Dietmar Hübner Einführung in die philosophische Ethik Vandenhoeck & Ruprecht 20 1. Ethik und Moral Diese gelegentliche Nähe von ›ethisch‹ und ›moralisch‹, etwa in ihrer Anwendung auf das Substantiv ›Gründe‹, wurzelt darin, dass Ethiken zuweilen bestimmte Moralen unterstützen oder sogar hervorbringen: Ethische Argumente können einzelne moralische Einstellungen bekräftigen, ethische Theorien können ganze moralische Systeme generieren. Wenn daher etwas ›ethisch gerechtfertigt‹ genannt wird, so wird es sicherlich auch als ›moralisch richtig‹ angesehen. Eine leichte Bedeutungsnuance bleibt aber selbst in diesem Fall bestehen: Während Moral das bloße Vorliegen bestimmter Überzeugungen bezeichnet, meint Ethik die wissenschaftliche Fundierung dieser Überzeugungen. In diesem Sinne geht ›ethisch gerechtfertigt‹ mit einem höheren Anspruch auf kritische Prüfung einher als ›moralisch richtig‹. (3) Die bisherigen Begriffsbestimmungen geben die vorrangigen Verwendungsweisen von ›Moral‹ und ›Ethik‹ im deutschen Sprachgebrauch wieder. Vorsicht ist angezeigt bei verwandten Wörtern, die sich in anderen Sprachen finden, oder auch angesichts von besonderen Bedeutungstraditionen, die sich im Deutschen herausgebildet haben. Im Englischen etwa benennt ethics zum einen die akademische Disziplin (wie ›Ethik‹ im Deutschen). Zum anderen aber kann ethics auch ein bestimmtes Normensystem bezeichnen, weitgehend synonym zu den englischen Alternativen morality oder morals (bzw. zum deutschen ›Moral‹). Das Adjektiv ethical zeigt entsprechend manchmal die Ebene der wissenschaftlichen Reflexion, manchmal aber auch die Ebene der unmittelbaren Stellungnahme an (im letzteren Fall gleichbedeutend zum Adjektiv moral). Folglich ist es im Englischen durchaus korrekt, von ethical behaviour oder unethical behaviour zu sprechen (was wesentlich sinngleich zu moral behaviour bzw. immoral behaviour ist). In das Deutsche und in andere Sprachen ist zudem das griechische ēthos bzw. ethos auch unmittelbar eingewandert, eben in Gestalt des Wortes ›Ethos‹. Darunter versteht man in der Regel eine spezielle Art von Moral, deren Gehalte und Vorschriften besonders prägend für die Identitätsbildung und das Selbstverständnis sind. Ein ›Ethos‹ ist eine oftmals über lange Zeiträume gewachsene und tradierte Moral, die ihre Geltung auf bestimmte Personen oder festumrissene Gruppen erstreckt und deren Lebensformen und Tätigkeiten wesentlich gestaltet oder überhaupt erst definiert. In diesem Sinne spricht man etwa von einem ›Standesethos‹ oder einem ›Berufsethos‹, vom ›Ethos eines Arztes‹ oder vom ›Ethos der Wissenschaft‹. In der Tradition der Diskursethik, wie sie von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas begründet wurde, findet sich eine spezielle Verwendungsweise namentlich der Adjektive ›ethisch‹ und ›moralisch‹, die gelegentlich für Verwirrung sorgt. Insbesondere hat es auf den ersten Blick den Anschein, als hätten die beiden Begriffe in dieser Tradition gegenüber dem oben erläuterten Wortgebrauch eine geradewegs vertauschte Bedeutung. So spricht Habermas zum einen von ›ethischen Überzeugungen‹ im Sinne von Einstellungen bezüglich eines guten Lebens. Dies sind private, existenziell bedeutsame Werthaltungen, die der gelungenen Orientierung des eigenen Daseins dienen. Er spricht zum anderen von ›moralischen Normen‹ im Sinne 1.4 Einteilung der Ethik 21 von Regelungen für eine gerechte Gemeinschaft. Dies sind öffentliche, universell verbindliche Ordnungsformen, welche den unparteilichen Ausgleich von widerstreitenden Interessen anzielen [Habermas 1991, 36–40, 100–118]. In der hier verwendeten Terminologie bilden Habermas’ ›ethische Überzeugungen‹ also einen Teilbereich der moralischen Stellungnahmen, nämlich jenen Ausschnitt, der sich mit der Entscheidung für die persönliche Lebensführung befasst. Demgegenüber machen Habermas’ ›moralische Normen‹ einen anderen Sektor der moralischen Festlegungen in obiger Wortbedeutung aus, nämlich jene Normbereiche, die sich mit der Regulierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens beschäftigen. In einem gewissen Sinne steht damit bei Habermas ›Moral‹ höher als ›Ethik‹: Das ›Moralische‹ kennzeichnet die vorrangigen, universellen und unparteilichen Normen der gerechten Interessenabwägung, das ›Ethische‹ die nachrangigen, individuellen oder kollektiven Entwürfe einer guten Lebensführung. Im üblichen Wortgebrauch ist das Stufungsverhältnis umgekehrt, allerdings nicht in einem inhaltlichen, sondern in einem systematischen Sinne: Dort ist Ethik die übergeordnete, wissenschaftliche Reflexionsebene, Moral die untergeordnete, vorwissenschaftliche Gegenstandsebene. Die Habermas’sche Wortverwendung scheint sich dadurch zu erklären, dass sein Adjektiv ›ethisch‹ eher von ›Ethos‹ als von ›Ethik‹ abgeleitet sein könnte: Immerhin bezeichnet ein ›Ethos‹ im üblichen Verständnis gerade eine solche Moral, die wesentlich für die individuelle oder kollektive Lebensgestaltung und Identitätsbildung ist (also genau die ›ethischen‹ Werteinstellungen in Habermas’ Wortsinn). Den Begriff ›Ethik‹ benutzt demgegenüber auch Habermas mitunter in herkömmlicher Weise für jene philosophische Disziplin, die sich allgemein mit der Beschaffenheit und Gültigkeit von Wertungen befasst (also sowohl von ›ethischen‹ Überzeugungen als auch von ›moralischen‹ Normen in seinem Wortsinn). Dennoch bleibt das Verhältnis zwischen dem Habermas’schen Vokabular und der üblichen Terminologie spannungsreich: Habermas verwendet den Terminus ›Ethik‹ zuweilen auch, um speziell den Bereich seiner ›ethischen Überzeugungen‹ zu benennen (statt dass er hier bevorzugt von ›Ethos‹ sprechen würde). Entsprechend hält er die Bezeichnung seiner eigenen Theorie als ›Diskursethik‹ für streng genommen unpassend, eben weil ›ethische Diskurse‹ allein die gute Lebensführung betreffen, und würde die Wendung ›Diskurstheorie der Moral‹ grundsätzlich vorziehen, weil erst ›moralische Diskurse‹ sich mit verbindlichen Handlungsnormen befassen (und dieses Thema ihn vorrangig interessiert) [Habermas 1991, 7]. 1.4 Einteilung der Ethik Ethik, definiert als Wissenschaft von der Moral, kann im Wesentlichen drei verschiedene Zugänge zu ihrem Gegenstand wählen. Entsprechend lässt sich Ethik in drei Ebenen einteilen, denen sich dieses Buch im weiteren Verlauf in unterschiedlicher Ausführlichkeit widmet. 22 1. Ethik und Moral Die deskriptive Ethik befasst sich mit der Frage, welche Moralen es überhaupt gibt: Sie klärt, welchen Moralen sich Individuen, etwa im Laufe ihrer Entwicklung oder je nach ihrer Herkunft und Erziehung, bevorzugt zuwenden. Sie untersucht, welche moralischen Auffassungen in bestimmten Gesellschaften, etwa in verschiedenen Kulturkreisen oder in sozialen Kleingruppen, vertreten werden. Somit wählt sie, wie der Name bereits sagt, eine beschreibende Perspektive. Sofern sie einen hinreichenden Anteil an Beobachtungen oder Experimenten enthält, wird sie auch als ›empirische Ethik‹ bezeichnet. Das folgende Kapitel 2 dieses Buchs stellt beispielhaft einige wichtige Ansätze der deskriptiven Ethik vor. In der normativen Ethik geht es um die Frage, wie sich Moralen begründen lassen: Sie bemüht sich, grundlegende Argumente für oder gegen moralische Regeln und Positionen zu formulieren. Sie versucht, bestehende Moralen zu verteidigen oder zu widerlegen, vorgeschlagene Moralen zu prüfen und die richtige Moral auszuwählen oder sogar ein eigenständiges Moralsystem zu entwerfen. Entsprechend ist sie durch eine legitimatorische Perspektive gegenüber der Moral gekennzeichnet. In überwiegendem Umfang ist es diese normative Ethik, die in der Philosophie unter dem Titel ›Ethik‹ betrieben wird, etwa in den klassischen ethischen Werken von Platon, Aristoteles, Thomas von Aquin, Kant, Bentham, Mill oder Sidgwick. Entsprechend steht sie auch in weiten Teilen dieses Buches, nämlich in den Kapiteln 4 bis 6, im Vordergrund, wenn es um die Ansätze von Tugendethik, Deontologie und Teleologie geht. Die Metaethik schließlich beschäftigt sich mit dem Problem, welchen grundsätzlichen Status moralische Begriffe, Aussagen oder Argumentationen haben: Was ist die Bedeutung des moralischen Begriffs ›gut‹? Lässt er sich über andere Begriffe definieren, oder ist er ein undefinierbarer Grundbegriff? Welche Art von Einsicht vermitteln moralische Aussagen? Können sie einen objektiven Wahrheitsanspruch erheben, oder vermitteln sie nur subjektive Geschmacksurteile? Worauf beziehen sich moralische Argumentationen? Stützen sie sich auf allgemeine Prinzipien, oder gründen sie in konkreten Einzelfallurteilen? Bei all diesen Fragen geht es nicht darum, bestimmte moralische Wertungen zu rechtfertigen oder anzugreifen, sondern allein darum, in sehr grundsätzlicher Perspektive herauszufinden, welche Sprachgestalten, Kenntnisweisen und Objekttypen im moralischen Denken präsent sind. Nicht zuletzt steht hierbei auf dem Spiel, ob ›normative Ethik‹ überhaupt ein sinnvolles Geschäft ist. Falls sich nämlich herausstellen sollte, dass moralische Aussagen ohnehin keinen Wahrheitsanspruch geltend machen können, bräuchte man sich auch nicht damit abzugeben, nach der richtigen Moral zu suchen. Eine solche richtige Moral gäbe es dann gar nicht, und die vielfältigen faktischen Moralen, welche die ›deskriptive Ethik‹ auflistet, wären nichts als letztlich beliebige Setzungen ohne höheren verbindlichen Gehalt. Diesem und anderen metaethischen Problemen widmet sich Kapitel 3 dieses Buches. 1.4 Einteilung der Ethik 23 Drei Ebenen der Ethik – Welche Moralen gibt es? → deskriptive Ethik – Wie lassen sich Moralen begründen? → normative Ethik – Welchen grundsätzlichen Status haben moralische Begriffe, Aussagen, Argumentationen? → Metaethik Fragen und Aufgaben 1. Betrachten Sie den Satz ›Wenn du einen guten Freund hast, solltest du ihm stets die Wahrheit sagen‹. In welchem Sinne ließe sich dieser Satz als moralische Regel interpretieren, in welchem als nichtmoralische? 2. Denken Sie sich Fälle aus, in denen man von einem schweren moralischen Problem, aber nicht von einem schwierigen ethischen Problem sprechen könnte. Finden Sie umgekehrt Beispiele, in denen interessante ethische Probleme, aber keine relevanten moralischen Probleme sichtbar werden. 3. Ein Forscherteam will das Sozialverhalten innerhalb einer religiösen Randgruppe untersuchen und dabei alle drei Ebenen der Ethik berücksichtigen. Wie könnten konkrete Forschungsfragen aussehen, die der deskriptiven Ethik, der normativen Ethik oder aber der Metaethik zugehören? 2. Deskriptive Ethik – Ansätze aus Philosophie, Psychologie und Soziologie Die folgenden Abschnitte geben einen Einblick in das Gebiet der deskriptiven Ethik. Sie erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern wollen lediglich anhand einiger wichtiger Beispiele einen Eindruck vermitteln, welches Spektrum dieser Ethikbereich eröffnet und welche Beiträge hierzu aus unterschiedlichen Disziplinen geleistet worden sind. Deskriptive Ethik scheint auf den ersten Blick nicht vorrangig Sache der Philosophie zu sein. Die Beschreibung faktischer Moralen würde man womöglich eher von anderen Wissenschaften erwarten, mit Blick auf die Moralüberzeugungen von Individuen etwa von der Psychologie oder der Erziehungswissenschaft, mit Blick auf die Moralvorstellungen in Kollektiven vor allem von Soziologie, Politikwissenschaft, Ethnologie, Geschichtswissenschaft, Kulturanthropologie oder Religionswissenschaft. Auch die Philosophie kann sich indessen in die deskriptive Ethik einbringen und eigenen Gewinn daraus ziehen: Philosophischer Sachverstand mag gefragt sein, um die genaueren begrifflichen, propositionalen und argumentativen Zusammenhänge freizulegen, die in beobachteten Moralen am Werk sind. Außerdem stellen manche philosophischen Autoren zunächst deskriptive Betrachtungen zur Beschaffenheit menschlicher Moralauffassungen an, um hieraus normative Überlegungen zu den Eckpunkten eines richtigen Moralsystems zu entwickeln (ein Beispiel gibt Abschnitt 2.1). Ein solcher Übergang von deskriptiver zu normativer Ethik lässt sich auch in anderen Wissenschaften beobachten: Zuweilen stellen diese ebenfalls nicht allein verschiedene Moralen dar, wie sie bei Individuen oder in Kollektiven faktisch vorkommen mögen. Vielmehr nehmen sie überdies mehr oder weniger offen Stellung dazu, wie diese Moralen in ihrem Inhalt oder in ihrer Wirkung zu bewerten sind (hierzu finden sich Beispiele in den Abschnitten 2.2 und 2.3). Der Zusammenhang von deskriptiver und normativer Ethik ist Thema einiger abschließender Bemerkungen (Abschnitt 2.4). Diese leiten in das nachfolgende Kapitel 3 zur Metaethik über. 2.1 Smith: Vom ›aufmerksamen Zuschauer‹ zum ›unparteiischen Zuschauer‹ Adam Smith (1723–1790) ist primär als Ökonom bekannt geworden. Insbesondere sein Werk An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776) gehört zu den ersten Untersuchungen, die sich in wissenschaftlicher Form mit den