersten Satz mit ihren zitternd-herabfallenden Quinten beginne, so spiele auch Kleists Drama zu Anfang „in a mysterious twilight“.²⁶ Des Weiteren behauptet Rumph, dass sich das bekannte Rezitativ „Oh Freunde, nicht diese Töne“, das auf die Freudeshymne vorbereite und eine Brücke zwischen dem bis dato rationalen Verlauf und dem visionären Finale schlage, analog zu Kottwitz’ Rede vor seinem Souverän, dem Kurfürsten von Brandenburg, verstehen lasse. Rumph zitiert die folgende Passage aus Kleists Prinz Friedrich von Homburg ausführlich: 22 Franz Grillparzer, „[Rede am Grabe]“, in: Sämtliche Werke, ausgewählte Briefe, Gespräche, Berichte, hg. v. Peter Frank und Karl Pörnbacher, 4 Bde., München 1960–1965, Bd. 3, Satiren, Fabeln und Parabeln, München 1964, 881–883, hier 882. 23 Dass Kleists Bühnenwerk posthum 1821 in Wien seine öffentliche Uraufführung erlebte, stellt eine weitere von mehreren Querverbindungen Kleists zur restaurativ-kaiserlichen Residenzstadt her. 24 Rumph, Beethoven after Napoleon, 216. 25 „[…] der chaotische Ausbruch einer wilden Verzweiflung ergießt sich hier in Schreien und Toben“ (Richard Wagner, „Zum Vortrag der neunten Symphonie Beethovens“, in: Dichtungen und Schriften. Jubiläumsausgabe in zehn Bänden, hg. v. Dieter Borchmeyer, Bd. 9, Beethoven. Späte dramaturgische Schriften, Frankfurt/M. 1983, 110–138, hier 120). 26 Rumph, Beethoven after Napoleon, 216. Brought to you by | Cambridge University Library Authenticated Download Date | 1/7/17 3:55 PM 294 Peter Höyng Herr, das Gesetz, das höchste, oberste, Das wirken soll, in Deiner Feldherrn Brust, Das ist der Buchstab Deines Willens nicht; Das ist das Vaterland, das ist die Krone Das bist Du selber, dessen Haupt sie trägt. Was kümmert Dich, ich bitte Dich, die Regel, Nach der der Feind sich schlägt: wenn er nur nieder Vor Dir, mit allen seinen Fahnen, sinkt? (SW II, 632) Rumph interpretiert diese Szene wie folgt: „Like the Romantic monarch, the recitative voice serves as the source through which true individuality can flow into the collective.“²⁷ Doch nicht genug mit dieser einen, vermeintlich strukturellen Analogie. Rumph spinnt den aufgegriffenen Faden weiter, indem er die bei Kleist zu Anfang und Ende des Stückes angelegte Ambivalenz von Traum und Realität als Verlagerung des Konfliktes zwischen dem Kurfürsten und dem Prinzen in die Domäne des Irrationalen versteht. Eine solche Verschleierung des Konfliktes präge auch die Neunte, denn, so schließt Rumph: The recitative voice emerges from an unknowable realm beyond the real time of the symphony […]. As this voice reflects upon the first three movements, the dramatic actuality of the symphony fades into a series of disjointed memories, echoing in a transcendent mind. Yet the question remains: how do the two modes interact over the course of the movement. […]. This ironic ambiguity, like Kottwitz’s last words, calls into question the claims of the finale to have actually resolved the conflicts of the preceding movements. The transcendence of the recitative voice threatens to strand the symphony on the shores of an irrational fantasy – ‚Ein Traum, was sonst?‘²⁸ Wer glaubt, dass Rumphs eigenartige Lesart von Beethovens Neunter in komparatistischer Absicht zu Kleists Prinz Friedrich von Homburg einen kuriosen Einzel- und Einfall darstelle, der irrt. Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auf Caldwell Titcombs und Arnold Scherings ungewöhnliche Lesarten, die, noch weitaus präziser als Rumph, in einzelnen Kompositionen Beethovens dessen Lektüre von Dramen Shakespeares und Schillers zu erkennen glauben.²⁹ Obwohl ich Rumph dankbar bin, dass er als Musikwissenschaftler via Analogie kompositorische und literarische Bezüge zwischen Beethoven und Kleist hergestellt, dadurch meinem eigenen Anliegen Vorschub geleistet hat und dabei, 27 Ebd., 218. 28 Ebd., 219f. 29 Vgl. Caldwell Titcomb, „Beethoven and Shakespeare“, in: Critica Musica. Essays in Honor of Paul Brainard, Amsterdam 1996, 429–460; Arnold Schering, Beethoven in neuer Deutung, Leipzig 1934. Brought to you by | Cambridge University Library Authenticated Download Date | 1/7/17 3:55 PM Kleist und Beethoven als ‚Generation Napoleon‘ 295 wie wenige sonst, transdisziplinär verfahren ist, überzeugt seine komparatistische Lektüre letztlich nicht. So reizvoll es wäre, Rumphs gewagter Interpretation (die er selbst relativiert)³⁰ nachzugehen und beispielsweise die Frage zu erörtern, inwiefern die staatsrechtlichen Auffassungen in Schillers Sturm und Drang-Ode An die Freude sich mit denen in Kleists Prinz Friedrich von Homburg vertragen, vergleiche ich abschließend Beethoven und Kleist in Hinblick auf die ästhetische Darstellung von Gewalt. In seiner Schrift Über die letzten Dinge (1907) hatte Otto Weininger ein aristokratisches von einem plebejischen Genie unterschieden und Letzterem einen Hang zum Verbrechen unterstellt. Diesen Hang glaubt Weininger sowohl in Beethoven als auch in Kleist ausmachen zu können und stellt im Element der Gewalt eine Verbindung her. Worin das ‚Verbrechen‘ beider bestanden haben könnte, bleibt unbeantwortet.³¹ Daher lautet meine dem Verbrechen inhärente Wirkungskraft abgeleitete Leitfrage: Welche ästhetischen Mittel setzten Heinrich von Kleist und Ludwig van Beethoven ein, um die kriegerische, politische, soziale und psychologische Dimension der Gewalt ihrer Zeit zu bewältigen? Wie eingangs dargelegt, beziehe ich mich auf den beiden Künstlern gemeinsamen temporalen Bezugspunkt ihrer Lebenserfahrung als Angehörige einer Generation. Und jene männliche Generation, die um 1770 geboren wurde – also etwa Friedrich und August Wilhelm Schlegel, Friedrich Hölderlin, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Novalis, Beethoven und eben auch der 1777 geborene Kleist –, wie keine andere durch die revolutionären Ereignisse in Frankreich ab 1789 geprägt wurde und zunächst die Abschaffung aristokratischer Willkürherrschaft zugunsten universell geltender Menschenrechte begrüßte, bevor die radikalisierte Terrorherrschaft und schließlich die kriegerische Ausweitung innerfranzösischer Entwicklungen auf ganz Europa und Nordafrika durch Napoleon entschiedenen Widerstand wachrief; diese Generation konnte, ob sie es wollte oder nicht, der Frage nach der Legitimation von politischer und kriegerischer Gewalt nicht ausweichen. Dass Napoleon im selben Alter war wie die künstlerisch-intellektuelle Elite Deutschlands und anfangs mit ihr die Revolution als junger Mann von knapp 20 Jahren erlebte, bevor er mit seiner Machtfülle zur Symbolfigur seiner eigenen Generation wurde, erweitert den Begriff der ‚Generation Napoleon‘ um 30 „The evidence from Beethoven’s own stylistic development tips the scales against this interpretation.“ (Rumph, Beethoven after Napoleon, 220). 31 Otto Weininger, Über die letzten Dinge, 4. Aufl., Wien und Leipzig 1918, 126. Insofern meine Nachforschungen zutreffen, ist Weininger einer der wenigen, der die beiden Künstler in Beziehung zueinander gesetzt hat. Aufgrund dessen sei es auch erlaubt, Weiningers verschraubte und nicht weiter nachgewiesene These hier anzuführen. Brought to you by | Cambridge University Library Authenticated Download Date | 1/7/17 3:55 PM 296 Peter Höyng eine weitere Dimension. Den generationsbedingten Erfahrungshorizont, der auch Eingriffe in die jeweils individuelle Biographie bedingte, teilten Beethoven und Kleist zwar mit außerordentlich vielen Menschen in ganz Europa. Ihr Ausnahmecharakter lässt sich daher nicht allein in der biografischen Schnittmenge rekonstruieren, die 200 Jahre später ein Interesse an sozialgeschichtlichen Hintergründen ästhetischen Schaffens rechtfertigt. Die Tatsache aber, dass sowohl Beethoven als auch Kleist der Auseinandersetzung mit Gewalt in ihren Werken nicht auswichen, Gewalt nicht beschwichtigten, sondern sie suchten und künstlerisch ausdrückten, weist ihnen einen besonderen Status zu. Zugespitzt lässt sich das so formulieren: Der Anfang der ästhetischen Moderne, für die Kleist und Beethoven als Prototypen stehen, ist von der Erfahrung und künstlerischen Verarbeitung politischer, militärischer Gewalt geprägt.³² Auf der thematischen Beschreibungsebene lassen sich schnell einige Entsprechungen in den Werken des Schriftstellers und des Komponisten ausmachen, etwa zwischen Beethovens tatendurstiger Heldenverklärung samt Trauermarsch in der Eroica (1805) und Kleists Michael Kohlhaas (1810), den Kämpfer rigoros bürgerlicher Moralität: „Das Rechtgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder“ (SW III, 12). Auf Die Herrmannsschlacht und Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria wurde bereits verwiesen – beide Werke reagierten auf den Versuch, Napoleons imperialistische Fortschritte durch militärische Gegenoffensiven zu stoppen, real die eine, imaginiert die andere. Während Kleist in seinen Erzählungen physische und psychische Gewalt und ihre Auswirkungen in immer neuen Varianten inszeniert, lässt sich dieses Wechselspiel aus subjektiver Entscheidungsfreiheit und kollektiver Tat in Beethovens Musik, insbesondere seiner sogenannten heroischen Phase, hören; sei es in den Ouvertüren zu Coriolan (1807), Egmont (1810), oder Leonore. Letztere verweist dabei auf Beethovens einzige Oper, Fidelio oder die eheliche Liebe (1805), die in einem Staatsgefängnis spielt. Sie thematisiert und feiert die Befreiung aus der Willkürherrschaft und wurde nur wenige Tage nach der ersten napoleonischen Besetzung Wiens uraufgeführt. Beethovens Wahl eines Narrativs, das bevormundende Gewalt durch 32 Insofern ist auch Michael Spitzers These überzeugender als die von Rumph, wenn er behauptet: „Seeing Beethoven as both Classical and modernist cuts the ground beneath the Classicist/Romantic dispute of periodization.“ (Michael Spitzer, Music as Philosophy: Adorno and Beethoven’s Late Style, Bloomington 2006, 8). Entsprechend formuliert Nicolas Pethes die für Kleist allgemeingültige Perspektive zu seiner historischen Periodisierung: „In keine der gängigen Epochen einzuordnen und mit keiner ästhetischen Strömung seiner Zeit versöhnbar […], ist Kleists Werk eines, das aufgrund seiner Sonderstellung zur Lektüre anregt.“ (Nicolas Pethes, „Vorwort“, in: Nicolas Pethes (Hg.), Ausnahmezustand der Literatur. Neue Lektüren zu Heinrich von Kleist, Göttingen 2011, 7–17, hier 7). Brought to you by | Cambridge University Library Authenticated Download Date | 1/7/17 3:55 PM Kleist und Beethoven als ‚Generation Napoleon‘ 297 ein heroisch-idealisierendes Liebesbekenntnis aufhebt, entspricht Kleists Ambivalenzen gegenüber dem Gewalthaften, denkt man beispielsweise an Das Erdbeben in Chili (1810) oder Die Verlobung in St. Domingo (1811). Dass Schillers An die Freude der gewalthaften Befreiung von despotischer Willkürherrschaft entspringt, bei der die Brüder ‚freudig wie ein Held zum Siegen laufen‘ und die von Beethoven im Jubelchor mimetisch affirmativ gefeiert wird, verweist nicht minder ohrenfällig auf die beängstigende Nähe zwischen positiver und negativer Gewaltdarstellung.³³ In diesem Zusammenhang sei auch an die Erzeugung und Absicht von gewaltiger Wirkung erinnert, sei es in musikalisch-motivischer Verarbeitung oder struktureller Verankerung. Es war wiederum Beethoven, der konzeptionell die instrumentale, also nichtvokale, Musik als eine absolute mit philosophischer Bedeutung aufzuladen verstand.³⁴ Man denke diesbezüglich an die durch Felix Mendelssohn übermittelten Worte Goethes, nachdem der junge Musiker dem alten Dichter die c-Moll Symphonie auf dem Pianoforte in Weimar vorgespielt hatte. Goethe beschrieb die Wirkung des Werkes wie folgt: „Das ist sehr groß, ganz toll; man möchte befürchten, das Haus fiele ein.“³⁵ Und dieses „toll“ ist nicht affirmativ, sondern nach der Herkunft des Wortes, als eines dem Wahnsinn Entsprungenen zu lesen. Beethoven hat in der Tat ‚tolle‘, wilde Musik komponiert und dabei nicht nur nicht gefürchtet, Häuser einstürzen zu lassen, sondern selbiges intendiert – durch motivische (im ersten Satz) und strukturelle Verankerung (dritter Satz gegenüber dem vierten Satz) endet ein Kampf im Sieg. Dieser lustvolle Hang zum ‚Tollen‘ und zum Gewaltigen, zum, nach Nietzsche, DionysischUngezähmten und Triebhaft-Unbewussten (wie zum Beispiel im letzten Satz der Siebten, 1813, oder im dritten Satz der Neunten Symphonie), legt eine Verbindung zu Kleists Erzählung Die heilige Cäcilie nahe, welche Die Gewalt der Musik im Titel trägt. Während Beethovens Musik Gewalt als Erhabenes hörbar macht, wird in der Kunstlegende ‚nur‘ davon erzählt bzw. darauf verwiesen, indem, im Widerspruch zur Patronin der Kirchenmusik, die mittelalterliche Messe und insbesondere das Gloria in excelsis so stark wirkt, „als ob die ganze Bevölkerung der Kirche tot sei“ (SW III, 293), und die Protagonisten der Erzählung durch „das ganze Schrecken 33 Vgl. Peter Höyng, „Ambiguities of Violence in Beethoven’s Ninth through the Eyes of Stanley Kubrick’s A Clockwork Orange“, in: The German Quarterly 84.2 (2011), 159–176. 34 Vgl. Mark Evan Bonds, Music as Thought: Listening to the Symphony in the Age of Beethoven, Princeton 2006. 35 Wolfgang Herwig (Hg.), Goethes Gespräche: Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang, 5 Bde., Zürich und Stuttgart 1965–1987, Bd. 3.2, Zürich 1972, 626. Brought to you by | Cambridge University Library Authenticated Download Date | 1/7/17 3:55 PM 298 Peter Höyng der Tonkunst“ (SW III, 311) wahnsinnig werden.³⁶ Mit explizitem Hinweis auf die Musik des 16. Jahrhunderts und somit auch auf Palestrina erzählt Kleist von der gewalthaften Wirkung der Kirchenmusik, die ihrerseits auf die asketische Läuterung der Brüder deutet. Doch benennt der Erzähler nicht nur kurz die heftige Wirkung der Musik, demnach auf ihren Vollzug verweisend, sondern er erwähnt auch, dass bereits der Anblick der Partitur, also die durch Schriftzeichen imaginierte Vorstellung von ihr, eine magische Kraft entlädt und sowohl Befreiung wie auch Wahnsinn zu bewirken imstande ist.³⁷ Das musikalisch Erhabene wird als Gewalt benannt, auch wenn es „eigenartig unbestimmt bleibt“.³⁸ Doch jenseits dieser gemeinsamen Position der Mehrdeutigkeit erhabener Gewalt, hörbar dargestellt die eine und in ihrer Wirkung die andere, lassen sich insbesondere auch an den späteren Werken Beethovens, wie etwa der bereits erwähnten Siebten oder Neunten Symphonie, aber eben auch der Missa Solemnis (1823), der Hammerklaviersonate (1818) oder den Diabelli-Variationen (1823), auch durch die freigelegte Dialektik der Gewalt Analogien zu Kleists Œuvre ausmachen. Denkt man allein an die gewaltigen Proportionen und Ansprüche der genannten Kompositionen und beispielsweise an die nicht minder gewaltige Syntax in Kleists Erzählungen, gar nicht zu reden von der Sprachwucht der Penthesilea (1808), legt allein schon die Menge an ästhetischen Bezügen zwischen beiden Künstlern eine engere, nicht zufällige geistige Verwandtschaft nahe, die von der bisherigen Forschung nicht wahrgenommen wurde. Dabei dürfte die dialektische Vermittlung von Gewalt den wichtigsten Aspekt einer auf Analogien angelegten Beziehung zwischen Kleist und Beethoven ausmachen, denn ihren Werken gemeinsam ist, dass Gewalt nicht einfach verherrlicht, sondern aus einem Begründungszusammenhang abgeleitet oder aber stets aus einem Gegensatz heraus entwickelt wird, bei dem selbst noch der Abwesenheit von Gewalt und ihrer Negation eine wichtige Rolle zukommt. Man denke bei Beethoven beispielsweise an das Ende des Gloria in der großen Messe, in dem der Chor schließlich die Worte nur noch hinausschleudert – und damit eine sinnliche Vorstellung von dem vermittelt, worauf Kleist in seiner Cäcilien-Novelle verweist – bevor die emphatischen Pace-Bitten im Agnus Dei, unterbrochen von krie- 36 Lubkoll erwähnt zu Recht, dass die „Wiedergabe der Messe“ instrumentale Elemente enthalte und damit der „metaphorische[n] Gleichstellung von Kirchenmusik und Symphonie“ seitens der Frühromantiker entspreche (Lubkoll, Die heilige Musik oder die Gewalt der Zeichen, 354). 37 „Am provokativen Beispiel des musikalischen Wahnsinns macht Kleist die Probe aufs Exempel der ‚absoluten‘ Musik“ (ebd., 355). 38 Bernhard Greiner, „‚Das Ganze Schrecken der Tonkunst‘. Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik: Kleists erzählender Entwurf des Erhabenen“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 115 (1996), 501–521, hier 507. Brought to you by | Cambridge University Library Authenticated Download Date | 1/7/17 3:55 PM Kleist und Beethoven als ‚Generation Napoleon‘ 299 gerischen Fanfaren und Trommeln, der Gewalt durch den Wunsch nach Frieden Einhalt gebieten. Beethoven zielt oft darauf ab, lyrisch-melodische Phasen von aggressiv-eruptiven abzusetzen, die in einem dialektischen Prozess weniger vermittelnd dargestellt als von den HörerInnen geleistet werden müssen. Denn erst im Prozess des Hörens wird die Ganzheit der Einzelteile erkannt. Selbst in einem so frühen Werk wie der Cis-Moll Klaviersonate, op. 27 Nr. 2, der sogenannten Mondschein-Sonate (1801), in der das Presto agitato der wellend-besänftigenden und introspektiven Mollmelodie des ersten Satzes davongaloppiert, wird der rabiate Gegensatz kaum durch den kurzen zweiten Satz gebändigt. Bekanntlich sind in Kleists Dramen und Erzählungen diese abrupten Gemütswechsel und dramatischen Wendungen ebenso ein Charakteristikum wie seine syntaktische Polyphonie. Man denke paradigmatisch nur daran, wie die physische Gewalt in Das Erdbeben in Chili eine soziale, politische Revolte im Großen wie im Kleinen in Gang setzt; die individuellen Umbrüche und plötzlichen Wendungen der Erzählung entsprechen den politisch-sozialen Veränderungen, die sich wiederum in den Gewalteruptionen der Natur spiegeln. Kleists Erzähler vermittelt diese Entsprechungen nicht nur, sondern verweigert deren Auflösung und überantwortet sie den LeserInnen. Bernhard Greiner benennt diese Verweigerung einer vermittelnden Auflösung zugunsten der Verlagerung hermeneutischer Sinnerschließung seitens der LeserInnen, wenn er schreibt, dass Kleists Texte „heraus[stellen], dass es gegenüber den Widersprüchlichkeiten, von denen sie handeln, keine Metasprache gibt, vielmehr die ästhetische Ordnung, die diese paradoxe Welt entwirft, Teil eben dieser Welt ist, mithin die ‚Gebrechlichkeit‘ selbst betreibt, von deren Katastrophen sie berichtet“.³⁹ Beethovens Diabelli-Variationen, op. 120, seine letzte große Klavierkomposition, stellen mit ähnlicher ästhetisch-philosophischer Begründung Banales und Erhabenes, Introvertiertes und Extrovertiertes, zitatenverliebte Anspielungen und originelle Neuschöpfungen schroff gegenüber, während die kommende Romantik und das zurückliegende Barock reflektiert ins Werk eingehen. Das banale Walzerthema wird mit Lust zertrümmert, um es in immer neuen Konfigurationen umzugestalten. Den HörerInnen wird ein permanent-aktives Zuhören unter größter Aufmerksamkeit abverlangt, in dessen Verlauf das generierende Thema zugunsten einer Formgeschlossenheit zu fungieren hat, aber eben diese seine Funktion gleichzeitig gesprengt wird. 39 Bernhard Greiner, „‚Die Möglichkeit einer dramatischen Motivirung denken können‘. Kleists Paradoxe und Versuche ihrer Motivierung, mit einem Exkurs zur Familie Schroffenstein“, in: Ortrud Gutjahr (Hg.), Heinrich von Kleist, Würzburg 2008, 39–66, hier 57. Brought to you by | Cambridge University Library Authenticated Download Date | 1/7/17 3:55 PM 300 Peter Höyng So wie Picht an Beethovens Hammerklaviersonate bzw. deren zweitem Satz in Bezug auf Tonalität, Thematik und Formtypus „die Signaturen von Negation und Gewalt“ nachweist, ja die Sonate als Kompendium verschiedener Manifestationen der ‚Arbeit des Negativen‘ freilegt, indem er die Fülle an „Gegenwelt, Unterbrechen, Dementi, Rückgängigmachen, Zersetzen, Dunkelheit, Untergrund, Unendlichkeit, Unbewußte[m], Melancholie“ anhand analytischer Details dingfest macht, so wäre an weiteren Kompositionen nachzuweisen, wie beide Künstler als Reaktion auf die politischen Umwälzungen ihrer Zeit eine Ästhetik der erhabenen Gewalt entwickeln, die dem Publikum einen dialektischen Aneignungsprozess zumutet: ein Verstehen, das die aufeinanderprallenden Gegensätze bezwingen will, dabei aber Widersprüche offenhält und transzendentale Erkenntnismöglichkeiten mittels ästhetischer Mittel erprobt.⁴⁰ Die Generation Napoleon, eine Generation der Vergewaltigten, zwang der Gewalt ihre ästhetische Vermittlung und Vermittelbarkeit ab, nur um dadurch dem modernen Subjekt die Abgründe seines Selbst erfahrbar zu machen. 40 Picht, Beethoven und die Krise des Subjekts, 5. 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