709_761_BIOsp_0709.qxd 30.10.2009 9:58 Uhr Seite 737 737 Populationsgenetik Weltweite Vielfalt der menschlichen Speichel-Mikroflora DOMINIQUE QUINQUE, VANO NASIDZE, JING LI, MARK STONEKING MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR EVOLUTIONÄRE ANTHROPOLOGIE, LEIPZIG Erstmals wurde die Vielfalt der mikrobiellen Mundhöhlenflora in einer weltweiten Studie detailliert untersucht. Die partielle Sequenzierung des bakteriellen rRNA-Gens gibt neue Aufschlüsse über die normale Bandbreite der mikrobiellen Flora. The microbial variation in the human oral cavity was investigated in a detailed worldwide study. Partial sequencing of a bacterial RNA gene provides new insights into the normal variation of the salivary microbiome. ó Viele molekularbiologische Analysen zeigen eine enorme Vielfalt der Mikroflora in der menschlichen Mundhöhle. So wurden mehr als 600 verschiedene Bakterienarten in der Mundhöhle nachgewiesen [1]. Da der Fokus dieser Untersuchungen vorwiegend auf der Identifizierung von Krankheitserregern lag, gibt es bisher nur begrenzte Informationen über die normale Variation der mikrobiellen Mundhöhlenflora gesunder Probanden. Unsere Studie ist die erste detaillierte Untersuchung zur globalen Vielfalt der normalen Mikroflora in der menschlichen Mundhöhle [2]. Dessau/Leipzig, Deutschland Die Mundhöhle gilt als Eintrittspforte für Bakterien in den menschlichen Körper, sodass wichtige Interaktionen zwischen der Speichel-Mikroflora und anderen Mikrobiomen des menschlichen Körpers, insbesondere dem Intestinaltrakt, bestehen können. Um die Rolle der Bakterien bei Erkrankungen vollständig zu verstehen, sind weitere Erkenntnisse zur Vielfalt und Zusammensetzung der Speichel-Mikroflora nötig. Ein weiterer Grund für die Erforschung der Bakterienflora im menschlichen Speichel ist die Tatsache, dass Speichel eine bevorzugte Quelle von menschlicher DNA als Grundlage für epidemiologi- Warschau, Polen Ankara, Türkei Oakland, Kalifornien Batumi, Georgien Shanghai, China Baton Rouge, Louisiana Surigao, Philippinen La Paz, Bolivien Buenos Aires, Argentinien Pointe Noire, Kongo Johannesburg, Südafrika ˚ Abb. 1: Karte mit Orten der Probenentnahme. Jeweils zehn Speichelproben wurden an 12 Orten gesammelt; insgesamt wurden 120 Proben analysiert. BIOspektrum | 07.09 | 15. Jahrgang sche und populationsgenetische Untersuchungen darstellt. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass Bakterien mit dem Menschen ko-evolvieren. So weist z. B. das Variationsmuster des Magenbakteriums Helicobacter pylori eine enge Korrelation mit der weltweiten Migration des Menschen auf, die auf Analysen von humanen DNA-Variationen basieren [3]. Darüber hinaus zeigte sich, dass sich zwei ethnische Gruppen, die sich nicht auf der Basis der herkömmlichen genetischen Marker unterscheiden lassen, durch Variationen in den H. pylori-Populationen voneinander abgrenzen [4]. Da H. pylori-basierte Analysen eine Magenbiopsie erfordern, wäre es von großem Vorteil, einen ähnlich informativen Keim im menschlichen Speichel zu identifizieren. Partielle Sequenzierung des 16S-rRNA-Gens von 120 Individuen An zwei verschiedenen Orten in jeweils sechs geografischen Regionen (Nord- und Südamerika, Europa, Asien und Afrika) wurden Speichelproben von jeweils zehn Personen gesammelt (Abb. 1). Die Probanden durften nicht aus demselben Haushalt stammen, den Ort der Entnahme bis zwei Monate vor der Probensammlung nicht verlassen haben und zum Zeitpunkt der Probenentnahme an keinen offensichtlichen Zahnerkrankungen leiden. Aus dem isolierten Erbgut wurde ein sehr variabler Abschnitt des bakteriellen 16SrRNA-Gens vervielfältigt und kloniert. Die Sequenzierung dieser Untereinheit der ribosomalen Nukleinsäure ist eine anerkannte Methode zur Einordnung einer Art in den universellen Stammbaum des Lebens. Ungefähr 120 Klone wurden pro Individuum sequenziert. Nach dem Aussortieren von möglichen Chimären und anderen Artefakten wurden schließlich 14.115 Sequenzen für anschließende Analysen verwendet. 103 neue bakterielle Gattungen in der Mundhöhle Durch den Abgleich der Sequenzen mit der RDPII-Datenbank, einem Datenspeicher, der 709_761_BIOsp_0709.qxd 738 30.10.2009 9:58 Uhr Seite 738 W I S S E N SCH AFT mittlerweile mehr als eine Million Sequenzen der ribosomalen Untereinheit enthält, ließen sich die Sequenzen 101 bekannten Bakteriengattungen zuordnen, von denen 39 bisher noch nicht in der Mundhöhle gefunden wurden (Tab. 1). 1,8 Prozent der Sequenzen konnten in keine bekannte Gattung eingestuft werden. Die unklassifizierten Sequenzen wurden mithilfe eines phylogenetischen Baums 64 Kladen zugeordnet, die jeweils potenziell unbekannte Arten repräsentieren. So wurden in dieser Studie etwa 103 bisher noch nicht aus der Mundhöhle bekannte bakterielle Gattungen identifiziert. Tab. 1: Zusammenfassung der Verteilung der Sequenzen und Gattungen der Speichel-Mikroflora. Population Anzahl der Sequenzen Anzahl der Gattungen Argentinien 1188 46 Bolivien 1221 43 Kalifornien 1182 39 Louisiana 1115 41 Deutschland 1155 43 Polen 1167 46 Georgien 1186 55 Keine geografische Strukturierung Türkei 1145 45 Die Anzahl der Gattungen innerhalb der Individuen bewegte sich zwischen sechs und 30, während die Anzahl der Gattungen pro Probenort von 39 bis 55 reichte. Einige Gattungen sind selten, während andere Gattungen sehr häufig vorkommen. So fallen 22,7 Prozent aller Sequenzen auf die häufigste Gattung Streptococcus. Ein Vergleich der Verteilung der Gattungen ergab, dass Kalifornien mit 20,4 Prozent und der Kongo mit 25,4 Prozent Variation die größten Unterschiede zwischen den Individuen besitzen, während Georgien und die Türkei mit jeweils 4,6 Prozent Variation den geringsten Unterschied aufweisen [2]. Obwohl die genetische Struktur stark von geografischen Gegebenheiten abhängt, zeigten multidimensionale Skalierungen, dass die Unterschiede in der Zusammensetzung der Gattungen zwischen Individuen des gleichen Ortes größer sind als die der Individuen verschiedener Orte. Somit liegt keine geografische Strukturierung der Mundflora vor. Zusätzlich wurde ein multivariater statistischer Test (UniFrac-Analyse) durchgeführt, um mikrobielle Gemeinschaften in einem phylogenetischen Kontext miteinander zu vergleichen [2]. Auch dieser Test zeigte keine signifikante geografische Strukturierung der Mikroflora des menschlichen Speichels. Kongo 1178 42 Südafrika 1247 41 China 1149 49 Philippinen 1182 47 14115 101 Wenig Einfluss von Kultur und Umwelt auf Speichelzusammensetzung Wenngleich kein geografisches Muster zu erkennen ist, gibt es doch bestimmte Gattungen, die in ihrer Häufigkeit von einem Ort zum anderen charakteristisch variieren. Den größten Unterschied in der Häufigkeitsverteilung weist Enterobacter auf, der 28 Prozent der Sequenzen im Kongo repräsentiert, aber Gesamt Literatur [1] Fabian TK, Fejerdy P, Csermely P (2008) Salivary genomics, transcriptomics, and proteomics: The emerging concept of the oral ecosystem and their use in the early diagnosis of cancer and other diseases. Cur Genomics 9:11–21 [2] Nasidze I, Li J, Quinque D et al. (2009) Global diversity in the human salivary microbiome. Genome Res 19:636–43 [3] Falush D, Wirth T, Linz B et al. (2003) Traces of human migrations in Heliocobacter pylori populations. Science 299:1582–1585 [4] Wirth T, Wang X, Linz B et al. (2004) Distinguishing human ethnic groups by means of sequences from Heliocobacter pylori: Lessons from Ladakh. Proc Natl Acad Sci USA 101:4746–4751 Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Mark Stoneking Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie Deutscher Platz 6 D-04103 Leipzig Tel.: 0341-3550-502 Fax: 0341-3550-555 [email protected] www.eva.mpg.de/genetics AUTOREN Vano Nasidze in Kalifornien, China, Deutschland, Polen und der Türkei gar nicht nachgewiesen werden konnte. Um den Einfluss von Umwelt und Kultur zu untersuchen, wurde eine multivariate Regressionsanalyse durchgeführt, die die Beziehung von möglichen Einflussfaktoren (Populationsgröße, Entfernung zum Äquator, durchschnittliche Jahrestemperatur und durchschnittlicher Jahresregenfall) zueinander darstellt. Auch die Variablen Alter und Geschlecht wurden untersucht. Entgegen den Erwartungen ergaben sich in dieser Studie keine Zusammenhänge zwischen der Mundhöhlenflora und umweltbedingten sowie kulturellen Einflüssen. Als einzige signifikante Assoziation stellt sich der Abstand der untersuchten Probanden zum Äquator dar [2]. Dieser scheinbare Zusammenhang sollte jedoch mit Vorsicht betrachtet werden, da erstens diese Assoziation vorwiegend durch den Kongo bestimmt wird und zweitens viele andere Faktoren mit dem Abstand zum Äquator variieren (z. B. UVIndex). Weitere Untersuchungen sind nötig, um zu bestimmen, welche mit der Entfernung zum Äquator korrelierenden Parameter für diese Assoziation verantwortlich sind. Unsere Studie bietet einen Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen über die Vielfalt der Mundhöhlenflora sowie für die Erforschung des Einflusses von Umwelt, Ernährung und Genetik auf diese Mikroorganismen. ó 1998 Promotion (Genetik), Tbilisi State University, Georgien. 1991 Promotion (Anthropologie), N. I. Vavilov Institute of General Genetics, Moskau, Russland. Seit 1999 Wissenschaftler am MPI für evolutionäre Anthropologie, Leipzig. Dominique Quinque 1997–2000 Medizisch-technische Laboratoriumsassistenz, Universität Halle. Dort 2001 Forschungsassistentin in der Molekularen Gastroenterologischen Onkologie. Seit 2002 Forschungsassistentin am MPI für evolutionäre Anthropologie, Leipzig. Jing Li 2000–2003 M. S. (Computational Pharmaceutical Analysis), China Pharmaceutical University, Nanjing, China. Dort 2003–2006 Promotion (Biophysik) und seit 2007 Postdoc, National Drug Screening Laboratory. Mark Stoneking 1986 Promotion, University of California, Berkeley, USA; dort 1986–1988 Postdoc. 1989– 1990 Associate Research Scientist, Dept. of Human Genetics, Emeryville, California, USA. 1990–1994 Assistant Professor, Pennsylvania State University; dort 1994–1998 Associate Professor of Anthropology. Seit 1999 Professor am MPI für evolutionäre Anthropologie, Leipzig. BIOspektrum | 07.09 | 15. Jahrgang