28.1 Das Unfassbare im Leben 28.2 Grundlage

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28 Integrative Funktionen des Gehirns
28.1
Das Unfassbare im Leben
… des Bahnarbeiters Phineas Gage ereignete sich am 13.
September 1848 in Vermont (USA). Bei Sprengarbeiten
löste sich ein Eisenstab von etwa einem Meter Länge, 4 –
5 Zentimetern Durchmesser und 6 kg Gewicht, drang
unterhalb der linken Orbita in den Schädel von Gage ein
und zerstörte große Teile des Frontallappens seines Gehirns (Abb. 28.1). Erstaunlicherweise blieb Gage nicht nur
bei Bewusstsein, sondern er saß bei der Fahrt zu einem
nahe gelegenen Hotel aufrecht und stieg eine recht lange
Treppe hinauf. Er wurde ambulant ärztlich behandelt und
erholte sich nach Abklingen von Infektionen im Verlaufe
von nur wenigen Monaten soweit, dass für den Außenstehenden keine Unterschiede seiner Fähigkeiten im Vergleich zu Zeiten vor dem Unfall erkennbar waren. Seine
näheren Bekannten allerdings bemerkten deutliche Änderungen seines „Wesens“ und seiner „Persönlichkeit“,
insofern als aus einer freundlich-zurückhaltenden Person
mit wohl organisiertem Tagesablauf in Folge des Unfalls
ein aggressiver, launischer Mensch geworden war, der
mit normalen sozialen Umgangsformen nicht zurecht
kam und der zu planend vorausschauendem Handeln
kaum mehr in der Lage war. Zu jener Zeit existierten zwar
keine psychologischen Tests, die über Gages geistige
Fähigkeiten hätten Auskunft geben können, aus den
Schilderungen geht allerdings hervor, dass die Persönlichkeit von Gage sehr viel stärker durch den Unfall betroffen
war als seine Intelligenz. Damit stimulierte die Beschreibung dieses Unfalls die Vorstellung, dass zwischen persönlichkeitsbezogenen Attributen und neuralen Prozessen ein Zusammenhang besteht. In der Tat zeigen Ergebnisse zahlreicher klinischer und experimenteller Studien
einen Zusammenhang zwischen umschriebenen Hirnregionen und so genannten höheren Hirnfunktionen. Die
Grundlagen von Kognition, Emotion, Motivation, Sprache,
Lernen und Gedächtnis sowie wesentliche Aspekte der
Hirnentwicklung werden im nachfolgenden Kapitel dargestellt.
28.2
Grundlage kognitiver Funktionen
Als kognitive Funktionen werden diejenigen Hirnfunktionen bezeichnet, die Teilfunktionen von Sinnessystemen und motorischen Systemen integrieren, diese gedächtnisabhängig bewerten und mit aktuellen Zuständen von Aufmerksamkeit, Emotion und Motivation
abstimmen. In ihrer Gesamtheit begründen die kognitiven Funktionen das „Ich“-Konzept jedes Menschen.
Aus klinischen Befunden, dass bei lokalisierter Schädigung des Gehirns bestimmte kognitive Prozesse gestört
sind, wurde die Hypothese entwickelt, dass jeder experimentell beschreibbaren mentalen Leistung ein
räumlich-zeitliches Muster neuraler Aktivität zugeordnet werden kann.
In vorangehenden Kapiteln wurden diejenigen Regionen
und Funktionen im Gehirn besprochen, die für die Verarbeitung von Sinnessignalen (Kap. 20 – 24) und die Generierung motorischer Kommandos (Kap. 26) von primärer
Bedeutung sind. Darüber hinaus existieren Prozesse im
Gehirn des Menschen, die diese Funktionen integrieren,
A Frontalhirnverletzung
(Rekonstruktion)
B Ausmaß der Schädigung
Abb. 28.1 Frontalhirnverletzung des Sprengmeisters
Phineas Gage. A Rekonstruktion auf Grundlage des in einer
anatomischen Sammlung enthaltenen Schädels (mit freundlicher Genehmigung von Prof. H. Damasio, Univ. Iowa, Iowa
City, USA). B Anzunehmendes Ausmaß der Schädigung des
frontalen Kortex.
die Aufmerksamkeit auf bestimmte Reize lenken, diese
Reize entsprechend der individuellen Erfahrung bewerten, mit internen Zustandswerten von Motivation oder
Emotion vergleichen und daraus geeignete Verhaltensantworten planen. Diese Fähigkeiten werden kollektiv als
Kognition und die zugrundeliegenden Hirnfunktionen
als kognitive Funktionen (lat.: die Erkenntnis betreffende Funktionen) bezeichnet. Dabei ist Bewusstsein nicht
notwendigerweise eine Voraussetzung für diese Funktionen oder für eine Leistungsverbesserung. Zum Beispiel
können wiederkehrende Situationen im täglichen Arbeitsablauf nach dem Erlernen korrekt bewältigt werden,
ohne dass sie in das Bewusstsein gelangen. Auch der
emotionale Ausdruck im Gesicht unseres Gegenüber kann
schnelle, „unterbewusste“ Reaktionen hervorrufen.
Allerdings ist Bewusstsein die Voraussetzung für wesentliche Fähigkeiten des Menschen: das persönliche Erleben von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die
vorausschauende Planung und Verantwortung, und das
sich daraus entwickelnde „Ich“-Konzept.
Klinische Beobachtungen zeigen, dass Schädigungen
umschriebener Regionen des Gehirns Störungen bestimmter kognitiver Funktionen zur Folge haben. Diese
klinischen Ergebnisse, ergänzt durch bildgebende und
elektrophysiologische Verfahren sowie neuropsychologische Tests in Patienten und gesunden Probanden, führten
zu der Vorstellung, dass jeder experimentell beschreibba-
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R. Klinke, H-C. Pape, St. Silbernagl: Physiologie (ISBN 3-13-796005-3) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2005
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28.3 Organisation des Cortex cerebri – Assoziationscortices
primäre sensorische und motorische Areale
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Assoziationscortices
ren mentalen Leistung ein räumlich-zeitliches Muster
neuraler Aktivität zugeordnet werden kann. Ein daraus
entwickeltes Gesamtkonzept der integrativen Leistungen
des Gehirns kann in 5 Prinzipien vereinfachend zusammengefasst werden:
– Das Gehirn ist ein signalverarbeitendes System, in
dem die Information in spezialisierten Funktionseinheiten (Modulen) verarbeitet, gespeichert und abgerufen wird.
– Die Module existieren in Form umschriebener Hirnareale und der Aktivitätsmuster der darin enthaltenen neuralen Elemente und synaptischen Verbindungen (vgl. Kap. 5).
– Die Organisation der Module wird durch interne und
externe Faktoren bestimmt (genetische, entwicklungsabhängige, sozio-kulturelle Faktoren).
– Adaptive Prozesse der Module, zum Beispiel im Sinne
von Lern- und Gedächtnisvorgängen, resultieren aus
plastischen Veränderungen im Bereich der synaptischen Signalübertragung.
– Die Assoziationsareale des Cortex cerebri stellen
wichtige Module für so genannte höhere Hirnfunktionen dar.
Obwohl dieses Konzept gelegentlich kontrovers diskutiert wird –
begründet vor allem in der Vielschichtigkeit von Begriffen wie
„Kognition“, „Bewusstsein“, „Persönlichkeit“ – stellt es eine sinnvolle Arbeitshypothese dar. Allerdings sind die Zusammenhänge
zwischen neuralen und geistigen Prozessen durch die Neuromedizin oder die Neurobiologie keinesfalls abschließend beschrieben oder gar im Sinne einer Kausalbeziehung bewiesen, und die
offenen Fragen geben Anlass zu vielfältigen neurophilosophischen Überlegungen und Theorien.
Organisation des Cortex cerebri –
Assoziationscortices
Der Cortex cerebri (zerebraler Kortex, „Hirnrinde“) wird
nach Brodmann in 52 zytoarchitektonische Areale untergliedert. Die kortikalen Areale sind aus horizontalen
Schichten (Laminae) und vertikal zur Oberfläche orien-
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Abb. 28.2 Strukturelle Organisation des Neokortex. Zytoarchitektonische Areale von Brodmann, in Lateral- (links)
und Medianansicht (rechts) des menschlichen Gehirns. Blaue
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Medianansicht
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Farbtöne kennzeichnen Assoziationscortices, rote Farbtöne
markieren primär sensorische und motorische Areale.
tierten funktionellen Säulen (Kolumnen) aufgebaut.
Der Neokortex enthält 6 Schichten (I – VI), die afferenten Hauptzustrom aus dem spezifischen (IV) und unspezifischen Thalamus (I) sowie aus kortikalen Arealen
(II–VI) erhalten. Sie sind efferent mit anderen kortikalen
Arealen (II, III), subkortikalen Strukturen (V) und dem
Thalamus (VI) verbunden. Vertikale und weitreichende
horizontale kortikale Verbindungen ermöglichen eine
zunehmende Extraktion definierter Merkmale von Sinnesreizen. Den Hauptteil der Hirnrinde belegen Assoziationsareale (Assoziationscortices), die Wechselwirkungen zwischen den Arealen mit primär sensorischen und
motorischen Aufgaben vermitteln. Die Assoziationscortices stellen demzufolge wichtige Module für integrative, so genannte höhere Hirnfunktionen dar. Die integrative Funktion der Assoziationscortices zeigt sich an
ihrem afferenten Hauptzustrom aus thalamischen Gebieten, die bereits verarbeitete Signale aus dem Kortex
erhalten, sowie einem hohen Grad an kortiko-kortikalen Verbindungen. Eine lokale Funktionsstörung des
Assoziationskortex hat bestimmte kognitive Defizite
zur Folge. Parietale Schädigung führt häufig zu Aufmerksamkeitsdefiziten (z. B. Neglektsyndrom), temporale Schädigung hat Defizite im (Wieder-)erkennen
(z. B. Agnosie) zur Folge, und frontale Schädigung resultiert in vielfältigen Defiziten der planend-vorausschauenden Handlung sowie Änderungen der Persönlichkeit
Der Cortex cerebri ist in Areale, Schichten
(Laminae) und Säulen (Kolumnen) gegliedert
Der Cortex cerebri (zerebraler Kortex, auch als „Hirnrinde“ bezeichnet) nimmt im Menschen mit ca. 500 cm3
nahezu die Hälfte des gesamten Hirnvolumens ein. Regional spezifische histologische Merkmale ermöglichten bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Untergliederung
in 52 zytoarchitektonische Areale, die nach dem Erstbeschreiber auch als „Brodmann“-Areale bezeichnet
werden (Abb. 28.2; vgl. Abb. 26.18). Viele dieser histologisch definierten Areale haben sich auch als funktionell
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