Persönliche PDF-Datei für Hermann J. Berberich www.thieme.de Mit den besten Grüßen vom Georg Thieme Verlag Der Beckenbodenschmerz des Mannes – Eine somatoforme urologische Schmerzstörung 10.1055/s-0042-116776 PiD 2016; 17 (04): 58–61 Dieser elektronische Sonderdruck ist nur für die Nutzung zu nicht-kommerziellen, persönlichen Zwecken bestimmt (z. B. im Rahmen des fachlichen Austauschs mit einzelnen Kollegen und zur Ver­ wendung auf der privaten Homepage des Autors). Diese PDF-Datei ist nicht für die Einstellung in Repositorien vorgesehen, dies gilt auch für soziale und wissenschaftliche Netzwerke und Plattformen. Verlag und Copyright: © 2016 by Georg Thieme Verlag KG Rüdigerstraße 14 70469 Stuttgart ISSN 1438-7026 Nachdruck nur mit Genehmigung des Verlags Psychotherapie im Dialog 4• 2016 Aus der Praxis Hermann J. Berberich Der Beckenbodenschmerz des Mannes Viele Urologen tun sich schwer bei der Behandlung von Patienten mit einem chronischen Beckenschmerzsyndrom (Chronic Pelvic Pain Syndrom, CPPS). Häufig wird der psychosomatische ­Hintergrund der Beschwerden nicht erkannt und der Patient ­ungezielt mit ­Medikamenten behandelt, ohne dass ein Erfolg eintritt. Dabei kann in vielen Fällen ­bereits eine Behandlung im Rahmen der psycho­somatischen Grundversorgung über Psychoedukation und ­Entspannungsverfahren Abhilfe bringen. Anstrengendes Krankheitsbild Laut National Institute of Health (NIH) unter der einer Umfrage unter niedergelassenen Uro- Kategorie IIIb aufgeführt wird, obwohl diese logen bezeichnen 86 % der Kolleginnen und Kategorie gerade dadurch gekennzeichnet ist, Kollegen den Umgang mit CPPS-Patienten dass keine erhöhte Leukozytenzahl im Pros- Was sind die Ursachen? Psychische Spannung führt zu physischer Verspannung Zahlreiche soma- als schwierig. Sie empfinden sie als skep- tataexprimat, d. h. keine Entzündungszeichen toforme urologische Funktionsstörungen tisch, ungeduldig und fordernd. Die Pati- nachweisbar sind. Diese Einordnung ist wis- gehen mit chronischen Verspannungen enten haben einen verhältnismäßig ­hohen senschaftlich durch nichts gerechtfertigt und im Unterbauch und Beckenbereich einher Beratungsbedarf von durchschnittlich führt sowohl diagnostisch als auch therapeu- (q Infobox 1). 3 Konsultationen pro Quartal. 75 % der Uro- tisch in die Irre (Vahlensieck et al. 2013). logen halten die Hälfte dieser Patienten im Prinzip für unbehandelbar. Diffuse Symptomatik Hinzu kommt, Affekte wie Wut, Ärger, Enttäuschung und dass sich die Patienten mit einer eher diffu- insbesondere Angst erzeugen ein Gefühl Medikation führt nicht weiter Die Hilf- sen Beschwerdesymptomatik vorstellen. Sie der inneren Anspannung. Diese psychische losigkeit der Ärzte spiegelt sich u. a. in den klagen über eines oder mehrere der folgen- Anspannung wird auf die Körpermuskulatur vielen, meist frustranen, medikamentösen den Symptome: übertragen. Behandlungsversuchen wieder (Clewing ▶▶ Druckgefühl im Damm 2009). Das Krankheitsbild der CPPS wird ▶▶ ziehende Beschwerden in den Leisten, häufig nicht als somatoforme Schmerzstö- die z. T. in die Hoden ausstrahlen Es handelt sich um körperliche Bereitstel- rung (ICD 10-GM, 2016) bzw. somatische ▶▶ vermehrter Harndrang lungsreaktionen nach dem Flucht-Kampf- Belastungsstörung mit überwiegendem ▶▶ erschwerte, verlangsamte Blasen­ (Cannon 1915) bzw. Rückzug-Konservie- Schmerz (DSM-5, APA 2013) erkannt, son- entleerung dern stattdessen als chronische Prostatitis ▶▶ Brennen in der distalen Harnröhre oder chronische Testalgie fehlgedeutet und ▶▶ Nachträufeln von Harn Infobox 1 ungezielt mit Antibiotika, Phytotherapeuti- ▶▶ Druckgefühl oder Brennen hinter dem Somatoforme urologische Störungen mit ka oder Analgetika behandelt. Schambein ▶▶ Spannungsgefühl in der Dorsolumbal- Spannungscharakter ▶▶ Reizblasensymptomatik Irreführende Klassifikation Eine der sowie in der Sakralregion ▶▶ psychogene Harninkontinenz Ursachen für diese Fehldiagnosen liegt in ▶▶ Schmerzen bei oder nach der ▶▶ psychogene Harnverhaltung der Tatsache, dass das Chronische Becken- ­Ejakulation schmerzsyndrom nach wie vor in der „Pros­ Allein diese Diffusität lässt bereits einen so- tatitisklassifikation“ des amerikanischen matoformen Hintergrund vermuten. 58 ▶▶ chronischer Beckenschmerz ▶▶ Urethralsyndrom elektronisches Belegexemplar zur persönlichen Verwendung Eine somatoforme urologische Schmerzstörung Psychotherapie im Dialog 4• 2016 Diagnostisches Vorgehen Infobox 2 Stressverarbeitung entwickelt sich mit der Wie bei anderen chronischen Schmerzen Bio-psycho-soziale Schmerzanamnese Zeit eine chronische Muskelverspannung sollte eine ausführliche bio-psycho-soziale (angelehnt an Egle & Zentgraf 2014) ▶▶ zeitliches Auftreten der Beschwerden, rungs-Muster (Engel 1959). Infolge dieser dysfunktionalen psychischen Konflikt- bzw. Schmerzanamnese erhoben werden. Dabei sollten die in q Infobox 2 genannten Punkte Beckenschmerzsyndrom. erfasst werden. Zusätzlich sollte der Patient angehalten werden, ein Schmerztagebuch Unwillkürliche Schutzreaktion Die zu führen. Im Rahmen der Differenzial­ muskulären Verhärtungen werden auch diagnostik ist eine eingehende körperliche / Qualität, Intensität, Lokalisation, Ausstrahlung ▶▶ Zusammenhang mit anderen ­Beschwerden ▶▶ Umstände, unter denen die Triggerpunkte (Trigger = Auslöser) genannt. urologische Untersuchung unbedingt erfor- ­Beschwerden auftreten, sich abmildern Die Triggerpunkte sind nicht nur lokal derlich (q Infobox 3). oder verstärken druckempfindlich, sondern auch verantwortlich für die Auslösung myofaszialer Schmerzen in den sog. Referenzzonen. ▶▶ emotionale Verfassung Therapie (Depression, Angst) ▶▶ biografische Schmerzerfahrungen (OP, Gewalterfahrungen) Psychoedukation Eine verständliche Bei der Anspannung der Beckenbodenmus- Erläuterung der psychophysiologischen kulatur handelt es sich wahrscheinlich um Zusammenhänge für die Entstehung des eine unwillkürliche Reaktion zum Schutz der chronischen Beckenbodenschmerzes führt Urogenitalregion, die auch durch eine vor- bei den meisten Patienten bereits zu einer ausgegangene Erkrankung in dieser Körper- deutlichen Entlastung. Hierdurch werden ▶▶ kognitive Bewertung (Schmerz­ fokussierung, -verständnis etc.) ▶▶ Verhalten beim Auftreten der Beschwerden (Wie versuchen Sie, sich selbst zu helfen?) ▶▶ anhaltende belastende region ausgelöst werden kann. Sie ist gewis- Ängste abgebaut (Angst vor einem Prostata- Lebenssituationen sermaßen der körpersprachliche Ausdruck karzinom, Impotenz oder Operationen) und ▶▶ unsichere Bindung einer Kastrations- bzw. Versagensangst. Behandlungsvorschläge eher akzeptiert. Begleitbeschwerden In vielen Fällen Kompressionsbehandlung der Trigger- Infobox 3 Entspannungsverfahren Eine ­direkte („misstrauisch“, „verwickelt“) lassen sich bei der körperlichen Untersu- punkte, wie sie z. B. von Wise & Anderson Differenzialdiagnostik bei CPPS chung der Patienten ein hoher Analsphink- (2010) empfohlen wird, kann nur einer ers- ausführliche körperliche Untersuchung: tertonus sowie eine schmerzhaft verspann- ten Schmerzreduktion dienen. Ihr müssen ▶▶ Suche nach Triggerpunkten, insbeson­ te Beckenbodenmuskulatur tasten. Oft geht weiterführende Behandlungen folgen, die dere im Bereich der Adduktoren, dem das CPPS mit weiteren Beschwerden wie den Patienten aktiv einbeziehen. Von ei- symphysären Ansatz der Recti abdomini Rücken- Gelenk- und Gliederschmerzen nem großen Teil der Patienten wurden als und der Beckenbodenmuskulatur bei einher. Am häufigsten korreliert es jedoch Folge eines überzogenen Pflicht- und Leis- mit sexuellen Funk­tionsstörungen (Beutel & tungsdenkens über lange Zeit positive Aus- spezielle urologische Untersuchungen: Brähler 2004). gleichsaktivitäten vernachlässigt. Deshalb ▶▶ urologische Sonografie inkl. transrektale spielen bei der Behandlung des CPPS Ent- Komorbiditäten Mehrere St udien spannungsverfahren eine wesentliche Rolle weisen auf eine ganze Reihe psychischer (Egle & Zentgraf 2014). Komor­biditäten hin, z. B. Angststörungen, der digitalen rektalen Untersuchung Sonographie der Prostata ▶▶ Uroflowmetrie, sonografische RestharnBestimmung, IPSS (International Prostate Symptom Score) 4-Gläser- insbesondere Hypochondrie, depressive Progressive Muskelrelaxation Da Probe, Chlamydien, Mykoplasmen, Störungen und Persönlichkeitsstörungen Männer aufgrund ihrer Sozialisation hand- Ureaplasmen, Pilze, TBC, Ejakulatkultur, (Keltikangas-Jarvinen et al. 1981, de la lungsorientiert sind, ist die Progressive PSA; evtl. proktologische Untersuchung Rosette et al. 1993, Mehik et al. 2001). So Muskelrelaxation (PME) hierfür besonders scheint es einen Zusammenhang zwischen gut geeignet. Sie ist das am besten evaluier- den Möglichkeiten der Wahrnehmung und te Entspannungsverfahren und wird in den Regulation von Affekten sowie der Steue- S3-Leitlinien der AWMF „Zum Umgang mit Wirkung erklärt sich aus der neurobiologi- rungsfähigkeit in Beziehungen und der sub- Patienten mit nichtspezifischen, funktionel- schen Überlappung zwischen Schmerz- und jektiven Schmerzwahrnehmung zu geben len und somatoformen Körperbeschwerden“ Stressverarbeitungssystem. Mithilfe der (Albrecht et al. 2015). ausdrücklich empfohlen (AWMF 2012). Ihre PME können Gefühle von Ruhe, Wärme, 59 elektronisches Belegexemplar zur persönlichen Verwendung bis hin zur Ausbildung schmerzhafter Myogelosen. Dies gilt auch für das Chronische Psychotherapie im Dialog 4• 2016 Aus der Praxis Wohlbefinden und Gelassenheit induziert chen scheinen. Gleiches gilt für die Gabe werden. Das damit einhergehende Erleben von Analgetika oder Muskelrelaxanzien, die seien verstärkte innerbetriebliche Konflikte. Er der Selbststeuerung stärkt internale Kont- zudem noch ein hohes Abhängigkeitsrisiko selbst habe große Probleme mit dem Leiter der rollüberzeugungen und schafft bessere Vo- bergen. Nachbarabteilung, mit der er täglich zusam- raussetzungen für eine aktive Schmerzbe- menarbeiten müsse. Dieser sei ein Cho­leriker. Fallbeispiel eine neuronale Umsteuerung auf hypothalamischer ­Ebene, der Parasympathikus wird aktiviert und der Sympathikus gedämpft Wenn sie sich auf dem Flur begegneten, spüre er, wie sich sein Unterbauch regelrecht zusam- Ein 37-jähriger Patient bittet mich um menziehe. Existenzängste brauche er eigentlich einen Beratungstermin. Er leide seit Langem nicht zu haben, aber man wisse ja nie. Die (Egle & Zentgraf 2014). Die PME kann in unter häufigem Harndrang und ziehenden Zeiten seien ja ziemlich unsicher geworden. wenigen Stunden erlernt und fast an jedem Schmerzen im Unterleib. Er sei schon mehrfach Der Patient ist das jüngste von 3 Kindern. Er hat Ort durchgeführt werden. Damit die Ent- in urologischer Behandlung gewesen, man eine 9 Jahre ältere Schwester und einen 6 Jahre spannungsreaktion gebahnt und stabilisiert habe ihm verschiedene Antibiotika, Ibuprofen älteren Bruder. Seinen Vater, der nach der Arbeit wird, ist regelmäßiges Üben erforderlich. und Tabletten gegen den Harndrang (Anticho- seine Ruhe haben und sich mit den Kindern nur linergika) verschrieben. Die Blasenspiegelung, wenig abgeben wollte, schildert er als streng Biofeedback-Training Ebenfalls geeignet die sehr schmerzhaft gewesen sei, habe nichts und jähzornig. Die Mutter sei sehr fürsorglich, ist das sog. Biofeedback-Training mithilfe ergeben, die Medikamente hätten leider nicht aber auch kränklich gewesen. Sie habe ihn eines Beckenbodensummations-EMG. Phy- viel gebracht. Die Tabletten gegen Harndrang immer gewarnt, dass er sich nicht auf fremden siologische Signale, z. B. die Muskelspan- hätten bei ihm sogar Sehstörungen verur- Toiletten anstecken solle. Möglicherweise gebe nung, werden visuell oder akustisch an den sacht. Dies habe ihm beim Autofahren große es da einen Zusammenhang mit seinem Prob- Pati­e nten zurückgemeldet. Unbewusste Probleme bereitet, und da er täglich mit dem lem, fremde Toiletten aufzusuchen. Außerdem bzw. unwillkürliche Körperprozesse wer- Auto zur Arbeit fahren müsse, habe er sie von habe sie ihm beigebracht, keine Tiere anzufas- den ­dadurch wahrnehmbar gemacht und sich aus wieder abgesetzt. Längere Strecken im sen, diese seien schmutzig. können in eine günstige Richtung verändert Auto zu fahren, sei für ihn sowieso ein Problem, Diagnosen: Somatoforme Schmerzstörung werden (Mück-Weymann & Einsle 2005). besonders wenn er in einen Stau ­gerate. Er habe in Form einer CPPS (F45.40), Somatoforme Handliche Biofeedbackgeräte können heut- dann panische Angst, nicht auf die Toilette Störung des Urogenitalsytems (F45.34) , zutage als Hilfsmittel zum selbständigen zu können, wenn er plötzlich Harndrang Angststörung (F41.3.) Einsatz rezeptiert werden. Die Patienten verspüre. Er bekomme in einer solchen Situation Therapie und Verlauf: Zur Linderung der müssen allerdings von einer Fachkraft in regelrechte Schweißausbrüche. Hinterher habe Schmerz­symptomatik ließ sich der Patient von den Gebrauch eingeführt werden. er den ganzen Tag starke Schmerzen im Unter- seinem Hausarzt manuelle Therapie verschrei- bauch und in den Hoden. Er habe jetzt immer ben. Die Progressive Muskelentspannung hatte ein großes Glas mit Schraubdeckel dabei, in das er bereits zu einem früheren Zeitpunkt erlernt, Entspannungsverfahren können den Einstieg er notfalls urinieren könne. Glücklicherweise sie wurde von ihm aber nur unregelmäßig in eine Psychotherapie erleichtern. Diese ist habe er es noch nie gebraucht. praktiziert. Zunächst wollte sich der Patient dann indiziert, wenn psychische Komorbidi- Der Patient ist seit 7 Jahren mit einer 2 Jahre einen Psychotherapieplatz in der Nähe seines täten vorliegen oder der Schmerz das Leit- älteren Frau verheiratet. Seit mehreren Jahren Wohnorts suchen, da die Entfernung zu meiner symptom einer psychischen Störung ist. besteht ein unerfüllter Kinderwunsch. Bei seiner Praxis mehr als 50 km beträgt. Eine Anreise nach Frau sei bei einer Laparoskopie eine Endometri- Feierabend quer durch das Rhein-Main Gebiet ose diagnostiziert worden, bei ihm ein schlech- erschien dem Patienten aufgrund der zahl- Passive Methoden weniger geeignet tes Spermiogramm. Seine Frau wolle keine reichen Baustellen und der damit verbundenen Regelmäßige körperliche Bewegung (Joggen, Kinderwunschbehandlung – sie müssten sich Staus und Fahrtzeit als ein fast unüberwindliches Nordic Walking, Wassergymnastik) haben wohl damit abfinden, keine Kinder zu bekom­ Hindernis. Nach einem halben Jahr kontaktierte einen wichtigen Stellenwert im Gesamt­ men. Er selbst könne mit Kindern sowieso wenig mich der Patient erneut. Es war ihm nicht gelun­ behandlungskonzept (Egle & Zentgraf 2004). anfangen. Die Sexualanamnese ergab, dass sie gen, zeitnah einen Therapieplatz in Wohnort- Behandlungsmethoden, die eine passiv- in letzter Zeit sehr selten Sex hätten, im letzten nähe zu finden. Im Rahmen der manu­ellen regressive Haltung verstärken, sind bei Pati­ Jahr höchstens einmal im Monat, im letzten Therapie hatte sich die körperliche Beschwer­ enten mit einer somatoformen Schmerzstö- halben Jahr eher noch weniger. desymptomatik nur kurzfristig gebessert. Wir rung wie der CPPS weniger geeignet (z. B. Beruflich sei er sehr stark eingespannt. Er arbeite vereinbarten zunächst einige probatorische Massagen, Wärme-, Magnetfeld- oder Ult- im Controlling einer Versicherung. In der letzten Sitzungen, um herauszufinden, ob angesichts raschallbehandlung), auch wenn sie einen Zeit seien erhebliche innerbetriebliche Umstruk- der geschilderten Umstände eine psychothera- kurzfristigen Behandlungserfolg zu verspre- turierungen vorgenommen worden. Die Folge peutische Behandlung bei mir möglich sei. 60 elektronisches Belegexemplar zur persönlichen Verwendung wältigung (Egle & Zentgraf 2014). Es erfolgt Psychotherapie im Dialog 4• 2016 Fazit Bei den Sitzungen beschrieb der ­Patient immer wieder akribisch seine körperlichen Beschwer­ Beim den und wie er versuche, diese in den Griff zu Mannes lässt sich meist keine organpa­ bekommen. Die nähere Anamnese ergab, dass thologische Ursache nachweisen. Organi­ die Beschwerden im Urlaub fast weg seien, sche Befunde, mit denen versucht wird, während sie am Arbeitsplatz deutlich zunäh- die Beschwer­den zu erklären, sollten nicht men. Meine Hypothese, dass es möglicher- unkri­tisch übernommen werden. Es han­ weise einen Zusammenhang zwischen seinen delt sich in den überwiegenden Fällen um Beschwer­den und den Konflikten am Arbeit- eine splatz gebe, konnte der Patient gut annehmen. (ICD10-GM, 2016) bzw. eine somatische Im weiteren Verlauf kam er schließlich auf seine Belastungsstörung (DSM-5, APA 2013). Ängste zu sprechen. Er habe das Gefühl, dass Die Beschwerden werden durch chronische er bei der Arbeit keine Fehler machen dürfe. Verspannungen der Becken- und Abdomi­ Bei einem Fehler nehme er die Verantwortung nalmuskulatur verursacht, die durch psy­ lieber auf sich, als anderen die Schuld zu geben. chische Affekte wie Wut, Ärger und Angst Er mache sich selbst Vorwürfe, Lob hingegen ausgelöst werden. In vielen Fällen ist eine könne er nur schwer annehmen. Er neige ferner Behandlung im Rahmen der psychosomati­ dazu, sich zurückzuziehen und abzukapseln. schen Grundversorgung (Psychoedukation, Außerdem habe er Angst, auf­grund seiner Entspannungsverfahren) ausreichend. Bei Beschwerden eines Tages nicht mehr ­arbeiten tiefer liegenden Ursachen oder psychischen zu können, seine Partnerin zu verlieren und am Komorbiditäten ist zusätzlich eine psycho­ Ende als Einsiedler zu sterben. therapeutische Behandlung indiziert. somatoforme Beckenschmerz des Schmerzerkrankung Der Patient war zwischenzeitlich von seinem Hausarzt arbeitsunfähig geschrieben worden. Schließlich teilte er mir mit, dass er wegen einer Das Literaturverzeichnis zu diesem Beitrag ganzen Reihe neuer Baustellen im Rhein-Main- finden Sie im Internet unter www.thieme-con- Gebiet und den damit verbundenen Staus nect.de/products. Klicken Sie einfach beim jewei- zwischen seinem Wohnort und meiner Praxis ligen Beitrag auf „Zusatzmaterial“. die Therapie vorläufig unterbrechen müsse. Ich schlug ihm vor, sich sobald wie möglich in eine psychosomatische Rehabilitationsklinik in stationäre Behandlung und anschließend wieder in eine ambulante psychotherapeutische Behandlung zu begeben. Die stationäre Behandlung wurde inzwischen vom Rentenversicherungsträger genehmigt. Der weitere Therapieverlauf bleibt abzuwarten. Psychodynamische Überlegungen: Aufgrund des strengen Vaters und der überfürsorglichen, ängstl­ichen Mutter konnte der Patient keine ausreichend stabilen Objekt- und Selbstrepräsentanzen entwickeln. Er hat eine ängstliche, passiv aggressive und zwanghafte Persönlichkeitsstruktur. Um seine starken Dr. med. Hermann J. Berberich Privatpraxis für Psycho­ therapie & Sexualmedizin Breckenheimer Str. 1 65719 Hofheim a. T. [email protected] Facharzt für Urologie, ­Andrologie und Psycho­ therapie, bis 2013 niedergelassener Urologe und Psychotherapeut in eigener Praxis in Frankfurt-Höchst, seit 2013 Privatpraxis für Ärztliche Psychotherapie und Sexualmedizin in Hofheim a. T.; Lehrtätigkeit an mehreren Akademien, Balintgruppenleiter (DBG), Mitglied der DGU, SWDGU, DKG, DGPM, DBG, 1998–2009 Vorsitzender des Arbeitskreises „Psychosomatische Urologie und Sexualmedizin“ der Akademie der Deutschen Urologen. elektronisches Belegexemplar zur persönlichen Verwendung chronischen Es kann jeden treffen! Ulrich Leutgeb Episodische Depressionen Erfolgreiche und effektive Behandlung in der Praxis 4., aktualisierte Auflage 2016. 136 S., 5 Abb., Kt € 19,95 / CHF 26.90 ISBN 978-3-456-85698-8 Auch als eBook erhältlich Was ist der Grund für eine Depression? Wie kann der Arzt helfen? Was spielt sich aus neurophysiologischer Sicht bei einer Depression ab? Was bewirken Medikamente gegen Depression? Der Autor Dr. Ulrich Leutgeb gibt in diesem Buch auf diese und weitere Fragen fundiert Antwort. Gut verständlich, allgemeingültig, lebensund praxisnah und gestützt auf Ergebnisse moderner Forschung. Als niedergelassener Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie schätzt er die Erfolgsaussichten bei individueller Behandlung in der Praxis als sehr gut ein. www.hogrefe.com Versagens- und Selbstverlustängste abzuwehren, verschiebt er diese auf Blase und den Unterbauch. Beitrag online zu finden unter http://dx.doi.org/10.1055/s-0042-116776 Interessenkonflikt Der Autor gibt folgenden Interessenkonflikt an: 2013 ­Referent und Beratung für Berlin Chemie; seit 2014 verantwortlicher Leiter der Studie zur Progredienz­ angst bei Patienten mit Prostatakarzinom, Sponsor: ­Apogepha Arzneimittel GmbH, Dresden; 61