Das Buch leistet eine umfassende Darstellung des Verhältnisses von Moderne, Modernismus und Postmoderne auf soziologischer, philosophischer und literarischer Ebene sowie eine Abgrenzung der Begriffe Neuzeit, Moderne, Modernismus, Postmoderne, Posthistoire und nachindustrielle Gesellschaft. Der Autor versucht, sowohl der Ideologisierung als auch der Indifferenz zu entgehen, indem er im letzten Kapitel eine dialogische ­Theorie vorschlägt, die zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen, zwischen Indifferenz und ideologischem Engagement vermittelt. „Der Verfasser bietet hier eine eigenständige und, was aus einer didaktischen Perspektive betont werden soll, verständige und verständliche Darstellung des ausufernden Diskurses über die kontroversen Bestimmungen und Besetzungen moderner und nachmoderner Denkprozesse.“ Moderne / Postmoderne 4. A. Philosophie | Soziologie Referatedienst zur Literaturwissenschaft ISBN 978-3-8252-4690-7 ,!7ID8C5-cegjah! QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel utb-shop.de Zima Dies ist ein utb-Band aus dem A. Francke Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. Peter V. Zima Moderne / Postmoderne 4. Auflage I. Moderne - Modernismus - Postmoderne: Versuch einer Begriffsbestimmung Toute Pensée émet un Coup de Dés Stéphane Mallarmé Sollten die Skeptiker recht behalten, dann befaßt sich dieses Buch mit einem nichtvorhandenen Objekt, einem proton pseudos, das zu kommentieren sich nicht lohnt. In regelmäßigen Abständen werden nämlich Stimmen laut, die die »Postmoderne« als leere Worthülse auf den wachsenden Haufen menschlicher Irrtümer werfen oder ins Reich der Schimären verbannen. Der Einwand, die Postmoderne könne keine Schimäre sein, weil sich unzählige Autoren mit ihr befassen, denen ebenfalls ihr Gegenstand abhanden käme, überzeugt nicht, da ja bekannt ist, daß Menschen sich mit Vorliebe nebulösen Begriffen wie Vorsehung, Schicksal, Weltgeist oder phlogiston zuwenden. Plausibler scheint die Überlegung zu sein, daß der Begriff Postmoderne keinen nachweisbaren Gegenstand bezeichnet, sondern, wie Brian McHale richtig erkannt hat1, eine Konstruktion ist; eine Konstruktion, könnte man hinzufügen, die für den Zustand der zeitgenössischen europäischen und nordamerikanischen Gesellschaft symptomatisch zu sein scheint. Sie ist insofern symptomatisch, als nicht nur Vertreter der Postmoderne wie Gianni Vattimo, Zygmunt Bauman und Wolfgang Welsch in der sozialen Entwicklung Symptome einer Zeitenwende zu erkennen meinen, sondern auch Soziologen wie Alain Touraine, Anthony Giddens und Ulrich Beck, die den Postmoderne-Begriff aus verschiedenen Gründen ablehnen. Auch ein Marxist wie Fredric Jameson, der nachmoderne Tendenzen radikal kritisiert, glaubt, daß sich in der amerikanischen und westeuropäischen Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg ein globaler Wandel abzeichnet, der die Bezeichnung »Postmoderne« rechtfertigt: »The point is that we are within the culture of postmodernism to the point where its facile repu1 B. McHale, Constructing Postmodernism, London-New York, Routledge, 1992. McHale versucht, die Postmoderne auf polyphone Art, d.h. im Rahmen verschiedener »Geschichten« zu (re-)konstruieren: Kap. 1: »Telling postmodernist stories«. 19 diation is as impossible as any equally facile celebration of it is complacent and corrupt.«2 Diese Einschätzung wird von den französischen Soziologen Michel Maffesoli und Brice Perrier geteilt.3 Es kommt hinzu, daß sowohl konservative als auch gesellschaftskritische Soziologen parallel zu den Denkern der Postmoderne einen Strukturwandel unserer Gesellschaft diagnostizieren, wenn sie von der postindustrial society (Bell) oder der société postindustrielle (Touraine) sprechen. Wenn in einem anderen Kontext Ulrich Beck der alten »Industrie- oder Klassengesellschaft«4 die neue Risikogesellschaft gegenüberstellt, Alain Touraine und Zygmunt Bauman sich – nach Adorno und Horkheimer – von der aufklärerischen und rationalistischen Moderne global distanzieren und zahlreiche Kunstwissenschaftler in der neuesten Kunst und Literatur antimoderne oder postmoderne Trends zu erkennen meinen, dann drängt sich die Frage auf, ob das Wort Postmoderne nicht reale Veränderungen im Denken und Handeln der Menschen bezeichnet: in Philosophie, Kunst, Architektur und Politik. Selbst wenn man von der Annahme ausgeht, daß diese Frage zu bejahen ist, wird man großen Wert darauf legen, das begriffliche Chaos zu entwirren, das die – mitunter sehr fruchtbare – Auseinandersetzung zwischen heterogenen theoretischen Positionen gestiftet hat. Dabei soll nicht versucht werden, endlich Ordnung zu schaffen und der Auseinandersetzung ein Ende zu bereiten (ein sinnloses, weil unmögliches Unterfangen), sondern im Gegenteil, die Diskussion durch Klärung bestimmter Fragen und Termini übersichtlicher und für bisher Unbeteiligte attraktiver zu gestalten. Denn es ist sicherlich frustrierend, wenn man beispielsweise bei John O’Neill liest, daß »von Definitionen der Postmoderne nicht viel zu erwarten ist« (»nothing much is to be gained from definitions of 2 3 4 20 F. Jameson, Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism, DurhamNorth Carolina, Duke Univ. Press, 1991, S. 62. Siehe auch: H. Bertens, The Idea of the Postmodern, London-New York, Routledge, 1995, S. 10 : »One can indeed speak of the postmodern world, or at least argue that the world as such has become postmodern, that is, entered a new historical era, that of postmodernity.« Vgl. M. Maffesoli, B. Perrier (Hrsg.), L’Homme postmoderne, Paris, F. Bourin, 2012. U. Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt, Suhrkamp, 1986, S. 25-26. postmodernism«)5, wenn ein Marxist wie Alex Callinicos von »the intellectual inadequacy of postmodernism«6 spricht und der kroatische Autor Mladen Kozomara die Postmoderne nur als »Pseudobegriff« (»pseudo-pojam«) und »trügerische Perspektive« (»varljiva perspektiva«)7 gelten läßt. Solche Diagnosen sind umso verwirrender, als andere Theoretiker wie Zygmunt Bauman, Scott Lash oder Wolfgang Welsch von der Existenz einer postmodernen Gesellschaft ausgehen und Heinrich Klotz resümierend feststellt: »So sehr der Begriff der Postmoderne zu falschen Vorstellungen geführt hat, so wenig können wir ihn heute noch durch einen besseren ersetzen.«8 Jedenfalls ist, wenn eine konkrete Begriffsbestimmung der Postmoderne versucht werden soll, Frank Fechner recht zu geben, der fordert: »Es ist also notwendig, auch den Begriff von Moderne, der der jeweiligen Rede von Postmoderne zugrundeliegt, aufzuhellen.«9 Dieser Gedanke liegt den folgenden Kapiteln zugrunde, in denen die Postmoderne sowohl komplementär als auch kontrastiv zur Moderne betrachtet wird. 1. Probleme der Konstruktion: Moderne und Postmoderne als Epochen, Ideologien, Stile und Problematiken Man muß nicht Anhänger des Radikalen Konstruktivismus sein, um zu erkennen, daß wir Wirklichkeit nur als konstruierte wahrnehmen: Wo der Ökologe ein wertvolles Biotop sieht, sieht der Bauer lediglich unbrauchbares Land oder gar ein Hindernis auf dem Weg zur optimalen landwirtschaftlichen Nutzung; wo der Marxist-Leninist Ausbeuter und Klassenkämpfe wahrnimmt, spricht der Liberale zuversichtlich von sozialer Marktwirtschaft; wo sich der Liebhaber der Klassik 5 6 7 8 9 J. O’Neill, The Poverty of Postmodernism, London-New York, Routledge, 1995, S. 13. A. Callinicos, Against Postmodernism. A Marxist Critique, Cambridge, Polity, 1989, S. 6. M. Kozomara, »Kriza opštih mesta: Moderna i Postmoderna«, in: Postmoderna. Nova epoha ili zabluda, Zagreb, Biblioteka Naprijed, 1988, S. 71. H. Klotz, »Moderne und Postmoderne«, in: W. Welsch (Hrsg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim, VCH-Verlag, 1988, S. 102. F. Fechner, Politik und Postmoderne. Postmodernisierung als Demokratisierung?, Wien, Passagen, 1990, S. 20. 21 schaudernd vom Chaos abwendet, lobt der Modernist oder Postmodernist innovative oder zeitgemäße Kunst. Die Postmoderne als »Ding an sich« gibt es nicht, sondern nur konkurrierende Konstruktionen, von denen man hofft, daß sie sich irgendwann vergleichen lassen. Zu Recht weist Brian McHale auf den »diskursiven und konstruierten Charakter der Postmoderne«10 hin und vergleicht sie mit anderen theoretischen (und stets auch ideologischen) Konstrukten wie »die Renaissance«, »die amerikanische Literatur« oder »Shakespeare«. Denn auch der scheinbar neutrale Gegenstand »Shakespeare« wird von einem Mitglied des George-Kreises wie Friedrich Gundolf anders konstruiert als von dem marxistischen Anglisten Robert Weimann. Dies gilt ebenso für die Begriffe »Moderne« und »Postmoderne«, deren Beschaffenheit nicht nur von Zufällen und individuell bedingter theoretischer Spekulation abhängt, sondern auch von einem parti pris für ideologische Positionen, die bei einem konservativen Befürworter der Postmoderne wie Peter Koslowski ganz anders geartet sind als bei den Marxisten Callinicos und Jameson oder beim Autor dieses Buches, der auch in den folgenden Ausführungen hofft, eine semiotisch und soziologisch revidierte Kritische Theorie als dialogischen Entwurf im Sinne von Bachtin weiterzuentwickeln.11 Es gibt hier nichts zu »entlarven«, denn es ist in jeder Hinsicht legitim, von einer konservativen, liberalen, marxistischen, feministischen oder kritisch-theoretischen Position auszugehen, um ein Objekt wie Postmoderne zu konstruieren. Gefordert wird jedoch, daß der Diskurs des Theoretikers die empirische Überprüfung und den kritischen Dialog nicht durch monologische (Identifikation mit dem Objekt, »Besitz der Wahrheit«), manichäische (hier richtig, dort falsch) und die Selbstreflexion behindernde Verfahren abblockt.12 Allerdings fällt immer wieder auf, daß konservative (Koslowski) und marxistische (Callinicos), vor allem aber nationalsozialistische und stalinistische Diskurse zu Monolog, Manichäismus (Dualismus) und Unreflektiertheit tendieren und schon dadurch ihre Objektkonstruktionen auf theoretischer Ebene entwerten. Als Produktionsstätten von Theo10 11 12 22 B. McHale, Constructing Postmodernism, op. cit., S. 1. Vgl. z.B.Vf., Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen, Francke, 1989. Vgl. Kap. VI in diesem Buch. rien sind Ideologien also keineswegs gleichwertig oder gleich »wahr«, wie es verschiedene Varianten des Relativismus suggerieren. Auf keinen Fall kann aber eine Theorie durch Hinweise auf ihren konservativen oder marxistischen Ursprung widerlegt werden: Das zeigen die subtilen Ausführungen eines F. H. Tenbruck, die im zweiten Kapitel kommentiert werden. Es ist naheliegend, daß »Moderne« und »Postmoderne« zunächst chronologisch als Perioden oder Epochen konstruiert werden. Denn schon das Präfix »post-« deutet an, daß von einer Zeit die Rede ist, die der Moderne folgt und trotz aller Affinitäten von dieser abweicht. So sieht es beispielsweise Manfred Hennen, wenn er meint, im Falle der Moderne sei »zwischen einem historischen Periodisierungsbegriff und einer umfassenden Sozialdiagnose zu unterscheiden«.13 Im zweiten Kapitel wird sich allerdings zeigen, daß die Sozialdiagnosen immer schon eine Periodisierung als historische Klassifikation voraussetzen, und es liegt auf der Hand, daß eine solche Klassifikation nicht nur nach logischen und semiotischen, sondern auch nach ideologischen Kriterien konstituiert wird (vgl. Kap. II). Von den vertrackten Beziehungen zwischen Periodenbegriffen wie Neuzeit, Moderne, Modernismus und Postmoderne wird im nächsten Abschnitt ausführlicher die Rede sein. Zunächst erscheint es wichtig, den Unterschied zwischen Epoche (Periode) und Ideologie näher zu betrachten, weil in den Auseinandersetzungen um Moderne und Postmoderne häufig unklar bleibt, ob es sich um Zeitabschnitte oder Großideologien als Wertsysteme handelt. Wenn beispielsweise Jürgen Habermas in seinem vieldiskutierten Aufsatz »Die Moderne – ein unvollendetes Projekt« (1980) die Moderne weitgehend mit dem Erbe der Aufklärung identifiziert und dabei die gegenaufklärerischen Tendenzen (etwa der Romantik) ausblendet, so verwendet er den Moderne-Begriff metonymisch, indem er eine jahrhundertelange Epoche auf einen ihrer ideellen Inhalte reduziert. (Vgl. Kap. III. 5.)14 13 14 M. Hennen, »Zur Betriebsfähigkeit postmoderner Sozialentwürfe«, in: G. Eifler, O. Saame (Hrsg.), Postmoderne. Anbruch einer neuen Epoche? Eine interdisziplinäre Erörterung, Wien, Passagen, 1990, S. 56. J. Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze 1977-1990, Leipzig, Reclam, 1990, S. 42. 23