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Neue Musik
HEUTE?
Versuch einer
Standortbestimmung
Texte von und zum Symposion von
mica – music austria
in Kooperation mit der Universität für Musik
und darstellende Kunst Wien und Wien Modern
(23.–26. Oktober 2012)
Impressum
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Bibliographic information published by Die Deutsche Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek lists this publication in the
Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data is
available on the internet at http://dnb.ddb.de.
ISBN 978-3-902796-23-3
Herausgeber: mica - music information center austria,
1070 Wien, Stiftgasse 29, Tel +43 (1) 52104.0,
[email protected], www.musicaustria.at
Konzeption des Symposions: Reinhard Kapp und Wolfgang Seierl
Redaktion: Wolfgang Seierl und Doris Weberberger
englische Beiträge: Doris Miyung Brady
Layout: Kerstin Halm
Coverbild: Wolfgang Seierl
© bei den Autorinnen und Autoren
© edition mono/monochrom, 2014
Zentagasse 31/8, 1050 Wien, Österreich
fax/fon: +431/952 33 84
[email protected]
Die Diskussions- und Vortragsreihe mica focus wird unterstützt durch die Abteilung für
Wissenschafts- und Forschungsförderung der MA7 Wien.
Contents
Neue Musik – heute?
Wolfgang Seierl, Doris Weberberger
6
Kunst als Ort produktiver Distanz
Sabine Sanio
13
Was ist neu in der
Neuen Musik seit 1980? Elektronische Musik – von der Avantgarde-Nische
zum paradigmatischen Musikstil
PETER TSCHMUCK
25
Materialstand: Firma I
Johannes Kreidler
36
Neues Musikschaffen: Musikalische Kreativität in
technischen Dispositiven
Martha Brech
45
Kein Vortrag
sylvia wendrock
53
DJs als Beispiel für einen neuen Typus
des Musikschaffenden
Rosa Reitsamer
54
All of Yesterday’s Parties
Marko Ciciliani
61
Die „ausfransenden“ Ränder Art, Media und Dance
Alfred Smudits
63
Musikalische Omnivores und fluide Identitäten
Round Table
66
Antinomien musikalischer Genrezuordnungen
Susanne Kirchmayr
75
Vermittlung Neuer Musik
Audience Development - A Challenge for Composers
Ludger Hofmann-Engl 82
Die Bedeutung von Kontinuität und Diskurs
im Kontext von Vermittlungsprojekten
Hans Schneider
86
Musikvermittlungsprojekte des Klangforum Wien
Emilija Jovanovic
92
Neue Medien und die Vermittlung
Neuer Musik im Musikunterricht
Thorsten Wagner
97
Pädagogische Projekte – Mission oder Alibi?
Round Table
105
Neue Musik im pädagogischen Kontext
Constanze Wimmer
112
Vernetztes Vertrauen
Anna Schauberger
117
Öffentliche/private Diskursformen
Diskursformen der Neuen Musik Round Table
122
Gibt es einen Underground?
The Man Who Bangs His Big Bass Drum
Bill Drummond 138
Underground – aus Überzeugung?
Round Table
147
Is there an underground?
Curt Cuisine 160
Lou Mallozzi: For the Record
Barbara Lüneburg
168
Erfolg in der Neuen Musik
Geschützter Raum
Marie Luise Maintz
170
Materialstand: Firma II
Johannes Kreidler
175
Ist Neue Musik erfolglos/erfolgreich
und in welchem Kontext? Round Table
178
Marketing Music
Franz Kasper Krönig
Biographien
Register
187
Neue Musik – heute?
Vorwort
Wolfgang Seierl, Doris Weberberger
Elektronische Möglichkeiten der Klangerzeugung und -veränderung erfüllen in den letzten Jahrzehnten mit leicht zugänglichen Mitteln schier jeden Wunsch akustischen Formens; und in Verbindung mit akustischen Instrumenten bieten sich unzählige weitere
Arten des Kombinierens und Experimentierens. Selbst die Verbreitung des vergänglichen musikalischen Resultats über die digitalen Kanäle, die beinahe den gesamten
Erdball überziehen, ermöglicht den Zugang zu einem nahezu unerschöpflichen Reservoir gestalteter Zeit. Dabei mag gelegentlich der Eindruck aufkommen, dass nicht nur
alles Klangliche möglich, sondern dass in einer Welt der postmodernen Collagen und
Montagen, Verschmelzungen und harten Kontraste auch beinahe alles erlaubt sei. Und
doch – oder gerade deshalb – bilden sich in dieser heterogenen Welt Genres und immer mehr Subgenres heraus, um angesichts dieser Informationsflut das Gefühl der
Orientierung zu vermitteln.
Welchen Weg beschreitet in diesem vielgestaltigen Feld insbesondere die „Neue
Musik“, die als Genre das „Neue“ bereits in ihrem Namen trägt und gleichzeitig ständig
auf ihre Tradition referenziert? Was ist die Neue Musik heute, in welchem Verhältnis
steht sie zu anderen musikalischen Genres und wo steht sie im Kontext heutigen Musikschaffens? Diese Frage stellen sich zunächst die Musikschaffenden selbst, denn
ihnen wird als Erste bewusst, dass sie trotz gewisser Erfolgstendenzen in diesem Genre
jenseits des Mainstreams arbeiten.
Seit der Festigung des Begriffs „Neue Musik“ vor etwa hundert Jahren hat sich vieles
verändert. Heute eher unscharf geworden (oder um mit Adorno zu sprechen: ausfransend) ist der Terminus „Neue Musik“, meist mit großem N geschrieben und damit Beleg
für eine Art Markencharakter, nach wie vor gebräuchlich.
Diese Unschärfe macht sich auch in den musikalischen Szenen, die den Begriff für
sich in Anspruch nehmen, bemerkbar. Zwar lässt sich mit dem Wort neu eben alles in
seiner Vielfalt und Komplexität Entstehende als etwas Neues beschreiben, doch ist
heute aufgrund der stilistischen Vielfalt, der Heterogenität der Materialien sowie der
diversen unterschiedlichen, teils gegenläufigen Tendenzen damit weniger ausgesagt,
als das vielleicht noch vor fünfzig Jahren der Fall war. Schließlich reicht all jenes, das
mit diesem Begriff versehen wird, von erweiterter Tonalität, Bezügen zu Methoden wie
der Zwölftontechnik oder der Serialität oder avantgardistischen Klangmitteln bis hin zu
improvisatorischen Elementen, postmodernen Collagen und elektronischen Klangerzeugnissen diverser Spielarten – deren vielfältige Kombinationsmöglichkeiten eingeschlossen. Da und dort jedoch bemerken Fachleute, dass es schon seit Jahren nichts
Neues mehr in der Neuen Musik gebe (ohne damit das postmoderne Ende der Geschichte anzusprechen zu wollen), sondern orten eine Krise der zeitgenössischen „Kunstmusik“. Doch was ist die zeitgenössische Kunstmusik? Erhebt sie weiterhin den Anspruch,
6
stets neu, unangepasst, fortschrittlich, innovativ zu sein? Oder hat sie es sich in ihrem Quasi-Elfenbeinturm bequem gemacht? Auf der Suche nach Umbrüchen stockt
der Blick in die jüngere Vergangenheit bei offensichtlichen Neuerungen, die sich vor
allem im technologischen Bereich seit den 1980er Jahren vollzogen haben und breite,
radikale Veränderungen unserer Musikkultur zeitigten.
„Ziemlich sicher erscheint, dass unsere gängigen Wertkriterien verbraucht sind und
ersetzt werden müssen“, schreibt Hans Vogt bereits 1972 in Bezug auf die Entwicklung der Neuen Musik.1 Die Versuche, Kriterien in der aktuellen Musiklandschaft aufzufinden, scheinen zum Scheitern verurteilt, denn nicht nur die Fülle, Komplexität und
Unüberschaubarkeit der Musik unseres Informationszeitalters ist ein Hindernis für das
Herausfiltern eines eindeutigen und übersichtlichen Wertekatalogs. Die Wahrnehmung
dieses Zustandes als Orientierungslosigkeit, die in solcher Zeit das Musikleben erfasst,
war der Grund für die Abhaltung des Symposiums Neue Musik – heute? und in Folge für
die vorliegende Publikation der Ergebnisse sowie weiterführender Texte.
Ohne Zweifel ist die Situation unserer Gesellschaft in Zeiten sich wandelnder Codes
krisenhaft. Musikalische Zeichen sind wie die Zeichen des Alphabets eindimensionale
konzeptuelle Codes, die unsere Zeitvorstellung bestimmen und prägen. Ändern sich
diese, ändert sich unsere Vorstellung von der Welt. Um diese Änderung nachzuvollziehen, sei hier kurz die Geschichte des Begriffs „Neue Musik“ angerissen.
„Neue Musik“ – eine Begriffsgeschichte
Um 1900 wurde nicht nur die Musik, sondern auch andere Künste von einem Paradigmenwechsel und dem Drängen auf Neuorientierung ergriffen – das Loos-Haus auf
dem Wiener Michaelerplatz gegenüber der Hofburg oder die zunehmend abstrakter
werdende bildende Kunst machten dies augenscheinlich. Das Ringen um Begrifflichkeit war um und nach der Wende zum 20. Jahrhundert ein Merkmal des Bestrebens
um Etablierung des noch nicht Etablierten. In der Musik wurde dem zunehmenden
Auflösen der Tonalität bis hin zur Zwölftontechnik wie auch der ins Wanken geratenen
Formen mit dem Begriff Neue Musik Rechnung getragen, der sich etwa um 1919 als Begriffswort im deutschsprachigen Raum durchgesetzt und 1925 endgültig gefestigt hat2.
Ein Ausdruck, der ursprünglich nicht kontextgebunden war, wurde im Lauf seiner Geschichte zum Brand- bzw. Markennamen einer Epoche stilisiert und damit auch einem
Bedeutungswandel unterzogen – schließlich aber auch grundsätzlich in den Kontext
einer bestimmten Sprache und musikalischen Entwicklung gestellt.
1 Hans Vogt, Neue Musik seit 1945, Stuttgart 1972, S. 97.
2 Christoph von Blumröder, Der Begriff „neue Musik“ im 20. Jahrhundert. München, Salzburg 1981 (=
Freiburger Schriften zur Musikwissenschaft, Bd. 12), S.49ff.
7
Um 1920 waren folgende Konstanten mit dem Begriff Neue Musik verbunden3:
kultureller Universalismus, geistige Neuorientierung, Aktualitätsanspruch, Gegenposition zur Romantik, der epochale Aspekt und die Einbindung in die Tradition. Auch
Fortschritt und Avantgarde wurden und werden noch immer als mit dem Neuen verwandt begriffen. Polemisch äußerte sich schon Arnold Schönberg 1933 in einem Vortrag bzw. Aufsatz zur Problematik des Begriffs Neue Musik: „Was ist ‚Neue Musik‘?
Offenbar doch eine solche, die es vor ihr noch nicht gegeben hat? So neu muss aber
Musik immer sein, sofern es sich um Kunst handelt! Denn nur das Neue, Ungesagte
ist in der Kunst sagenswert. So neu war tatsächlich Kunst zu jeder Zeit, und wir hätten danach die Wahl, Werke von Josquin des Prés, oder von Bach oder von Haydn
oder von welchem großen Meister immer, als neue Musik zu verstehen; denn Kunst
heißt: Neue Kunst. Aber das haben die Erfinder dieses Schlagwortes nicht gemeint.
Erfinder ist etwas zu viel gesagt, denn es waren keine Erfinder, die der in den letzten
Jahren entstandenen Musik den Titel einer neuen Musik verliehen haben; sondern im
Gegenteil eine Art Historiker, wenn man Leute so nennen will, die vielleicht
die wichtigsten Tatsachen der Musikgeschichte, aber nicht deren Sinn kennen. […]
Neue Musik ist die Musik neuer musikalischer Gedanken. Neue Gedanken zeigen sich
in einer neuen äußeren Gestalt. Musik aber, die einmal wahrhaft neu gewesen ist, kann
in Wirklichkeit nicht veralten ...“4
Dass die Neue Musik bereits wenige Jahre nach ihrer Begriffsbildung alles andere
als einheitlich war, bemerkte Carl Dahlhaus, der nicht zuletzt durch die fundamentale
Zäsur des Zweiten Weltkrieges bezweifelt, von Neuer Musik als einer geschlossenen,
in sich zusammenhängenden Entwicklung sprechen zu können. Für ihn ist Neue Musik
Idee, Institution und Prestigevokabel, welche nur einen quantitativ geringen Teil der
Kompositionsgeschichte des 20. Jahrhunderts repräsentiert.5
Dass nicht erst die jüngere Musikgeschichte, sondern selbst die der letzten tausend
Jahre durch Prozesse der Innovation, etwa über Faktoren der Schaffung einer neuen Institution, der Herausbildung einer neuen Gattung, der Bestimmung einer bisher unbekannten Funktion, der Entgrenzung eines bestehenden Musikbegriffs, der Beteiligung
des Publikums vielfältig bestimmt war, legte auch Hermann Danuser dar.6
Seit etwa 1954 verbreitete sich ein pluralistisches Verständnis des Begriffswortes
Neue Musik der als neu empfundenen Musik des 20. Jahrhunderts seit etwa 1910.7
3 Arnold Schönberg, „Neue und veraltete Musik, oder Stil und Gedanke“, 3. Fassung eines Vortrags, in: Ivan
Voitêch (Hg.), Arnold Schönberg, Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik, Nördlingen 1976, S. 466ff.
4 Arnold Schönberg, „Neue und veraltete Musik, oder Stil und Gedanke“, 3. Fassung eines Vortrags, in: Ivan
Voitêch (Hg.), Arnold Schönberg, Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik, Nördlingen 1976, S. 466ff.
5 Carl Dahlhaus, Vorwort, in: Hans Heinz Stuckenschmidt, Neue Musik, Frankfurt am Main 1981, S. VIIff.
6 Danuser nennt als Faktoren: terminologischer Neuansatz, kompositorische Neuerung, Schaffung einer
neuen Institution, Herausbildung einer neuen Gattung, Bestimmung einer bisher unbekannten Funktion,
Entgrenzung eines bestehenden Musikbegriffs, Beteiligung des Publikums, Entfaltung von Reflexionsstrukturen, Einführung neuer Spiel- und Gesangsweisen, in: Hermann Danuser: Art. „Neue Musik“, in:
MGG2, Sachteil Bd. 7, Kassel etc. 1997, Sp. 75f.
7 Blumröder: Der Begriff „Neue Musik“ im 20. Jahrhundert, S. 114.
8
Bereits 1955 proklamierte Herbert Eimert das Ende der Neuen Musik, weil er im seriellen Denken und der elektronischen Musik ein Neues repräsentiert sah, das mit dem
alten Begriff unvereinbar geworden sei.8
Mit „unverstelltem Blick auf das Dasein“
Für Hermann Danuser resultiert das breite Bedeutungsspektrum des Begriffs Neue
Musik aus seinem Status als Relations- und Funktionsbegriff, dem fast jede Bedeutung zugewiesen werden könne, sofern sie sich in einem nachvollziehbaren Sinn gegen
eine bereits existierende Musik, die damit zu einer „älteren“ würde, absetzen ließe.
In diesem Sinn betrachtet er Neue Musik als eine plurale Kategorie der Musik des 20.
Jahrhunderts. Ulrich Dibelius, der durch den Begriff zunächst die Zeitspanne zwischen
1908 und 1950 eingegrenzt sehen will, sieht in ihm auch etwas von den auslösenden
Postulaten und der bewusst antiromantischen Haltung der Nachkriegsgeneration erhalten und teilt die Meinung vieler anderer, dass die Entwicklungen in der Musik nach
1950 im Begriff Neue Musik nur mehr mit Mühe unterzubringen sind – es sei denn unter
Einbußen an definitorischer Bestimmtheit. Der von ihm vorgeschlagene Begriff Moderne
Musik sei aber hinlänglich präzise.9
Christian Demand verweist auf die zentrale Rolle der Kategorie des Neuen
in der Geschichte der europäischen Kunst seit etwa der Französischen Revolution.
Innerhalb kurzer Zeit würde der bis dahin gültige ästhetische Leitwert der Schönheit
durch den Begriff der Innovation ersetzt. Es handle sich dabei nicht um eine normale
Stilablösung, sondern um die Etablierung eines radikal Neuen, um einen Bruch, der
die Kategorie der Kontinuität infrage stelle. Der Versuch, mit dem einen Begriff der
Moderne oder später des Zeitgenössischen die unüberschaubare Vielfalt dessen, was
jeder normativen Ästhetik widersprechend als Kunst angesehen wird, zu fassen, erweise sich als Fiktion. Das Neue, aus der diese Moderne ihre Legitimation bezieht, ist – im
Unterschied zum vor der Französischen Revolution geltenden Neuen als einer Kategorie
der Gefälligkeit des Künstlers dem Publikum gegenüber – unbedingt, kompromisslos
und missionarisch. Es definiere sich vor allem als etwas, das mit dem Alten als Inbegriff
des Heteronomen und Uneigentlichen gar nichts gemeinsam hat, es negiere Tradition
schlechthin. Es gehe – wie auch Nietzsche schreibt – um das Abwerfen des historisch
zivilisatorischen Ballastes, um über die ganze mögliche Fülle der Existenz verfügen zu
können. Nur die unversöhnliche Opposition zum Alten garantiere einen „unverstellten
Blick auf das Dasein“10.
Den Aspekt von Musik als Wort der öffentlichen Sprache führt Stephen Davies in
diese Diskussion ein. So würden Kreative zwar versuchen, die geltenden Normen ihrer
Musikkultur herauszufordern, zurückzuweisen oder zu unterlaufen, dennoch müssten
8 Blumröder: Der Begriff „Neue Musik“ im 20. Jahrhundert, S. 127.
9 Ulrich Dibelius: Moderne Musik nach 1945, München 1998 (1966), S. 358f.
10Christian Demand: „Revolution oder Reformation? – Über das Ethos des Neuen in der Kunst der Moderne“, in: Leander Kaiser (Hg.): Die ästhetische Gnosis der Moderne, Wien 2008, S. 34f.
9
sie aber an vielem festhalten, das nach öffentlicher Einschätzung für den Begriff Musik charakteristisch sei. Man müsste aber dennoch an vielem festhalten, das für den
Begriff Musik charakteristisch sei. Im Laufe der Zeit, so Davies, können alle Regeln erodieren, so dass die zeitgenössische Musik nur mehr wenig wie ältere Musik klinge und
von denen, die mit der älteren Musik vertraut waren, nicht mehr als Musik aufgefasst
werden könnte. Die Tatsache, dass dieser Prozess sich nur schrittweise vollziehe, sei
dafür verantwortlich, dass das Neue mit dem Vorangegangenen soweit in Verbindung
bleibe, dass es vernünftigerweise als Musik gelten könne. „Wenn wir eine Zeit erreicht
haben, in der Stille, Fabriklärm und vieles andere mehr als Musik gelten kann, dann
zeigt das nicht, dass der Begriff leer ist, sondern dass die geschichtliche Entwicklung
des Begriffs eine zentrale Rolle für seine Identität spielt“11.
Neue Musik – neue Institutionen
Die etablierten Institutionen des Musiklebens waren den Anforderungen, die die Neue
Musik an sie stellte, nicht gewachsen. Daraus ergab sich eine tiefgreifende und lang
andauernde Umwälzung des Musiklebens, in dem zu den traditionellen Institutionen
neue hinzutraten, die die Kultur der Neuen Musik darstellten – spezielle Institutionen
wurden aber auch deshalb gegründet, weil das traditionelle Konzertpublikum nicht
bereit war, die Neue Musik zu rezipieren. Die so entstandenen Spannungen führten
regelrecht zu einer Aufspaltung der bürgerlichen Musikkultur. Die Aktivität der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik etwa ist heute zu einem weltweit wirkenden
Kultursystem geworden. Diese wie auch etwa die 1946 gegründeten Ferienkurse für
Neue Musik Darmstadt waren und sind nicht nur Plattformen für musik- und kompositionsgeschichtliche Entwicklungen, sondern gleichzeitig selbst künstlerische Produktionsstätten. Die in diesem Kontext entstandenen und entstehenden Werke stehen
somit in engem Zusammenhang zu den Intentionen, die die Geschichte der Institution
Neue Musik ausmachen.12
Die Geschichte der Musik ist also jeweils immer eine Geschichte der neuen Musik.
Die Fragestellung im Rahmen des Symposions und im Rahmen der vorliegenden Publikation Neue Musik – heute? orientiert sich also an den Paradigmen unserer Zeit, wobei
sich als Hauptproblemfelder folgende zeigen: Digitalisierung und neue Medien, veränderte Hör- bzw. Musikkonsumgewohnheiten, Vermittlung von Musik im pädagogischen
Sinn und der oft fehlende Diskurs auch in traditionellen Medien.
11 Stephen Davies (2007) S. 72 f. David Brackett entwickelt einen ähnlichen Zugang zur neuen Begrifflichkeit. Nicht der Zusammenbruch der Kategorien, sondern die Entdeckung neuer Verhältnisse in und
zwischen diesen, sowie eine neue Art, diese neuen Verhältnisse auf ökonomischer und technischer Ebene zu artikulieren, sei gefragt. („Rather than the collapse of categories, it seems to me that one of the
explanatory uses of a term like postmodernism is to shed light on new relationships within and between
categories, and new ways in which those relationships are articulated with shifts in the economic and
technological levels of cultural production“, in: David Brackett, „Where’s It At‘- Postmodern Theory and
the Contemporary Musical Field“, in: Judy Lochhead: Postmodern music - postmodern thought, Routledge
2002, S. 224.
12 Danuser: „Neue Musik“, Sp. 79f.
10
Überblick
Im Wissen um die Geschichte des Begriffs „Neue Musik“ stellt sich dezidierter die Frage
nach der jüngeren Vergangenheit: Was ist neu in der Neuen Musik seit 1980? / Neue
Medien und neues Musikschaffen. Digitalisierung, neue Technologien und Medien,
mp3, Internet, Web 2.0 und Social Media zeitigen nicht nur einschneidende Veränderungen des Marktes, sondern auch eine Entwicklung von einer materialbezogenen
zu einer kommunikationsbezogenen Definition von Musik (bzw. zur Musik als Darstellungsmedium). Ob postmoderne Fusion von Genres oder die Vernetzung unterschiedlichster Ästhetiken und Publikumsgruppierungen, im Mittelpunkt stehen mehr denn je
das Hören, Austausch und Interaktion, und damit auch erneut die Materialfrage. Als
Vorgeschichte legt Sabine Sanio die Entwicklung der Avantgarde dar; Peter Tschmuck
und Martha Brech geben Auskunft über die technischen Neuerungen, die sowohl für
KomponistInnen wie auch für die Musikproduktion und ihre KundInnen „alles änderten“ (Tschmuck). Wie man kreativ mit der Fülle an elektronischem Material umgehen
und gleichzeitig kritisch Stellung zu gesellschaftlichen Vorgängen nehmen kann, verrät
Johannes Kreidler. Ob die Neuerungen mit DJs gar ein neues Berufsfeld zutage gefördert haben, fragt Rosa Reitsamer.
Wo aber fängt die Neue Musik an und wo endet sie? Elektronik, Techno, DJing,
Avantgardepop, (Free) Jazz, Improvisation, sowie die neuen Kategorien zwischen den
Künsten (Film, Theater, Aktionismus, Performance, Klangkunst, Audio Art, Radiokunst,
Klang-Installationen etc.) relativieren die traditionelle Musiktheorie, -philosophie und
-praxis. Inwieweit sind im Licht dieser Entwicklungen Aspekte der Avantgarde und Postmoderne noch relevant? Die Akzeptanz von Neuem geschieht längst im Kontext neuer
Kategorien.
Eine Diskussion zur Frage der „ausfransenden Ränder“ kreist in Kapitel 2 um ein
mögliches Zentrum, das etwa Stephan Wunderlich im Erlernen und Verwenden von
Notenschrift erkennt, zeigt aber auch, wie die Grenzen einzelner Stile fluktuieren oder
sich gar aufzulösen scheinen. Im Anschluss an die Ausführungen von unterschiedlichen Modellen zur Erklärung von Stilfeldern, diskutiert er mit Thomas Schäfer, David
Toop und Stephan Wunderlich über die Bedeutung von Genres für VeranstalterInnen,
MusikerInnen und WissenschaftlerInnen. Susanne Kirchmayr geht in Bezug darauf der
Bedeutung von Zuschreibungen auf den Grund.
Vermittlungsprojekte gehören heute zum Standard vieler Musik-Institutionen (Klangforum Wien, oenm Salzburg, Ferienkurse Darmstadt, Yellow Lounge etc.). Inwieweit
sind sie Alibiaktivitäten oder falsch verstandene Missionierungsversuche? Braucht das
Kommunikationsmedium Musik selbst überhaupt Vermittlung, und wenn ja, was muss
vermittelt werden? Dieser Frage stellen sich in Kapitel 3 mit Ludger Hofmann-Engl,
Emilija Jovanovic vom Klangforum Wien, Hans Schneider, Thorsten Wagner und
Constanze Wimmer MusikvermittlerInnen unterschiedlichster Bereiche und unterschiedlicher Herkunft.
Ob es in der Neuen Musik auch einen Underground gibt, verhandelt Susanna
Niedermayr in Kapitel 4 mit Curt Cuisine, Bill Drummond, Barbara Lüneburg, Uschi
Katzer und Roland. Labels wie Kairos und Editions Mego, Zeitschriften wie SKUG und
11
The Wire, diverse Internetplattformen und Improvisations- und Experimentalensembles
etc. praktizieren noch dieses „beherzte Vorstoßen“ (Lachenmann). Hat aber Gegenkultur heute noch Öffentlichkeit, und wenn ja, welche? Weichen Avantgarde und Postmoderne einem Kunstbegriff, der einerseits ohne Rebellion und Einspruch, andererseits
ohne diskursive Reflexion auskommt? Wie haben sich Werte und Ideologien verändert?
Das traditionelle Verhältnis von Öffentlichem und Privatem hat sich in den letzten
Jahren stark verschoben. Wie hat sich die Öffentlichkeit verändert? Welche Bedeutung
haben Zwischenbereiche wie Label- und Verlagswerbung, das Feuilleton, das Pausengespräch oder das Gespräch im Plattengeschäft, Blogs usw.? Bildungsfragen bezüglich
Zugangcodes, der Qualität der Medien, der Werbung und schrumpfendem politischem
Bewusstsein sind aktueller denn je – Fragen, denen Reinhard Kapp gemeinsam mit
Eleonore Büning, Jörg Mainka und Dörte Schmidt in Kapitel 5 nachgeht.
Ist Neue Musik erfolglos/erfolgreich und in jeweils welchem Kontext? Sind überkommene Muster und Rollenbilder heute noch wirksam? Wie kann Sinnstiftung gelingen
(z. B. bei Festivals wie Wien Modern)? Ist der mancherorts diagnostizierte Stillstand
in den letzten zehn Jahren ein Symptom der Rückgewandtheit von VeranstalterInnen,
von Arrivierten, von retrospektivem Denken? Was verdienen KomponistInnen, gibt es
neue Geschäftsmodelle für Labels und Verlage, MusikerInnen und VeranstalterInnen
zur Verbreitung Neuer Musik? Die neuen Wertschöpfungsketten sind eine Herausforderung nicht nur für die Musikwirtschaft, sondern für alle am Musikleben Beteiligten.
Haben Minimalismus (Reich), Meditative Musik (Pärt), Religiöse Musik (Gubaidulina,
Penderecki), Experimentelle Musik etc. noch „ihr“ Publikum? Gibt es Publikumsstromanalysen für den „Neue-Musik-Markt“? Nach einem Einblick in das Verlagswesen durch
Marie Luise Maintz diskutierten Renald Deppe, Markus Hinterhäuser, Lothar Knessl,
Anna Schauberger und Peter Tschmuck unterschiedliche Erfolgsmodelle.
Schon seit der Entwicklung von Radio und Fernsehen verlässt die Musikrezeption die
traditionellen Räume und geschieht mehr denn je privat. Neben Austausch etwa im Unterricht und über privaten Austausch von im Handel Erworbenem, passiert Austausch
heute vor allem im Internet (Downloads/YouTube/Facebook/Twitter/SoundCloud). Wie
wird nun versucht, Erfolg zu messen? Franz Kasper Krönig findet neben sozialen Wechselwirkungen auch skurrile Modelle.
Ergänzt wurden die Vorträge und Diskussionsrunden des Symposions mit künstlerischen Beiträgen. Dass diese in Papierform keine adäquate Entsprechung finden,
liegt auf der Hand. Um ihnen aber dennoch auch hier Raum zu geben, baten wir die
KünstlerInnen um Statements - eine Aufforderung, der Marko Ciciliani, Bill Drummond,
Johannes Kreidler, Barbara Lüneburg, Anna Schauberger und Sylvia Wendrock nachgekommen sind. Diese schriftlichen Beiträge durchsetzen diesen Band und erweitern so
das theoretische Spektrum.
12
Kunst als Ort produktiver Distanz
Sabine Sanio
Betrachtet man die aktuelle Situation der Neuen Musik, so fällt besonders ihre Vielfalt auf. Da sind nicht nur die neuen elektroakustischen Möglichkeiten der Klanggenerierung und die Improvisation, die sich der Emanzipation der Interpreten* von der
Dominanz der Komponisten verdankt, oder die Klangkunst, in der sich eine ganz neue
musikalische Aufführungssituation jenseits des Konzerts konstituiert hat. Auch die Globalisierung hat das Konzertleben enorm bereichert, längst sind amerikanische wie osteuropäische Komponisten ganz selbstverständlich vertreten, in jüngster Zeit kommen
auch vermehrt Konzerte asiatischer Komponisten hinzu – Annäherung und Austausch
sind dabei ineinander verwobene Prozesse. Angesichts dieser Vielfalt fällt es schwer,
die entscheidenden Linien in der jüngsten Entwicklungen auszumachen. Um einige Kriterien zur Beschreibung der aktuellen Situation der Neuen Musik herauszuarbeiten,
möchte ich deshalb zu den frühen 60er Jahren des letzten Jahrhunderts zurückgehen,
da die Effekte und Konsequenzen der damals einsetzenden Entwicklungen noch heute
virulent sind.
Bisher liegen nur wenige Ansätze vor, die die Bedeutung der damaligen Situation für
die Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert reflektieren. Eine grundlegende Arbeit
über diese Epoche hat Gianmario Borio mit seiner 1993 erschienenen Untersuchung zur
Musikalischen Avantgarde um 1960. Entwurf einer Theorie der informellen Musik vorgelegt. Im
Zentrum dieser Untersuchung steht die Idee informeller Musik, die Borio von Adornos Vers
une musique informelle1 übernimmt. Doch bevor er sich diesem Thema zuwendet, stellt er
die Frage nach einer übergreifenden Epochenbezeichnung für die Musik der 60er Jahre. Nach einem knappen Resümee der in den 80er Jahren auch in Musik und Musikwissenschaft intensiv geführten Postmoderne-Debatte beruft sich Borio auf die Entwürfe
einer Theorie der Avantgarde von Renato Poggioli und Peter Bürger, um die Frage nach der
Bedeutung der Avantgarde-Bewegungen für die Musik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu stellen.
*Aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit wird in einigenTexten auf geschlechtsspezifisch differenzierende
Terminologie verzichtet. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung grundsätzlich für
beide Geschlechter und sind nur dort geschlechtsspezifisch differenziert, wo es sich um Zitate handelt
oder wo der Satzsinn es erfordert.
1 Vgl. Theodor W. Adorno, „Vers une musique informelle“, in: Ders., Gesammelte Schriften 16, hg. v. Rolf
Tiedemann, Frankfurt am Main 1978, S. 170–228.
13
Postmoderne oder Avantgarde
Anders als der zuerst in Philosophie und Kulturwissenschaften diskutierte Begriff der
Postmoderne ist der Avantgarde-Begriff in den Künsten selbst entstanden. Als Position zur Selbstverständigung der Künste haben die Avantgarde-Bewegungen mit ihren
neuen Ideen und Konzepten nicht allein der Entwicklung der Künste im 20. Jahrhundert wichtige Impulse gegeben, sie haben mit ihrem zentralen Projekt, der Beteiligung
an gesellschaftlicher Veränderung, auch die Vision einer Integration der Künste in die
Lebenspraxis populär gemacht. Auch Borio betont die politischen Implikationen des
Avantgarde-Projekts: „In ihrer frühesten Ausprägung impliziert die Avantgardemetaphorik, dass die Kunst nicht an sich Geltung beanspruchen kann, sondern in das Projekt
einer künftigen Gesellschaft als ‚Wegbereiter‘ miteinbezogen werden soll.“2
Bürger sieht die zentralen Charakteristika der Gruppierungen vom Beginn des
20. Jahrhunderts in ihren Versuchen, zusammen mit der Idee ästhetischer Autonomie die gesellschaftliche Rolle wie das Selbstverständnis der Künste zu problematisieren.3 Die naheliegende Überlegung, diese Definition für die Musik zu übernehmen, scheitert Borio zufolge daran, dass sich mit Cage nur ein Komponist findet,
der dieser Charakterisierung damals entsprach. Borio erweiterte daher den Gegenstandsbereich seiner Avantgarde-Definition: „Bürgers Charakterisierung trifft allenfalls für die zwischen 1950 und 1980 entstandenen Zufallskompositionen und Aktionspartituren von John Cage zu. Die Restriktion des Avantgardebegriffs auf einen
einzelnen Autor würde aber Tragweite und Plausibilität einer Theorie der Avantgarde
fraglich machen.“4
Die Folgen für die inhaltliche Bestimmung dieser Definition zeigen sich bei der seriellen Musik, die die Idee ästhetischer Autonomie nie in Frage gestellt hat. Borio betrachtet auch sie als Avantgarde-Strömung und beraubt sich damit der Möglichkeit, mit
Bürgers scharf umrissenem Avantgarde-Begriff zu arbeiten.
Ein musikalischer Avantgarde-Begriff?
Für seine Definition der Avantgarde blendet Borio nicht allein die von Bürger herausgestellten politischen und historischen Charakteristika des Phänomens aus. Er beschränkt seine Definition außerdem auf kompositorische Fragestellungen. Indem er
die „Entwicklung der kompositorischen Technik als wesentliche Bestimmungsinstanz“
begreift5, bleibt von Bürgers Bestimmungen letztlich nichts übrig. Die neue Version
wirkt demgegenüber fast beliebig, doch Borio erklärt dies zu ihrer besonderen Qualität:
2 Gianmario Borio: Musikalische Avantgarde um 1960. Entwurf einer Theorie der informellen Musik,
Laaber 1993, S. 10.
3 Vgl. Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt am Main 1974.
4 Borio: Musikalische Avantgarde um 1960, S. 14.
5 Borio: Musikalische Avantgarde um 1960, S. 15.
14
Wenn man „den Avantgardebegriff in die Verkettung der kompositorischen Probleme
einzubinden versucht, ergibt sich eine Verschiebung des Blickwinkels.
Wesentlich ist für die Darstellung damit nicht mehr die historische Perspektive Bürgers, sondern der produktionsästhetische Paradigmenwechsel. Dieser ereignet sich in
verschiedenen Zeiten und einer multilinearen Entwicklung gemäß, die die Suche nach
ihrem Ursprung immer weiter in die Geschichte der musikalischen Moderne zurückverweist.“6 Der produktionsästhetische Paradigmenwechsel meint letztlich nur die Abfolge
verschiedener Kompositionskonzepte wie Zwölftontechnik und Serialität, die von Bürger herausgearbeiteten Fragestellungen, insbesondere die Selbst-Reflexion der Kunst
sowie die Frage nach ihrer gesellschaftlichen Rolle, spielen keine Rolle mehr.
In einem erst kürzlich erschienenen Aufsatz zur Musik der 60er Jahre, der auch Popkultur und bildende Kunst einbezieht, hat Borio seinen Ansatz noch einmal bekräftigt:
„In einer historischen Rekonstruktion, welche die Phänomene nicht nur chronologisch
anordnet, sondern auch gegeneinander abwägt, zeichnen sich Streit, Spaltung und Diaspora in Hinblick auf einen Schub nach vorne, auf eine Bewegung in die Zukunft,
als konstituierende Momente der Avantgarde aus. Eine dynamische Konzeption des
künstlerischen Schaffens, die im schroffen Gegensatz zur statischen Haltung der Konservativen bzw. der Dekadenten steht, verbindet sich mit der Vorstellung der Kunst als
Erkenntnis, als Öffnung eines Erfahrungsraumes, der bis dato unzugänglich blieb.“7
Bereits in der früheren Untersuchung hatte Borio unter Hinweis auf Adornos Ästhetik
die Zersplitterung als „Grundzustand aller Avantgarden“ und die „Negativität als Paradigma der Avantgarde“ beschrieben. Als Grundlage für seine Darstellung der informellen Musik der 60er Jahre entwirft er schließlich eine Negationsstruktur, „die mehrere
Ebenen der kompositorischen Praxis betrifft“ und „Montage, Zufall, Texturkomposition,
instrumentales Theater, informelle Werkvorstellung“8 umfasst.
Musikalische Medienkünste
Zwar ist Borios Einschätzung berechtigt, wenn er, angesichts der großen Zahl bildender Künstler, die bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts an den historischen Avantgarde-Bewegungen beteiligt waren, es für einen musikalischen Avantgarde-Begriff als
problematisch betrachtet, dass am Ende der 50er Jahre in der Musik allein Cage eindeutig der Avantgarde zugeordnet werden kann. Doch im Unterschied zur Situation in
Darmstadt 1958, als die Avantgarde-Ideen in der Musik so gut wie keine Rolle spielten und Cage den europäischen Komponisten mehr oder weniger isoliert gegenüberstand – sein engster Vertrauter, der Pianist David Tudor, war bei den europäischen
Komponisten äußerst angesehen, die Musik der ihm nahestehenden amerikanischen
6 Borio: Musikalische Avantgarde um 1960, S. 15.
7 Gianmario Borio: „Avantgarde als pluralistisches Konzept“, in: Arnold Jacobshagen und Markus
Leniger (Hg.): Rebellische Musik. Gesellschaftlicher Protest und kultureller Wandel um 1968, Köln 2007,
S. 15–33, hier S. 15f.
8 Borio: „Avantgarde als pluralistisches Konzept“, S.15.
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