1 Donaueschinger Musikstage 2009 „Gesetzt, wir hätten als Menschen produziert…“ Mathias Spahlingers Kommunikationsmodell doppelt bejaht von Rainer Nonnenmann Die Mathematik kennt den Satz von der doppelten Negation, demgemäß minus mal minus genau das Gegenteil ergibt, nämlich plus. Karl Marx verwandelte dieses Gesetz in seinen Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 zur Definition: „Der Kommunismus ist die Position als Negation der Negation“. Doch was ist eine doppelte Bejahung? – zumal bei Mathias Spahlinger, der von Anfang an versucht hat, Theodor W. Adornos Diktum von der „bestimmten Negation“, zu der die authentische neue Musik sich verhält, kompositorisch umzusetzen. Womöglich ist doppelt bejaht nur ein weiterer Hakenschlag dessen, der auch sonst bereits beschrittene Wege zur Kritik am Bestehenden wieder in Frage gestellt hat, weil jede fortgesetzte Negation Gefahr läuft, sich irgendwann in Affirmation zu verkehren. Schon in Farben der Frühe für sieben Klaviere (2005) hat Spahlinger doppelt negiert, indem er auf erweiterte Spiel- und Klangtechniken im Inneren oder auf dem Korpus der Instrumente verzichtete, mit denen die Komponisten der 1950er und 60er Jahre die traditionell pianistische Klavierbehandlung überwinden wollten. Stattdessen spielen die Pianisten nur auf den Tasten, auch traditionelle Gesten und Konsonanzen, die allerdings dialektisch so ins Werk gesetzt sind, dass sie im veränderten Kontext konstruktiv gereinigt und neu erlebbar werden. An die Stelle der peinlichen Eliminierung möglichst sämtlicher musiksprachlicher, tonaler Reste, wie sie die serielle Nachkriegsavantgarde propagiert hatte, zielt Spahlinger auf eine doppelte Verneinung sowohl der tonalen Tradition als auch des hybriden Reinheitsideals des Serialismus. Ist nun auch doppelt bejaht eine solche „Verweigerung der Verweigerung“? Die Dekomposition konventioneller Material-, Aufführungs- und Wahrnehmungsbedingungen begreift Spahlinger als Teil eines umfassenden Aufklärungs- und Emanzipationsprozesses, bei dem das über die eigenen Bedingungen aufgeklärte Schreiben, Machen und Hören von Musik in Umkehrung eines seiner Leitsätze – „das nicht in-sich-reflektierte ist das falsche“ – durch eben diese Selbstreflektiertheit sein „Richtiges“ gewinnt. Seine Befreiung der Musik von unhinterfragten Konventionen und apriorischen Setzungen geht dabei ins Grundsätzliche: „ein daseinsrecht hat musik heute, wo sie gegen ihren eigenen begriff geht, die frage stellt, ob das noch musik sei“. Dass sich dieser Anspruch nicht in Worten erschöpft, hat Spahlinger verschiedentlich unter Beweis gestellt, indem er die standardisierten Rollen von Komponist, Interpret, Besetzung, Aufführung, Raum und Hörer fundamental in Frage stellte. So verwendete er statt herkömmlicher Musikinstrumente in éphémère (1977) ausschließlich „veritable Instrumente“ bzw. Alltagsklänge. In extension (1979/80) ließ er die Musiker ihren Aktionsradius bis außerhalb des Konzertsaals erweitern. Für furioso (1991/92) hatte er die Vorstellung, alle Musiker bei ihren Einsätzen auf rollenden Podesten über die Bühne fahren und danach wieder wegziehen zu lassen, um die ständig sich verändernde Zusammensetzung des Ensembles zu verdeutlichen. Und mit vorschläge – konzepte zur ver(über)flüssigung der funktion des komponisten (1993) formulierte er 28 verbale Spielregeln für Gruppen von Schülern oder Musikern, die sich auf dieser Grundlage selbständig Musik einfallen lassen sollten, mit dem Ziel, die anfänglich gesetzten Regeln irgendwann aufzuheben. So wie die vorschläge „zur verallgemeinerung des einstweilen einseitigen rechts, sich etwas einfallen zu lassen“, beitragen wollten, zielt doppelt bejaht mit der „Verüberflüssigung“ des Dirigenten auf eine „Verflüssigung“ der eingefahrenen Verhältnisse der musikalischen Produktion, Interpretation und Rezeption. Tatsächlich geht es diesen „etüden für orchester ohne dirigent“ um das Aus- und Vorführen verschiedener musikalischer Problem- und Aufgabenstellungen. Es sind: 1. konzeptionelle Herausforderungen für den Komponisten, der 2 diese Probleme zunächst einmal so klar und materialgerecht wie möglich zu formulieren und zu notieren hatte sowie neben vielen neuen Konzepten auch einige seiner zunächst für Laien gedachten Aktionsanweisungen der vorschläge durch konkretisierte Spielregeln, Besetzungsvorgaben und Parameterfestlegungen auf ein professionelles Symphonieorchester übertragen musste; 2. spielerische Einübungen der 52 Instrumentalisten in das gemeinsame Musizieren ohne koordinierende Zentralstelle rein auf der Basis von gegenseitigem Hören, Sehen, Signalisieren und Interagieren bei gleichzeitiger Entfaltung sowohl individueller als auch gruppendynamischer Spontaneität; und 3. öffentliche Wahrnehmungsexperimente für die Hörer, sich frei von zeitlich-räumlich normierten Perspektivvorgaben, die Klanglichkeit und Wirkungsweise des resultierenden Orchesterenvironments zu erschließen. Ein Dirigent ist hierbei insofern überflüssig, als schon der Komponist seine Rolle als alles beherrschende Instanz aufgegeben hat. Statt sämtliche Abläufe exakt vorzuschreiben, die ein Dirigent dann schlagend umzusetzen hätte, und statt die Musiker nur Akzidenzien und Nuancen von Dynamik, Timbre, Tempo interpretieren zu lassen, überlässt er es ihrer Selbstorganisation, unter wechselnden konzeptionellen Vorgaben wesentliche Eigenschaften der Musik in Detail und Großform auszugestalten. doppelt bejaht existiert nicht als fixierte Partitur, sondern in 24 Konzeptpapieren, deren teils verbale, teils graphische und in Ausschnitten konventionelle Notationen Zielvorgaben benennen, auf deren Grundlage die Musiker dann zusammen modellhafte Klangtexturen, Situationen und Wandlungen schaffen. Attacken auf das Sinfonieorchester als Flagschiff des in Konservatismus erstarrten bürgerlichen Musikbetriebs, dessen Strukturen und Praktiken sich seit 1800 nicht nennenswert gewandelt haben, gab es nach 1945 vereinzelt immer wieder: etwa John Cages Concerto for Piano (1951), das den Dirigenten zum bloßen Uhrwerk degradierte und den Musikern nahezu völlige Gestaltungsfreiheit ließ, oder Earl Browns Available Forms (1961), die unter dirigistischer Führung dennoch freie Wahlmöglichkeit bei Dauern und Abschnittsfolge gestatteten. In beiden Fällen sollten Komposition und Interpretation zu einer Musik in permanentem status nascendi verschmelzen. Nach der Politisierung im Zuge der 1968er Studentenbewegung machten sich Komponisten verstärkt Gedanken über das Orchester als sozialem Gefüge. Mit experimentellen oder mehr pädagogischen Ambitionen problematisierten sie den Klangkörper als Leviathan, der sich aus vielen Einzelmusikern bzw. „Tutti-Schweinen“ zusammensetzt. Sie stellten die strikt geregelte Arbeits- und Kompetenzverteilung innerhalb des Apparats ebenso in Frage wie den Mangel an künstlerischer Mitbestimmung der Musiker und die starren tarif- und arbeitsrechtlichen Organisations- und Verwaltungsstrukturen. Für die Orchesterwerkstatt, die der WDR Köln zwischen 1974 und 1978 seinem Sinfonieorchester verordnete, schrieb Dieter Schnebel in seiner Werkreihe Produktionsprozesse die „Symphonische Utopie für mobile Musiker“ ΟΡΧΕΣΤΡΑ (1974–77) und Vinko Globokar verfasste seine von den Musikern eigenverantwortlich zu erarbeitenden und aufzuführenden „Materialien zur Diskussion eines historischen Instruments“ Das Orchester (1974), denen er später die „Sammlung von Modellen“ Individuum ↔ Collectivum (1979ff.) folgen ließ. Neue Orchesterkonzepte finden sich auch bei Karlheinz Stockhausen, Mauricio Kagel, Michael Gielen, Hans Zender und anderen (vgl. den Beitrag von Armin Köhler). So auch bei Hans Wüthrich, dessen Kommunikationsspiele (1973) und Netzwerk I–III (1982-89) das Orchester als kybernetisches System behandeln, das sich ohne Fuchtel von Pult und Taktstock als quasi-sozialer Organismus selbst steuert. Diesem schweizer Freund und „wegbereiter der orchestermusik ohne dirigent“ hat Spahlinger doppelt bejaht gewidmet. Obwohl auch er die Zusammensetzung und das Repertoire des symphonischen Apparats für anachronistisch hält, reitet Spahlinger keine Attacke als Feind gegen das Orchester, sondern erweist dem in neuer Musik geprüften SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg mit seinem jüngsten Projekt vielmehr seine Reverenz. 3 Die Besetzung auf der Basis der 24 Konzeptpapiere ist zumeist frei. Gelegentlich gibt es Vorgaben zu einzelnen Instrumenten, bestimmten Instrumentenfamilien oder Kombinationen von obligat vorgeschriebenen Instrumenten bei sonst freier Beteiligung aller übrigen Musiker. Zudem verwendet Spahlinger relative Ein- und Ausschlusskriterien, indem er beispielsweise lange Dauern, Glissandi, Mikrotöne oder bestimmte Tonlagen vorschreibt, die nur von bestimmten Instrumenten gespielt werden können. Von Konzept zu Konzept ergeben sich so immer andere Farben und Dichtegrade, von Soli und kammermusikalischen Formationen bis zum vollen Tutti. Die Abfolge der Arbeitspapiere ist nur bedingt frei. Zwar kann mit jedem beliebigen Konzept begonnen werden, doch „Verzweigungen“ am Ende eines jeden geben jeweils drei Möglichkeiten vor, wie die Instrumentalisten die von ihnen zuvor kollektiv geschaffenen Situationen abzuwandeln haben, damit sukzessive Übergänge zu einem der drei anderen Konzepte entstehen. Das ist eine pragmatische Einschränkung, denn jedes Konzept beschreibt ein musikalisches Modell mit irreduziblen Eigenschaften, das durch graduelle Veränderungen prinzipiell in alle anderen 23 Modelle mit entsprechend anderen irreduziblen Eigenschaften verwandelt werden könnte. Das Geschehen entfaltet sich also nicht wahllos von einem Punkt zu jedem x-beliebigen anderen, sondern qua Entscheidung der Musiker an jeder Schnittstelle jeweils nur in eine von drei möglichen Richtungen. Dennoch existieren so rein rechnerisch 24x323 Pfade, deren labyrinthische Verästelungen reichlich genug Offenheit bieten für unterschiedlichste Teil- und Gesamtaufführungsmöglichkeiten mit vielen, vielen Stunden Musik. Mit freier oder gelenkter Improvisation hat das – trotz Spahlingers bekannter Liebe zum Free Jazz – wenig zu tun. Vielmehr handelt es sich um ein Kommunikationsmodell aus vorkonzipierten Situationen und Prozessen, welche die Musiker selbstverantwortlich kontrollieren und ausgestalten. Die klaren und jeweils auf wenige Eigenschaften reduzierten Problemstellungen provozieren eine offene und relativ unfestgelegte Verständigung zwischen den Musikern, die zu einem Gemeinschaftsresultat führt, das letztlich nicht komponier- und notierbar, sondern nur konzipierbar ist, denn es lässt die zunächst befolgten Regeln hinter sich und ist in seiner Komplexität – etwa metrisch-rhythmisch – im konventionellen Fünfliniensystem überhaupt nicht mehr darstellbar. Von den Musikern erfordert das ständige Abgleichen der bereits erzielten Klangresultate mit den gestellten Aufgaben bis hin zu deren gradueller Abwandlung und Aufhebung ungleich mehr Konzentration, Blickkontakt, Hellhörigkeit und Reaktionsschnelle, als das Spiel an der Gängelleine eines Dirigenten. Jeder im Orchester ist hier ein wacher, kreativer Künstler. So wird diese Musik nicht nur als begehbare Raumklangplastik erlebbar, sondern – gemäß Joseph Beuys´ Kunstverständnis – auch als eine „soziale Plastik“. Jedes Konzeptpapier demonstriert ein beispielhaftes musikalisches Grundmuster, Bewegungsoder Spannungsverhältnis: verbinden–spalten, zusammen–getrennt, gleich–verschieden, zunehmend–abnehmend, viel–wenig, punktuell–flächig, dicht–lose, statisch–dynamisch… Es sind Ordnungen und Prozesse, mit denen sich Spahlinger schon seit Jahren auseinandersetzt. Doch diesmal hat er sie nicht auskomponiert, sondern lässt sie von den Musikern aufbauen, bereichern und so lange abwandeln, bis sie sich in neue Konstellationen auflösen. Dabei ist der Setzung jedes Modells dialektisch seine Zersetzung bzw. bestimmte Negation inhärent. Während hier durch auseinanderstrebende Kräfte manche Modelle fast organisch zu anderen tendieren, werden dort etablierte Dramaturgien, Spiel- und Hörerwartungen mittels Umwegen durchkreuzt, so dass kein homogener Dauerfluss entsteht, sondern sich auch Spannungen, Brüche und Widersprüche aufbauen und spürbar werden. Weil die Konzepte im Gesamtgefüge ihrer Verzweigungsmöglichkeiten jeweils von drei verschiedenen anderen Vorgängermodellen aus erreicht werden, zeigen sie stets neue Kausalverhältnisse und Aspekte. Damit dieselben Texturen in verändertem Zusammenhang anders wirken können, sollten bei einer Aufführung zumindest einige Nummern mehrfach erklingen. Das Konzept klangband oder unendlich viele tonhöhen schreibt vor, dass nur Musiker, die auf ihren Instrumenten lange Dauern spielen können, mit unterschiedlichen Liegetönen individuell ein- 4 und aussetzen, ohne sich abzustimmen oder Rhythmen, Akkord- und Melodiefolgen erzeugen, so dass ein ständig sich wandelndes „Klangband“ entsteht. Um Konstellationen zu vermeiden, die bestimmte tonale Fortschreitungen erwarten lassen, sind ausdrücklich „alle“ Tonhöhen gleichberechtigt zu verwenden, also auch nicht-temperierte sowie Überblasungen und Mehrklänge. Die Musiker können das irgendwann statisch wirkende Geschehen beleben, indem sie nach und nach alle sehr hoch spielen, sich in weite Lagen aufspalten oder ihre Einsätze beschleunigen oder verlangsamen. Die Verzweigungen am Schluss bieten drei Varianten: 1) alle Musiker einigen sich auf einen gemeinsamen Ton und leiten damit zu ein ton, viele farben/klangfarbenmelodie über; 2) sie spielen nach und nach nur noch Töne aus einem bestimmten Tonvorrat, welche die Streicher immer länger halten, während die Holzbläser immer länger pausieren, so dass eine Überleitung zum Tonfeld akzente nach und nach synchron entsteht; oder 3) zunächst spielen nur noch Streicher, dann nur noch Violoncelli, die sich auf vier vorgeschriebene Tonhöhen beschränken und zu flageolette 5 und 7 führen, wo in vorgegebenen Tongrenzen Flageolette zu spielen sind. Schließlich verzweigt sich die Flageolett-Struktur ihrerseits in drei mögliche Richtungen, indem a) die Streicher Bogenwechsel und erstickte Pizzicati immer deutlicher in jeweils eigenem Tempo vornehmen und damit zu unendlich viele tempi weiterleiten; b) sie die Flageolette zu Streichgeräuschen abwandeln und mit farbiges rauschen fortfahren oder c) indem alle auf A-Saiten spielen und sich dann auf eine bestimmte Oktavlage konzentrieren, woran sich erneut ein ton, viele farben/klangfarbenmelodie anschließt. Wenn diese UnisonoKlangfarbenmusik dann durch rhythmisch wiederholte Dauern nach und nach beschleunigt wird, ergeben sich erneut drei Verzweigungen: entweder noch einmal zu unendlich viele tempi mit sich überlagernden Repetitionsfolgen aller Musiker in je eigenem Tempo, oder zu fine als einem von insgesamt drei Enden des Stücks, oder zu faux départs (falsch anfangen), wo die Musiker aus sämtlichen Konzepten dasjenige auswählen sollen, das ihnen für einen möglichen Neuanfang am geeignetsten erscheint. Dabei resultiert zunächst eine Collage verschiedenster Ansätze, bis sich die Musiker auf ein Konzept einigen. Sollten sie kein Einverständnis erzielen, kann der Versuch nach einer „angemessenen“ Zeit abgebrochen werden, woraufhin entweder die gesamte Aufführung zu beenden oder mit einem „joker“ fortzusetzen ist, also mit einem vorher verabredeten Konzept, das auch dann als Treffpunkt dient, wenn es einmal bei einer Verzweigung zu Missverständnissen oder Unfällen kommen sollte. Darüber hinaus kommt faux départs wegen des vielstimmigen und unentschiedenen Charakters eine Sonderrolle als möglicher Anfang der Aufführung zu. Dem gelenkten und doch variablen Fluss der Ereignisse entspricht die räumliche Disposition der Musiker. Sie sitzen auf erhöhten Podesten, um uneingeschränkten Sichtkontakt zwischen ihnen zu garantieren. Platziert sind sie in einem asymmetrischen, halb geschlossenen Carré, das den Hörern Bewegungsfreiheit lässt und sie zugleich in eine bestimmte Richtung lenkt, denn der Saal kann nur durch eine Tür betreten aber durch eine andere wieder verlassen werden. Beim Eintreten befindet sich das Publikum zunächst außerhalb des Carrés im Rücken einer Reihe von Musikern. Indem es um diese Musiker herumgeht, gelangt es in das Innere des orchestralen Aktionsraums, den es nur verlassen kann, indem es den hier befindlichen zweiten Hallenausgang benutzt. So wie die Aufführung der musikalischen Handlungsanweisungen jeweils ein einmaliges Ereignis ist, kann sich auch jeder Hörer mit verschiedenen Steh- und Sitzplätzen seinen individuellen Zugang bahnen, indem er wechselnde räumliche Perspektiven einnimmt oder sich zeitweilig auf bestimmte Musiker oder Ensemblegruppen konzentriert. Reichlich Zeit dazu wird jedenfalls gegeben. Mit der räumlichen Anordnung und einer angesetzten Aufführungsdauer von vier Stunden hat doppelt bejaht den Charakter einer Konzertinstallation, die man jeder Zeit betreten und wieder verlassen kann, bei der man aber dennoch jeden Moment mitten im Geschehen ist, weil die sich auseinander entwickelnde Abfolge von Augenblicken keine epische Struktur mit Anfang, 5 Mitte, Schluss, Haupt- und Nebensachen kennt. An die Stelle kalkulierter Dramaturgie tritt ein fortgesetzter Prozess von Etablieren, Auflösen, Neubilden, Zerstören, Umwandeln, Positionieren und Negieren immer anderer exemplarischer Ordnungen. Auch ohne Wissen um die Zielvorgaben der einzelnen Konzepte wird der Hörer dabei Zeuge eines offenen kollektiven Verständigungs- und Gestaltungsprozesses, der eine Musik hervorbringt, die in jedem Moment immer auf verschiedensten Wegen neu entsteht und aus der jeweiligen Situation heraus deutlich macht, dass sich das Geschehen an bestimmten Punkten auch ganz anders hätte weiterentwickeln können. Statt bloß Mitbestimmungsrecht in Einzelentscheidungen verleiht Spahlinger den Musikern volle Verfügungsgewalt zur eigenständigen Ausgestaltung eines klingenden Resultats, das sie dann auch weitgehend selbst zu verantworten haben. Von früheren Orchesterkonzepten unterscheidet sich doppelt bejaht auch dadurch, dass es sich nicht in der pädagogisch, politisch oder psycho-sozial motivierten Emanzipation der Orchestermusiker von der Knute des Komponisten und Dirigenten erschöpft, sondern auf eine konzertreife Präsentation zielt, deren Klanglichkeit – einschließlich symphonischer Opulenz – sich dem Publikum genauso mitteilt wie die Kybernetik der Steuer- und Regelungsvorgänge zwischen den Musikern. Aber wieso doppelt bejaht? Der Titel deutet auf eine gesellschaftspolitische Utopie, die Spahlinger mit dem neuen Verhältnis zwischen Komponist, Interpret, Publikum und der Musiker untereinander verbindet. Die Aufhebung entfremdeter Arbeitsteilungen zum Zweck der Vergesellschaftung von Kreativität skizziert für ihn das Modell einer veränderten Gesellschaft. Die Verräumlichung des Orchesters und das Fehlen von zentralen Kontrollinstanzen sind nur äußerliche Anzeichen für die innere Freiheit von traditionellen Hierarchien, Kommunikations- und Befehlsstrukturen, die Spahlinger auch in der Schriftsprache durch konsequente Kleinschreibung abzuschaffen sucht. Alle Musiker sind als Individuen und Kollektiv gleichberechtigt an der Entstehung des orchestralen Gesamtereignisses beteiligt, als fände hier die Diskursethik von Jürgen Habermas´ Theorie des kommunikativen Handelns eine praktische Umsetzung. Spahlinger selbst verweist auf die Pariser Hefte von Karl Marx, wo dieser analysiert, wie der Mensch nicht gesellschaftlich für den Menschen als Menschen produziert, sondern nur für sich, da er Dinge, die er über den eigenen Gebrauch hinaus herstellt, nicht für andere erzeugt, sondern nur zum Tausch mit Produkten der anderen. Marx diagnostiziert darin die Ursache der Verdinglichung sämtlicher menschlicher Beziehungen und Kommunikationsweisen: „Die einzig verständliche Sprache, die wir zueinander reden, sind unsere Gegenstände in ihrer Beziehung aufeinander“. Zugleich verweist Marx auf die Aufhebung der Entfremdung des Menschen von sich und seinen Mitmenschen. Hierin findet auch Spahlingers Projekt seinen utopischen Fluchtpunkt: „Gesetzt, wir hätten als Menschen produziert: Jeder von uns hätte in seiner Produktion sich selbst und den anderen `doppelt bejaht´.“