Leseprobe Band 3 - Laaber

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Lateinische und landessprachliche Kirchenmusik
Gustav A. Krieg
Historischer Überblick
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Vgl. Gustav A. Krieg, Die gottesdienstliche Musik als theologisches Problem,
dargestellt an der kirchenmusikalischen
Erneuerung nach dem ersten Weltkrieg,
Göttingen 1990 (Veröffentlichungen
der Evangelischen Gesellschaft für
Liturgieforschung 22), bes. S. 144ff.
Vgl. Alfred Stier, Das Heilige in der
Musik, Dresden 1926, S. 18.
Spätestens durch den Ersten Weltkrieg wurde deutlich, dass das Fortleben kirchenmusikalischer Gattungen nicht mehr allgemein selbstverständlich war. Am deutlichsten zeigen sich
die Probleme im deutschen Protestantismus. Denn obwohl er lange in liturgischen Fragen
lutherisch-konservativ geblieben war, waren doch seine liturgischen Traditionen keineswegs
mehr allerorten so intakt, dass sie für Komponisten eine Fortschreibung der Gattungen attraktiv gemacht hätten – es sei denn für den Konzertsaal. Ein »kulturprotestantisches« Bürgertum, an der subjektiven Frömmigkeit des Einzelnen interessiert, ohne Interesse an den
traditionellen Formen der kultischen Gemeinschaft, hatte zudem eine Kunst-Religion in der
Art Wagners gepflegt, d.h. das (Kirchen-)Konzert als Ersatz für einen musikalisch ausgestatteten Gottesdienst verstanden.1 In dem Maße, in dem durch den Krieg der Kulturprotestantismus fraglich wurde, zumal das preußische Kaisertum als Versinnbildlichung der religiöskulturellen Bedeutung des Protestantismus nicht mehr existierte, erfolgte andererseits eine
Rückbesinnung auf das traditionelle Zentrum der Kirche, nämlich den Gottesdienst. So
begannen vor allem im lutherischen Bereich jene Reformen, die eine kirchenmusikalische
Erneuerung heraufführten: Profil gewann der Gottesdienst wiederum in Gestalt der Messe.
Damit war – besonders in der Berneuchener Bewegung – eine Restauration der Gregorianik
verbunden. Die Neuentdeckung der klassischen (lutherischen) Vokalpolyphonie ging alledem zur Seite; denn – so hatten die kirchlichen Vertreter der Singbewegung gelehrt – gerade
diese Musik, als Chormusik noch fern von allem Individualismus des musikalischen Solisten
und als Vokalmusik noch nahe bei den Wurzeln aller Musik, konnte ganz besonders die
liturgische Gemeinschaft fördern.
Der Konservatismus der Entwicklung ist erkennbar, vor allem weil diese Rezeption von
Renaissance und Frühbarock die Bindung dieser Epochen an Harmonie und Dreiklang einschloss (aber nicht unbedingt die Funktionsharmonik), galt doch die ›trias harmonica‹ als
Abbild des göttlichen Seins.2 Für das Selbstverständnis der Repräsentanten dieser Ästhetik
wichtiger ist jedoch, dass man mit diesen liturgisch-kirchenmusikalischen Formen den Protestantismus als eine Kirche wiederzugewinnen hoffte, die in der Liturgie ein »überpersönliches«, »archaisches«, nicht mehr durch die neuzeitliche Subjektivität gebrochenes Zentrum
besaß. Dementsprechend galt: Wenn eine Weiterentwicklung der kirchenmusikalischen Gattungen erfolgen sollte, dann nach den Kriterien der liturgischen Bewegungen bzw. der Singbewegung, nicht aus dem Geist der (Spät-)Romantik. In diesem Sinne galt als erstes Werk
neuer Kirchenmusik die Messe in a op. 1 von Kurt Thomas (1925).
Historisch haben diese Umbrüche im deutschen Protestantismus Langzeitwirkung besessen: Durch die genannten Erneuerungen waren Konsolidierungsprozesse eingeleitet, aufgrund derer die Kirchenmusik im Dritten Reich trotz etlicher Anpassung an den Staat ein
eigenständiges Leben führen konnte und sich nach 1945 zeitweise, von Totalitarismen befreit, sogar stabilisierte.
Unproblematischer vollzog sich die Weiterentwicklung der kirchenmusikalischen Gattungen in den anderen Reformationskirchen, da der Erste Weltkrieg dort nicht solche Erschütterungen hervorgerufen hatte. Das gilt für die lutherischen Kirchen Skandinaviens. Im
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Die Zeit der Umbrüche und »Bewegungen« (ca. 1900 bis 1945)
z.T. »hochkirchlichen‹ Schweden wurde zudem eine »evangelische Katholizität« wirksam,
die den liturgischen und kirchenmusikalischen Bewegungen in Deutschland entsprach. Zu
nennen sind ebenso die Kirchen, die zumindest teilweise calvinistisch geprägt waren. So war
zwar in der Kirche von England die Messform über Jahrhunderte fast bedeutungslos, da
hochkirchliche Bewegungen sich gegenüber einer puritanisch geprägten Frömmigkeit lange
nicht durchsetzen konnten; aber durch die Oxford-Bewegung im 19. Jahrhundert hat sie
und mit ihr die Gregorianik zunehmend Akzeptanz gefunden. Insofern hat der Anglikanismus das Fortleben der Gattungen nach 1918 ebenso befördert. Hierher gehören nicht minder die Reformationskirchen in Ländern wie der Schweiz. Spielten hier aufgrund eines noch
reformiert geprägten Gottesdienstverständnisses die traditionellen kirchenmusikalischen
Gattungen keine liturgische Rolle, konnte man sich ihnen umso unbefangener für den konzertanten Gebrauch zuwenden, sodann auch (eingeschränkt) für den Gottesdienst.
Erst recht sah sich der Katholizismus nach 1918 keinem dramatischen Umbruch ausgesetzt und konnte nach 1945 an die bisherige kirchenmusikalische Arbeit anknüpfen. Zwar
fanden auch hier die stilistischen Entwicklungen nach 1918 rasch Beachtung. Liturgisch
hatte die Messe jedoch niemals ihre Bedeutung verloren und war die Gregorianik längst –
zunehmend mit Beteiligung der Gemeinde – neu belebt worden. Und wenn in den 1920er
und 1930er Jahren in Deutschland die Singbewegung mit ihrer Vorliebe für den A-cappellaStil auch katholischerseits rezipiert wurde, erhielt damit nur ein Verständnis von Kirchenmusik neue Breitenwirkung, das im Cäcilianismus seit Mitte des 19. Jahrhunderts sanktioniert war. Der Katholizismus konnte also mit seinem Sinn für »zeitgenössische« Kirchenmusik an Bedingungen anknüpfen, die nie fraglich gewesen waren und nach 1945 die seit den
1920er Jahren entstandenen Traditionen einer neuen liturgischen Musik zunächst – jedenfalls
bis zum Zweiten Vatikanum – weiter entfalten.
Freilich wäre es trügerisch zu meinen, die Epoche bis 1945 sei für den deutschen Protestantismus nur eine Zeit der »modernen« – und nach 1945 lediglich der Konsolidierung bedürftigen – Wiedererweckung traditioneller Gattungen und außerhalb dieses Bereichs eine
Epoche ihrer unproblematischen – wenngleich wiederum innovativen – Fortschreibung, und
für die anderen Reformationskirchen und erst recht für die katholische Kirche hätten sich
die kirchenmusikalischen Gattungen kontinuierlich weiterentwickelt. Nicht unterschätzt sei
für die Zeit zwischen 1933 und 1945 der verheerende Einfluss des Nationalsozialismus nicht
nur auf Deutschland, sondern ab 1938/39 auf die musikalische Entwicklung Europas allgemein. Zwar waren seine Verwüstungen bis 1945 in Deutschland und Österreich besonders
erkennbar, da er hier die (kirchen-)musikalische Entwicklung von der Entwicklung andernorts
isolierte. Zugleich aber gilt, dass die Beseitigung dieses Einflusses 1945 das musikalische
und kirchenmusikalische Leben zumindest des westlichen Europas wieder öffnete und Stile,
Kompositionstechniken und Komponisten an die Öffentlichkeit kamen, die zuvor verfemt
waren. Wie aber war dann jene Fortschreibung der Gattungen zu bewerten, die in den 1920er
Jahren begann?
Für eine detailliertere Darstellung der Entwicklung ist hilfreich, zunächst vom Raum
Deutschlands bzw. Österreichs auszugehen. Zum einen sind hier auch nach 1918 die allgemein-musikalischen Traditionen überregional besonders eng miteinander verflochten. Eng
ist ebenso die kirchenmusikalische Verflechtung, unabhängig davon, dass der süddeutsche
und österreichische Raum katholisch geprägt ist. Der liturgische Rahmen, in welchem die
kirchenmusikalischen Gattungen hier fortgeschrieben werden, ist ja – da katholisch-lutherisch bestimmt – derselbe (wie denn ein für die neuere Kirchenmusik so wichtiger Komponist wie Johann Nepomuk David eine Gestalt zwischen zwei Staaten und zwei Konfessionen
ist). Zum anderen sind in diesem Raum die Arten und Weisen, auf welche die Gattungen
fortgeschrieben werden, aufgrund der bleibenden konfessionellen und liturgischen Unterschiede besonders vielfältig. Wenn schließlich in der Darstellung die jeweiligen protestanti-
Lateinische und landessprachliche Kirchenmusik
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schen Erscheinungsformen der Gattungen zuerst beschrieben werden, dann deshalb, weil im
Protestantismus trotz liturgischer Erneuerungen insgesamt die Bindung der Komponisten
an gegebene liturgische Maßstäbe nicht so eng wie im Katholizismus ist, damit aber die
Komponisten nicht selten individuellere und stilistisch progressivere Beispiele für diese Gattungen vorgelegt haben. Dementsprechend folgt nach der Darstellung der lutherischen und
katholischen Kirchenmusik in Deutschland und Österreich zunächst das lutherische Skandinavien, da es dem deutschen Luthertum am nächsten steht, sodann folgen (nach einigen
für diesen Zusammenhang wichtigen Beispielen aus der anglikanischen Kirche) die reformierten Gegenden. Für die neuere katholische Kirchenmusik sind außer dem deutschen
bzw. österreichischen Raum vor allem Westeuropa, Italien, Ungarn und die katholischen
Länder des slawischen Sprachraumes bedeutsam. In dieser Reihenfolge werden die Regionen auch dargestellt.
Romantische Nachklänge und romantische Vorläufer der neuen
Kirchenmusik
Deutschland und Österreich
Trotz der allgemeinmusikalischen wie kirchenmusikalischen Umbrüche besonders in Mitteleuropa war aber selbst in Deutschland und Österreich nach 1918 das Weiterleben der herkömmlichen Gattungen der vokalen Kirchenmusik unter romantischen Vorzeichen nicht
einfach abgetan. Das gilt im Protestantismus etwa für das Umfeld der – lange Zeit ohnehin
stilistisch konservativen – Berliner Singakademie. Ihr langjähriger Leiter Georg Schumann
(1866–1952) hat noch 1934 Motetten (op. 74) vorgelegt, die romantischen Klassizismus mit
Einflüssen Wagners verbinden. Wichtiger für die Entwicklung der neueren protestantischen
Kirchenmusik ist Arnold Mendelssohn (1855–1933). In der Tat zeigen seine Deutsche Messe
(1922) und die vierzehn – z.T. umfangreichen und virtuosen – Motetten op. 90 (1924) einen
polyphon konsequent durchgebildeten, z.T. herben Vokalstil, der erklärlich macht, dass Mendelssohn Schüler wie Hindemith, Thomas oder Raphael um sich scharen konnte. Letztlich
gehören diese Werke aber noch in den romantischen Historismus. Ähnlich als Vorstufe der
neuen protestantischen Kirchenmusik gewertet wird das geistliche Vokalwerk Heinrich Kaminskis (1886–1946), eines altkatholischen Pfarrerssohnes. Auch Kaminski hat bei aller
Verwurzelung in der Spätromantik (op. 1a Aus der Tiefe rufe ich von 1912) und einem z.T.
mystischen Pathos (man betrachte sein Magnificat für Solostimmen, Fernchor, Orchester
und Harmonium von 1926) zu einer A-cappella-Polyphonie gefunden, die derjenigen Arnold Mendelssohns ähnlich ist, in der aber immer noch spätromantische Expressivität nachklingt (vgl. den 130. Psalm von 1922 oder die fragmentarisch gebliebene und erst 1947 veröffentlichte Messe deutsch, auf eigene Texte).
Etwas anders lagen die Dinge im Katholizismus. Zwar gibt es auch hier das fromme
Bekenntniswerk aus (spät)romantischer Gesinnung; erinnert sei an etliche Werke von Walter Braunfels (1882–1954), z.B. sein Te Deum op. 32 (1922) oder seine Messe op. 37 (1926);
allerdings war Braunfels seit 1933 rassisch verfemt und komponierte in der Zurückgezogenheit. Da jedoch im Katholizismus die »bürgerliche Religiosität« auch in Zeiten des Totalitarismus stärker kultisch gebunden blieb, wurden die traditionellen liturgischen Gattungen für
den Gottesdienst weiter gepflegt (damit ist die Zahl der entsprechenden Werke hier größer
als im Protestantismus). Stilistisch wirkten für die liturgische Musik naturgemäß z.T. cäcilianische Traditionen weiter; dazu kamen Einflüsse der Wiener Klassik oder Bruckners, gelegentlich Regers – so dass keineswegs nur A-cappella-Musik als liturgisch galt. In jedem
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Die Zeit der Umbrüche und »Bewegungen« (ca. 1900 bis 1945)
Falle stilistisches Ferment ist der gregorianische Gesang (zunehmend sogar als Volksgesang
in der Landessprache). Populär geblieben ist als Schöpfer von liturgischer Gebrauchsmusik
z.B. Peter Griesbacher (1864–1933), ein Komponist, der wagnersche Chromatik und Leitmotivtechnik in sein Schaffen integrierte; ebenso der Südtiroler Vinzenz Goller (1873–1953),
bekannt geblieben durch seine Loreto-Messe op. 25. Aufgeführt wird weiterhin Joseph Haas
(1879–1960) mit seinen Messen (z.B. einer Deutschen Singmesse op. 60 von 1924 oder der
Speyerer Domfestmesse für einstimmigen Chor/Volksgesang und Instrumente op. 80 von 1930).
Er hat längere Zeit ebenso mit anderen Vokalwerken (u.a. einer deutschen Vesper a cappella
op. 72, komponiert 1929) und A-cappella-Motetten überdauert, d.h. mit Stücken einer z.T.
gediegenen Polyphonie (Kanonische Motetten op. 75). Allerdings lassen sich all diese Werke
nicht mehr gänzlich in die Welt des 19. Jahrhunderts einordnen; denn auch Haas steht zwischen den Zeiten: Wohl war er Schüler Max Regers, aber wie Arnold Mendelssohn einem
»archaischeren« Kontrapunkt zugetan und an chromatischen Exaltationen nicht interessiert.
Zugleich stellte sich ihm die Frage nach dem liturgischen Volksgesang als einem Signum der
Christengemeinde. Freilich, Haas’ Musik bleibt trotz Kontrapunkt und Gregorianik romantisch-eingängig; die Funktionsharmonik wird ungeachtet gelegentlich unkonventioneller
Stimmführung beibehalten; als Musik auf deutsche Texte konnte die Musik auch Protestanten gefallen, als »volkstümliche« Musik die Gemeinde stärken.
Andere Länder
In noch höherem Maße als im krisengeschüttelten Mitteleuropa sind in anderen Kulturräumen die kirchenmusikalischen Gattungen nach 1918 noch romantisch weiterkomponiert
worden, zumal dort, wo sich seit dem 19. Jahrhundert eine »nationale« Musik überhaupt erst
gebildet hatte. Aufschlussreich für die Reformationskirchen ist Skandinavien. In Schweden
ragt Oskar Lindberg (1887–1955) hervor, »Nationalromantiker« par excellence. Bis heute
wichtig ist sein umfangreiches, 1920–1923 komponiertes (lateinisches) Requiem op. 21. Dazu
ist er für die reguläre liturgische Praxis mit geistlicher Vokalmusik hervorgetreten (z.B. mit
På Allhelgonadagen / Zu Allerheiligen von 1933). Mit zwei spätromantischen Kantaten wirkt
auch sein Landsmann Hugo Alfvén (1872–1960) nach. Die Uppenbarelsekantat / Offenbarungskantate op. 31 (1913) ist auf Bibeltexte komponiert; dazu kommt die von gründlicher
Kenntnis des Kontrapunkts zeugende Kantat vid Reformationsfesten i Uppsala 1917 op. 36,
geschrieben auf Lutherchoräle und ein Gedicht des schwedischen Dichters Erik Axel Karlfeldt. Wichtiger noch ist Otto Olsson (1879–1964), wobei seine geistlichen Vokalwerke
zwar weitestgehend schon vor dem Ersten Weltkrieg entstanden sind, aber teilweise erst in
späterer Zeit Beachtung gefunden haben. Sein klassizistisches, kantables, 1906 vollendetes
Te Deum op. 25 war seit der Uraufführung 1910 beliebt, während sein stilistisch ähnliches
Requiem op. 13 von 1903 erst 1976 uraufgeführt wurde. Bedeutsam als Dokumente für die
Wiederentdeckung der Alten Musik, wie sie in Schweden seit der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts vonstatten ging, sind seine Sex Latinska Hymner op. 40 (1912): In diesen hoch
anspruchsvollen Motetten bedient sich der Komponist bereits stilistischer Mittel (gregorianischer Psalmodie; einer melismatisch weit ausschwingenden modalen Polyphonie), die in
der Kirchenmusik allgemein weitaus später wieder aktuell wurden. Wie in Schweden sich
Vorklänge einer neuen Kirchenmusik bei Olsson finden, so in Dänemark bei Carl Nielsen
(1865–1931), besonders mit seinen drei lateinischen, vier- bzw. fünfstimmigen Motetten
op. 58 (1929) in ihrer modalen Linearität. Für diesen Zusammenhang weniger bedeutsam ist
die Entwicklung im anglikanischen England; denn obwohl sich hier bis in die zweite Hälfte
des 20. Jahrhunderts besonders in der Kirchenmusik ein romantisches Idiom findet, gilt dies
doch den konfessionsspezifischen Gattungen Service und Anthem, während Mess- und Mo-
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