Dietmar Larcher Der politische Gebrauch von Kultur Ein Referat in Thesenform (1) Der Kulturbegriff verdankt seine Entstehung, seine Entwicklung und Konjunktur der Politik. Seit 2000 Jahren dient er dazu, Macht zu erobern, auszuweiten oder zu festigen. Der römische Senator Cicero war der erste, der ihn erfand und gleich auch zur Eroberung der Macht benützen wollte, Samuel P. Huntington ist die gegenwärtige Antwort auf Cicero. Er liefert den Machthabern im Weißen Haus in Washington die Theorien, die sie brauchen, um ihren Kampf um Öl als Kulturkampf zu legitimieren. (2) Wenn man die europäische Geschichte darauf hin untersucht, welche Rolle Kultur gespielt hat, wird man rasch entdecken, dass sie zu allen Zeiten eine Hauptrolle spielte – auch wenn der Begriff „Kultur“ dabei kaum benutzt wurde. Man sagte „Religion“, man sagte „Vernunft“, man sagt „freier Markt“. Aber all diese Bezeichnungen lassen sich ohne weiteres unter dem Begriff Kultur zusammenfassen. Denn Kultur ist das zentrale Orientierungssystem der Gesellschaft und der Individuen. (3) Der Begriff „Kultur“ spielt als politischer Kampfbegriff im Diskurs der Macht seit 200 Jahren eine große Rolle. Früher benützte man dafür andere Begriffe. Ciceros Erfindung lag mehr als 1.500 Jahre brach. (4) Ich habe versucht, die politische Benützung des Kulturbegriffs zur Gewinnung von Macht, zur Legitimierung von Macht und zur Ausweitung von Macht in ein Schema zu zwingen – ein Schema, das die Geschichte Europas in drei große Epochen einteilt: Vormoderne, Moderne und Postmoderne. Unter Vormoderne verstehe ich das Mittelalter und die Zeit bis zur Französischen Revolution. Unter Moderne verstehe ich die Zeit von der Französischen Revolution bis zur jüngsten Vergangenheit, also bis zum Zerfall des kommunistischen Imperiums. Unter Postmoderne verstehe ich die neue Weltordnung, die letztlich nicht von UNO oder UNESCO, sondern vom Weltwährungsfonds, von der World Trade Association und von der Weltbank bestimmt wird. (5) Allen drei großen Epochen ist gemeinsam, dass sie Strategien erfanden, die Kultur dazu benutzten, um Menschen zu benutzen. Wozu? (a) um ihre Machtansprüche zu rechtfertigen (b) um sie für ihr politisches System zu gewinnen (c) um sie auszubeuten – ihre Arbeitskraft, ihr Geld, ihr Leben D. Larcher, Der politische Gebrauch von Kultur Allen drei Epochen ist aber auch gemeinsam, dass sie einen Kulturbegriff benutzten, der den Menschen etwas gab, das sie dringend brauchten: (a) die Heilung eines Traumas – des Traumas, das alle wegen der neuen Machthaber und ihrer neuen Ordnung der Gesellschaft erlitten hatten (b) eine Identität (c) die Sicherheit, das Wahre, Gute und Schöne zu kennen und zu tun (d) eine positive Vision für die eigene Zukunft (6) Was unterschiedet diese drei Epochen? Der größte Unterschied ist die große und übermächtige Gottheit, die Macht an ganz bestimmte Menschen zuweist. In der Vormoderne ist das der Gott der Religionen, in der Moderne sind es der Staat mit seinen Einrichtungen und die Nation als politische Gestalt der Kultur, in der Postmoderne ist es der „freie“ Markt. (7) Welchen Kulturbegriff haben Politiker, die mithilfe von Kultur Macht ausüben wollen? (a) Kultur ist unhistorisch. Sie ist etwas, das sich nicht ändert, so wie die Berge der Heimat… (b) Kultur ist eine Art von Container: Ein Behälter, der keine Kontaktmöglichkeiten zur Außenwelt bietet. (c) Kultur kommt von oben und sickert nach unten. Hochkultur ist das einzige, was den Namen „Kultur“ verdient. (d) Jedes „echte“ Mitglied der Nation hat Teil an diesem großartigen Schatz namens Kultur. Sie spendet ihm Identität: Religiöse oder nationale oder marktgerechte Identität: mit einem Wort: kulturelle Identität. (e) Kultur ist ein gemeinsamer Besitz, den man verteidigen muss, denn sie ist ständig bedroht: im Mittelalter von den Heiden, man muss Kreuzzüge machen, in der Moderne von konkurrierenden Nationen, man muss Kriege führen, in der Postmoderne von Terroristen, man muss Kriege führen… Es zahlt sich aus, für die eigene Kultur zu sterben. Und es ist gerechtfertigt, Angehörige anderer Kulturen im Namen der eigenen zu töten. (8) In jeder der drei Epochen entspricht die Kultur der Gesellschaftsordnung bzw. entspricht die Gesellschaftsordnung der Kultur. Die hierarchische Himmelsordnung hat ihre Entsprechung im Feudalismus. Die strenge Verstandesordnung mit ihrer kritischen Vernunft hat ihre Entsprechung im Parlamentarismus. Die Regeln des freien Marktes beherrschen die neue Gesellschaftsordnung: Staaten sind Wirtschaftsstandorte, die den Unternehmern optimale Konditionen bieten müssen, aber nicht länger Organisationen, deren Sinn in der berühmten Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten festgeschrieben sind: „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness. That to secure these 2 D. Larcher, Der politische Gebrauch von Kultur 3 rights, Governments are instituted among Men, deriving their just Powers from the consent of the governed, -- That whenever any Form of Government becomes destructive of these ends, it is the Right of the People to alter or to abolish it, and to institute new Government, laying its foundation on such principles and organizing its powers in such form, as to them shall seem most likely to effect their Safety and Happiness.” (9) Entsprechend unterscheiden sich auch die Identitätskonzepte für die Individuen, die von diesen Megakulturen angeboten werden: In der Vormoderne ist man Kind Gottes. In der Moderne ist man Angehöriger eines Nationalstaates, also Franzose, Engländer, Italiener, Tscheche, je nachdem. In der Postmoderne ist man Mercedes- oder VW-Besitzer, Träger von Versaceanzügen oder von H&M-Textilien, Besucher von Jazzfestivals oder Musikantenstadel-Fan. Oder irgend etwas anderes, das man kaufen kann. Denn die großen Marken produzieren und verkaufen Identität, nicht Waren. (10) Aber in jeder dieser drei Epochen insistiert die Politik der Mächtigen auf ein Prinzip. Lerne dich unterwerfen! Das ist es, was jeder lernen muss, der das gute Leben sucht. Unterwirf dich der Allmacht Gottes, vor allem aber unterwirf dich seinen Stellvertretern, dem Papst und dem Kaiser! Unterwirf dich den strengen Gesetzen der Vernunft, die sich in den strengen Gesetzen des Staates und den strengen Regeln der Kultur widerspiegeln. Unterwirf dich den Gesetzen des „freien Marktes“, versteh dich selbst als eine Aktie, die diesen Gesetzen gemäß ihren Wert steigern soll. (11) Und die Politik, welche Kultur zur Machtsicherung gebraucht, hat immer auch große Versprechungen bereit, mit denen sie die Guten belohnt. Alle versprechen das Paradies. In der Vormoderne verlegen sie das Paradies zur Vorsicht ins Jenseits. In der Moderne versprechen sie das Paradies im Diesseits, allerdings später, in irgend einer nebulosen Zukunft. Nur in der Postmoderne heißt das Versprechen „Paradise now!“, und man schickt die Leute in virtuelle Paradiese, nach Las Vegas, in das Disneyland, oder, für die weniger Reichen, in das McDonald’s nebenan.