ringgesprächüber gruppenimprovisation

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ringgesprächüber
gruppenimprovisation
Ausgabe LXXVII
April 2014
Theorie und Praxis improvisierter Musik
50 Jahre ring für gruppenimprovisation 10 Jahre exploratorium berlin
Thema: Politische und kulturelle
Dimensionen der Improvisation
Thema mit Beiträgen von Friedrich Dudda | Kai van Eikels | Walter Fähndrich | Reinhard Gagel | David Grundy | Christoph Irmer |
Wolfgang Schliemann | Matthias Schwabe || Ausbildung || Forschung || Quergedacht || 50 Jahre ring für gruppenimprovisation || 10
Jahre exploratorium berlin || Intermezzo || Vorgestellt || Berichte || Ring_Internes || Ring_Veranstaltungen || Ring_Informationen
Inhalt
03
Editorial
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
04 Reinhard Gagel
Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
09 Walter Fähndrich
Warum improvisieren wir?
12 Friedrich Dudda
Improvisation und Proto-Politik – Kreativität, Bejahung des Zufalls, Autonomie, Gemeinschaftsbildung
15 Christoph Irmer
Improvisierte Musik im ethischen und politischen Kontext
19 David Grundy
“Life as it is / play’d now:” Improvisation as Political Practice
24 Reinhard Gagel
Komplizen auf der Bühne – Improvisation als kulturelles Modell?
28 Kai van Eikels
Was uns deine Spontaneität wert ist: Improvisieren zwischen Kunst und Ökonomie
35 Wolfgang Schliemann
Improvisieren: Denken feine Nahrung (nach Roland Wolf )
40 Fridhelm Klein
Das Unaufhörliche
42 Matthias Schwabe
Improvisation – Spielraum utopischen Handelns
Ausbildung
45 Anto Pett
Contemporary Improvisation – Master Studyprogram in Estonian Academy of Music and Theatre
Forschung
46 Verena Seidl
Teilhabe / Partizipation und Selbstorganisation bei Gruppenimprovisation?
Erste Befunde aus einem laufenden Forschungsvorhaben
Quergedacht
50 Reinhard Gagel
Von der bildenden Kunst lernen: Musik als Recherche
51
52
52
53
54
55
50 Jahre ring für gruppenimprovisation
Wolfgang Metzler
Erinnerungen an Lilli Friedemann (Auszüge)
Willem Schulz
Lilli lebt
Jan Bäumer
Mit Lilli Friedemann in Hamburg
Gesine Thomforde
Meine improvisierten Ringmelodien
Gerd Lisken
Einige Gedanken zum Jubiläum des rings
Hartmut Kapteina
Wie die Gruppenimprovisation für mich zur Musiktherapie wurde
ringgespräch über gruppenimprovisation
1
Inhalt
56 Matthias Schwabe
Meine persönlichen 35 Jahre im ring
58 Ring-Tagungen 1990 bis 2014
59 Karen Schlimp
Currriculum Vitae improvisatae
59 Eva Maria Heinz
Improvisation und der ring
59 Carl Bergstrøm-Nielsen
50 Jahre ring: Gruß
60 Reinhard Gagel
Ringjubiläum
62
64
65
66
10 Jahre exploratorium berlin
Gästebuch des exploratorium berlin – Eintragungen von 2004 bis 2014
Stimmen aus dem Off
Improvisations-Bibliothek im exploratorium berlin
Fotogalerie 10 Jahre exploratorium berlin
Vorgestellt
68 Plattenteller
CDs – vorgestellt von Hannes Schweiger
70 Büchertisch
Lesetipp von Carl Bergstrøm-Nielsen
Redaktion:
Dr. Reinhard Gagel, Berlin
Matthias Schwabe, Berlin
Chef vom Dienst: Iris Broderius, Berlin
Layout: Jenny Poßin, Hamburg
Illustrationen: Prof. Fridhelm Klein, München
Berichte
72 Wuppertal – ein Ort für improvisierte Musik: Konzert von Gagel & Irmer / Camatta, Tang & Wissel am 19. April 2013 [Gerd Rieger]
74 Pianopyramid: Eine Klavierskulptur im Wandel der Jahreszeiten im Juli und November 2013 [Claus Faber und Karen Schlimp]
75 Zeugen unkalkulierbarer Ereignisse in Zeiten der Großen Koalition
[Gregor Bohnensack –Schlösser]
76 Stegreif-Chor und Stegreif-Coach: Singen aus dem Stegreif, Impro-Chor und Circlesongs – Eine neue Weiterbildung vermittelt die Tools
[Thomas-Maria Reck]
78 Musikalische Prozessbegleitung – Neuer Weiterbildungsstudiengang im Klanghaus am See [Klaus Holsten & Christine Simon]
Redaktionsadresse und v.i.S.d.P.:
Ringgespräch c/o Matthias Schwabe
79
Ring_Internes
80
Ring_Veranstaltungen
81
Ring_Informationen
Wilskistr. 56 | 14163 Berlin
Tel (030) 84 72 10 50, Fax (030) 814 15 03
[email protected]
ISSN 1616-721X
Erscheinungsweise: einmal jährlich
Erstauflage: 1.000
Selbstkostenpreis: 5,00 €
Das ringgespräch über Gruppenimprovisation
ist das Verbandsorgan des rings für Gruppenimprovisation und wird den Vereinsmitgliedern
kostenlos zugestellt.
2
Ausgabe LXXVII • April 2O14
Editorial
Editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
Dieses Heft erscheint in der Mitte des doppelten
Jubeljahrs, das uns der Zufall mit 2014 beschert
hat: der ring für gruppenimprovisation wird 50
Jahre und das exploratorium berlin 10 Jahre
alt. Gefeiert wird der ring ebenso durch eine
Veranstaltungsbroschüre, die die Vielfalt der
Angebote aktiver Mitglieder zeigt, wie in
einer Podiumsdiskussion beim 10jährigen
Jubiläum des exploratorium im Mai, dessen
Veranstaltungstitel exploring improvisation
auf listige Weise zu verbinden weiß, was
uns zusammenhält: das Suchende und das
Gemeinsame, das Explorieren und das Sein im ring. Das exploratorium berlin ist – wie
Matthias Schwabe sagt – eine Fortsetzung des rings mit anderen Mitteln: eine Art kulturelles
Labor. Hier werden Veranstaltungs-, Workshop-, Didaktik- und Partizipationsmodelle
präsentiert, ausprobiert, dokumentiert und reflektiert, hier stehen professionelle Musiker
und musikalische Amateure auf der Bühne – manchmal sogar gemeinsam – hier ist in der
Bibliothek eine kleine Spezialsammlung von Literatur über Improvisation einsehbar. Auch
das Heftthema reiht sich da ein: War es nicht in den sechziger Jahren, als die Improvisation
durchaus skandalträchtig nicht nur ästhetische, sondern auch politische Relevanz forderte?
Wo das Leben im Kollektiv dem Spielen im Kollektiv ähneln sollte, so wie auch 50 Jahre
später Beteiligungs- und Entscheidungsformen politischer Parteien durchaus mal mit der
musikalischen Gruppenimprovisation in Zusammenhang gebracht werden. Dass dieses
Verhältnis von Improvisation zu Kultur und Politik aber vielschichtiger zu sehen ist, wollen
die Beiträge dieses Heftes andeuten. Einzelne Positionen, von der utopischen bis zur
kritischen, von der philosophischen bis zur soziologischen, sind hier nebeneinander gestellt,
und auch wenn unserer Redaktion die Begeisterung und das Engagement für Improvisation
ja durchaus anzumerken sein soll, haben wir dieses Heft nicht zu einer uniformen Aussage
zusammengestellt.
Improvisation 1964 war ein Samenkorn, Improvisation 2014 ist vielfältiger, praktisch
differenzierter, theoretisch ausgehandelter und in der Kultur ein kleiner, aber feiner Faktor.
Berichte, Forschungen, Grußworte und Zeitzeugen sind u.a. auch dafür der Beleg und in
diesem Sinne wünschen wir unser Heft gelesen...
Im Namen des Redaktionsteams
Dr. Reinhard Gagel
ringgespräch über gruppenimprovisation
3
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
Eine Textcollage zum Thema
von Reinhard Gagel, Berlin
(1) „Wenn Du einen anderen Musiker nicht hören kannst, spielst Du
zu laut.
(2) Wenn die Musik, die Du erzeugst, sich nicht regelmäßig auf das
bezieht, was die anderen spielen, warum bist Du dann in der Gruppe?“ John Stevens, Spontaneous Music Ensemble
Im Mai 2013 lud der ring für gruppenimprovisation Interessierte zu einer Tagung über das Thema Politische und kulturelle
Dimensionen der Improvisation ein. In der Vorbereitung der
Tagung stellte ich Texte zusammen, die Aussagen zum Verhältnis
von Musik bzw. musikalischer Improvisation zu gesellschaftlichen
Verhältnissen bzw. Politik machten. Die Texte waren mit musikalischen Elementen, Licht und Bewegung im Raum Teil der sogenannten SOUP, d.h. einer einstündigen Live-Performance aller
Teilnehmenden zu Beginn der Tagung. Texte konnten vorgelesen,
gesungen, rezitiert werden; Musik solistisch oder im Ensemble
improvisiert werden, man konnte den gesamten Raum begehen,
es gab keine Trennung in Spieler und Zuhörende. Viele Teilnehmerinnen brachten ihre ihnen wichtigen Texte selbst mit und fügten sie den bestehenden hinzu. Diese Sammlung möchte ich hier
– in einer kommentierten Textcollage – vorstellen.
Die freie Improvisation hat ihren Ursprung ohne Zweifel u.a.
auch in den politischen Emanzipationsbewegungen der 60er und
70er Jahre. Das spiegelt sich in der Definition des amerikanischen
Musikers Alvin Curran (Mitglied des radikalen Musik-Kollektiv
Musica elettronica viva, Rom1) insofern, als er die Menschen und
das Musizieren, die Zuwendung und die musikalische Struktur
aufs engste verknüpft. Menschliche Kunst und soziale Kunst; emphatisch zusammengehalten durch die oftmalige Wiederholung
der Improvisation als „einzige Musikform“.
ist die einzige Musikform, die in erster Linie auf gegenseitigem Vertrauen und
Zuneigung gründet.2
Vertrauen und Zuneigung – dahin muss man aber erst kommen.
Der Musiker muss sich auch in seiner Kunst als Mensch verstehen. Wesentliches Wort – und wir sprechen über die 70er Jahre
– dafür war Freiheit oder Befreiung. Ein Beispiel für eine solche
persönliche und künstlerische Auseinandersetzung verkörpert der
österreichische Pianist Friedrich Gulda, der sich vom klassischen
Betrieb absetzte, in dem er weltberühmt und erfolgreich war,
und in dieser Absetzbewegung sehr innovativ und charismatisch
war. Er gründete Weltmusik- und Freie-Musik-Festivals, spielte
mit Jazzmusikern und mit seiner Partnerin Ursula Anders öffentlich lange Sets sogenannter freier Musik. Ihrer beiden Vokabular
wurde – auch verbal – stark von dem Wunsch nach Selbstbefreiung und Selbsterfahrung geprägt, beide versuchten die eigenen
Quellen, die sie durch die Gesellschaft beschränkt und verschüttet
sahen, in freier Improvisation zum Sprudeln kommen zu lassen.
Hier ein Text von Gulda, in dem aber auch klar wird, dass er auf
einer sehr persönlich intensiven Weise – und nicht modisch und
oberflächlich – sich mit sich selbst – und mit der Befreiung als
Kunst – auseinandersetzt.
Über spontane Musik
Improvisation ist die Kunst der Klangwerdung. Sie ist die einzige Kunstform,
in der ein Mensch zu der Musik werden kann und muss, die er oder sie
macht. Sie ist die Kunst eines ständig wachsamen und gefährlichen Lebens.
Sie ist die Kunst des Aus-der-Zeit-Heraustretens, des In-ihr-Verschwindens,
des Zur-Zeit-Werdens. Sie ist sowohl die hohe Kunst des Zuhörens und Regierens wie die noch höhere Kunst der Stille. Sie ist die einzige Musikform,
in der die gesamte „Partitur“ lediglich aus dir selbst und den andern besteht
sowie dem Raum und dem Augenblick, in der sie sich ereignet. Improvisation
Zum letzten Mal: Wie wird Befreiung verwirklicht und wann?
Die zwei Gefahren (sicher nicht nur meine, sondern aller derjenigen, die den
Weg gehen):
1. Das Sich-Gewöhnen an die Kälte der Ware und Waffe.
2. Das Sich-Gewöhnen ans Ausweichen in Sentimentalität und - bzw. mittels - Rausch.
Wie wehrst du dich gegen diese verlockenden, falschen Seitenwege, die dich
vom Ziel abzubringen trachten?
Durch Vigilance. (Wachsamkeit)
Arbeite die Mitte, das Herz an. Setz dich ein. Tritt außer dich. Lass dich
nicht täuschen. Täusche nicht. Schwinge.
Du bist frei.
Du musst es nur verwirklichen. An dir selber. Für die anderen. Wann?
Jederzeit.
Unglück und Missgeschick werden wir Stufe für Stufe, Station für Station,
besiegen. Wie besiegen wir das Größte, den Tod?
Verwirkliche, erfahre Correct Vision: Es gibt ihn nicht. Er ist Maya.
Friedrich Gulda 1970 (S. 124)
1www.alvincurran.com/Curran_bio.html
2 Alvin Curran in: Musiktexte 86/87, S. 50
4
Ausgabe LXXVII • April 2O14
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
Der englische Komponist und Improvisator Cornelius Cardew
ist einer der (explizit politischen) Protagonisten der freien Improvisation. Er war Komponist, hat als einer der wenigen den
Weg von der Komposition zur Improvisation (und nicht umgekehrt wie viele andere) eingeschlagen und war Mitte der 70er
Jahre Mitglied der legendären Gruppe AMM. Aber er hat später
eine Wendung vollzogen: direkt fürs Volk, zum Mitsingen sozusagen, hat er Revolutionslieder komponiert, die auf jeden Fall
die Massen konkret berühren sollten und damit tonal waren.
Cardew war auch konkret politisch engagiert, er engagierte sich
auch als Musiker mit John Tilbury auf Demonstrationen, unterstützte streikende Arbeiter und während eines Stipendiatenaufenthaltes in Berlin, den Kampf für eine Kinderklinik im Haus
Bethanien, wofür er den Bethaniensong komponierte.“3
Er ist tragisch umgekommen durch einen Unfall, und in seinem
Memorialkonzert, das heute noch zugänglich ist über ubuweb,
wird am Ende der Abschlusssong We sing for the future gespielt,
ein schlichter, tonaler Gesang in der Art eines Volksliedes. Die
Frage einer „Indoktrination“ der Massen durch gemeinsames
Singen ist heute eher in die Richtung „Beteiligung“ gewendet,
das ist ja schon einmal ein Fortschritt. Eine Musik, die Beteiligung ermöglicht, ist Improvisation auf alle Fälle. Für die Improvisation hat Cardew einige prägnante Gedanken formuliert, die
prinzipiell die Haltung zum Improvisieren thematisieren:
„dass jeder spielen kann, auch ich, unter der Voraussetzung... dass …die
Gedanken ernst, der Geist friedlich und der Wille resolut“ sind ... und was
herauskommt ist vital und direkt...
Das beruht auf einer Ethik, die man durch Ausbildung entfalten kann.
“Virtues a musician can develop“ 1. Einfachheit 2. Integrität (was wir im
eigentlichen Vorgang tun, ist wichtig, nicht was wir im Kopf haben) 3.
Selbstlosigkeit 4. Enthaltsamkeit 5. Bereitschaft 6. Identifikation mit der
Natur (...das Streben des Musikers die musikalische Komposition der Welt
zu kennen) 7. Akzeptieren des Todes4
Ein Zitat von Christopher Caudwell 5, das ich in ubuweb unter
dem Stichwort Cardew fand, es beschreibt einige Grundparameter des kulturellen Verhältnisses von Kultur und Gesellschaft
aus Sicht eines marxistischen Theoretikers:
3 Wikipedia Stichwort Cornelius Cardew Zugriff am 3.2.2014
4 Cornelius Cardew in: PNW Hear and now s.?
5 Autor und marxistischer Theoretiker, lebte von 1907 bis 1937.
ringgespräch über gruppenimprovisation
But art is in any case not a relation to a thing, it is a relation between men,
between artist and audience, and the art work is only like a machine which
they must both grasp as part of the process. The commercialisation of art may
revolt the sincere artist, but the tragedy is that he revolts against it still within
the limitations of bourgeois culture. He attempts to forget the market completely
and concentrate on his relation to the art work, which now becomes further
hypostatized as an entity-in-itself. Because the art work is now completely an
end-in-itself, and even the market is forgotten, the art process becomes an extremely individualistic relation. The social values inherent in the art form, such
as syntax, tradition, rules, technique, form, accepted tonal scale, now seem to
have little value, for the art work more and more exists for the individial alone.
Christopher Caudwell, The Concept of Freedom
Befreiung im Sinne von individueller Befreiung wird hier ins Verhältnis gesetzt: Da sind die Marktgesetze, die bürgerlichen Werte
und Institutionen, auf der anderen Seite der extreme Individualismus des avantgardistischen Künstlers, der sich in der Befreiung
von den Werten von Musik als verständlicher und kommerzialisierbarer Musik absetzt. Dennoch scheint in dieser Sichtweise
diese Befreiung nichts zu nützen, denn der Künstler bleibt ja in
den Regeln der Gesellschaft. Also muss das Künstlersein sich auf
die konkrete Veränderung der Gesellschaft beziehen und sie eigentlich als erstes anstreben. Improvisation als direkte politische
Aktion, als Protestform, ist das Cacerolazo, d.i. Menschen in großer Zahl, die mit allem was da ist, zu dem, mit dem sie nicht
einverstanden sind, “Musik” machen. Aber nicht “schöne“ Musik,
sondern durch ihre schiere Masse so nervende Klanglichkeit, dass
eine Verwaltung nachgibt und Maßnahmen außer Kraft setzt.
As an example ..., emerging from a principally political, rather than artistic
background, we might consider the adoption, during recent Quebecois protests against student fees, of the technique of the cacerolazo, whereby citizens
stand on their balconies and bang household pots and pans, as loudly as they
can, at a particular time, often with the accompaniment of flickering lights
and the din of whistles and klaxons.
David Grundy 6
Menschen äußern sich nicht durch Worte, durch das Skandieren
von Parolen, sondern durch ihre Klangproduktion. Kreativität,
die aktiv politisch wird, im Sinne von politischer Aktion, als eine
Aktionsform der Demonstration. Die Menschen äußern sich musikalisch direkt, ohne eine Voraussetzung; sie erleben eine starke
Emotionalität, die durch die eigene Aktion und die der anderen
gesteigert wird, sie erleben einen gemeinschaftlichen Ausdruck.
Diese Musik hat nichts mit dem “Kunstwerk” zu tun, das von ei6 “Life as it is / play’d now:” Improvisation as Political Practice, in diesem Heft S. 23
5
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
nem Künstler (oder mehreren) geschaffen wurde, sie ist vielmehr
kollektives Schaffen, Agieren, mit einem künstlerischen Medium,
das wiederum eine neue Ebene politischer Auseinandersetzung,
nämlich den Kampf ohne das Wort, und durch Ästhetik bedient.
Ästhetik des Widerstands eben.
We recall Brown’s ‘Afternoon of a Georgia Faun’, Cornelius Cardew’s Scratch
Orchestra, and the Portsmouth Sinfonia; and we might further think of the
recent interest in playing outdoors, in public spaces, on the part of musicians such as Greg Kelley and Bhob Rainey7; or, in a much more confrontational sense, the Basque anarcho-polemicist Mattin’s gleeful recounting of
an incident during the Greek unrest of 2008 in which “journalists came
across a gang attacking places that represented neoliberalism to make noise,
using breaking glass and burglar alarms as instruments, improvising in the
city.” For Mattin, this “extreme form of sonic dérive’’ offers both creative
and political possibilities, as if “the Futurists, the Scratch Orchestra and
the Black Bloc [had] join[ed] forces8.”
David Grundy9
Gibt es aber aktuell die politische Dimension der Improvisation
noch? Der Komponist Matthias Spahlinger vertritt das – nicht
nur in seinen Kompositionen – interessanterweise nicht in musikalischer sondern in sozialer Hinsicht:
Ein angemessener Zugang zu einem erweiterten Musikbegriff wäre, dass
man keinen Schritt weitergeht mit dem Musikmachen als die anderen folgen können, indem sie Musik machen. Das wäre für meine Begriffe ein
politischer Zugang zur Improvisationspraxis.10
Den Zugang zu kulturellen, von Ausschlussbefürchtungen
verstellten Möglichkeiten wieder zu gewinnen, ist ein Kerngedanke des emanzipatorischen Gehaltes der Improvisation. Das
beschäftigt vor allem diejenigen, die neben ihrer Kunst auch Bildungsprozesse mitdenken:
Insbesondere sind als Chancen des Improvisierens zu nennen:
—den niederschwellige, nicht durch ein bestimmtes Vorwissen beschränkte Zugang zu einem improvisierten Musikmachen
—das Produzieren eines ganz eigenständigen originellen Musikergebnissis aus der Beteiligung vieler – die Nutzung und Förderung der
Kreativität jedes Einzelnen
7 See, for instance, their duo as Nmperign: www.youtube.com/watch?v=ow6ip
fEX49M. See also: www.blogger.com/comment.g?blogID=28154988&postID=
114771703944442935
8www.paristransatlantic.com/magazine/interviews/mattin.html
9 David Grundy: “Life as it is / play’d now:” Improvisation as Political Practice, in diesem Heft S. 23
10 Matthias Spahlinger im Gespräch mit Wolfgang Stryi in: Musiktexte 86/87, S. 63
6
—die Möglichkeit sich mit anderen authentisch – ohne belehrt und geschult zu werden - auszudrücken und eine intensive, schöpferische
und befriedigende Musiziersituation zu erleben
—die musikalische Strukturbildung im „Dazwischen“ von sozialen, interaktiven, musikalischen und persönlichen Faktoren zu erleben und
darin aufgehen zu können
Reinhard Gagel11
Die Improvisationspädagogin Lilli Friedemann plakativ:
Ordnung ohne Herrschaft, nur ein Traum? Hier ist es möglich – im kleinen
Raum.
Und dann ausführlicher:
In der Gruppenimprovisation tun wir nicht, was wir sollen, sondern das,
was wir im Augenblick für richtig halten. Und etwas für richtig zu halten
und richtig zu reagieren, das ist nicht leicht. Das ist keine absolute Freiheit,
sondern das ist Konzentration. Ich bin nicht gehorsam, ich gehe den Weg,
den ich für richtig halte.
Matthias Schwabe fasst das zusammen:
Gelungenes Improvisieren im Ensemble bedeutet, die Interessen und Impulse der Einzelnen in Balance zu bringen mit den Interessen des Kollektivs.
Überzeugende Musik entsteht nur, wenn diese Balance gelingt. Das ICH
und das WIR brauchen einander. Es braucht die Einheit in der Vielfalt und
die Vielfalt in der Einheit. Deshalb eignet sich Ensemble-Improvisation als
Modell für ein soziales Miteinander, in dem die Polarität von Individuum
und Kollektiv nicht als Problem, sondern als Stärke angesehen wird.
Aber: Reicht der gleichberechtigt-spielerisch-ästhetische Charakter der freien Improvisation überhaupt in unser alltägliches
Leben? Kai van Eikels ist skeptisch:
Und hier kommen wir nun auf das Interesse an künstlerischen Improvisationsprozessen zurück. Denn Improvisieren in den performing arts zählt nicht nur zu den Disziplinen, in denen Performer
ihre Souveränität unter Beweis stellen, indem sie ein Publikum
beeindrucken, das im Zweifelsfalle nicht einmal merkt, dass die
Performance improvisiert ist, da die Spielenden in ihrer spontanen
Responsivität so überlegen wirken, so sehr die Situation zu jedem
Zeitpunkt zu beherrschen scheinen, als folge alles, was sie tun, einem
ausgefeilten Entwurf. Auch die Performer untereinander bewerten
und beurteilen sich in ihrem Zusammenspielen unentwegt. Wie ein
11 Reinhard Gagel: Improvisation als soziale Kunst, Schott Music Gmbh & Co. KG
Verlag, Mainz 2010 S. 185
Ausgabe LXXVII • April 2O14
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
Improvisierender auf das, was ein anderer gerade getan hat, reagiert
– ob er überhaupt reagiert; wie sehr er versucht, etwas aus dem zu
machen, das der andere getan hat; und was für eine Vorlage er damit
den weiteren Ko-Performern gibt oder an den Ersten zurückspielt: all
das formuliert ein Werturteil, das die Mitspieler, sofern sie in ihrer
Kunst auch nur halbwegs versiert sind, erkennen, verstehen und in
ihren eigenen Reaktionen verarbeiten. Dabei hängt im Gegenzug der
Wert dieses Werturteils davon ab, welches Ansehen derjenige, der es
mittels seiner Reaktion fällt, unter den Zusammenspielenden genießt
– und letztlich auch davon, ob dieses Urteil selbst so, wie es in den
Reaktionen des Beurteilten und der anderen darauf in Kraft tritt,
wie es das Spiel im weiteren beeinflusst, die Gesamtperformance steigert oder ihr zumindest eine Chance zur Steigerung verschafft. Diese
Beschreibung des Kollektivgeschehens beim Improvisieren klingt deswegen so verwickelt, weil sich hier Leistungskriterien aufs engste mit
der Dynamik sozialer Anerkennung und Wertschätzung verbinden.12
Es gibt nicht die von der Gesellschaft freie Improvisation, nicht
den im Spielen gänzlich freien Musiker. Natürlich legen die an
der Improvisation Teilnehmenden nicht gänzlich ihr Gepäck ab,
obwohl die Analyse van Eikels sich vor allem auf professionelle
Strukturen von Szenen bezieht.
Mathias Spahlinger sagt:
Ich habe von Improvisation gesprochen im Zusammenhang mit dem politischen Aspekt von Musik. Improvisation oder Musikproduktion ohne
Arbeitsteilung oder mit einer begrenzten Arbeitsteilung – das ist ein politischer Aspekt von Musik, weil die Arbeitsweise, wie Musik hergestellt wird,
überhaupt ein politischer Aspekt von Musik ist.13
Improvisation wird gerne in Organisationszusammenhängen
(Betriebswissenschaft, Managementtheorien) gebraucht, unter
der Prämisse, man müsse unentwegt improvisieren, und das
auch können (und lernen), da es keine Gewissheit und festen
Strukturen mehr gäbe und die Welt sich ständig wandele.
Das analysiert der Berliner Musiker und Improvisationstheoretiker Christopher Dell:
Man könnte sagen, dass Organisationen, die sich wandeln wollen, gut daran tun, Metalernen zu fördern und Improvisation zur Routine zu machen,
sprich improvisationale Tätigkeiten und Denkweisen in alltägliche Aktivi12 Kai van Eikels:Was uns deine Spontaneität wert ist (in diesem Heft S. 32)
13 Matthias Spahlinger im Gespräch mit Wolfgang Stryi in: Musiktexte 86/87 , S. 65
ringgespräch über gruppenimprovisation
täten einzuweben. Vermittels Improvisation bringt sich eine Organisation
permanent auf den neusten Stand und ermöglicht so eine antizipatorische
Haltung zum Wandel ohne ihm ausgeliefert zu sein. Dieses Bild von einer
Organisation ist ein anderes als eines, das Organisationen als Gebilde interpretiert, die auf Veränderungen nur reagieren und Wandel so lange ausblenden, wie irgend möglich. Dieses Bild basiert darauf, zu ignorieren, dass
Organisationen dauerhaft an der Gestaltung ihrer Umwelten partizipieren,
ob sie es wollen oder nicht. Improvisation als Organisationsmodus erkennt
diesen Fakt nicht nur an, sondern sucht aktiv mit ihm zu spielen. Das bedeutet, dass Improvisation Akteuren nicht ein Weniger, sondern ein Mehr an
Verantwortung zuweist. Zu beachten gilt: Improvisation ist keine spezifische
Reihe von Handlungen (Hegel) sondern spielt sich auf der Metaebene ab.
Improvisation könnte eher gedeutet werden als eine Art und Weise Handlung
so zu organisieren, dass eine Situation ihr Potential voll ausschöpfen kann.14
Die Überlegenheit künstlerischer und improvisierender Performer liegt in der Wandlungsfähigkeit und in ihrer performerischen Souveränität,
„eine Souveränität, die kein von Geburt oder Amts wegen verliehener Status mehr ist, dem das Verhalten entspricht, sondern im Handeln, in der Aktualität eines Vollziehens von Handlungen evident wird – und eigentlich
in nichts als dieser Evidenz besteht.“
van Eikels15
Da kommt ein neuer Typ daher: der Souverän, er lebt den Wandel als Performance. Aber ohne Voraussetzungen?
„(...) Improvisierte Musik fordert zwar kein Vorwissen, keine InsiderKenntnisse, kein hehres Bildungsgut, wohl aber das totale Da-Sein aller
ein, auch der Hörer. Und Musik, die dies tut, Musik, die eindeutiger
Funktionalisierung widerstrebt, Musik, deren Fun-Faktor so begrenzt ist
wie der eines normalen Improvisations-Konzerts (...), gilt heute, wo selbst
die hehre Klassik von Legitimationsverlust als L´art pour l´art bedroht ist
und mit Crossover- und Event-Strategien um die zerstreute und kurzlebige
Aufmerksamkeit der Hörer buhlen muss, als Zumutung. Soviel Selbstkritik
also muss sein: Improvisierte Musik ist eine Zumutung in einer Zeit, in
der das gesellschaftlich sanktionierte Kunstverständnis sich von Kultur als
Herausforderung hin zu Kultur als Event verschiebt. (...) Bleibt die Frage
an die Improvisatoren: Bestehen sie auf dem Zumutungs-Charakter, auf
Improvisation als Ausdruck eines anachronistischen Kulturbegriffs, oder
reagieren sie auf die Herausforderungen der Event-Kultur?“16
14 Christopher Dell
15 Kai van Eikels, a.a.O. (in diesem Heft S. 30)
16 Peter Niklas Wilson: Von der sozialen Irrelevanz improvisierter Musik, Band 7 der
Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Wolke Verlag, Hofheim 2002
7
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
Das ist der Gedanke von Kunst als Subversion, als Zumutung.
Aber stimmt das noch? Wolfgang Schliemann ist skeptisch:
dem die Machtstrukturen immer mehr in Bewegung geraten und
alte Gewohnheiten und Beschreibungen zerfallen.
„Beim Abgleich der subversiven oder gar revolutionären Potentiale von
Improvisation mit den ungeschminkten Realitäten offenbart sich eine Diskrepanz, in deren Angesicht jede Hoffnung fahren möchte. Es drängt sich
nämlich der Eindruck auf, das allein das Bewältigen der Alltagsgeschäfte
die Kräfte jenes Personenkreises schon völlig absorbiert, dem die Trägerschaft dieser Potentiale zukäme. Oder worin unterscheiden sich ImprovisatorInnen von der übergroßen Mehrheit der Konsumbürgerschaft, für die
die Frage nach dem Unterschied zwischen Haben und Sein längst durch
die nach winner or loser ersetzt worden ist?“17
„Während es mit Musik um die ästhetische Gestaltung und Erfahrung eines
musikalischen Ganzen geht, geht es mit Demokratie um die Konstituierung
eines politischen Ganzen unter Teilhabe aller. Während es mit Musik um die
Lösung von musikalisch-ästhetischen Problemen geht, geht es mit Demokratie darum, sich (durch Akquise von Knowhow und Kompetenz) zur Lösung
polirischer Probleme zu befähigen. Angesichts der umfassenden Probleme der
Moderne stehen jedoch sowohl Demokratie als auch Musik vor der Frage, ob
und wie sie – jeder auf seine Weise – ein ausbalanciertes Ganzes anzustreben
vermögen, als dessen Teil sie sich verstehen können. Und diese Frage betrifft
die Kultur als Ganzes.“ 20
Stellt das Improvisieren als Kunstform dennoch eine Provokation für das kulturelle System dar? Kann Improvisieren eine
Vision für die Verflüssigung (Adrienne Goehler) von Kultur,
Wirtschaft und Politik sein?
Wir leben in einer Phase des umfassenden gesellschaftlichen Übergangs,
die man als „nicht mehr und noch nicht” bezeichnen könnte. ...Verflüssigungen als Gegenmoment zur Abkapselung gesellschaftlicher Blöcke und
Verhärtung starrer Oppositionen, als Gegenmoment zur Verfestigung von
Verhältnissen, die ihren Gegenstand aus dem Blick verloren haben.
Adrienne Goehler S. 11/1618
Beinhalten die neuen Begriffe Partizipation, Teilhabe und Selbstorganisation nicht Erfahrungen, die Improvisatorinnen in ihrer
Kunst machen? Ist gar die Gruppenimprovisation ein politisches
Entscheidungsmodell der Zukunft, wie die TAZ beim Erfolg der
Piraten in Berlin im Jahr 2010 triumphierte? Ein Beispiel der Verbindung von Kunst und Politik versuchte der Komponist Johannes
Wallmann im Herbst 2012 mit seinem liquid orchestra in Berlin.
Er konzipierte eine großangelegte Zusammenkunft verschiedenster
Musikergruppen, Profis und Laien zu einer sich selbst organisierenden Symphonie. Sein theoretischer Ausgangspunkt ist der von
ihm geprägte Begriff der integralen Kunst19, in der Selbstorganisation und Verflüssigung eine große Rolle spielen. Viele Künstler
arbeiten z.B. im Kollektiv und unterlaufen so die Frage nach der
Obsession und dem Genie des Einzelkünstlers. Der aktuelle Politik- und Kulturbetrieb wird von ihm als ein System verstanden, in
17 Wolfgang Schliemann: Einige ärgerliche Gedanken zur Relevanz musikalischer Im
provisation / Improvisierter Musik (unsortiert), unveröffentlicht 2007
18 Adrienne Göhler: Verflüssigungen. Wege und Umwege vom Sozialstaat zur
Kulturgesellschaft, Campus Verlag, Frankfurt 2006
19H. Johannes Wallmann: Integrale Moderne. Vision und Philosophie der Zukunft, Pfau, Saarbrücken 2006
8
Aber seien wir skeptisch, die bestehenden Verhältnisse sind sehr
schwerfällig:
Denn falls es stimmt – und es ist eigentlich nicht daran zu zweifeln
-, dass die Kultur weiterhin ökonomisiert wird und tatsächlich vermehrt Groß- und Prestigeprojekte ins Zentrum auch der staatlichen
Kulturförderung gestellt werden, befinden wir uns in einem eigentlichen Paradigmenwechsel, der für die Nischen und damit auch
für die improvisierte Musik kaum Gutes verheißt und nicht zuletzt
auch die künstlerische Vielfalt gefährdet.
Der Zeitgeist wirkt ohne Zweifel auch in der Kulturförderung, und
es ist wohl nicht übertrieben (festzustellen), dass in dieser Entwicklung die Nischen der Kultur gefährdet sind, weil mit ihnen kein
Staat zu machen, nicht die gewünschte Beachtung und das Große
Publikum zu holen sind, weil sie oft unbequem gegen den Strom
schwimmen. Dass sie gerade deshalb unersetzbar sind, sollte eigentlich zum Bewusstsein der in der Kultur Tätigen gehören.21
Dr. Reinhard Gagel: Musikalische Improvisation (Piano, Moog
Synthesizer), Projekte zwischen Medien und Musikstilen (Zapping-Collage-Projekte), Malerei (Assemblage), Improvisationscoaching sowie Forschung über Improvisation in Form von Publikationen und Lecture Performances. Er ist Lehrbeauftragter
für Improvisation an der Universität für Musik und Darstellende
Kunst, Wien und künstlerisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter
am exploratorium berlin, wo er den Bereich Forschung betreut.
20 H. Johannes Wallmann: liquid orchestra, Paper zu einer Aufführung 2012 in Berlin.
21 Steff Rohrbach: „Wohin bewegt sich die Kulturförderung?“, In: Walter Fähndrich (Hg.): Improvisation V, Winterthur 2003, nach Matthias Maschat, S. 191f:
Frei improvisierte Musik im Spannungsfeld von Selbstorganisation und
öffentlicher Förderung, Hildesheim 2006
Ausgabe LXXVII • April 2O14
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
Warum improvisieren wir?
von Walter Fähndrich, Brione sopra Minusio, CH
„Ordnung an sich ist ein starres, abgeschlossenes System. Erst
der Fehler ermöglicht Kreativität. Die Ordnung jedoch, in
Wirklichkeit immer fehlerhaft, bleibt Utopie. Die Erschaffung der Ordnung ist der eigentlich kreative Prozess - die
Ordnung selbst verhindert diese.“
Siegfried Volz (1832 - 1902)
Improvisation begleitet uns fast permanent und ohne dass wir ausweichen
(können), denn fortwährend begegnen wir Umständen, die uns zum Improvisieren zwingen. So stört z.B. jedes
wirkliche Gespräch die Ruhe eigener
Standpunkte und führt uns in Situationen,
in denen wir unsere Reaktionen und den weiteren Verlauf nur noch beschränkt oder gar nicht mehr vorhersehen
können. Auch Handlungsabläufe im Alltag verlangen uns immer
wieder Entscheide ab, für die zu wenig Zeit zum Planen besteht
und die spontan fallen müssen.
Das Gefahrenpotenzial der dabei einzugehenden Risiken bleibt
jedoch meistens überschaubar und damit in einem mehr oder
weniger kalkulierbaren Rahmen, denn Erfahrung und ein von
allen normalerweise eingehaltener Katalog von Kommunikations- und Verhaltensregeln bieten Sicherheit.
Doch trotz dieser „Leitplanken“ birgt jedes Improvisieren naturgemäß Risiken.
Was bewegt nun Menschen dazu, zumal in unserer auf Sicherheit versessenen Zeit, freiwillig zu improvisieren?
Öffnen sich beim Improvisieren Räume, die planmäßigem Tun
verschlossen bleiben? Hat Improvisation mit Freiheit (innerer,
äußerer) zu tun? Und damit vielleicht auch mit Subversion? –
Improvisieren als Ausüben von Freiheit, gar als Lebensentwurf?
Improvisieren als Disziplin auf dem Weg zur Eigenständigkeit?
Was ist die Funktion von Regeln? Wie weit können wir auf solche verzichten? Ist Improvisieren ohne Regeln ein Hochseilakt
ohne Netz oder verankern wir uns vielleicht lediglich an anderen Orten, verlagern sozusagen die Haltepunkte?
Die folgenden zehn Punkte sind ein Versuch, stichwortartig ein
paar Ebenen zu fassen, die für die freie musikalische Improvisation typisch sind oder die die Improvisation „besser kann“
als geplantes Tun. Darüber hinaus sind es aber auch Aspekte,
die von allgemeinem, über die Musik hinausgehendem Interesse sind und die aufzeigen, wo Improvisation ihre besonderen
Stärken hat.
ringgespräch über gruppenimprovisation
Die meisten dieser Aspekte hängen untereinander eng zusammen und sie ergeben sich zum Teil sogar einer aus dem anderen.
Über sie auch gesondert nachzudenken, macht wegen der dabei
schärfer zu Tage tretenden Bedeutung der einzelnen Aspekte
aber gleichwohl Sinn.
Zehn Aspekte der Improvisation
1 Kommunikation
Gemeinsames Improvisieren ist eine modellhafte Kommunikationsform, denn:
—Alle Beteiligten agieren im Interesse einer gemeinsamen Sache, die nicht von aussen gesteuert ist. Die zu geltenden Regeln werden von den Beteiligten abgesprochen und gemeinsam bestimmt.
—Das gemeinsame optimale Ergebnis steht im Zentrum des
Tuns (nicht Wettbewerb oder irgendwelche Vorteile Einzelner vor anderen).
—Besonders wichtig sind dabei die Interaktion, das Einbeziehen der Beiträge der anderen (Agieren – Reagieren) und die
grösstmögliche Klarheit meiner Aussagen.
—Einerseits konzentriert und genau zuhören, anderseits klare
Voten abgeben.
2 Freiheit - Verantwortung
Die Verbindung eines hohen Masses an Freiheit mit dem
freiwilligen Übernehmen von Verantwortung.
—Beim Freien Improvisieren ist die Freiheit im Sinne der Unabhängigkeit von Fremdbestimmung total, doch ohne das
gleichzeitige Übernehmen von Verantwortung durch alle
Beteiligten ist das gemeinsame Vorhaben zum Scheitern verurteilt.
—Das bedeutet auch: Falls sich einer der Mitspieler „versteigt“
oder verspekuliert, muss jeder Beteiligte im Interesse des
Stückes das ihm Mögliche tun, um „dem Anderen aus der
Patsche zu helfen“ bzw. das Stück zu retten.
3 Risikobereitschaft
Das Treffen klarer Entscheide und das Übernehmen der daraus resultierenden Konsequenzen in einem offenen, ephemeren Prozess.
—Risikobereitschaft ist ein zentral wichtiger, unverzichtbarer
Energielieferant.
9
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
—Für die Richtigkeit und das Gelingen von Entscheiden gibt
es beim Improvisieren keine Garantie; doch Sicherheitsdenken führt zu langweiligen Resultaten.
—Das einzige „Sicherheitsnetz“, auf das man beim gemeinsamen
Improvisieren zählen kann, ist die Gewissheit, dass alle Beteiligten ausschliesslich im Interesse der entstehenden Musik agieren.
4 Handlungsfähigkeit
In nicht eingeübten und nicht vorhersehbaren Situationen
Handlungsfähigkeit erlangen und erhalten. Voraussetzungen
dafür sind:
—Möglichst gute Kenntnis des mir zur Verfügung stehenden
„bautechnischen“ Materials, dazu gehören unter anderem:
—Die Fähigkeit, die gewählten Mittel zu handhaben (instrumentale Technik); Materialkenntnis (was enthält es für Potenzial, wie flexibel, transformierbar ist es); wie reaktionsschnell, flexibel bin ich (grundsätzlich und in der aktuellen
Situation); erkennen, was getan werden muss, damit meine
Intentionen klar und unmissverständlich sind.
—Klare Entscheidungen treffen, deren Konsequenzen tragen
und trotzdem in aktiver Bewegung bleiben können.
5 Orientierungsfähigkeit
Sich innerhalb nicht vorbestimmter und nicht vorhersehbarer Verläufe und Prozesse orientieren können und die formale
Übersicht behalten.
—Dafür muss jeder der Mitspieler jederzeit auf dem aktuellen
Stand des entstehenden Stückes sein, ob er im Moment nun
spielt oder pausiert. Das bedeutet, dass man:
—Nicht vergisst, was musikalisch bis jetzt geschehen ist (materialmässig, formal, energetisch, …). Das betrifft meine Aktionen und die der anderen.
—Abschätzen kann, was und mit welcher Wahrscheinlichkeit
noch kommen könnte.
—Die Bereitschaft dazu hat, sich immer wieder neu zu orientieren.
—Formales Bewusstsein hat; – dies auch dann, wenn keine geschlossene Form entstehen soll.
6 Energieverwaltung
In einem Prozess, dessen Dauer und Verlauf nicht vorhersehbar sind.
—Die anfängliche musikalische Energie bis zum Schluss aufrecht zu erhalten, ist eine der wichtigsten Voraussetzungen
für Spannungsbögen und das Entstehen von Qualität beim
Improvisieren (und generell beim Musizieren).
—Jeder Energieabbau bedeutet in der Regel auch Spannungsverlust.
—Mentale Kontrolle und energetisches, strukturelles, formales
Bewusstsein helfen verhindern, dass man die zur Verfügung
stehende Energie zu schnell verbraucht (das Pulver zu schnell
verschiesst).
—Intensitäts- und Energieverwaltung im Moment und im
Hinblick auf das Ganze.
10
Ausgabe LXXVII • April 2O14
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
7 Intensität - Komplexität
Die Verbindung von fokussierter Intensität und Energie mit
dem Schaffen und Verwalten von Komplexität ist eine besondere Herausforderung:
—Innerer Reichtum von Musik entsteht durch die Vielfalt
von Beziehungen ihrer verschiedenen Ebenen – in sich und
untereinander. Ohne wache mentale Kontrolle kann diese
Komplexität weder entstehen, noch verwaltet werden.
—Die das musikalische Geschehen begleitenden und verwaltenden Gedanken dürfen jedoch nie in das energetische Feld
der Musik eindringen bzw. den Energiefluss stören, da in
diesem Fall die Verbindung zur Spannungsebene abbricht
und die Musik ihre Intensität verliert.
—Auch in hochkomplexen strukturellen und formalen Situationen und Prozessen sollten die entscheidenden Massnahmen zwar hellwach und bewusst, doch auf intuitive Weise
getroffen werden. 8 Gesetzmässigkeiten, Klischee
Teilhabe und direkte Einsicht in die Gesetzmässigkeiten von
strukturellen und formalen Prozessen.
—Musikalische Prozesse (Formen, Entwicklungen, Spannungsverläufe, Zusammenhänge) unterliegen einer Reihe
ganz unterschiedlicher und teilweise unumgänglicher Gesetzmässigkeiten.
—Manche davon sind archetypisch und haben entweder energetische Gründe (Spannung - Entspannung) oder sie sind
als Basis für Kommunikation und Verstehen ganz generell
unerlässlich.
—Viele Klischees in unserem Verhalten weisen auf die Macht
dieser Gesetzmässigkeiten hin.
—Klischees sind, auch in der Musik, als Basis des gegenseitigen Verstehens unverzichtbar. Wenn sie aber unbewusst
passieren, man ihnen als Musiker unterliegt, ohne sich ihrer
bewusst zu sein, werden sie zu Leerstellen im musikalischen
Geschehen und unterlaufen das Bemühen um Spannung,
Komplexität und Originalität.
—Die im „Untergrund“ wirkenden und uns steuernden Gesetzmässigkeiten zu kennen und über sie verfügen zu können, mit ihnen zu spielen, macht den Musiker zum mündigen Handelnden und ist Voraussetzung dafür, dass etwas
Anspruchsvolles (Kunst) entstehen kann.
9 Forschen, Entdecken
—Wo ist Forschen und Entdecken von Nichtvorhersehbarem
vergnüglicher und mit mehr Lust verbunden als beim Spiel,
beim Experimentieren, beim Improvisieren?
—Und wo lernt man regelmässig so viele neue Dinge kennen,
durch welche Tätigkeit lassen sich so zentrale Erkenntnisse
über den Gegenstand Musik gewinnen wie beim ernsthaft
betriebenen Improvisieren?
ringgespräch über gruppenimprovisation
Zur Ergänzung zwei Zitate:
Ich empfehle jedem die Öffnung innerer Falltüren, eine Reise in die
Dichte der Dinge, eine Invasion an Eigenschaften, eine Revolution
oder einen Umsturz, vergleichbar jenem, den der Pflug oder die
Schaufel hervorrufen, wenn plötzlich und zum ersten Mal Millionen von Stückchen, Spreublättern, Wurzeln, Würmern und kleinen
Tieren, die bisher verborgen waren, ans Tageslicht gebracht werden.
Francis Ponge
Einen höheren Ernst als das Leben hat das Spiel.
G. W. Fr. Hegel
10Produkt, Zweck
Improvisieren ist in der Regel nicht auf ein bleibendes, handelbares Produkt ausgerichtet.
—Die Improvisation behält dadurch ihre Frische (falls sich die
Improvisierenden nicht mit Klischees, selbstgebastelten oder
übernommenen, begnügen). Die Gefahr des Erstarrens ist
kleiner als bei bekannten und eingeübten Abläufen.
—Freies Improvisieren ist unter anderem ein wunderbares
Training für Flexibilität und für die Fähigkeit, sich in unbekannten Prozessen zurechtzufinden; dann aber auch dafür,
Wagnisse einzugehen, klare Statements abzugeben, selber
und frei zu entscheiden und mit den Folgen seiner Entscheide umzugehen.
—Improvisieren als Trainingscamp für Freiheit, gegen das
„Manipuliertwerden“ von außen, für mehr Mündigkeit?
Walter Fähndrich, geboren 1944 in Menzingen (CH).
1965 - 71 Musikstudium in Luzern (Musiktheorie und Viola). Seit 1972 Kompositionen von Musik zu Hörspiel, Theater,
Film, Ballett. Seit 1973 Konzerte mit improvisierter Kammermusik und seit 1981 auch als Solobratschist mit Eigenkompositionen. Seit 1979 Kompositionen und Realisierung von
Elektronischer Musik. Seit 1980 Musik für Räume (musikalische Projekte und Musikinstallationen in ausgewählten Innenund Außenräumen). 1985 - 2010 Professur für Improvisation
an den Musikhochschulen Lugano und Basel; daselbst Aufbau
und Einrichtung eines Masterstudiums in Freier Improvisation.
1990 - 2005 Planung und Leitung der Internationalen Tagungen
für Improvisation, Luzern. Herausgeber der Buchreihe Improvisation, Amadeus-Verlag. Lebt im Tessin.
11
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
Improvisation und Proto-Politik
Kreativität, Bejahung des Zufalls, Autonomie, Gemeinschaftsbildung
von Friedrich Dudda, Bochum
Im Folgenden vertrete ich die These, dass in ihrer Kreativität,
ihrer Bejahung des Zufalls, ihrer Autonomie und der ihr eigenen Form von Gemeinschaftsbildung Kunst politisch ist.1 Des
Weiteren zeige ich, dass das Politische der Kunst zu einem anderen Realitätsbereich gehört als explizit politische Verhaltensweisen. Schließlich skizziere ich eine Praxis der Improvisation,
die sich das Ziel setzt, das Politische der Kunst voll zu entfalten.
Vier politische Dimensionen der Kunst
Ein Kunstwerk ist ein Gefüge aus Perzepten
und Affekten,2 ein unabhängiges, für sich
selbst stehendes Empfindungsgefüge.3 Solch
ein Gefüge ist der Gegenstand der ästhetischen
Erfahrung oder Aisthesis. Wenn man die
Vielfältigkeit insbesondere der modernen
Kunst betrachtet, dann muss man zu der
Auffassung gelangen, dass Artefakte4 nicht
aufgrund von irgendwelchen objektiven
Eigenschaften Kunstwerke sind, sondern dass
ein Artefakt dadurch zu einem Kunstwerk wird, dass es zum
Gegenstand der ästhetischen Erfahrung wird.5 Die Eigenschaft
ein Kunstwerk zu sein entsteht also in der Wahrnehmung des
Rezipienten. Wie sich in der ästhetischen Erfahrung entscheidet, ob ein Artefakt ein Kunstwerk ist oder nicht, so entscheidet
die Aisthesis über die Qualitäten eines Kunstwerks wie seine
Aussagekraft, seine Originalität usw. Künstlerische Kreativität
äußert sich primär nicht in objektiv beschreibbaren Eigenschaften eines Artefakts, sondern in der neuartigen ästhetischen Erfahrung, die durch ein Artefakt möglich wird. Der Künstler,
sagt Deleuze, ist „Schöpfer von Affekten, in Verbindung mit
den Perzepten oder Visionen, die er uns gibt“ (Deleuze & Guattari 1996: 207). In neuartigen ästhetischen Erfahrungen liegt
1 Diese These basiert auf meiner Lektüre der Arbeiten von Gilles Deleuze und
Jacques Rancière.
2 Perzepte und Affekte sind Perzeptionen und Affektionen, die in einem Artefakt vergegenständlicht sind.
3 Vergleiche Deleuze & Guattari 1996: 191.
4 „Artefakt“ gebrauche ich gleichbedeutend mit „von Menschen hergestellter
Gegenstand“.
5 Vergleiche Rancière 2008.
12
auch ein politisches Potential von Kunst. Denn ein neuartiges
Empfindungsgefüge vermag gegebene Gefüge aus Perzeptionen,
Affektionen und Meinungen in Frage zu stellen, zu erschüttern.
Indem künstlerische Kreativität Türen zu bisher unbekannten
Territorien öffnet, ist sie dem Gegebenem gegenüber subversiv.
Da ein Künstler neuartige Gefüge aus Perzepten und Affekten
produzieren will, bejaht er den Zufall als Chance, Klischees zu
entgehen und Unerwartetem zu begegnen.6 Den Zufall zu bejahen, ihn zu nutzen wissen, ist ein Bestandteil der Kreativität
des Künstlers.7 Ein Beispiel hierfür ist Francis Bacons Technik
des manipulierten Zufalls. Mit dieser Technik löste Bacon das
Problem des Anfangs. Er wirft schnell einige Markierungen auf
die Leinwand, „um dem Unwahrscheinlichen eine Chance zu
geben“ (Zechner 2003: 28). Diese anfänglichen Markierungen
bleiben im Bild, das entsteht, immer präsent. Sie sind der zufällige Ausgangspunkt, mit dem Bacon sich in einem Bild auseinandersetzt. Die Bejahung des Zufalls steht in einem Gegensatz
zu gesellschaftlichen Anstrengungen, den Zufall auszumerzen,
Berechenbarkeit, Sicherheit zu generieren. Sie ist die Verneinung der planenden, verplanenden, kontrollierenden, überwachenden Gesellschaft.8
Die Begegnung mit einem Kunstwerk versetzt mich in einen
besonderen Zustand, den Zustand der ästhetischen Erfahrung.
In diesem Zustand treten Empfindungen, Assoziationen und
Gedanken in ein freies Spiel. Dieses Spiel kommt jedoch zu keinem Ende. Vielmehr wird bei wiederholten Begegnungen mit
ein und demselben Kunstwerk dieses Spiel immer wieder von
neuem angestoßen. Die Erfahrung des freien Spiels ist damit
auch die Erfahrung, dass ein Kunstwerk nicht konsumiert, vertilgt werden kann. Das Kunstwerk ist immer für sich selbst da,
es bewahrt seine Autonomie. Wegen dieser Autonomie kann ein
Kunstwerk nicht in gesellschaftlichen Funktionszusammenhängen aufgehen. Es bewahrt gegenüber allen vermeintlichen gesellschaftlichen Sachzwängen, aller vermeintlichen gesellschaftlichen Rationalität und allen gesellschaftlichen Konventionen
seine Unabhängigkeit, seine Freiheit. In dieser seiner Unverfüg6 Vergleiche Zechner 2003: 29.
7 Vergleiche Deleuze 1993: 85.
8Ibidem.
Ausgabe LXXVII • April 2O14
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
barkeit, Autonomie ist ein Kunstwerk gegenüber gesellschaftlichen Verwendungszusammenhängen widerständig, subversiv.
Wenn die Autonomie des Kunstwerks, die sich in der ästhetischen Erfahrung manifestiert, in das gesellschaftliche Miteinander projiziert wird, dann entsteht die Vorstellung einer Gesellschaft freier poetischer Menschen. Diese Vorstellung wiederum
ist ein Anstoß, gegebene Meinungen und Verhaltensweisen in
Zweifel zu ziehen, zu revidieren, zu verwerfen. In der Vorstellung einer Gesellschaft freier poetischer Menschen ist Kunst gemeinschaftsbildend — nicht im Sinne eines Zusammenschlusses von Kunstliebhabern, sondern im Sinne einer Gemeinschaft
im Denken und Empfinden. Diese Gemeinschaft im Denken
und Empfinden ist das künftige Volk, das von Schiller bis Deleuze beschworen wird.9
Zwei Realitätsbereiche
Kunstwerke weisen einerseits einen politischen Gehalt auf, andererseits scheint dieser politische Gehalt sich von explizit politischen Verhaltensweisen zu unterscheiden. Dieser Unterschied
wird erfahrbar, wenn ein Kunstwerk mit einer expliziten politischen Botschaft verknüpft wird. Ohne solch eine Verknüpfung steht es dem Rezipienten frei, eigene Aussagen mit dem
Kunstwerk zu verbinden. Diese Freiheit wird ihm durch die
Verknüpfung des Kunstwerks mit einer expliziten politischen
Botschaft ein Stück weit genommen. Wenn ein Kunstwerk mit
einer explizit politischen Botschaft verknüpft wird, weiß man
oft nicht, worauf man reagieren soll: auf das Kunstwerk oder auf
die politische Botschaft. Darüber hinaus kann es zu Dissonanzen
zwischen der mit dem Kunstwerk verknüpften politischen Botschaft und der eigenen ästhetischen Wahrnehmung kommen.
Dies deutet darauf hin, dass das Politische der Kunst und explizite politische Inhalte und Verhaltensweisen zu unterschiedlichen
Realitätsbereichen gehören. Da der politische Gehalt von Kunst
mit unterschiedlichen expliziten politischen Inhalten verknüpft
werden kann, scheint jener grundlegender zu sein als diese. Um
terminologisch zwischen dem politischen Gehalt von Kunst und
explizit politischen Inhalten unterscheiden zu können, könnte
man ersteren „proto-politisch“ nennen.10
Improvisation und Proto-Politik
Wie sähe eine Praxis der Improvisation aus, die anstrebte, das
Proto-Politische der Kunst voll zu entfalten? Das erste, unerlässliche Ziel solch einer Praxis wäre die Produktion neuartiger Gefüge aus Perzepten und Affekten. Denn allein neuartige
Empfindungsgefüge vermögen es, Türen zu unbekannten Territorien zu öffnen. Diese Erfahrung wiederum vermag es, gegebene Gefüge aus Perzeptionen, Affektionen und Meinungen zu
erschüttern. In ihrem Streben, neuartige Empfindungsgefüge zu
9 Vergleiche Deleuze & Guattari 1996: 208.
10 Rancière gebraucht den Ausdruck „meta-politisch“ (2008: 44). Mir scheint
der politische Gehalt von Kunst explizit politischen Inhalten gegenüber jedoch nicht nach-, sondern vorgelagert zu sein.
ringgespräch über gruppenimprovisation
erschaffen, würde diese Praxis stets
sensibel auf Unvorhergesehenes reagieren. Der Zufall würde weder ignoriert, noch gäbe es das Ansinnen,
ihn auszumerzen. Vielmehr würde der
Zufall zum willkommenen Ausgangspunkt für Reisen ins Unbekannte gemacht werden. Eine weitere Zielsetzung
des Improvisationsensembles wäre, den
eigenen Produktionen die Kunstwerken
eigene Autonomie zu verleihen. Um dies
zu erreichen, wäre sie bestrebt, in ihrer Praxis das freie Spiel von Empfindungen, Assoziationen und Gedanken zu entfalten. Es
wäre eine beständige Übung dieses Ensembles, Fähigkeiten der Empfindung, der Assoziation und der Reflexion weiterzuentwickeln.
Um in seiner Autonomie nicht steril, sondern
lebendig zu sein, muss ein Kunstwerk Anschluss an
die menschliche Lebenspraxis finden. Durch solch einen Anschluss wird ein Kunstwerk verständlicher, verbindlicher und,
wie gesagt, lebendiger. Um diese Verständlichkeit, Verbindlichkeit und Lebendigkeit zu erreichen wäre die in Rede stehende
Improvisationspraxis ständig bemüht, in ihren Produktionen einen Anschluss an die Lebenswirklichkeit ihrer Rezipienten herzustellen und neue Wege der Gestaltung dieser Wirklichkeit zu
erforschen. Die Verknüpfung eines Kunstwerks mit der Lebenswirklichkeit steht in einem gewissen Widerspruch zur Autonomie eines Kunstwerks.11 Deshalb gehörte es zu der Praxis des
Improvisationsensembles mit unterschiedlichen Mischungen
insbesondere dieser beiden Dimensionen zu experimentieren.
Das Spiel von Zufall und Ausarbeitung und das freie Spiel von
Empfindung, Assoziation und Gedanke sowie die Verknüpfung
von Kunst und gemeinschaftlichem Leben könnten darüber hinaus nicht nur Gegenstände improvisatorischer Explorationen,
sondern auch Gegenstände von Inszenierungen improvisatorischer Praxis sein. Durch solche Inszenierungen könnten die Produktionen dieser Praxis verständlicher und verbindlicher gestaltet werden und an Anschlussfähigkeit gewinnen.
Zu einem Gegenstand von Inszenierungen könnte schließlich
auch das allgemeine Ziel der Improvisationspraxis werden —
das Proto-Politische der Kunst voll zu entfalten. Zu diesem
Zweck würden diejenigen Dimensionen, die sich inszenieren
lassen, in Inszenierungen zueinander in Beziehung gesetzt werden. Dies bedeutet nicht nur Inszenierungen besonderer Mischungen, sondern auch dass in Inszenierungen die in Rede
stehenden Dimensionen aufeinander bezogen und miteinander
konfrontiert werden.
Um das Proto-Politische der Kunst deutlich herauszuarbeiten
könnte dieses auch in Beziehung zu explizit politischen Inhalten
11 Vergleiche Rancière 2008.
13
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
gesetzt werden. Gemeint ist damit nicht
die Einbeziehung explizit politischer
Inhalte im Sinne einer ‚engagierten’
Kunst, sondern die Einbeziehung explizit politischer Inhalte im Dienste
der Erforschung des Politischen der
Kunst als einem Gehalt von Kunst,
der immer schon gegeben ist, unabhängig davon, ob explizite politische Inhalte in ein Kunstwerk
eingeflochten sind oder auch nicht.
Literatur
Deleuze, Gilles: Logik des Sinns. Frankfurt/Main,
Suhrkamp 1993
Deleuze, Gilles & Guattari, Félix: Was ist Philosophie? Frankfurt/Main, Suhrkamp 1996
Rancière, Jacques: Das Unbehagen in der Ästhetik. 2., überarb.
Aufl., Wien, Passagen 2008
Zechner, Ingo: Deleuze. Der Gesang des Werdens. München,
Wilhelm Fink 2003
Friedrich Dudda studierte Komposition bei Nicolaus A. Huber, anschließend Philosophie, insbesondere bei Hans-Ulrich
Hoche. Er ist Privatdozent für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum, beschäftigt sich mit Wittgenstein, Cavell, Deleuze, Rancière und anderen, improvisiert auf der Violine und
arbeitet an offenen Kompositionen.
14
Ausgabe LXXVII • April 2O14
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
Improvisierte Musik im ethischen und politischen Kontext
von Christoph Irmer, Wuppertal
1. Gemeinschaftsbildung
Zum Thema „Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation“ ist eine der Ausgangsfragen,
inwiefern eine politische Dimension der Improvisation heute (noch)
existiere und ob diese sich im Vergleich zu den 60er und 70er Jahren
verändert habe. Mit dieser Frage wird die Annahme verbunden,
dass es eine politische Dimension in dieser Hinsicht jemals gab.
Seltsamerweise schwanken die verschiedenen Positionen dazu jedoch in einer großen Bandbreite. Einerseits gibt es bis heute die
Vorstellung, einen relativ herrschafts- und politikfreien Raum
erzeugen zu können, in dem ‚Improvisierte Musik’ überhaupt
erst Chancen zur Entfaltung erhalte. Andererseits wird aber
auch das Ziel formuliert, ‚Improvisierte Musik“ als Vorbild für
gesellschaftliches bzw. politisches Handeln zu präsentieren. Die
Alternative lautet also in etwa: „Improvisierte Musik“ als ein unpolitischer und gelebter Humanismus einerseits, als utopisches
Projekt einer anderen (politischen) Gemeinschaftsbildung andererseits. Beide Vorstellungen finden historisch ihre Rückbezüge
in „Stilen“ der „Improvisierten Musik“, so einerseits dem „Free
Jazz“ als einem immer schon sozial engagiertem Projekt, und
andererseits der neuen „Improvisierten Musik“ mit ihrer Attitüde des gesellschaftlichen Rückzugs und der Besinnung auf den
reinen künstlerisch-ästhetischen Ausdruck. Dazwischen gab und
gibt es eine große Zahl an Vermischungen beider Einstellungen.
In den aktuellen Diskussionen zur Praxis der „Improvisierten
Musik“ finden sich ähnlich weit auseinander liegende Positionen wieder. So zeigt sich beispielsweise schon im Titel des Buches „Echtzeitmusik Berlin – Selbstbestimmung einer Szene“1 der
Anspruch sowohl auf eine künstlerische Reflexion als auch auf
eine gesellschaftliche Positionierung bzw. Verortung im Raum
der sozialen Beziehungen. So schreibt darin Thomas Meadowcraft, ein australischer Musiker: „Musik zu machen heißt auch,
Gemeinschaften zu bilden“, und „hinsichtlich der Bildung von Ge1 „Echtzeitmusik Berlin – Selbstbestimmung einer Szene“, Hofheim, 2011
(Wolke Verlag)
ringgespräch über gruppenimprovisation
meinschaften durch Musik beschäftigt mich, je länger ich in Berlin
lebe, das Modell des mittelalterlichen Dorfes. (…) Das mittelalterliche Dorf beschreibt für mich (…) gut den Raum, in dem mein
Musizieren an der elektronischen Orgel funktioniert.“2 Das Modell des vorneuzeitlichen „Dorfs“ erlaube hier geradezu erst die
Entfaltung der künstlerischen Aktivität, über die Meadowcraft
schreibt: „Wenn ich Orgel spiele, verhalte ich mich als Individuum ebenso vor-aufklärerisch. Es geht mir nicht um Selbstverwirklichung, um persönlichen Ausdruck, ich spiele einfach meine Songs.“
Dieses Erwachen des künstlerischen Egos in relativer Abkoppelung von einem gesellschaftlich Allgemeinen funktioniert für
Meadowcraft dennoch nur in Verbindung mit einem „Sich-Bewegen“ im pluralen Zusammenhang mehrerer Gemeinschaften
(sprich: Dörfer über das eigene Dorf hinaus). Dabei hält er diese
Sichtweise für politisch relevant, ja gleichsam für eine Antwort
in politisch unübersichtlicher Zeit. Er spricht von „unserer Situation“, in der es darauf ankäme, „dass urbane Räume die richtigen
Bedingungen bieten, dass sonderbare, kleine Musikgemeinschaften
entstehen und ihre Arbeit auch relativ unerkannt fortsetzen können, auch verhältnismäßig unabhängig von Kulturadministratoren
und kommerziellen Erwägungen.“3
Was zur Gründung einer Gemeinschaft gehört, führt der Autor
hier exemplarisch vor: erstens die Generierung eines „Wir“ mit
„unserer Situation“; zweitens geht es darum, sich von anderen
„Situationen“ abzugrenzen, hier die Differenz des „Dorfes“ zum
„urbanen Raum“, in dem es doch zugleich enthalten sei. Zur
Bildung des „Wir“ thematisiert der Autor drittens die habituelle Abgrenzung, wenn er den eigenen Gemeinschaftshabitus als
„sonderbar“ tituliert, d.h. als dem herrschenden Normenkanon
fremd. Auch gehört der Autonomiegedanke zur Gründung der
Gemeinschaft wesentlich dazu. Diese Bestimmungen des Gemeinschaftlichen propagiert Meadowcraft letztlich in globaler
Hinsicht: „Auf eine faszinierende Weise sinnlos, divers, sozial orientiert und vor allem fröhlich zu sein, und dabei höchstens kostendeckend zu arbeiten – ist das nicht eine angemessene Reaktion auf
unsere Zeit?“4
2 ebd., S. 104
3ebd
4ebd
15
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
Dieser „fröhlichen“ Utopie steht auffallend gegenüber, dass sich
in dem genannten Buch ansonsten kaum weitere Überlegungen
in sozialer Hinsicht finden. Im Gegenteil macht sich das Neue
eher am ästhetischen Prozess selbst fest. „Situationen“ werden
dabei zuerst als musikalische Situationen verstanden, in denen
Handlungsmöglichkeiten ausgelotet und Materialerforschungen betrieben werden. Statt nach dem sozial Anderen zu fragen,
wird eher der Mitmusiker bzw. die Mitmusikerin thematisiert
als Möglichkeitsbedingung „gemeinsamer Erfahrungen“ und
als Träger kontingenter Ereignisse – mit dem Ergebnis, wie
Burkhard Beins schreibt: „Die in dieser Lage stattfindende Kommunikation reduziert (…) bereits Kontingenz und wird zunehmend auf etwas Bestimmtes hin geführt.“5 Wie eine Kommunikationsgemeinschaft hier entsteht, beschreibt Beins nicht aus der
Sicht der Entfaltung möglichst vieler musikalischer Potentiale,
sondern umgekehrt aus deren Zurückhaltung: „Neben der Limitierung durch die innermusikalische Dynamik und Logik des
Prozesses selbst werden diese vor allem durch die Grenzen der subjektiven Perspektive des einzelnen Musikers (die zwangsläufig dazu
führt, dass in einer musikalischen Situation der Bereich, den er
nicht sehen kann, immer weitaus größer ist, als der, den er tatsächlich wahrnimmt) (…) geprägt.“ Die Reduktion, die Beins hier
sieht, wäre durchaus zu befragen hinsichtlich einer modellhaften Relevanz für gesellschaftliche Kommunikation heute überhaupt, aber darum geht es diesem Ansatz in erster Linie nicht.
Er beschränkt sich darauf vom konkret Möglichen zu sprechen:
„Es eröffnet sich somit eine Art ‚Möglichkeit des Handelns auf eine
Zukunft hin‘“ 6- die doch am strukturell-ästhetischen Prozess
rein ausgerichtet bleibt: „Hat sich eine musikalische Struktur etwas stabilisiert, lassen sich die eigenen Beiträge auch graduell in
Richtung zu- und abnehmender Homogenität eines Gesamtzusammenhangs verschieben, oder es kann versucht werden, eine Situation weiter zu stabilisieren oder auch zu dekonstruieren.“
Beide hier dargestellten Positionen, die
jeweils die Herausforderungen für die
zeitgenössische (improvisierte) Musik bedenken wollen, schließen nicht aus, dass
es sich lediglich um verschiedene Aspekte
ein- und desselben Sachverhalts handelt.
Offensichtlich steht die Frage nach einer
Neubestimmung von Formen eines Miteinander in künstlerischen Prozessen im Raum, die sich vom
gesellschaftlichen Kontext weder lösen können, noch sich mit
diesem distanzlos identifizieren lassen. Die Metapher der „Situation“, die sich auf beiden Seiten findet und je nachdem verschiebbar ist, fordert auf zu bedenken, was sie verdeckt. In der
jeweiligen Situation scheint es um ein Gemeinsames zu gehen,
das sich mit der Frage nach dem Anderen beschäftigt: einerseits
in der örtlichen (politischen) Abgrenzung von den Anderen,
um zum Eigenen zu gelangen, andererseits in der Öffnung hin
5 ebd., S. 168
6 ebd., Beins bezieht sich auf Heinz von Foerster: Wissen und Gewissen, Frankfurt/M., 1987 (Suhrkamp)
16
auf eine kommunikative Situation, die den Anderen als Teil einer mehr oder weniger homogenisierbaren Situationsbildung in
den ästhetischen Prozess einbezieht.
2. Ethos – Raum der Gewohnheiten
Das Verhältnis zum Anderen in seiner
Unmittelbarkeit lässt sich als ethisches
Verhältnis bezeichnen, das Verhältnis
zum Anderen in seiner Sozialität als
das politische Verhältnis. Die jeweilige
Situation ist allerdings nicht einfach
nur durch diese beiden Seiten bestimmt, sondern auch durch
einen affektiven Überschuss im Verhältnis vom Einen zum Anderen, was jetzt beschrieben werden soll. Fragen dieser Art sind
anscheinend zeitlos, aber sie stellen sich doch zu jeder epochalen
Zeit erneut und fordern neue Antworten heraus, und das heute
nicht allein unter dem Vorzeichen eines globalisierten, neoliberal ausgerichteten Kulturverständnisses. Wir sind jetzt in der
Rückschau auf das 20. Jahrhundert mit all seinen politischen
Verwerfungen und den Denkern jener Ereignisse durchaus in
der Lage, Ethik und Politik, Andersheit und Gerechtigkeit aus
veränderter Perspektive zu betrachten. Es wäre also zu fragen,
was die heutige künstlerische „Situation“ ausmacht.
Für den Philosophen Klaus Held ist das Besondere einer Situation, dass man in ihr überrascht wird.7 Dies ist insbesondere dann
möglich, wenn sie noch keine allgemeine Regel besitzt, nach der
sie „in ihrer Besonderheit zu beurteilen ist.“8 – oder aber auch,
wenn sie ihre Regeln allmählich verliert. Einerseits bilden sich
in Situationen Erwartungen, die enttäuscht werden können,
andererseits erfährt man bestimmte Gelegenheiten, in der sich
das Neue zeigt – den bestimmten Moment, den Platon „kairós“
nannte, den „günstigen Augenblick“. In der „Improvisierten
Musik“ ging es wesentlich immer schon um diesen Moment.
Aber doch wissen wir im Zeitalter der Performance mehr davon,
wie paradox dieser Moment erlebt werden kann, wie groß die
Möglichkeiten sind, im Moment zu scheitern wie auch zu gelungenen Resultaten zu kommen. Insbesondere die Phänomenologie der Wahrnehmung gibt uns heute Hinweise darauf, dass
es nicht einfach soziale oder auch individuelle Kompetenzen
sind, die z.B. eine Gruppenimprovisation gelingen lassen. Vielmehr steht die Relation Ich – Anderer hier zur Debatte, die sich
letztlich in ethischen und politischen Begriffen niederschlägt.
Klaus Held fragt diesbezüglich, was es heißt, in einer Situation
einen eigenen „Standpunkt“ zu haben und andererseits zu einem gemeinsamen „Standpunkt“ kommen zu können, der sich
letztlich nur von allen Beteiligten im kontroversen Gespräch
bilden lässt. Im musikalischen „Gespräch“ fehlt allerdings dazu
7 Held, Klaus: Phänomenologie der politischen Welt; Neue Studien zur
Phänomenologie, Band 7; Frankfurt/M., Berlin, Bern, Bruxelles, New York,
Oxford, Wien, 2010; S. 79 (Verlag Peter Lang)
8ebd
Ausgabe LXXVII • April 2O14
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
die Zeit, denn der Konsens müsste ad hoc, im „günstigen Augenblick“ hergestellt werden. Es müssen also noch andere Verlässlichkeiten innerhalb einer Situation gegeben sein, die den
eigenen und den gemeinsamen Standpunkt als miteinander
vereinbar erscheinen lassen. Held behauptet in diesem Sinne:
„Die Verständigung braucht irgendwelche grundlegenden Voraussetzungen, die nicht zur Diskussion stehen. Als Voraussetzungen von
solcher Selbstverständlichkeit kommen aber nur die Gewohnheiten
in Betracht (…).“9 Dieser Begriff der „Gewohnheiten“, der die
Sitten, Gebräuche und Traditionen einschließt, verweist nicht
nur auf rapide soziale Veränderungen in den letzten Jahrzehnten. Es ist auch wichtig, über seine Bedeutung nachzudenken,
wenn die Gewohnheiten den intuitiven Boden für die gemeinsame Verständigung in Situationen bilden sollen.
„Das Ganze der Gewohnheiten, die wir alle
gemeinsam im Rücken haben, nannten die
Griechen ethos“10, schreibt Held. Generell
birgt das ethos mögliche Bruchlinien in sich:
in die Gewohnheiten bricht das Vergessen
ein, d.h. eine unvordenkliche Vergangenheit,
und das Neue schließt nicht aus, dass sich
in ihm etwas der Verwirklichung entzieht,
niemals zum Vorschein kommen wird. Verstärken sich diese Tendenzen im ethos, dann
neigen wir dazu uns abzuschließen und Regeln zu folgen, statt
uns gegen die Konventionen zu wenden. Worauf es ankommt,
so Klaus Held, sei aber „die Bereitschaft zum Ergreifen eines möglicherweise sich abzeichnenden kairós, die Offenheit für das eigentlich Neue, weil eine solche Haltung im Streit liegt mit der Neigung,
das Altgewohnte, das ethos, zu bewahren.“11 Damit ist nicht gemeint, die Gewohnheiten über Bord zu werfen, denn nur sie
allein sind ja die Grundlage gemeinschaftsbildender Akte. Erst
ein bewahrender Rückbezug zum ethos erlaubt gerade die Offenheit für das Risiko.
Diese Erfahrung teilen wir mit den Anderen auf der Grundlage eines Vertrauens, das sich auf den Gewohnheiten aufbaut,
das aber auch einen Kontrapunkt durch die Verfremdung durch
den Anderen erfährt. Zunächst kann das Vertrauen eine Nähe
von ethos und kairós „in mir“ ausdrücken, ebenso eine Nähe
zwischen „mir“ und dem „Anderen“, z. B. in einer Gruppenimprovisation. Aber diese Nähe ist nichts Festes, denn sie wird
ständig untergraben und muss ständig erneuert werden. Alle
meine Entscheidungen, die Ansprüche auf Gemeinsamkeit mit
dem Anderen sind, werden dabei durch Entscheidungen des
Anderen konfligiert, verneint oder bejaht. Ich muss dem Anderen meine Entscheidungen ansinnen, ohne davon ausgehen zu
können, dass er sie jeweils akzeptiert und beantwortet. Obwohl
9 Held, Klaus: Lebenswelt und politische Urteilskraft; in: Giovanni Leghissa / Michael Staudigl (Hrsg.): Lebenswelt und Politik – Perspektiven der
Phänomenologie nach Husserl; Würzburg 2007, S. 21 (Verlag Königshausen
& Neumann)
10ebd.
11 ebd., S. 24
ringgespräch über gruppenimprovisation
wir das gemeinsame Ziel eines Gelingens verfolgen und uns eine
gemeinsame Zeit gönnen, kann das Band der Gewohnheiten zwischen uns reißen. Im ethos richtet sich dann das Misstrauen ein.
Problematischer wird es noch bei Umkehrung dieses Verhältnisses, wenn sich das Misstrauen zuerst ankündigt. Wenn ich zum
Beispiel derjenige bin, der dem Anspruch des Anderen ausgeliefert ist und der das Gefühl hat in die moralische Verantwortung
dessen zu geraten, an dem das gute Gelingen scheitern könnte.
Aristoteles sah diese Gefahr in der Freundschaft aufgefangen.
Allerdings sind wir nicht mit jeder Kollegin befreundet, mit der
wir zusammen musizieren. Der Philosoph Emmanuel Lévinas
hat diese Erfahrung einer Verfremdung im Verhältnis zum Anderen genau beschrieben: „Gewiss geschieht die Erscheinung des
Anderen zunächst in derselben Weise, in der alle Bedeutung hervortritt. Der Andere ist gegenwärtig in einem kulturellen Ganzen
und erhält sein Licht von diesem Ganzen, wie ein Text durch seinen Kontext. (…).“12 Auf dieser Ebene wäre daher das Vertrauen
möglich. „Aber die Epiphanie des Anderen trägt ein eigenes Bedeuten bei sich, das unabhängig ist von dieser aus der Welt empfangenen Bedeutung. Der Andere kommt uns nicht aus dem Kontext
entgegen, sondern unmittelbar, er bedeutet durch sich selbst. Seine
kulturelle Bedeutung (…), diese weltliche Bedeutung wird gestört
und umgestoßen durch eine andere, abstrakte, der Welt nicht eingeordnete Gegenwart.“ Setzt man „Kontext“ hier mit „Gewohnheiten“ gleich, so überschreitet der Andere diese permanent durch
seine Unmittelbarkeit und unterbindet die Möglichkeit eines
gemeinsamen Verständnisses.
Unter diesem Vorzeichen wäre folgende Tagebuchnotiz eines
recht prominenten Improvisators zu überdenken: „Das Interessante bei dieser Musik ist, dass du die Möglichkeit hast, mehr über
dich selbst im Unterschied zu den anderen Leuten, mit denen du zusammenarbeitest, herauszufinden. So dass du, wenn du mit einem
bestimmten Musiker spielst, dich diesem Spieler nicht aufdrängst,
zumindest tue ich das nicht (…).“13 Eddie Prévost vertraut hier
auf den Kontext. Er meint, eine dem ethos entsprechende Einstellung entwickeln zu können, sich dem Anderen gerade nicht
aufzudrängen. Was aber, wenn der Andere sich ihm aufdrängt?
Mit Lévinas ist das Gute nicht primär an die Gewohnheit oder
an den Kontext gebunden, sondern an die ethische Beziehung
mit dem Anderen. Dieser stört und unterbricht jedoch immer
wieder die Gewohnheiten und drängt sich auf.
3. Figur des gerechten Ausgleichs: Der Dritte
Das ethische Verhältnis geht für Lévinas den Störungen nicht voraus, sondern entsteht erst gerade durch sie. Es muss daher eine
Kraft geben, die dem „gefährlichen“ Anspruch des Anderen Einhalt gebietet. Dafür macht Lévinas die Figur des Dritten stark, der
12 Emmanuel Lévinas: Die Spur des Anderen – Untersuchungen zur
Phänomenologie und Sozialphilosophie; Freiburg/München 1983, S. 221
(Verlag Karl Alber)
13 Eddie Prévost; in: Rhodrie Davis: Berlin London 1997 – 1999; in:
Echtzeitmusik Berlin, a.a.O., S. 74
17
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
eine politische Funktion übernimmt. Dieser Dritte ist ein Zeuge
des Geschehens, der gleichwohl in die Situation involviert ist.
Mit ihm begrenzt sich der unermessliche Anspruch des Anderen.
Dies geschieht nicht dadurch, dass der Dritte zur Gewalt greift,
sondern indem er in die Maßlosigkeit der „ethischen Verrücktheit“
das Maß einer Vermittlung einführt, die Lévinas „Gerechtigkeit“
nennt. Mit dieser Vermittlung würde sich im Falle der Selbstreflexion Prévosts verbinden, eben nicht zuerst „mehr über mich
selbst“ herauszufinden. Es gilt vielmehr, zuerst mehr vom Anderen zu erfahren und darüber hinaus von ihm zu fordern, dass
dieser sich anstrengt, auch mehr über mich herauszufinden. Diesen Übergang zu einer altruistischen Einstellung zu ermöglichen,
ist die Aufgabe der Intervention, die der Dritte hier übernimmt.
Auf einer politischen Ebene würde dem die
Suche nach Kriterien der Beurteilung, Bewertung und Sanktionierung von zwischenmenschlichen Situationen entsprechen, als einer Aufgabe der Gemeinschaft bzw. der Polis,
dem Dritten in institutionalisierter Form. In
der musikalischen Praxis dagegen erfüllt diese
Aufgabe beispielsweise das Publikum als eine
Gruppe von Dritten. Auch für das Publikum sind Gewohnheiten
zentral. Jede Konzertsituation fordert es zum erneuten Abwägen
von Gerechtigkeitsurteilen heraus. Der Dritte ist – wie gesagt –
kein äußerer Beobachter, sondern als Zeuge genauso in die Situation involviert wie „Ich“ und „Anderer“ und ebenso dem kairós
ausgesetzt. Auch die Vermittlung, die er leistet, ist keine, die dem
Verfahren eines Streitschlichters entspricht, weil sie weder nachträglich erfolgt noch in diskursiver Rede. Es gibt ein Publikum lediglich als Instanz von Zeugen ohne Zeugnis, deren Aufgabe darin
besteht, sich den Zumutungen der Anderen auszusetzen und ihnen
Akzeptanz entgegenzubringen. Der Raum, den Musiker und Publikum gemeinsam teilen – der Ort des ethos –, ist daher ein Raum
gegenseitiger Belastungen, aber zugleich auch der Erfindung von
Strukturen vertrauensbildendender Maßnahmen und Akzeptanz.
Diese paradoxe Vermittlung, die der Dritte zu leisten hat, wird
eine umso dringendere Aufgabe, wie die Gewohnheiten zerfallen.
Der Ruf nach Gerechtigkeit bezieht sich immer deutlicher auf
den Staat, der nach Lévinas wie ein Dritter agiert. Von ihm wird
erwartet, Entscheidungen zwischen dem Hören auf die Ansprüche der Anderen, z.B. dem Hilferuf des sozialen Opfers, und der
Erfindung und Ermöglichung von verantwortbaren Strukturen
des gerechten Ausgleichs zu finden. Allerdings ist die Politik gezwungen, Entscheidungen zu treffen. Insofern diese zwar nicht
primär willkürlich sind, wie manche den politischen Entscheidungsträgern gern unterstellen, aber doch weit entfernt vom konkreten Ort des ethos, an dem sich ein Gemein-Sinn des Unmittelbaren, Autonomen und Einmaligen herausbildet, muss sich die
Politik von dieser Seite des Ethischen immer einen Widerstand
gefallen lassen.14 Würde sie diese Impulse des Ethischen nicht
14 vgl. dazu Simon Critchley: Fünf Probleme in Lévinas´ Sicht der Politik und die
Skizze ihrer Lösung; in: Pascal Delhom, Alfred Hirsch (Hrsg.): Im Angesicht der
Anderen; Zürich, Berlin 2005, S. 72f. (Verlag Diaphanes)
18
akzeptieren, drohte sie ins Totalitäre abzugleiten (auch dies
ist eine erschütternde Erfahrung des 20. Jahrhunderts).
Umgekehrt kann man sagen,
dass es bei der Entwicklung
ethischer Beziehungen nicht
einfach um Basisdemokratie geht, sondern um die Schwierigkeit politische Entscheidungen zu akzeptieren, die sich auf Situationen beziehen, die unsicher und risikobehaftet sind, in denen
Misstrauen herrscht wie auch Vertrauen erst wachsen muss und
in denen die Gewohnheiten keine sichere Basis des augenblicklichen und überraschenden Aushandelns von Ansprüchen bieten.
Für ein ethos, wie es sich in der Gruppenimprovisation abzeichnet, bedeutet dies: beides, sowohl die Unmöglichkeit ausschließlich basisdemokratischer Zielformulierungen als auch die
unbedingte Zurückweisung politisch geprägter Bevormundungen in Situationen auszuhalten. Die Entscheidung, den Ansprüchen des Anderen im Moment offen zu begegnen und sie - wie
auch sich selbst - dabei auf die Probe zu stellen, bedarf immer
des Spiegels der bezeugenden Anderen, die in der Gemeinschaft
aller die Aufgabe des Korrektivs übernehmen. In der Zeit sich
schnell wandelnder Gewohnheiten, kommt es darauf an, diese
Funktion eines Sich-selbst-Bezeugens innerhalb sich bildender
Gemeinschaften weiterzuentwickeln. In der Gruppenimprovisation wissen wir, dass zum Beispiel ein gegenseitiges intensives
Zuhören in dieser Hinsicht wichtig ist. Auch gegen die Übernahme von Leitungsfunktionen, z.B. beim Dirigat eines improvisierenden Ensembles, spricht dies nicht, wenn es nur mit der
Offenheit verbunden ist, Verantwortung nicht nur zu übernehmen, sondern auch wieder abzugeben. Nur dadurch lassen sich
dem kairós die Möglichkeiten des Sich-Zeigens einräumen.
Christoph Irmer (* 1958) studierte von 1980 bis 1985 Schulmusik in Kassel, danach bis 1990 Violine an der Musikhochschule Köln-Wuppertal. Heute arbeitet er als Musik- und
Soziologielehrer an einer Gesamtschule und beschäftigt sich
nebenberuflich philosophisch insbesondere mit der deutschen
und französischen Phänomenologie des 20. Jahrhunderts. Für
seine Tätigkeit als Improvisator waren die Teilnahme an Peter
Kowalds Projekt 365 Tage am Ort in Wuppertal 1994/95 von
größter Bedeutung. Seitdem ist er in verschiedensten Formationen unterwegs, engagierte sich u.a. auch regelmäßig im London Improvisers Orchestra und ist Mitbegründer des Wuppertaler
Improvisations-Orchesters (WIO).
Ausgabe LXXVII • April 2O14
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
“Life as it is / play’d now:” Improvisation as Political Practice
Conference Paper // Perspectives on Musical Improvisation:
University of Oxford, 11th Sept. 2012
by David Grundy, Cambridge/England
This paper’s title comes from a poem written by the pianist Cecil
Taylor: Taylor, as both a proponent and theorist of the music
commonly, though arguably inaccurately, known as ‘free jazz’,
sketches out a schema in which musical decisions take place
within an inescapably political – and racialized – climate; in
which structural models formed through a working improvisational practice might be taken, in however seemingly oblique or
abstract a manner, as models for political structures and modes
of action. Though a noted solo performer, Taylor is particularly
concerned with the group dynamics of improvisation, as an exchange of musical ideas, a conversation – sometimes around
pre-written motifs which serve as springboards for new invention, and more often around material developed on the spot
– in which the musician is not stressed as lone or alone – the
solitary genius, nib-scratching notes for subordinates to translate into sounds – but as an individual in dialogue with other
individuals, his or her voice developing with and out of theirs,
these voices then combining to form a group sound which is
more than the sum of its parts, which exhibits a kind of swarm
intelligence of its own, as a single being made up of multiplicities, like the revolutionary crowd storming the square, like the
diverse points of resistance which Michel Foucault identifies by
that term, ‘swarm.’1
Improvisation, as both musical and political practice, emerges
out of the necessary and unavoidable meshings of tradition and
past inheritance out of which we are formed – in language, ges1 “Are there no great radical ruptures, massive binary divisions, then? Occasionally, yes.
But more often one is dealing with mobile and transitory points of resistance, producing cleavages in a society that shift about, fracturing unities and effecting regroupings,
furrowing across individuals themselves, cutting them up and remolding them, marking off irreducible regions in them, in their bodies and minds. Just as the network
of power relations ends by forming a dense web that passes through apparatuses and
insitutions, without being exactly localized in them, so too the swarm of points of
resistance traverses social stratifications and individual unities.” [emphasis mine] //
Foucault, History of Sexaulity, Vol.1: The Will to Knowledge
ringgespräch über gruppenimprovisation
ture, and social attitude.2 As Mike Heffley puts it, “The point is
that no free player is lost in space by virtue of his freedom[:] each has
inherited and acquired (or assumed) musical parents, backgrounds,
roots, influences, families[,] clans, contexts from which he is free
primarily in proportion to the degree to which he can personally
synthesize, re-situate, re-originalize, re-originate, thus regenerate-those things.”3 Similarly, for Taylor, tradition can only really live
– as inheritance for the future, as grounds for living, or ‘playing’
life in its fullest, radical potential – through its transformation,
through the creation of new conceptions, the creation of a music
that is new, because largely improvised, every time it is played:
the opposite, in other words, to the repertoire, score- and composer-based approach that still dominates much western classical music, but which finds little equivalent in the traditions of
folk and national music from around the rest of the globe.
The music of freely improvising musicians shares with folk
music an interest in what Trevor Wishart calls the ‘non latticebased elements’ of musical creation – unfixity of timbre, the
inflection of pitch, ‘expressive’ ornamentation, vibrato, and so
on. As bassist Alan Silva comments: “That became an important
field of my work - tonal timbre, people being able to transmit their
musical entity into the instrument. It’s called vernacular. It happens in gypsy music, in folk music, this is tradition, instrumental
technique. I didn’t like European musicologists saying music in Africa is primitive. You got to look at shit for what it really is.” 4 The
return to folk timbre and imperfection is thus interpreted as a
reaction against the mono-dimensional closing off of particular
techniques in western concert music, and thus possesses both a
racial and a class dimension – in Europe, as a reaction against
2 “All and any art unavoidably acknowledges while transforming where it comes from.”
// Patrick Brennan, ‘Shadow Matter: The Rhythm of Structure (For M. Scott
Johnson)’
3 Mike Heffley, ‘Towards a Composed Theory of Free Improvisation’
4www.paristransatlantic.com/magazine/interviews/silva.html
19
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
the world of classical music, seen as the world of the bourgeois
and of rich elites, in favour of a music that borrows from the
African-American working class and that shares similarities with
the folk traditions of the peasantry, the masses, the oppressed; in
America, as a reaction against the enforced ‘whiteness’ of musical technique and a Christianising bias against the body. Yet the
parallel between folk music and free improvisation is also present on the political level of practical organization – a nomadic
moving beyond boundaries and borders, in which improvisation is posited as a kind of ‘universal grammar’5 – however much
such movement might be limited by the actual difficulties of
cross-cultural communication.
Here, a comparison with biological systems provides a potentially useful analogy: as Steven Johnson notes, “cell collectives
emerge because each cell looks to its neighbours for cues about how
to behave.”6 Such a de-centred model does not require a ‘great
leader’ or an exceptional musician to form a group or grouping.
As Graham Makeachan argues, “there’s a huge history – there are
countless people who’ve never recorded, who’ve been interesting and
extreme musicians in one way or another… For me, [free improvisation] is a folk music, you can take your instrument and go anywhere and there’ll be a tiny little group of people who do improvised
music in their homes or out in a hall or even try and book gigs,
and you go anywhere and you can play, and you have dialects and
languages and you mutter and make your point and try…it’s a folk
music, the same way that in Ireland you can carry your fiddle and
go sit in in a pub…”7
Here, music truly has a social function: not as a means of selling
one’s product on the market (the aim of reaching a mass audience, whether in order to make money or for a more politicised
aim), nor as the rehearsed perfection of a polished, repeatable
music (instead, “you mutter and make your point and try”),
5 The bassist Dave Holland, who relocated from England to the US during the late
60s, argued that “the music’s message is a universal one really - that’s why it transcends
national barriers and boundaries. It communicates to everybody - it’s an international
language.” (Holland, quoted in ‘Notes on Leo Smith and Bob Helson Arising from
a Concert’ by Will Menter (first published in the collection “Co-operative Music”
by Bristol Musicians’ Co-operative, 1979. Now available online at http://www.
willmenter.com/leobob.htm))
6 Steven Johnson, ‘Emergence: The Connected Lives of Ants, Brains, Cities and
Software’ (Scribner, 2001), p.86. Of course, the problem with mining scientific
disciplines (biology, neuroscience, etc) for suggestive metaphors such as these is
that one searches for information that fits with one’s pre-existing thesis: cell collectives by no means always exhibit the behaviour sketched above, and to borrow selective examples in this way risks a kind of inaccurate cod-scientific cod‘legitimisation’.
7http://eartripmagazine.wordpress.com/articles/articles-issue-6/improv-collectives-2b-bic-bristol-improvisers-collective/
20
but as the creation of a set of social relations inside the space
within which it is created, at that particular instant of creation,
ultimately both unprecedented and unrepeatable.
Improvisation, as a method of working which extends beyond
the musical – think, for example, of the performative and theatrical elements found in the work of the Art Ensemble of Chicago,
the Feminist Improvising Group, and The People Band – provides
a nucleus for guerrilla organization. We recall the Black Panther
George Jackson’s formulation: “People’s war is improvisation and
more improvisation. It is organizing the masses around their realistic
needs and moving them against whatever forces restrict their passage
to power.”8 Improvisation provides a space or a method for lowlevel, hidden collaboration, noise hidden in the heart of the city,
ready to explode or to join with other energies, energies that lie
dormant for years but then suddenly emerge in a revolutionary
situation – that notion of the underground, that we might find,
for example, also in Peter Weiss’ ‘The Aesthetics of Resistance’ – a
mode of music-making that does not require – though it often
involves – technical expertise, a particular social background of
privilege and training, that is about communication between
people, about establishing collective and communal spaces,
about working through dispute and argument and agreement in
what is a profoundly social, and thus political process.
Strategies might, for instance, be developed to balance the improvisational abilities of experienced musicians with those of amateurs: thus, Marion Brown’s 1970 ‘Afternoon of a Georgia Faun’
adopts a practice from Ghanaian traditional music, in which a
core of skilled musicians is augmented by community members
with lesser ability – the main band of six instrumentalists is joined
by a team of three ‘assistants’ who use various percussive devices
and implements, some of them invented by Brown. Andrew Cyrille, Anthony Braxton, Bennie Maupin, Chick Corea, Jeanne
Lee and Jack Gregg can be considered virtuoso practitioners of
their respective instruments, yet here their sonic status is often
the same as that of performers who might not even be considered
‘musicians’ in the normal sense. Further, the principal musicians
themselves play a wide variety of different instruments, following
a practice central to the various groupings of Chicago’s Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM). Many of
these instruments – acorns, bells, wood flutes, gongs – are not
designed for virtuosic display, and thus encourage an attention to
the role of one’s contribution with relation to group texture and
timbre, rather than the development of complex individual lines.
8 George Jackson, Blood In My Eye (London: Jonathan Cape, 1972), p.61
Ausgabe LXXVII • April 2O14
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
Such openness to the role of the amateur resonates with the public
performances of Musica Elettronica Viva, and with experimental
projects such as the Portsmouth Sinfonia and the Scratch Orchestra,
during the 60s and 70s. For Brown, this is an affirmation of the
value of improvisation as of equal and different value to composition: unlike composition, it allows anyone to communicate and
jointly participate in a musical experience. Furthermore, as Brown
hints when he talks about “mutual cooperation at a folk level”, the
‘open’ approach finds ‘avant-garde’ music coming to resemble a
kind of imagined folk-music, very different in sound to the traditional folk melodies heard in West Africa, Georgia, or New York
City, where the album was recorded, but possessing a similarly
radical means of making.9 From the liner notes: “Although I am
responsible for initiating the music, I take no credit for the results.
Whatever they may be, it goes to the musicians collectively.”
If the title track of ‘Georgia Faun’ places a certain emphasis on
the individual skill and ‘technique’ of the solo improviser (for
instance, during Chick Corea’s piano solo during the second
section of the piece), the second side of the album evinces a
generally more collective approach – it is, as Henry Kuntz notes,
“structured in such a way…as to all but prevent the dominance of
any single idea or of any one player.”10 In Brown’s words, “each
musician has a station that consists of his primary instrument,
secondary instruments and miscellaneous instruments. The players
move from station to station playing their instruments as well as other
instruments. He [the musician] remains at the station for a minute,
then goes to another station to begin a new phrase, or to continue
developing a subsequent phrase. The composition ends with a blast
from a whistle after which the players return to their original station
to complete the composition.”11
In the structured improvisations (‘intuitive music’) of Karlheinz
Stockhausen, individual players were very definitely subordinated
to the composer’s will; by contrast, the aim here is to achieve a
certain general effect or atmosphere, but in a way that emphasizes
human interaction between individuals. The ‘non-musicians’
can make a contribution without negatively impacting on the
quality of the music, participating in a collective activity in which
the movement between ‘stations’ and the particular method of
handling instruments becomes a kind of dance, an improvised
exchange of physical objects and positions as well as of sounds.
Those with greater skill, with more developed means of personal
expression, may take the lead at certain points, but the situation
is totally different to that set up by Stockhausen – a set of
subordinated performers bending to the wishes of a great genius
who ultimately directs, structures, and mixes their contributions.
9 The etymological ‘root’ of radical is ‘root’. So, in using the word ‘radical’ here,
one might recall Derek Bailey’s speculation that the first musical performance
cannot have been anything other than a free improvisation: that improvisation
is a kind of ‘root practice’, ancient and continuous through human culture. Yet
‘radical’ here also means radical as a challenge to orthodoxies in a manner that is
not mere regressive nostalgia, romanticized primitivism – or at least, one would
hope so.
10 Henry Kuntz, review of ‘Duets’ (Brown/Leo Smith/Elliot Schwartz), http://bells.
free-jazz.net/bells-part-one/marion-brown-duets/
11 Brown, liner notes to ‘Georgia Faun’ (op. cit.)
ringgespräch über gruppenimprovisation
Brown’s notion of a “sane sociology of contemporary music”12 was
enacted not only through the specific case of using non-musicians
on ‘Afternoon of a Georgia Faun’, but through his attitude to
music in general: “Jazz should be played in stadiums, on baseball
fields, in the street…Children love the new music… Children have
the imagination you need for the music we play; you can do what
you like with it.”13
Such a notion of music as a public, shared sonic presence is
characteristic of the most self-consciously radical experiments
in collective improvisation, as it is, indeed, of the New Orleans
parades that birthed jazz itself. The improvisation of, and in
space here connects to the manifestation of popular discontent
as geographical negotiation within the very centres of political
power. In the work of the African-American poet David
Henderson, for instance, the subversion of space is linked to
the temporal and emotional pitch of jazz improvisation. Poems
such as ‘Elvin Jones Gretsch Freak’ involve spatial disorientation,
the collapsing of time and space into a frenetic montage, a
simultaneity that at once suggests the high-speed pressure of
the modern city and, in ‘Keep on Pushing (Harlem Riots 1965)’
the potential for revolutionary action. The city is established as
experienced and felt rather than mapped out in geographies of
habit and control – whether the poet walking through a street
lively with the energies of riot, free-associating in a club as he
watches a performance by Elvin Jones, or delineating montaged
geographies of oppression. The threat is always that an individual
bohemian, flaneur figure, such as Henderson, or a particular
social grouping, often centred around an artistic performance,
will emerge out of their designated space into the street, literally
from the underground to the mainstream, as in Amiri Baraka’s
short story, ‘The Screamers’, in which a saxophonist and his band
process out of the club in which they are playing, followed by
the audience, and are attacked by the police, or the conclusion
of Richard Schechner’s ‘Dionysus in 69’, in which the actor
playing Dionysus leads members of the cast and whichever
audience members choose to follow into the street, clamouring
for “absolute freedom.” This is the moment when, potentially, the
individual merges with the crowd, and that crowd in turn with a
broader mass – that moment of ‘swarm intelligence’ that writers
such as David Borgo have identified, using parallels to biological
processes, in group musical improvisation – the formation of
collectives which emerge “because each cell looks to its neighbours
for cues about how to behave.”14 In Charles Baudelaire’s ‘Les Foules’,
the speaker undergoes a kind of ex-stasis, a “singular intoxication,”
a “mysterious drunkenness”, a delirium in which the individual
becomes multiple, and the multiple is made up of individuals,
crossing over, cross-fertilizing. The full title of Baudelaire’s study of
the differing effects of various intoxicants is ‘Du Vin et du hachisch,
comparé comme moyens de multiplication de l’individualité’ – as in
the loss or transferral of self within a crowd, intoxication allows
the individual to become multiple, to see their face in the perverse
12 Brown, quoted in Porter (op. cit.), p.250
13 Brown, Interview with A. Courneau (Jazz Magazine, No.133, 1966)
14 Stephen Johnson, ‘Emergence’ (see above, footnote 6)
21
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
other, to see, perhaps, those desires rendered demonic or ‘evil’ by
their unacceptability to the prevailing social order: “this ineffable
orgy, this divine prostitution of the soul giving itself entire, all its
poetry and all its charity, to the unexpected as it comes along, to the
stranger as he passes.” While Baudelaire’s vision of the crowd and of
the multiplying self is filtered thru eroticized images of decadence
which rely on the notion of evil and of the transgressive feminine
other for their effect, those poems written by Rimbaud at the
time of the Paris Commune, though still frequently eroticized,
render the relation of individual poet to crowd more political.15
In the poem ‘Qu’est-ce pour nous, mon cœur, que les nappes de
sang?’, the upheavals of the Commune are described in terms of
earthquakes, volcanoes, the excesses and spatial disorientation of
the natural world; the refusal of ‘Industrialists, princes, courts,
power, justice, history, work, Emperors, regiments, empires’; the
abolition of continents, of borders, the (self-)destruction of the
known word in favour of the brotherhood of the ‘dark unknowns’
of re-configured social relations – while the line “our avenging
march has occupied all” might even be taken, semi-seriously, as a
19th-century predecessor to the slogan ‘Occupy Everything’.
might further think of the recent interest in playing outdoors,
in public spaces, on the part of musicians such as Greg Kelley
and Bhob Rainey17; or, in a much more confrontational sense,
the Basque anarcho-polemicist Mattin’s gleeful recounting of an
incident during the Greek unrest of 2008 in which “journalists
came across a gang attacking places that represented neoliberalism to
make noise, using breaking glass and burglar alarms as instruments,
improvising in the city.” For Mattin, this “extreme form of sonic
dérive” offers both creative and political possibilities, as if “the
Futurists, the Scratch Orchestra and the Black Bloc [had] join[ed]
forces.”18
This is not entirely facetious: a group such as the Occupy Oakland
Brass Band hark back to the parades and processions of the New
Orleans bands who birthed jazz, going back to a whole tradition of
the popular procession which has always been a potentially destabilising and subversive force – revolution as carnival, as nomadic
movement, as an improvised surge. In the words of J.H. Prynne:
As an example of the latter, emerging from a principally political, rather than artistic background, we might consider the
adoption, during recent Quebecois protests against student fees,
of the technique of the cacerolazo, whereby citizens stand on
their balconies and bang household pots and pans, as loudly
as they can, at a particular time, often with the accompaniment of flickering lights and the din of whistles and klaxons. In
Montreal, the cacerolazo, or marche casserole, as it was dubbed,
spread from balconies to groups of people walking around in
the middle of the streets, in groups of 49 that escaped a new
law’s prohibition against gatherings of 50 or more. As Erica La-
“Indeed it is a kind of trespass, to stream into controlled spaces and
just overflow them, not by reasoned argument but simply by shared
presence: demography! Thus the legal formats of punitive exclusion
are also challenged, not by violence but simply by spillage of peoples
in large numbers and by acts of individual self positioning.”16
Similarly, in the autumn of 1968, the improvising group Musica
Elettronica Viva moved out into the streets of Venice and Rome,
their ranks – which included such celebrated ‘free jazz’ musicians
as Steve Lacy and Anthony Braxton – swelling to include
amateurs, children, non-musicians, audience members handed
instruments and invited to join in. It is hardly coincidence that
this took place the year of the May 68 uprising – perhaps there
was even something faddish about the move – and yet it marked
a continuing interest, within improvising musical collectives, in
the public presentation of art as social activity, a move away from
concert halls or jazz clubs and into the streets, a participatory,
group sound, in which enthusiasm and willingness to listen
to the others in the group were vaunted over the ego-centric
demonstration of learned instrumental virtuosity.
We recall Brown’s ‘Afternoon of a Georgia Faun’, Cornelius
Cardew’s Scratch Orchestra, and the Portsmouth Sinfonia; and we
15We might also recall Christopher Small’s argument that, in improvised contexts,
“performers and listeners alike are caught up in an intensity of community that can
only be called erotic.” (Music of the Common Tongue, p.307)
16Letter from J.H. Prynne to Kent Johnson, 13th November 2011, published in A
Fiery Flying Roule, Issue # 11 (http://dl.dropbox.com/u/16002249/ffr/ffr11.pdf )
22
What these practices might be said to have in common – and
what they share with recent tendencies amongst recent ‘occupy’
and protest movements – is both a ‘making strange’ of everyday
life – a kind of creative disorientation of the kind practiced in a
pre-revolutionary situation by the Russian futurists, or famously
advocated by Rimbaud19 – and a more specifically or directly
political reclaiming of those spaces of everyday life normally
closed off, circumscribed.
17 See, for instance, their duo as Nmperign: www.youtube.com/
watch?v=ow6ipfEX49M. See also: www.blogger.com/comment.g?blogID=2815
4988&postID=114771703944442935
18www.paristransatlantic.com/magazine/interviews/mattin.html
19 Il s’agit d’arrive a l’inconnu par le dereglement de tous les sens.” (Letter to Georges
Izambard, Charleveille, 13 Mai 1871). Crucially, this frequently quoted dictum
occurs within a highly politicized context: in the same letter, Rimbaud criticizes
Izambard’s role as a teacher, handing down the same societal formulations to a
new generation, entirely swamped within the system,; further, he attacks Izambard’s ‘disgustingly tepid[…]subjective poetry’, desiring its change into ‘objective
poetry’ (i.e. a poetry that participates in wider social currents), and declares that
he wishes to be a worker, but that, when so many workers are being killed in
Paris, he will never work, he will go on strike (for further discussion of Rimbaud’s
discourse in relation to idleness as resistance, as the rejection of parcelled, alienated work time, see Kristin Ross’ ‘The Emergence of Social Space: Rimbaud and
the Paris Commune’). This disordering of the senses, then, is not just striving
after fantastical images through drink and drugs and aesthetic-bohemian excess,
but striving for an unknown that is a social unknown, for the new constitution of
society that is, like improvisation’s etymological root, unforeseen. It is a disordering of the senses within the context of the new and the strange, of revolutionary
turmoil – the reconfiguration of individual and collective identity, ‘derangement’
not as harmful madness but as liberation. We see this trend too in Mayakovsky,
his art’s participation in the constitution of the new society after the Russian
revolution – he is actually able to carry over the process which for Rimbaud can
only result in dwindling after-shocks, to elusiveness and image-prose. Of course,
the process is not easy: the revolution fails, is co-opted, betrayed, and Mayakovsky commits suicide. Indeed, the revolution has never yet been sustained, true
communism has never been achieved, crumbling from within by its betrayers and
from the outside attack that constantly impinges on it.
Ausgabe LXXVII • April 2O14
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
galisse writes, “Dozens of small noisy marches, including children,
senior citizens and people in wheelchairs as well as the standard
crowd of young people, covered the city, rendering the new law effectively unenforceable – and thus ridiculous.”20 As momentum
spread, these groups began merging, once more, into sizeable
crowds, ignoring the law, banging out rhythm-rackets on their
pots, screaming as loudly as possible, car drivers honking along,
speaker systems playing music, people dancing, moving, even
going completely naked. Such movement away from and then
back into the streets, began, not along the usual public routes,
but from within private residences – the shut-off and private
made public, separated spaces united into one through a kind
of clanging choric noise, a swarm of clashing and overlapping
sounds that overwhelms and overflows.21
As Eugene Thacker notes, the swarm, as a model of a kind
of leaderless, self-organizing multitude associated with the
demonic, is primarily aural in nature: etymologically, the word
swarm derives from the Sanskrit ‘svárti ’, to ‘sound’ or ‘resound’.
For Thacker,
“this latter […] is more than simply producing a sound, or causing
a sound to be produced. Rather, to resound is to have an effect that
permeates. […] Swarms are always heard before they are seen. But
this is not to simply privilege one sense over the other, the acoustic
over the visual. What it really implies is that swarms are affectual
before they are accountable; or, one only ‘accounts’ for swarms in
terms of affection. Perhaps this is what it means to ‘resound’ - a kind
of affective counting, a concept of number that is at once aesthetic
and yet innumerable.”22
Yet in stressing the carnivalesque energies of such swarming
moments – “a dense, multiple, erupting thicket of sound,” as
Albert Ayler puts it – which are connected to a sonic as well as
a spatial overflowing, and to a certain improvised, spontaneous
logic, we must be wary of over-indulging in generalized postDeleuzian gestures towards a kind of generalized nomadic
multitude, forming and re-forming itself in a disparate
adaptability, a refusal to be tied to a single or singular
programme. In the words of Walter Benjamin, “As we know, an
ecstatic component lives in every revolutionary act. This component
is identical with the anarchic. But to place the accent exclusively
on it would be to subordinate the methodical and disciplinary
preparation for revolution entirely to a praxis oscillating between
fitness exercises & celebration in advance.”23 The marche casserole
protests were not a mere temporary holiday, people ‘letting their
20Nina Power / Erica Lagalisse, ‘The Right to Protest’ (Radical Philosophy # 174, Jul
/ Aug 2012) – www.radicalphilosophy.com/news/the-right-to-protes
21Of course, there is another side to this coin. The crowd is not an absolute good –
think of lynch mobs – and these tactics of noise and disorientation might just as
well have been used in Kristallnacht as in student protests. Similarly, the discourse
of improvisation, flexibility, spontaneity, and so on, has, in recent years, been incorporated into political discourses very different to most of those sketched here,
as part of continuing processes of exploitation and alienation. For more on such
recuperation, see Eve Chiapello and Luc Boltanski’s ‘The New Spirit of Capitalism.’
22 Eugene Thacker, ‘Pulse Demons’ (Culture Magazine, Vol. 9 (2007))
23 Walter Benjamin, ‘Surrealism: The Last Snapshot of the European Intelligentsia’
ringgespräch über gruppenimprovisation
hair down’, the crowd as “limit-point of social formation”24: out of
this movement, autonomous neighbourhood general assemblies
have emerged, organized, not by students, but among citizens
concerned about the revoking of civil liberties and the repealing
of Law 78.
The importance of holding on to the initial energy of that movement, of translating that energy into practical organization
might be indicated in the following formulation, from Frederic
Rzewski’s ‘Plan for Spacecraft’: “the difference between magic
and work is one of duration.”25 At certain points, a coherent
group identity may be formed as if by magic, almost instantaneously – that moment when the swarm intelligence of a crowd
transcends the particular interest of the individual, even as that
individual is caught up in the general rush and fulfilled by it;
when that swarm intelligence accomplishes a revolutionary act,
not as an army led by generals, but as a movement of the people within a space that they suddenly occupy: the storming of
the Bastille, the re-configuration of urban space within the Paris
Commune, or, less grandiosely but of related bent, the street
protests of May 1968 and, more recent still, the occupation of
the Conservative Party headquarters at Millbank in 2010.
Yet more often – in both musical and political contexts – after
or instead of that moment of sudden and unexpected cohesion,
one faces the problem of maintaining a coherent group identity
that nonetheless takes account of multiplicity and difference, of
being able to act in a way that neither excludes nor is rendered
paralyzed by the competing and varied interest of those within
that group. This is what Rzewski understands as ‘work’ – not
the daily drudge of exploited labour, alienated from its results,
but a utopia that is continually worked for and on; that is not
an achieved goal of eternal stasis, as in the Christian model,
but that must be constantly re-made: life, indeed, as it is “play’d
now,” in imperfect striving for resolution or progress, that, however briefly won or found, itself yields further contradiction;
the ‘unforeseen-ness’ that lies at the word ‘improvisation’s’ etymological root and that thus opens up the human, collective
attempt to work through a present and to shape a future.
David Grundy is currently studying poets of the Black Arts
Movement at the University of Cambridge. He has edited
the online magazine eartrip since 2007, and co-edits the print
magazine /publications series Materials (http://material-s.blogshotco.uk.)
24 Ian Buchanan, Deleuze and Politics, p.18
25 Rzewski, ‘Plan for Spacecraft’, Op. Cit.
23
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
Komplizen auf der Bühne – Improvisation als kulturelles Modell?
von Reinhard Gagel, Berlin
mit Beifall verabschiedet. Die nächste Gruppe beginnt. Das
Ganze ist einerseits ein Konzert (für die, die nicht spielen), zum
anderen eine Produktion unter Bühnenverhältnissen: sofort,
unmittelbar, aus dem Moment heraus, mit nicht ausgesuchten
Mitspielern Musik zu machen. Ein klassisches Konzertkonzept
wird unterlaufen: nicht geübte, sondern sich unbekannte Musiker, die bestimmt wurden, etwas auf einer Bühne vor anderen zu spielen. Was müssen die Musiker tun? Sie werden für
den Moment zu einer aufeinander bezogenen Gemeinschaft,
die das Ding nach Hause bringen muss. Sie erleben eine starke
Bezogenheit (Hören), sie versuchen eine musikalisch sinnvolle
Struktur zu erspielen, sie sind für einen Moment Komplizen.
exploratorium berlin, ein Abend im Winter. Zirka fünfundzwanzig Menschen sind zur Offenen Bühne gekommen. Der Raum
ist wie für ein Konzert vorbereitet: Vorne stehen im Licht Instrumente, der Flügel, abgetrennt von einem Zuschauerraum,
in dem Stühle in Reihe stehen. Viele der Teilnehmer kennen
sich, es herrscht eine lockere, erwartungsvolle Stimmung. Die
Bühne wird geleitet. Matthias geht nach vorne, um zu begrüßen, und erklärt dann das Verfahren. Weil heute eine Menge
Neue gekommen sind, tut er dies ausführlich. Hier wird Musik auf der Bühne gespielt, die nicht vorbereitet, nicht eingeübt
wurde. Die Spieler kommen zusammen, weil sie Lust zum Improvisieren haben. Der Stil ist nicht vorgegeben, freie Improvisation, niemand braucht bestimmte Vorkenntnisse. Die Musik
der Ensembles kann nur dann gelingen, wenn alle aufeinander
hören, jedes gute Stück ist besonders durchgehört. Es werden
nun nach erprobten Verfahren verschiedene Gruppen eingeteilt.
Die erste Runde besteht aus Zufallsensembles: Zettel mit den
Namen und dem Instrument werden verteilt, danach gezogen
und in sechs Gruppen verteilt. Es gibt an diesem Abend auch
Leute, die nicht spielen wollen, sondern nur zuhören.
Matthias schlägt vor, dass die Stücke nicht länger als fünf Minuten dauern sollen. Sofort im Anschluss beginnt die erste Gruppe, ein Stück vorzuspielen, nein natürlich besser, ein Stück zu
improvisieren. Man geht auf die Bühne und spielt. Nach ungefähr fünf Minuten, finden die Musiker ein Ende und werden
24
Jenseits aller musikalischen Beschreibungen des Phänomens der
Gruppenimprovisation finden sich in der neueren Kulturwissenschaft Ansätze, das Zusammenarbeiten von Menschen in
verschiedenen gesellschaftlichen Zusammenhängen zu beschreiben und Besonderheiten herauszuarbeiten. Die beschriebene
Zusammenarbeit eines Ensembles, ohne jede Vorgabe nur aus
dem Moment heraus gute Musik zu machen (was auch immer
das ist), ist ja ein Sonderfall im Musikleben. Er bezeichnet die
Möglichkeiten, die nur die Produktionsweise der Improvisation bietet. Improvisieren ist im kulturellen Ansehen negativ und
positiv besetzt: als flexible Handlungsweise (in unserem ständigen Wandel) und als Notlösung (Improvisiertes ist deutlich
schlechter als Geplantes bewertet). Eine temporäre Gemeinschaft (Zufall) ist auch negativer als die Arbeit in einem festen
Team (erprobt). Die Hamburger Kulturwissenschaftlerin Gesa
Ziemer hat dafür einen Begriff gefunden, ihn erforscht und ausgearbeitet: Sie nennt das die Komplizenschaft. In ihrem Buch
Komplizenschaft. Neue Perspektiven auf Kollektivität1 arbeitet
Ziemer die positiven Eigenschaften komplizitären Arbeitens
heraus. Denn Komplizen – als kriminelle Gruppe – sind zwar
strafrechtlich verfolgt, aber auch sehr effektiv; Komplizen arbeiten eng zusammen, sie stützen sich, sie bringen ihre jeweiligen
Fähigkeiten für ein Ziel ein, sie unterstützen die anderen in Gefahrensituationen. Und sie gehen auseinander, wenn das Ziel
(die Beute) erreicht ist.
1 Gesa Ziemer, Komplizenschaft. Neue Perspektiven auf Kollektivität, transcript,
Bielefeld 2013
Ausgabe LXXVII • April 2O14
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
Der Ausgangspunkt des Buches ist ein Postraub, gemeinschaftlich 1986 in Zürich begangen. Die Beute ist bis heute nicht
aufzufinden.
arbeiten nie langfristig zusammen, sie gehen auseinander, wenn
das Ziel erreicht ist. Unser OB-Ziel ist ein Kunstprodukt, aber
wir haben es nicht mit Arbeitsteilung bei der Komposition oder
Spezialisierung beim Erstellen von Kunstwerken zu tun. Was
bei dem Begriff Komplizenschaft als Modell besonders besticht,
ist der Fokus, den Handlungs-Prozess einer speziellen kollektiven Methode zu beschreiben. Im cultural turn der letzten Jahre, der sich vor allem in der bildenden Kunst und im Theater
vom Produkt zum Prozess artikuliert und herausgebildet hat,
sind prozessorientierte Verfahren ein wesentlicher Bestandteil.
Denken wir nur an die theatralen site specific performances oder
die flashmob und urban performances, in denen Spieler kurzzeitig
auftauchen, eine Aktion durchführen und wieder in der Anonymität verschwinden. Auch die Offene Bühne ist eigentlich eine
Methode der site specific performance, die in der Musik nur die
Improvisationskultur bietet.
Der Ausgangspunkt meiner Überlegungen: ein Ensemblestück
auf der Bühne. Die Personen müssen ad hoc zusammenarbeiten,
sie müssen das, was sie können (ihr Instrument, ihre Stimme) in
den „Tatzusammenhang“ einbringen, sie müssen die anderen in
Gefahr unterstützen (wenn jemand nicht weiter weiß), und sie
gestalten ein für Publikum hörbares Stück (die Beute).
Mit dieser Sichtweise pointieren wir die Offene Bühne als Aufführungspraxis der Musik in den gesellschaftlichen Raum. Improvisieren sehen wir als allgemeingesellschaftliches Verfahren,
künstlerische Prozesse aus dem gemeinsamen Arbeiten heraus
zu gestalten. Im Fokus sind die Produktionsweise und Herstellung, nicht die Auswahl der Töne und kompositorische Fragen.
Der dem Buch als DVD beigelegte Film Komplizen beginnt –
nun nicht mehr überraschend – mit den Beschreibungen des
Schweizer Schlagzeugers Lukas Niggli über die Zusammenarbeit
eines improvisierenden Ensembles. Gruppenimprovisation als
Handlungs-Modell – schon der Einzug der Piratenpartei in den
Berliner Parlament hatte die Zeitung taz zu diesem Vergleich
herausgefordert, und viele Improvisationsmusiker vor allem der
70er Jahre haben das gemeinsame Improvisieren als gesellschaftlich subversive Methode gegen die elitäre Musik und gegen Ausschluss verstanden: hier können alle mitmachen! Was aber meist
in einer großen Illusion endete: Musik kam dabei nämlich nicht
wirklich heraus. Anders unsere Offene-Bühne-Ensembles (Im
weiteren kurz genannt: OB… Anm. d. Red.): Hier kommt sogar
eine sehr schöne, nuancierte, intensive Musik heraus, die überhaupt nicht zufällig, sondern gekonnt klingt. Und wir haben
es mit kleinen Gruppen zu tun: Komplizenschaft funktioniert
nur in bis zu sieben Mann starken Gruppen. Ziemers Buch geht
nun über die Improvisation hinaus: Sie befragt Alltag, Arbeit,
Wissenschaft, Politik und Kunst nach komplizitärem Zusammenarbeiten. Für unseren Zusammenhang ist vor allem die Fokussierung auf Komplizenschaft in der Kunst interessant, denn
die beschriebene OB-Verfahrensweise, so gelingend sie meistens
ist, regt zu Fragen darüber an, wie das funktioniert. Komplizen
ringgespräch über gruppenimprovisation
Der Begriff Komplizenschaft liefert Begriffe für eine differenzierte Beschreibung sozialer / künstlerischer Phänomene, die
sich im kulturellen Handeln vor allem der westlichen Gesellschaften herausgebildet haben. Danach bedeutet Kunstproduktion nicht mehr bloß die Kontinuität eines Lebenswerkprodukte schaffenden, spezialisierten Schöpfertums, sondern das
über Grenzen von Ausbildung und Klassen hinweg kurzfristige
Zusammenwirken von Individuen, die vor allem auf Überraschung und Unerwartetes aus sind und die neue Wege von Zusammenarbeit suchen. Diese sind nicht hierarchisch arbeitsteilig, sondern auf das Maximum der individuellen Fähigkeiten im
Moment ausgerichtet und fordern schnellen Rollenwechsel und
flexible Handlungsinitiative. Hier ist kein Chef verantwortlich,
keine Institution, sondern alle gleichermaßen. Auch Lukas Niggli betont das, und viele improvisierende Musiker können das
bestätigen: die Musik ist in der gemeinsamen Verantwortung;
und kein einzelner, sondern alle sind die Schöpfer. Die beschriebenen Stücke auf der Offenen Bühne des exploratorium sind in
kollektiver Autorschaft entstanden. Seit auch im professionellen Kulturbetrieb improvisierende Musiker auftreten, steht die
Frage auf der Tagesordnung: wen um Himmels willen sollen
wir der GEMA nennen, die qua Definition (immer noch) die
singulären Schöpfer schützt: Alle möglichen findigen Auswege
haben Improvisationsensembles dafür gefunden. Das Theater
25
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
hat dafür den Begriff der kollektiven Kreation, die auch in der
medialen Präsentation im Vorspann erscheint: Der Regisseur ist
dann Mediator einer kollektiven Kreation.
Im Umkehrschluss ist das Improvisieren im Ensemble – ob auf
offener Bühne oder sonst wo – geradezu eine Einübung in Verhaltensweisen, die Komplizenschaft ausmachen. Offene Bühnen
werden im exploratorium regelmäßig angeboten, sie sind keine momentane Einrichtung, und wie beschrieben, gibt es für
den Ablauf auch gewisse Regeln und ein aus der Erfahrung
fundiertes Setting. Das gemeinsame Ausformen eines Stückes
ohne Vorgabe innerhalb einer begrenzten Zeit bedarf individueller und kollektiver Strategien – auch wenn alles frei zu sein
scheint, wird doch jeder Klang im Zusammenhang mit einem
Klang eines anderen gehört, begrenzt, eingeschätzt, beantwortet, ergänzt, umspielt usw. Die Handlungsweise des individuellen Improvisierens changiert zwischen diesem Freisein (ich darf
machen, was ich will) und dem Zusammenhang (die Musik und
die anderen verlangen aber Einschränkung). Sie wird auch „begrenzt“ durch das situative Setting der Spielregeln und der Erwartung des Publikums. Wer einfach losspielt, sich auslebt, wird
seine Komplizen ausstechen und das Gemeinsame verraten. Alle
Gangsterfilme (z.B. Ocean´s 11 von Steven Soderbergh), in denen eine Gruppe von Gangstern ohne Boss zusammen arbeiten, handeln von der für einige oft schmerzhaften Einordnung
des individuellen Großenwahns und Machotums unter das gemeinsame Ziel. Unsere Improvisationsgruppen auf der Bühne
sind bestrebt, jeden einzelnen zum Zuge kommen zu lassen.
Transparentes, Pausen lassendes Spiel macht die individuellen
Fähigkeiten und Klänge hörbar, gemeinsame Verdichtungen,
z.B. Steigerungen in Lautstärke und Intensität, fokussieren den
Zusammenhalt der Gruppe. Geht einer auf die Bühne, spielt
aber während eines Stücks nur ein paar Töne, dann sind diese
genauso wichtig wie das Spiel des beredten Instrumentalisten.
Es gibt keine vorbestimmten Formregeln, jedes Stück schafft
seine eigene Ordnung in einem gemeinsamen „Hörraum“, der
geschaffen von den Spielern eine eigene Qualität entwickelt.
Ist das Stück zu Ende, dann verlassen die Spieler nach einem
kurzen Moment des Beifalls die Bühne. Manchmal (wenn es
besonders erlebnisreich war, oder besonders gut?) schauen sich
26
die Spieler mit leuchtenden Augen an, manchmal danken sie
sich untereinander. Es hängt von dem Format ab: Die kurzen
5-minütigen Stücke des beschriebenen Abends haben eine
flüchtige Bekanntschaft auf der Bühne erzeugt, an deren Ende
man sich kurz anerkennend zunickt. Manchmal gibt es auch
Momente, die noch später dazu auffordern, die anderen Musiker anzuschreiben und für ihre Musik zu danken. Aber die kurz
aufgeleuchteten Konstellationen erzeugen kein über die Bühne
hinausgehendes besonderes Zusammengehörigkeitsgefühl. Wer
zusammen gespielt hat, geht außerhalb der Bühne seine Wege,
die sich sowieso kennen, bleiben zusammen, die anderen nehmen ihre Sitzplätze wieder ein. Auch das ist lt. Ziemer ein Merkmal von Komplizenschaft: intensives Zusammenarbeiten, eine
große Nähe, danach ein Verschwinden in anderen Zusammenhängen, keine Beziehung, die kontinuierlich hält wie Freundschaft. Der Wunsch, das Erlebnis des gemeinsamen Musikmachens zu wiederholen, ist allerdings vorhanden: Manchmal hat
es in einer zufälligen Konstellation so gut „gefunkt“, dass man
sich weiter verabredet. Offene Bühnen sind immer auch Kontaktbörsen für sich bildende längerfristig probenden Ensembles.
Der Begriff Komplizenschaft kann zur Beschreibung der Arbeitsweise von Improvisationsensembles einen Beitrag leisten.
Wir haben Improvisieren als Handlungsmodell beobachtet,
das wir in Anlehnung an Ziemer komplizitär nennen. Sozialund kulturwissenschaftliche Forschung wie die nach Komplizenschaft entdeckt und beschreibt Merkmale, die über vorgeplantes Handeln und bestehende Zusammenarbeitsformen
wie Hierarchie, Netzwerk oder Teamwork hinaus gehen. In der
Musik gibt es sowohl für kollektive Arbeitsweisen als auch für
die beschriebenen Ad-hoc-Ensembles keinen Gattungsbegriff,
und für das musikalische Handeln der Improvisation erst recht
nicht. Am ehesten lassen sich die zum Teil ungewöhnlichen
Besetzungen (wo findet man sonst eine singende Säge?) mit
wenigen Spielern mit Formen der Kammermusik vergleichen,
diese jedoch ist normalerweise ein interpretierendes Ensemble,
für das Musik komponiert wird und/oder bereits vorliegt. Das
gemeinsame Erschaffen von Musik aus dem Stegreif findet sich
in Begriffen wie „jammen“, „instant composing“ oder „present
Ausgabe LXXVII • April 2O14
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
time composition“, bei letzteren steht jedoch der Begriff der
Komposition deutlich im Vordergrund. Das aber beschreibt
vielleicht musikalisch das Zusammensetzen von musikalischen
Strukturelementen, nicht aber das kollektive Zusammenwirken und seine Strategien und ebenso nicht dessen Flüchtigkeit.
Diese Besonderheit wird ganz gut im Begriff Komplizenschaft
erfasst, ohne dass es einen Gattungs- oder Besetzungsnamen
ergäbe. Für die Arbeitsweise einer Gruppe zufällig zusammen
gewürfelter Improvisatoren können Teamwork, Netzwerk, Kollaboration oder Allianz bzw. Kammermusik oder Komposition
keine ausreichende Erklärung abgeben. Offene Bühnen können jedoch auch anders sein. Die beschriebene zeichnete sich
durch eine besondere Konstellation von Teilnehmern aus. Ihre
individuelle technische und musikalische Unterschiedlichkeit
(Instrument, Spielweise, Gestaltungsinteresse) konnte voll zur
Geltung kommen. Hier trafen sich Menschen, um konzentriert
und begeistert zusammen zu musizieren und Kunst zu erleben.
Kunst in dem emphatischen Sinn eines aus dem Alltag heraus
weisenden Tuns, einem spielerisch offenen Impuls, dem individuellen eigenen Klanggefühl. Das ist nicht vorplanbar, wer
kommt, denn es ist ja öffentlich, ohne Zugangsbeschränkung,
ohne Abweisung, und das ist die janusköpfige Seite der kollektiven Improvisation.
Jedoch fußt die Beschreibung der inneren Prozesse komplizitären Handelns, die Ziemer in ihrem Buch ausführt, stark auf
den gelingenden Verfahren von improvisierter Musik und Tanz.
Die musikalischen Aktionen und Bewegungen der Musiker auf
der Offenen Bühne müssen fein abgestimmt sein, soll ein Stück
gelingen. Musikalische Interaktion bestimmt die Handlungen,
aber keine normierte Kommunikation. Freie, nonidiomatische
Improvisation hat keine „corporate communications“, die sich
in Stilregeln oder festen Formen zeigt. Die Spieler müssen sich
in ihren jeweiligen Spielweisen durchdringen, dürfen aber nicht
von einander abhängig agieren. So bestimmt das konzentrierte
Hören aufeinander, auf das Matthias am Anfang der Offenen
Bühne hinwies, das Geschehen. Ohne das liefen musikalische
Strukturen nebeneinander her, die Synchronisation der Spieler
und der Klänge wäre nicht ausreichend.
ringgespräch über gruppenimprovisation
Musik und speziell improvisierte Musik schaffen jedoch etwas
besonderes, das den Begriff der Komplizenschaft eigentlich
übersteigt. Die „Beute“ ist immateriell, der Nutzen kein messbarer, das Stück nicht wiederholbar. Improvisiertes Musikmachen
ist ephemer, flüchtig. In dem Fall der beschriebenen Offenen
Bühne wurden keine Aufnahmen gemacht, kein Video gedreht.
Die Spieler gehen mit einer Erinnerung, nicht aber mit einem
Produkt nach Hause. Aber sie haben etwas geschaffen, das fast
genauso viel wert ist wie ein wiederholbares Produkt. Nicht
ohne Grund wurde im Nachgespräch der beschriebenen Offenen Bühne auch die Qualität der Stücke angesprochen. Denn
auch ephemer ist das improvisierte Musikstück ein Produkt, an
dessen Entstehung mitgearbeitet wurde, wo wirklich Eigenes
eingebracht wurde, wo sich die Klangqualität als ästhetisches
Erlebnis, als emotional berührend und andere berührend zeigt
und wo die Komplizenschaft quasi tranzendiert. Die nuancierte Berührung, die Verschmelzung, die Leuchtkraft von Klängen,
die selbstbestimmt und auf die anderen gerichtet erklingen, das
ist etwas, das über auf effektives Arbeiten und Beutemachen in
Komplizenschaft hinausgeht, aber auf die Möglichkeiten verweist, die in diesem Handeln schlummern.
Wir sollten daran gehen, fantasievolle Projekt- und Performanceformate, die auf Improvisation und der Herstellung von
Komplizenschaft beruhen, weiter zu entwickeln. Auch in der
Schul- und Bildungsarbeit ist dies eine Chance für Improvisation in pädagogischen Zusammenhängen und könnte als Kriterium für Verfahren der Vermittlung von neuer Improvisationsmusik dienen.
27
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
Was uns deine Spontaneität wert ist:
Improvisieren zwischen Kunst und Ökonomie1
von Kai van Eikels, Berlin
Ich beschäftige mich seit einiger Zeit mit dem Transfer von Konzepten, Vorstellungen und Terminologien, aber auch konkreten
Verfahren, Methoden, Handlungstechniken zwischen Kunst, Politik und Wirtschaft – ein Transfer, der immer wieder verstärkt
worden ist durch den Begriff performance, was ja sowohl die
künstlerische Aufführung meint und auf die performing arts verweist, die wir im Deutschen etwas einengend „darstellende Künste“ nennen, als auch so etwas wie Leistung: Man spricht von der
performance eines Mitarbeiters, eines Teams oder einer Abteilung, von der performance des Unternehmens und seiner Aktien
usw. In dieser Größe performance zeichnen sich neue Vergleichbarkeiten oder gar Verrechenbarkeiten ab, und in diesem Zusammenhang bekommen wir es mit teilweise sehr direkten Übertragungen zu tun, etwa mit der Übertragung einer Technik namens
Improvisieren: Eine nicht geringe Zahl von Künstler/innen aus
den Bereichen Musik, Tanz, Theater und Performance halten
mittlerweile gelegentlich oder sogar als Hauptbroterwerb Workshops für Angestellte von Unternehmen ab, vor allem für das
gehobene Management, in denen diese work performer Improvisationstechniken erlernen. Theoretisch begleitet und forciert wird
das von der Organisationstheorie, einer wissenschaftlichen (aber
zumeist nicht an Universitäten, sondern an privat finanzierten
Instituten angesiedelten) Disziplin, die neue Modelle des Arbeitens, des Zusammenarbeitens für die Unternehmen entwickelt.
So hat sich über inzwischen ca. 15 Jahre eine reichhaltige Forschungsliteratur angesammelt, die der Frage nachgeht, ob und
wenn ja, wie Teamarbeit in der Firma von dem profitieren kann,
was Künstler tun, wenn sie improvisieren.
Die Übertragungen von Konzepten und Praktiken des Improvisierens mögen dabei schief und irregulär anmuten. Man kann
ihre Zulässigkeit bestreiten oder einwenden, da würde vergröbert oder missverstanden – und Künstler, denen daran liegt,
ihre Kunst vom Ruch ökonomischer Nutzbarkeit freizuhalten,
haben diese Einwände natürlich erhoben. Aber diese Übertragungen finden statt, sie zeitigen Effekte in der Arbeitswelt. Und
ich halte es deshalb für wichtig, sich anzuschauen, wo an der
künstlerischen Arbeit die ökonomischen Interessen ansetzen,
was von der Kunst man da aufgreift und was an den Ästhetiken
und künstlerischen Praktiken diese Ökonomisierung ermöglicht oder ihr sogar entgegenkommt.
Fragt man, warum die Unternehmen am Improvisieren interes-
28
siert sind, so lautet die erste und sozusagen offizielle Antwort, die Märkte, an denen sie agieren, verhielten sich mittlerweile so turbulent,
dass man Entwicklungen nur noch begrenzt
vorhersehen könne, und konfrontierten die Arbeitenden häufig mit unerwarteten Situationen.
Das stimmt auch für viele Märkte des 21. Jahrhunderts. Diese Notwendigkeit zu improvisieren,
der sich die Arbeitenden ausgesetzt sehen und für
die ihre Firmen sie von Künstlern ausbilden lassen
wollen, damit sie dem Unvorhergesehenen handlungstechnisch besser gerüstet begegnen, entspricht
jedoch im Grunde nur der Situation, in der jeder von
uns sich befindet, sobald er (oder sie) in Kontakt mit
anderen Menschen tritt und zu handeln versucht. Denn
die Reaktionen anderer Menschen (und zum Teil sogar
die eigenen) sind immer in gewissem Grade unvorhersehbar,
und insbesondere dort, wo eine größere Zahl von Menschen
interagieren und einander Fremde an solchen Interaktionen
teilnehmen, steigt die Unvorhersehbarkeit sprunghaft, so dass
Pläne unseren Kommunikationsalltag, wenn überhaupt, nur
sehr grobmaschig durchwirken. Jedes Gespräch, das wir führen, ist überwiegend improvisiert, und beim Erlangen der dazu
erforderlichen improvisatorischen Fähigkeiten – und das sind
erhebliche Fähigkeiten – handelt es sich um das, was wir lapidar
„Erwachsenwerden“ nennen oder, wenn wir zu viele Feuilletonartikel über Bildungsverfall gelesen haben, „Sozialkompetenz“.1
Es sind vielleicht auch diese improvisatorischen Fähigkeiten,
die in unseren nationalstaatlich gerahmten, institutionell verwalteten Gesellschaften zu einem Teil verkümmern, weil wir in
großen Bereichen des Lebens eben nicht mehr direkt miteinander kommunizieren, sondern im Umweg über das sehr viel berechenbarere Procedere von Institutionen: Wenn irgendwo ein
unerwartetes Vorkommnis den gewohnten Trott stört, geht der
Ruf schnell nach der Polizei oder irgendeiner administrativen
Instanz, die einschreiten soll, da wir es als Zumutung empfinden, überhaupt damit konfrontiert zu sein, und auch gar nicht
das Vertrauen in die anderen und in uns selbst haben, die An1 Manuskript eines Vortrags, den ich am 26.6.2013 im Rahmen eines Abends zum
Thema Der Imperativ der Inszenierung: Leben auf Probe am Museum für moderne
Kunst in Wien gehalten habe.
Ausgabe LXXVII • April 2O14
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
gelegenheit ohne Intervention ‚von oben‘ untereinander geregelt kriegen zu können. David Graeber legt in seinem letzten
Buch The Democracy Project eine alternative Geschichte des
Demokratischen vor, die nicht vom antiken Athen und seiner
Sklavenhalter-Demokratie ausgeht, sondern mit einer genüsslichen anthropologischen Gleichgültigkeit gegenüber Traditionserzählungen behauptet, demokratische Praxis habe es immer
und überall dort gegeben, wo Menschen erkannten, dass ihre
Fähigkeit, Zusammenleben in kollektivem Improvisieren zu organisieren, sie ihrer Gleichheit als Menschen vergewissert.
Davon unterscheidet sich jedoch die Improvisation als etwas, wozu ich mich entschließe, was ich vielleicht sogar auf
Empfehlung anderer ausprobiere, weil es mir die Lösung von
Problemen verspricht, bei denen ich mit plangemäßem
Vorgehen nicht den gewünschten Erfolg erziele – wie
der fiktive Adressat in Heinrich von Kleists Text Von
der allmähligen Verfertigung der Gedanken beim Reden,
der als Brief an einen Freund verfasst ist. Der Erzähler
preist diesem Freund eine Methode an, die ich kurz
rekapituliere, weil sie mir genau auf die Spur des Improvisierens zu weisen scheint, die wir heute in den Unternehmen wieder auftauchen sehen, von dem offiziellen
Argument der turbulenten Märkte halb verdeckt.
Dabei streicht Kleist in seiner fröhlichen Brutalität
zugleich ein Moment von Improvisation deutlich heraus, das die aktuellen Diskurse in der Organisationstheorie und im Management (aber auch in Gruppentherapie und Erziehung) eher übergehen oder verharmlosen:
nämlich das Moment des Kampfes bzw. der Konkurrenz.
Wenn er bei der Bearbeitung einer mathematischen Aufgabe oder eines Rechtsfalles stocke, so der Kleist’sche Erzähler – was mitunter gerade deshalb passiert, weil der Mensch zu
viel weiß und zu viel kann, so dass die Fülle der Möglichkeiten
die Gegenwart verstopft –, dann fange er an, seiner Schwester die Sache zu erklären. Dies, obwohl die Schwester weder
von Mathematik noch von Jura etwas versteht und es also nicht
um eine gemeinsame Erörterung, um einen Informationsaustausch geht, aber „eine Bewegung meiner Schwester, als ob sie
mich unterbrechen wollte“ versetzt den jungen Mann in einen
Zustand erhöhter Aufmerksamkeit, denn „mein ohnehin schon
angestrengtes Gemüth wird durch diesen Versuch von außen, ihm
die Rede, in deren Besitz es sich befindet, zu entreißen, nur noch
mehr erregt, und in seiner Fähigkeit, wie ein großer General, wenn
die Umstände drängen, noch um einen Grad höher gespannt.“ Mit
dieser höheren Spannung redet der Erzähler nunmehr um sein
Leben – er stottert und stammelt, bringt „unartikulirte Töne“
hervor, wie es heißt, und rettet sich mittels in die Länge gezogener Verbindungswörter und überflüssiger Appositionen über
die leere Zeit, in der ihm keine Fortsetzung einfällt. Aber durch
dieses unbedingte Weiterreden und ‚Im-Reden-an-sich-selbstAnschließen’, um den Versuch der Unterbrechung abzuwehren, gelingt ihm schließlich das, wozu er vorher nicht imstande
schien: irgendwann platzt die Lösung aus ihm heraus.
Der Andere ist bei dieser speziell initiierten Improvisation ein
Partner, der vor allem die Aufgabe hat, Gegner zu sein in ei-
ringgespräch über gruppenimprovisation
nem Streit nicht um Inhalte, sondern um das Reden, um die
performative Herrschaft über die Rede. Und dieser Aufgabe
kommt er (bzw. hier: sie) nach, ohne eigentlich von sich aus
etwas beizusteuern. Tatsächlich lässt Kleist offen, ob nicht die
besagte Bewegung, mit der die Schwester ihren Bruder unterbrechen wollen könnte, bloß in dessen Einbildung stattfindet
(der Erzähler erwähnt zuvor, dass sie hinter ihm sitzt). Der Mitmensch den ich für die improvisatorische Verfertigung meiner
Gedanken heranziehe, verkörpert lediglich die Drohung, mir
die Kontrolle über die Situation streitig zu machen. Und
„wie ein großer General“ spornt diese Drohung mich dazu
an, mir diese Kontrolle zurückzuerobern.
Diese Option einer Rückeroberung einer Herrschaft über
eine Situation, nachdem man sich bewusst dem Risiko
ausgesetzt hat, diese Herrschaft zu verlieren, scheint
mir als Dynamik des Improvisierens – oder jedenfalls:
eines bestimmten Improvisierens – für die Arbeit, die
work performance in Unternehmen des späten 20. und
21. Jahrhunderts eine hohe Attraktivität zu besitzen.
Und zwar deshalb, weil sie exemplarisch einen (zur Entstehungszeit von Kleists Text neuen, für uns heute jedoch
sehr vertrauten) Typ von Souveränität ins Spiel bringt:
einen Typ, den ich performative Souveränität nenne, eine Souveränität, die kein von Geburt oder Amts
wegen verliehener Status mehr ist, dem das Verhalten
entspricht, sondern im Handeln, in der Aktualität eines
Vollziehens von Handlungen evident wird – und eigentlich
in nichts als dieser Evidenz besteht.
Die institutionelle politische Souveränität, die jemand innehat, weil er als Nachkomme eines Herrschergeschlechts
einen Thron erbt oder im Zeitalter der modernen Nationalstaaten den Posten eines Regierenden oder Verwaltenden übernimmt, ist wesentlich potestas, d.h. eine Macht, die in der
Möglichkeitsform existiert. Giorgio Agamben hat das in seinen Homo sacer-Büchern theoretisch entwickelt, ausgehend von
Carl Schmitts Formel „Souverän ist, wer die Kontrolle über den
Ausnahmezustand hat“ – will sagen: wer die Möglichkeit hat,
die Normalität aufzuheben und, zur Not mittels Gewalt, seinen
Willen zum Gesetz zu erklären. Das Kommando über Militär
und Polizei räumt im Nationalstaat diese Möglichkeit ein. Die
friedliche Normalität des Lebens in solchen Staaten entfaltet
sich unter der fortwährenden Drohung: Wenn ihr euch nicht
so verhaltet, wie ihr sollt, innerhalb des Freiheitsspielraums, den
wir euch lassen, dann werden wir die Gewaltmittel gebrauchen!
Normalerweise bleibt es bei der Drohung, und in diesem Zustand einer potenziellen, aber nicht aktualisierten Gewalt hat
souveräne Herrschaft ihre Stärke. Aktualisiert ein Souverän die
Gewalt dennoch, wie gerade Erdoğan in der Türkei, bedeutet
dies immer einen kritischen Zustand. Die Staatsgewalt muss
dann versuchen, sich wieder in Staatsmacht zurückzuverwandeln, und dieser Schritt aus dem Wirklichen zurück ins Mögliche fällt weitaus schwerer als der Einsatzbefehl an die Polizei,
Proteste niederzuschlagen.
Die performative Souveränität ist hingegen eine Macht, die
jemand im aktuellen Vollziehen von Handlungen überhaupt
29
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
erst gewinnt. Und dazu muss er seinen Status zunächst einmal
aufs Spiel setzen – das heißt, er muss, wie Kleist mit seinem Militärvergleich zur Kenntlichkeit zuspitzt, einen wirklichen Ausnahmezustand herbeiführen. Improvisation steht hier für das
vorsätzliche Schaffen eines Ausnahmezustands, für das ‚Michhineinbegeben’ in eine Situation, die sich von mir nicht qua Rang
und Amt kontrollieren lässt und die so vor allem auch meine
Selbstherrschaft zunächst außer Kraft setzt. Und in diesem Ausgesetztsein erobere ich die Herrschaft über mich selbst und die
Situation zurück.
Diese Umstellung auf performative Souveränität
löst das Souveräne also vom Politischen im Sinne
der institutionellen Autoritäten, des herrschaftlich
oder staatlich autorisierten Regierungshandelns.
Es taucht auf einmal diesseits der zentralen Öffentlichkeit auf, etwa in einer Szene des privaten
Arbeitens und Studierens wie in dem geschilderten
ersten Beispiel aus Von der allmähligen Verfertigung
der Gedanken beim Reden – und dass Kleist so eine
häusliche, oikonomische Problemlösung in einem
politisch-militärischen Idiom reflektiert, verrät wiederum etwas Wichtiges über die performative Souveränität: Sie kennt keinen exklusiven oder auch
bloß privilegierten Bereich des Handelns – und
auch keinen exklusiven oder an sich privilegierten
Personenkreis mehr. Kleists Poetik des Improvisierens, die noch mit diversen weiteren Beispielen
aufwartet, verwandelt den „General“ von einem
militärischen Rang in die Figur des Generalisierbaren. Man kann alle Tätigkeiten, bei denen es auf
das Vollziehen selbst, auf das Wie des Vollziehens
ankommt, souverän vollziehen. Und jeder kann etwas, das er tut, souverän tun, kann in seinem ‚Es-souverän-Tun’
als ein Subjekt mit einer überragenden, weil im ‚Sich-aufs-SpielSetzen’ behaupteten Selbstherrschaft zur Erscheinung kommen.
Wir verwenden „souverän“ heute als Adjektiv für alle erdenklichen Handlungen und meinen damit eine bestimmte Prägnanz
des Sehr-Guten, des Exzellenten, nämlich eine Weise, etwas sehr
gut zu tun, die im Spiegel der Bewunderung, die wir ihr zollen,
eine Überlegenheit zum Ausdruck bringt – eine Überlegenheit
über andere, die dasselbe tun oder tun könnten, und auch die
Überlegenheit eines Könner-Ichs über ein anderes Ich im selben Menschen, das es nicht hinkriegt. Der Beweis performativer Souveränität, auf welcher Szene auch immer jemand ihn
erbringt, berichtet denjenigen, die diese Souveränität bezeugen,
indem sie sich von ihr beeindrucken lassen, immer auch vom
Drama einer erfolgreichen Selbstüberwindung.
Ich kann also ‚dasselbe‘ auf souveräne Weise tun – und auf eine
Weise tun, die, da sie nicht souverän wirkt, Erwartungen an
Souveränität enttäuscht, sobald die performative Souveränität
sich als Standard einmal so weit etabliert hat, dass die Mehrzahl
der Menschen bei dem von Kleist beschriebenen Kampfspiel
mitmacht. Meine Hypothese ist, dass wir in einer Gesellschaft
leben, bei der viele Menschen bei diesem Spiel mitmachen –
und dass die Prozesse des Arbeitens und insbesondere des Zu-
30
sammenarbeitens zum primären Austragungsort der Konkurrenzen um performative Souveränität geworden sind. Ein Grund,
warum die Unterscheidung zwischen ‚Es souverän tun‘ und ‚Es
nicht souverän tun’ (‚Es weniger als souverän tun‘) in der Arbeitswelt eine solche Relevanz bekommen konnte, liegt darin, dass die
sog. postfordistische Organisation von Arbeit zu einer Krise des
Bewertens geführt hat.
Der wesentliche Aspekt dessen, was ich hier Postfordismus nenne, ist, dass die Arbeitenden ihre Arbeit in hohem Maße selber
organisieren dürfen und müssen – im Unterschied
zu einer Fabrik mit Fließbandarbeit, wo die von der
Firmenleitung zusammen mit Ingenieuren eingerichtete Fertigungsarchitektur jedem Arbeitenden
seinen Teil zuweist, oder einer Büroarbeit, die genauso strukturiert ist, wo feststeht, wer wofür zuständig
ist und auf welchen Wegen Vorgänge durch die Abteilungen und über die Schreibtische wandern. Toyota erprobte in den 1960ern diese Delegierung der
Organisation von Arbeit an die Arbeitenden, und
in mehreren Reorganisationswellen (sehr stark in
den 90ern) hat sich das mittlerweile über sehr weite
Bereiche der Arbeitswelt ausgedehnt, auch auf die
Management-Etagen derjenigen Unternehmen, die
in armen Ländern Menschen in erzfordistisch organisierten Fabriken schuften lassen. Flexibles Teamwork steht seither im Mittelpunkt der Diskussionen
zum Postfordismus. Für immer mehr Arbeitende
gehört es zum Anforderungsprofil, mit anderen so
zu kommunizieren, dass sie eine optimale Aufteilung der Zuständigkeiten und Kombination der
individuellen Beiträge finden, den Arbeitsablauf
miteinander ausmachen – und in Zielvereinbarungen mit der Firmenleitung oder der nächst-übergeordneten
Ebene das Was und Wieviel ihres Outputs bestimmen, wobei
Verhandlungskompetenz anlässlich solcher Bestimmungen und
gekonntes Präsentieren der Ergebnisse unter Umständen genauso
wichtig, wenn nicht wichtiger sein können als das zwischendrin
Unternommene.
Davon, den Arbeitenden die Organisation ihrer Arbeit in Teilen
zu überlassen, verspricht man sich mehr Effektivität und Effizienz:
durch eine schnellere Anpassung der Arbeitsprozesse an die Erfordernisse, die in Reaktion auf Marktbewegungen wechseln (Toyota
gelang damals der Sprung zur ‚In time‘-Produktion – d.h., die
Teamarbeit beschleunigte die Fertigung so sehr, dass man ein Auto
erst produzierte, nachdem der Kunde es bestellt hatte); und durch
ein höheres persönliches Engagement der Arbeitenden, denn je
stärkeren Anteil das Kommunizieren an den Arbeitsprozessen bekommt, desto mehr von der eigenen Person und Persönlichkeit
muss der Arbeitende einbringen bzw. bringt er automatisch ein,
desto weniger gelingt es ihm, die Arbeit als etwas von seinem wahren Selbst Abgetrenntes, als bloße Maloche zu betrachten (und
die Organisatoren der Arbeit schielen auf Improvisieren in den
Künsten nicht zum mindestens deswegen, weil das Spiel mit der
Spontaneität, mit ihren Risiken und ihren Chancen, dort etwas
Lustvolles zu sein scheint, Produktivität an ein Genießen koppelt).
Ausgabe LXXVII • April 2O14
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
Bedeutet Arbeiten nun das Zusammenarbeiten in flexiblen
Teams, die immer wieder erst im Verlauf des Arbeitsprozesses
selbst ermitteln, wie sie etwas tun und wie individuelle Kompetenzen sich in einer kollektiven work perfomance realisieren,
stellt sich die Frage: Wie soll man dann die Leistung eines
einzelnen Arbeitenden beurteilen? Die vorherrschende Honorierung von Arbeit erfolgt ja nach wie vor durch das
allgemeine Tauschäquivalent Geld, dessen Allgemeinheit eigentlich so etwas wie eine Verallgemeinerbarkeit
auch der entgoltenen Leistung voraussetzt: Selbst wenn
verschiedene Leistungen an deregulierten Arbeitsmärkten extrem unterschiedlich gut bzw. schlecht bezahlt
werden, sollten zumindest gleiche Leistungen am selben
Ort ungefähr gleichen Lohn bringen (oder wo das nicht
so ist, sollte man es mit dem Hinweis auf die Gleichheit der Leistungen einfordern und die aktuelle Praxis kritisieren können). Aber wie bewertet man eine
kollektive Errungenschaft auf der Ebene der beteiligten Individuen, wenn die Arbeit eines jeden Einzelnen
nicht nur auf die von anderen verweist, sondern erst in
dem, was sie zur Arbeit dieser anderen beigetragen
hat, durch ihren organisatorischen Mehrwert für
das Team, überhaupt einen Wert erlangt? Wenn
die Qualität der individuellen work performance
wesentlich darin besteht, ob und in welchem Maße
sie zur kommunikativen Erzeugung von gelingender
Zusammenarbeit verhilft?
Wir beobachten seit den 90er Jahren eine geradezu inflationäre Vielfalt von Evaluationsdienstleistungen,
die Verfahren für Unternehmen anpreisen, um work
performance von deren Abteilungen und einzelnen
Mitarbeitern zu messen. Doch die Vielfalt konkurrierender Ansätze und Methoden selbst ist schon ein
Indiz, wie wenig Gewissheit darüber herrscht, was für
Daten man da wie erheben soll und vor allem, wie sie zu
interpretieren sind, denn die Beziehungen zwischen der Bilanz
eines Unternehmens und dem, was Mitarbeiter tun, wird umso
indirekter und schwieriger rekonstruierbar, je komplexer die internen Strukturen sich ausdifferenzieren: Es kann angehen, dass
ein Mitarbeiter grandioses Fachwissen mitbringt und massenweise Überstunden im Büro macht, dies der Teampraxis aber
nicht zugute kommt. Liegt das daran, dass ihm selber die Fähigkeiten fehlen, sein Können mit dem der Kollegen zu synthetisieren? Oder liegt die Verantwortung bei einem der Kollegen,
der die wertvolle Vorarbeit nicht auf- und annimmt, absichtlich
oder vielleicht unbewusst blockt – und falls ja, welcher Kollege
oder welche Untergruppierung im Team? Passen möglicherweise bestimmte Charaktere einfach nicht zusammen, so dass
man sie lieber auf getrennte Teams verteilt? Oder muss man den
Workflow besser moderieren, bis die Leute sich aufeinander
eingespielt haben? Oder doch jemanden entlassen und durch
einen Passenderen ersetzen…?
Die Reihe solcher Fragen ließe sich lange fortsetzen. Was ich damit deutlich machen möchte, ist das Ausmaß der Unsicherheit
über das, wovon unser deutsches Wort „Leistung“ suggerier-
ringgespräch über gruppenimprovisation
te (oder immer noch fälschlich suggeriert), es handle sich um
etwas Solides, etwas Objektivierbares, das Daten und Fakten
belegen. Allen Objektivierungs- und Standardisierungsanstrengungen zum Trotz hat die postfordistische Liberalisierung von
Arbeitsprozessen zu einer immensen Zunahme persönlicher
Abhängigkeiten geführt: Die Bewertung von Arbeitenden
geschieht immer stärker in der Dimension affektiver
Reaktionen auf deren Sich-Aufführen – im doppelten
Sinne von Verhalten und von Selbst-Inszenierung als
Leistungssubjekt in einem intersubjektiven Geflecht
des Zusammenarbeitens.
Und hier kommen wir nun auf das Interesse an künstlerischen Improvisationsprozessen zurück. Denn Improvisieren in den performing arts zählt nicht nur zu den
Disziplinen, in denen Performer ihre Souveränität
unter Beweis stellen, indem sie ein Publikum beeindrucken, das im Zweifelsfalle nicht einmal merkt,
dass die Performance improvisiert ist, da die Spielenden in ihrer spontanen Responsivität so überlegen
wirken, so sehr die Situation zu jedem Zeitpunkt zu beherrschen scheinen, als folge alles, was sie tun, einem ausgefeilten Entwurf. Auch die Performer untereinander
bewerten und beurteilen sich in ihrem Zusammenspielen unentwegt. Wie ein Improvisierender auf das, was
ein anderer gerade getan hat, reagiert – ob er überhaupt
reagiert; wie sehr er versucht, etwas aus dem zu machen,
das der andere getan hat; und was für eine Vorlage er damit den weiteren Ko-Performern gibt oder an den Ersten
zurückspielt: all das formuliert ein Werturteil, das die
Mitspieler, sofern sie in ihrer Kunst auch nur halbwegs
versiert sind, erkennen, verstehen und in ihren eigenen Reaktionen verarbeiten. Dabei hängt im Gegenzug
der Wert dieses Werturteils davon ab, welches Ansehen
derjenige, der es mittels seiner Reaktion fällt, unter den
Zusammenspielenden genießt – und letztlich auch davon, ob
dieses Urteil selbst so, wie es in den Reaktionen des Beurteilten und der anderen darauf in Kraft tritt, wie es das Spiel im
weiteren beeinflusst, die Gesamtperformance steigert oder ihr
zumindest eine Chance zur Steigerung verschafft.
Diese Beschreibung des Kollektivgeschehens beim Improvisieren klingt deswegen so verwickelt, weil sich hier Leistungskriterien aufs engste mit der Dynamik sozialer Anerkennung und
Wertschätzung verbinden. Beim Improvisationstheater (d.h.
nicht im professionellen Theater, wo man innerhalb von Proben
improvisiert, sondern bei dem, was auch Theatersport heißt,
wo die Aufführungen komplett aus Improvisationen bestehen
und was vor allem Laien als Freizeitaktivität betreiben) hat man
dieses Problem zumindest erkannt. Anleitungen schlagen vor,
das Prinzip des sog. „Yes-Anding“ als verbindliche Abmachung
zu etablieren: Ein Spieler soll sich auf das, was ein anderer tut,
stets in der Form eines „Yes, and…“ beziehen, es zunächst einmal bejahen, um der Sache dann durch die Weiterführung ggf.
eine abweichende Richtung zu geben. Das kann im Extremfall
auch genau die Gegenrichtung zu der vom anderen eingeschlagenen sein, aber auch das gilt es in der Form eines „Yes, and…“
31
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
zu formulieren, weder durch Ignorieren noch durch direktes
Verneinen, denn Ignoriertwerden oder Ablehnung verletzt den
Mitspieler, der mit dem, was er anbietet, auf die Anerkennung
durch das Team angewiesen ist.
Obwohl gelegentliche Hinweise auf das „Yes-Anding“ in der
organisationstheoretischen Literatur nicht fehlen, steht im
Mittelpunkt der ökonomischen Einlassung mit dem Improvisieren ein Genre, in dem die Performer gerade mit
solchen psychosozialen Verletzungen arbeiten oder mit
einem strategischen Vorenthalten von Anerkennung,
das sich am Rande des Verletzenden bewegt und diese Randzone als den eigentlichen Bereich von künstlerischer peak performance austesten: nämlich der Jazz
– und zwar diejenigen Spielarten von Jazz, die einerseits
improvisatorische Freiheiten gewähren und wo die Musiker, die zusammen auf der Bühne stehen, prononciert
als Solisten, als virtuose Solisten an dem Ensemblespiel
partizipieren, die andererseits aber traditionalistisch genug eingestellt sind, um der Reputation einen hohen
Stellenwert beizumessen. (Ausgeschlossen bleiben hier,
zumeist unkommentiert, radikale Varianten von Free Jazz,
unter denen einige nicht von ungefähr in den 60ern und
70ern eine kommunistische Ästhetik ausgebildet haben
bis hin zu einem orchestralen Zugang zu Jazz, wo die
Stimme des Einzelnen im Kollektiv verschwinden sollte. So was kann Postfordismus schlecht gebrauchen.)
Der Musikwissenschaftler Nicholas Gebhardt hat in seiner
Studie Going for Jazz die Beziehungen zwischen den Vorstellungen von künstlerischer Spitzenleistung im Jazz und einer
„American ideology“ untersucht, die kapitalistische Produktions- und Verwertungsformen mit einer vom Grundton
her aggressiven Emotionalität verknüpft – oder genauer
gesagt: einer herzlich-aggressiven Emotionalität, denn in
den Interaktionen zwischen professionellen Jazz-Musikern
treten oft etwas Kumpelhaft-Herzliches und etwas AggressivKämpferisches zu einer speziellen Stimmung zusammen. Der
instrumentale talk beim kollektiven Performen im Jazz ähnelt,
der Anthropologin Claudia Mitchell-Kernan zufolge, den spielerischen „Duellen“, die in den afroamerikanischen Communities „signifying“ heißen (und die z.B. auch beim Freestyling,
bei der improvisatorischen Version von Rap, eine wichtige Rolle
spielen). Beim „signifying“ provoziert ein Akteur einen anderen
dadurch, dass er ihn auf eine gekonnte, witzige oder originelle
Weise beleidigt (aus solchen virtuosen Beleidigungsspielen sind,
nebenbei bemerkt, auch die „Deine Mutter…“-Witze hervorgegangen) – ihn entweder direkt verbal beleidigt oder in einer
bestimmten Disziplin mittels Wendungen, die die Kompetenz
des anderen in Zweifel ziehen. Beim Jazz kann das z.B. dadurch
geschehen, dass ein Musiker das, was für die geläufige Fortführung eines Routine-Patterns nötig wäre, nicht spielt – und
durch diese Weigerung eine Situation entstehen lässt, die im
nächsten Augenblick als Fehler hörbar würde, wenn nicht der
Mitspieler mit einer originellen Spontanerfindung die Phrase
in etwas rettet, das nicht falsch klingt, sondern auf (am besten)
aufregende Weise anders als die Routine.
32
Tatsächlich haben wir hier den Ursprung von Innovation aus
der Notwendigkeit, auf die Zumutung einer unterbrochenen
Gewohnheit mit etwas bislang so noch nicht Gespieltem zu reagieren, um das eigene Gesicht zu wahren. Ob das Resultat des
Routinebruchs also ein Patzer sein wird, der die Gesamtperformance des Ensembles in schlechtes Licht taucht
und den Reagierenden als Versager bloßstellt, oder
eine Innovation, die ihm und seinen Mitmusikern
Ruhm einträgt, das hängt von der Reaktion, von
der Qualität der Reaktion ab. Und je nachdem,
wie verlegen oder wie überlegen die Reaktion ausfällt, wird dies das Miteinander-Improvisieren im
Kollektiv als Szene eines (verlorenen) Kampfes herausstellen oder als Szene einer kollektiven Virtuosität,
wo weder die Leute im Publikum noch die Spielenden
selber den Kampf als solchen allzu sehr spüren, sondern die Performer sich durch spielerische Herausforderungen wechselseitig steigern, leichthin, das
Leichte und ein bisschen Leichtsinnige genießend,
dabei ihre Souveränität aneinander testen, um mit
jedem erfolgreichen Bestehen eines Tests an Prestige
zu gewinnen.
Kleists Improvisation verstand sich auf alle Fälle als
Kampf, als Kampf in einem Krieg des Subjekts mit
sich selbst, bei dem der andere lediglich als Widerstand fungierte. Hier dagegen konkurrieren im Modus des Improvisatorischen wirklich mehrere Menschen miteinander, und dieses Konkurrieren gehört
zugleich zu ihrem Kooperieren: Die performativen Sticheleien und Riposten erkunden die Elastizität eines Konsenses, den kein Performer jemals
brechen darf, soll das Kollektivprojekt nicht kollabieren. In dieser speziellen Stimmung, wie Jazz sie
kultiviert und teilweise künstlerisch extrem produktiv macht, erschnuppern die Organisationstheoretiker
das ideale Milieu für die Verschränkung von Kooperieren und
Konkurrieren, die der Business-Jargon „co-competition“ nennt.
Denn auch bei der postfordistischen Arbeit kommt es darauf an,
Wettbewerbsmomente in das Miteinander einzubauen, so dass
der Wettbewerb niemals endet – wie der Kampf es tut, wenn der
eine schließlich als Sieger dasteht, während der andere als Verlierer am Boden liegt. Beim Kapitalismus geht es auf allen Ebenen
darum, Endlosigkeit zu organisieren: Dynamiken, die von sich
aus zu keinem Abschluss kommen können. Wettbewerb muss
sich deshalb, um zum marktwirtschaftlichen Prinzip zu taugen,
vom Kampf in diesem Aspekt zu unterscheiden lernen. Ökonomische Vernunft begreift es seit Adam Smiths Diktum von
den wohltätigen Wirkungen der wetteifernden Egoismen für
das Gemeinwesen als ihre Aufgabe, destruktive Kräfte in eine
Dynamik einzubinden, in denen sie produktive Effekte hervorbringen. Seine Verfechter rechtfertigen das Konkurrenzmodell
nicht zuletzt damit, dass es die bislang erfolgreichste Lösung für
diese Aufgabe sei: Vom Kampf wird lediglich dessen Affekt, die
Aggression, abgeschöpft, um eine Form zu beleben, in der mehrere Wettbewerber um eines Vorteils willen gegeneinander agie-
Ausgabe LXXVII • April 2O14
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
ren. Sie werden also der Entscheidung beraubt, die der Kampf
herbeiführte, und verpflichtet, das Gegeneinander unablässig
zu wiederholen. Ab einem bestimmten Punkt fügt sich dem
die Anforderung ein, im Zuge der ausdauernden Wiederholung
auch das Kooperative und Konviviale zu organisieren, denn
ohne Ende gibt es für jeden vorstell- und antizipierbaren Ausgang der Konkurrenz ein Nachher, in dem die Konkurrenten
doch weiter am selben Markt oder im selben Unternehmen agieren.
Hat Aggressivität unter Marktakteuren als treibende
Kraft einen positiven Ruf, ist ihre destruktive Tendenz immer dann problematisch, wenn sie auf eine
Entscheidung, ein ‚auf Leben und Tod’ hinaus will.
Der Tod ist im Kapitalismus tabu. Selbst das Monopol, die ‚Marktherrschaft’, darf darum kein definitiver Sieg sein. Spätestens in der Phase, da sich
so etwas wie ein siegreiches Finale ankündigt, muss
der erfolgreichere Wettbewerber sein Handeln auf
die Zeit nach dem ausrichten, was der eigene Sieg
und die Niederlage der Konkurrenten gewesen
wäre; und eben durch die immanente Umorientierung im Vollzug der Konkurrenz selbst unterbleibt der Sieg, überspringt man ihn zugleich und
schiebt ihn auf: Eine ‚neue‘ Herausforderung tritt
an die Stelle der alten, in der die alte, die nicht bis
zum Ende ausgekämpft wurde, gleichwohl weiter
besteht und ihrerseits darauf wartet, wieder die
neue zu werden.
Dieser Dynamik hat sich auch die Bewertung
anzupassen. Deshalb hilft es bei der Etablierung
von ‚co-competition’ als Form, wie wir miteinander umgehen – bei der Arbeit und in all jenen Bereichen des Lebens, die ein erweitertes
Produktivitätsverständnis erfasst –, wenn Bewertung vorläufig
bleibt, wenn sie sich statt an allgemein und zeitbeständig geltenden Standards an den jeweiligen Reaktionen der Ko-Performer orientiert (und womöglich derjenigen, die auf Szenen des
Präsentierens phasenweise das Publikum bilden). Damit sind
wir beim Unangenehmen des Ausdrucks ‚Leben auf Probe’, der
als Titel über unserer Veranstaltung heute Abend steht: In einem Prozess des Zusammenarbeitens, der sich an Praktiken des
kollektiven Improvisierens orientiert und dem Ideal einer „collective virtuosity“ verpflichtet, gibt es nichts definitiv Falsches,
denn erst die Reaktionen der anderen Teammitglieder befinden
darüber, ob etwas, das ich getan habe, falsch war oder nicht
vielmehr ein Anstoß dazu, neue Wege zu gehen, ja vielleicht genau der Stoß ins Unbekannte, den der Prozess gebraucht haben
wird, um nach oben hin, auf ein bislang unerreichtes Leistungsniveau aus der Routine auszuscheren. „[W]e paint ourselves in
and out of corners all the time“, hat der Saxophonist Jeff Clayton
das mal formuliert: Fehler machen – oder riskieren, Fehler zu
machen, das zählt zu dem, was Improvisieren als Probieren ausdrücklich zulässt. Und die meisten improvisierenden Musiker,
Tänzer, Schauspieler und Performer, die ich kenne, würden das
spontan emphatisch bekräftigen.
ringgespräch über gruppenimprovisation
Aber das heißt eben auch, dass es nichts definitiv Richtiges gibt:
Ich kann etwas für mich noch so gut machen – solange nicht
die anderen aus dem, was ich mache, für sich ebenfalls einen
Zugewinn ihrer Performance zu ziehen vermögen oder ich sie
zumindest dazu kriege, sich einen solchen Vorteil zu versprechen, läuft mein Wissen und Können ins Abseits. Und ob ich
mit meinem solistischen Beitrag zur Teamperformance auf der Spur einer geteilten Steigerung navigiere oder mich auf dem Weg ins
Abseits befinde, das erfahre ich auch immer
bloß von Mal zu Mal, da die Bewertung der
Arbeit nicht außerhalb des Arbeitens erfolgt,
sondern mit dem aktuellen Vollziehen des
Zusammenarbeitens koinzidiert. Der Wert
dessen, was ich tue, ist – und bleibt – genauso
durchgehend provisorisch wie das Handeln im
Improvisationsmodus selbst.
Das Wort „Improvisieren“ kommt ja vom lateinischen „im-provisus“, un-vorhergesehen.
Aber Improvisieren als Probieren impliziert
gerade, dass zunächst alles, was dabei passiert,
provisorisch ist. Das hat einen befreienden,
entlastenden Effekt, vor allem am Anfang und
solange das Improvisieren sich als ein wiederholter Anfang imaginiert. Aber auf die Dauer,
in dem Maße, wie das Improvisieren ein Bewusstsein von seiner Dauer gewinnt, offenbaren
sich auch die Schattenseiten dieser vorsätzlichen
Vorläufigkeit, und dazu gehört eine stets nur
vorbehaltliche, stets weiter hinausgezögerte, auf
die nächste und übernächste Herausforderung
vertagte Anerkennung und Wertschätzung. In
diesem Zustand, sozusagen schwebend zwischen
der Kränkung vorenthaltener Anerkennung für das, was sie mit
teils großem Einsatz leisten, und dem gerade so weit aus der
Verzweiflung ‚Hervorgelobt-Werden’, dass ihr Begehren weiterzumachen doch immer wieder aufflackert, gehen Menschen
heute auf diese eigenartige Weise vor die Hunde, von der Begriffe wie „Burn out“ oder „Depression“ nur die Hysterisierungen
registrieren.
In dem Maße, wie die Grenze zwischen Arbeit und dem Teil
des Lebens, der Nichtarbeit genannt zu werden verdient, sich
auflöst – zeitlich, sachlich, wertemäßig –, durchdringen die
Wirkungen verknappter, vorbehaltener und strategisch dosierter Anerkennung immer weitere Sphären unseres Zusammenlebens, und wahrscheinlich sind wir in dieser Ausweitung bis
zu einem Stand fortgeschritten, wo man von einem „Leben
auf Probe“ in diesem Sinne sprechen kann. Während ich auf
der einen Seite immer sensibler werde für die Reaktionen der
anderen, ihre verschiedenen vorstellbaren Reaktionen zu antizipieren und zu berücksichtigen lerne, da sie es sind, die mein
Verhalten evaluieren, kommt mir auf der anderen Seit dadurch
der Sinn für das Irreversible meines eigenen Handelns – und
das der anderen – zusehends abhanden. Sowieso gehe ich als
jemand, der in einer funktional differenzierten Gesellschaft
33
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
von hoher Eigenkomplexität lebt, davon aus, dass das meiste, was ich tue
oder lasse, keine für mich merkbaren
Konsequenzen haben wird (das ist
die vernünftige Einstellung in einer
solchen Gesellschaft, denn das meiste,
was ich tue oder lasse, zeitigt Wirkungen, die sich irgendwo in der Dichte und
Weite von Verflechtungen verlieren, die
das gesellschaftliche Leben bilden, und
niemals zu mir zurückkehren). Und so
oder so partizipiere ich vielfältig an der
Zeitbestimmung des Projektes, die unterstellt, was wir jetzt machen, ohne
dessen volle Konsequenzen zu kennen, werde sich in seinen negativen
Folgen, falls welche auftreten, jedenfalls so weit revidieren oder regulieren
lassen, dass keine Apokalypse daraus resultiert (ohne das – womöglich ungerechtfertigte
– Vertrauen in diese Unterstellung könnten wir gar keine ergebnisoffene Unternehmung angehen). Beim Improvisieren geht
dieser Glaube daran, das Schlimme, was dabei eventuell herauskommt, mindestens zum maßgeblichen Teil wieder gutmachen
zu können, eine Allianz mit dem unerbittlichen Vergehen der
Zeit ein. Improvisieren affirmiert das Vergehen der Zeit, und
zugleich benötigt es eine Provisorik, um unter den Bedingungen des (selbst)auferlegten Zeitdrucks – da ich reagieren muss,
ohne über Entscheidungen nachdenken zu können – überhaupt
eine Freiheit wiederzufinden. Wenn ich mir sage, dass alles, was
ich auf die Schnelle tue, dennoch nie wieder rückgängig zu machende Konsequenzen haben wird, dürfte der Effekt sehr wahrscheinlich Panik sein – eine Panik, die mich lähmt, so dass ich
überhaupt nichts zu tun vermag. Das Provisorische wird darum
im Improvisationsprozess zum Statthalter der Reflexion: Statt
bevor ich zum Handeln übergehe, eine Zeit mit dem Erwägen
denkbarer Alternativen und der Wahrscheinlichkeit ihrer jeweiligen Folgen zu verbringen, arbeite ich das Testen von Alternativen ins Handeln ein.
Improvisierendes Agieren ist von seiner Dynamik her deshalb
zumeist nicht glatt und direkt, sondern hat etwas Ornamentales
– bzw. es greift auf ornamentale Strukturen zurück, in denen es
sein trial-and-error betreiben kann. So dienen z.B. die patterns
im Jazz den Musikern dazu, sich spielend, immerzu weiterspielend mal hierhin, mal dorthin zu tasten und zu schauen, was für
Möglichkeiten musikalischer Innovation oder Interessantheit
sich entlang der Pfade feiner Abweichungen ergeben und welche davon die Mitspieler wahrzunehmen bereit sind bzw. imstande sind. Die Ornamentierungen sind hier keine Ausschmückungen, keine Zeichen einer Verschwendung wie im Barock,
sondern sie gehören als performative Technik des Ornamentierens zu einer Ökonomie von Improvisation, die etwas prinzipiell Umwegiges im Vollziehen der Handlungen braucht, gerade
weil sie die Zeit extrem verknappt. Wahrscheinlich haben Viele
von Ihnen als Kinder gelernt, dass man eine gerade Line aus der
34
freien Hand zieht dadurch, dass man eben nicht versucht, ganz
glatt und wie am Lineal den Stift zu führen (dann produziert der
Ungeübte mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Kurve), sondern
eine feine zitternde Krickelkrakelbewegung ausführt. Nach demselben Prinzip lernt der Improvisierende, auch ohne Handlungslineatur „Spontangestalten“ zu zeichnen, um sich, ausgesetzt im
Offenen, jene Souveränität wiederanzueignen, die der Mensch
als Stellvertreter Gottes (desjenigen, der auch auf krummen Linien gerade schreibt) für sich entdeckt hatte.
In diesem Sinne mein Schlusskommentar für diesen Vortrag:
Der Ausdruck „Leben auf Probe“ macht mich deshalb leicht
schaudern (und ich schätze ihn für dieses Schaudern-Machen),
weil das Leben dasjenige bezeichnet, bezeichnen sollte, was an
meinem Dasein definitiv ist. Wie es auch verläuft, sein Verlaufen
hielte für mich eine Gewissheit bereit: dass jeder Moment davon irreversibel vergangen sein wird. Das ist, je nach Einstellung,
eine erleichternde oder verstörende Gewissheit (und ich vermute, dass die meisten von Ihnen wie ich zwischen Erleichterung
und Verstörung diesbezüglich pendeln). Aber was passiert, wenn
die Lebenslinie, die ich ziehe, eine solche absichtlich krackelig
gezeichnete Linie wird, weil der strategische Umgang mit der
Vorläufigkeit, das vorsätzlich Provisorische, schließlich dieses Leben im Ganzen zur Angelegenheit seines Managements macht?
Wenn das Zusammenleben mit meinen Zeitgenossen mir nahelegt, souverän zu leben, weil es Techniken dafür gibt – mit dem
Wort von Peter Sloterdijk: Anthropotechniken, Techniken eines
Leben-Erzitterns, die mehr aus der begrenzten Spanne meiner
Zeit auf Erden herauszuholen verheißen als bloßes, glattes, auf
der Gegenwart bloß dahinschlitterndes Vergehen?
Kai van Eikels ist derzeit Gastprofessor für Tanz- und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind dynamische Kollektivformen wie
„Schwärme“ oder „Smart Mobs“, Kunst und Arbeit, Politiken
der Partizipation. Aktuelle Publikation: Die Kunst des Kollektiven. Performance zwischen Theater, Politik und Sozio-Ökonomie.
Theorie-Blog: http://kunstdeskollektiven.wordpress.com
Ausgabe LXXVII • April 2O14
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
Improvisieren: Denken feine Nahrung (nach Roland Wolf )
von Wolfgang Schliemann, Wiesbaden
Um den Bogen vom kulturpessimistischen Befund einer gesamtgesellschaftlichen Agonie zur Utopie einer kunst- statt angstgeleiteten Zukunftsgesellschaft zu schlagen, bedarf es - ganz wie in
der musikalischen Improvisation – der freien Assoziation.
Diese geschieht hier im Vertrauen darauf, dass sich die beim
Verfassen vollzogenen Gedankenverknüpfungen und -sprünge
beim – nach Belieben auch nicht linearen, fragmentarischen
– Lesen je nach Aufnahmebereitschaft zu sinnvollen Gedankengängen formieren, dass das je Unwichtige vom Wichtigen
geschieden und vergessen werden kann, dass so ein je eigener
roter Faden erkennbar und greifbar wird.
Das Unternehmen, von Musik über Kunst im Allgemeinen zur
Improvisation im Besonderen (oder umgekehrt) und von dort
zu einem erweiterten Kunstbegriff - den zu formulieren eben
Gruppenimprovisation der potenzielle Schlüssel sein könnte –
zu gelangen, bedient sich relevanter Zitate u.a. von Adorno und
Beuys (JB), die zusammen genommen sich montageartig zur
Annäherung an einen, notwendig radikalen, anderen Begriff
der Musizierpraxis fügen.
„Heute befinden wir uns weltweit in einem
Stadium tiefster Krise. Es handelt sich um eine
Krise unzähliger Dimensionen, deren viele Facetten jeden Aspekt unseres Lebens betreffen:
unsere physische, geistige und spirituelle Gesundheit und unseren Lebensunterhalt; das Essen als Körpernahrung, die Kommunikation als
Nahrung für den sozialen Geist, die Qualität der
Umwelt und die menschlichen Kontakte. Ökonomie, Politik, Technologie, Kultur. Es handelt sich um eine Krise intellektueller, moralischer und spiritueller Dimension. Eine echte Bedrohung für Dialektik
und Anstand. Die heutige Krise ist nicht nur eine Krise des Individuums, der Regierungen oder der Institutionen, sondern ein Umbruch
planetarischen Ausmaßes. Als Individuen, als Gesellschaft, Zivilisation und Ökosystem sind wir auf dem besten Wege, den Wendepunkt
zu erreichen. Kulturelle Umwälzungen von solchem Ausmaß und
solcher Tiefe können nicht verhindert werden. Man sollte sich ihnen
nicht entgegenstellen, sondern sie im Gegenteil als einzige Möglichkeit annehmen, sich der Sorge, dem Kollaps und der Versteinerung zu
entziehen. Wir müssen die grundlegenden Voraussetzungen und Werte
unserer Kultur neu erfassen, damit wir auf diesen großen Umbruch,
auf den wir zusteuern, vorbereitet sind. (…) Es gibt nur eine Erde. Sie
ist das gemeinsame Haus aller Menschen, eine universelle Substanz,
ein lebendiges System, das für alle, die es bevölkern, Güter produziert.
(…) Und dennoch sind wir dabei, einen Suizid gigantischer Ausmaße
zu begehen. Jeden Tag wirtschaften wir tausendfach mit unserer gnadenlosen Unersättlichkeit und in schamloser Gewaltanwendung gegen
die Erde. Jeden Tag zerstören wir unser eigenes „Haus“. Unsere Sturheit und Dummheit stumpfen uns ab und wir verstehen nicht, dass
wir sterben werden und die Erde sich retten wird.“
LdDD, Beuys Voice, S.30/31
Eine Zumutung, zugegeben, doch wo radikale Notwendigkeiten – um des Überlebens willen - erforderlich sind, darf vorauseilende Selbstzensur, dürfen allgegenwärtige Denkverbote keine
zu hohen Hürden sein: Das wilde Denken kann immerhin auch
von anarchischer Denklust befeuert sein und als entgrenzte
entgrenzende Lernerfahrungen jenseits vorgegebener Schemata Wurzeln schlagen lassen, gar zu neuem Handeln beflügeln,
in welchem die Antizipation neuer sozialer, solidarischer Umgangsformen bereits keimt.
„Die Krise der modernen Welt ist eine Krise des Bewusstseins.
Ihre „dämonisch“ zu nennende Eigendynamik besteht darin, dass
gerade dies, dass sie nämlich eine Krise des Bewusstseins ist, nicht
wirklich bewusst wird. Die materialistische Ideologie, nach der
das Bewusstsein lediglich das Produkt der gegebenen Verhältnisse
im Sinne ihrer Widerspiegelung ist, beweist – als mittlerweile dominante Bewusstseinsstruktur – auf fatale Weise ihr eigenes Gegenteil. Denn sie selbst sorgt dafür, dass sie immer mehr stimmt.“
JS, Musik für´s Denken, S.5
Freie Assoziation der Gedanken ist hier ein Bekenntnis zu wildem Denken – ebenso wie freie Assoziation in der musikalischen Gruppenimprovisation ein Bekenntnis zum wilden Spiel
mit den Klängen und den Anderen ist, mit allem Ernst, der
dem Spiel nur eigen sein kann. Es heißt, ein offenes System zu
favorisieren, in dem das sonst Undenkbare sich entfalten kann,
in dem der Methodenzwang außer Kraft gesetzt wird, in dem
scheinbar Widersprüchliches neuen Sinn ergeben kann – ein
Denken, das Intuition Raum bietet und so neue Begriffsbildungen ermöglicht, vielleicht sogar herausfordert.
ringgespräch über gruppenimprovisation
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Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
Beim Nachdenken über musikalische
Improvisation, Improvisierte Musik, ihre Erscheinungsformen in
den 2010er Jahren – diagnostisch
wie prognostisch – drängt sich das
bizarre Bild eines undurchdringlichen Dickichts kümmerlicher
Gewächse auf, je nach eingenommener Perspektive: der bodengebundene
Frosch sieht sich umgeben und berauscht von einer geradezu
überwältigend üppigen Vielfalt unterschiedlichster, sich an Innovationen überbietender Spielarten, der Vogel im Flug erkennt
nur mit Adleraugen die an Wahrnehmungs- und Verständnismangel leidenden Nischenexistenzen vor dem weiten kulturellen Horizont.
Immer wieder und aus allen kulturpolitisch relevanten Lagern
wird der Improvisation Ehrerbietung erwiesen, wenn es um die
Nützlichkeit ihrer Vorzüge geht. Ihr pädagogisches Potenzial als
Methode zur Erlangung resp. Steigerung sozialer Kompetenz ist
ebenso Gegenstand höchsten Lobs (und gelegentliche Quelle
von Subventionsmitteln) wie ihre nun auch wissenschaftlich
nachgewiesene Effizienz bei der Sensibilisierung für differenziertes (Zu-)Hören, Empathie schlechthin.
Vor dem Hintergrund einer nun schon ein halbes Jahrhundert
zurückreichenden Tradition mit äußerst heterogenen, multiethnischen und interkulturellen Entwicklungslinien, praktiziert als
eine quasi Lingua franca, wird ihr schon das Zeug zum Völkerverständigungsmedium zugetraut.
„…die Wirklichkeit des Musikalischen ist Mitteilung.“
ES, Ins Offene, S.40
Im harten Musikbetrieb fristet Improvisation eher eine doppelbödige Existenz: als Inbegriff von Kreativität und Individualität
werden improvisatorische Fähigkeiten vom komponierenden Gewerbe hochgeschätzt, auch der Jazz schmückt sich gern mit dem
Etikett der improvisierten Musik als Originalitäts- und Vitalitätsversprechen. Die Kehrseite der Medaille
spiegelt sich hingegen in den meist prekären materiellen Existenzbedingungen der Ausübenden einer Kunst,
der nach wie vor das Stigma der
Zweitklassigkeit anhaftet – ein
Faktum, allen Euphemismen zum
Trotz.
„Die Wahrheit ist in der Wirklichkeit
und nicht in den Systemen“.
JB, LdDD, Beuys Voice, S.736
Improvisierte Musik - verstanden als ars sui generis (Improvisierte
Musik: ars sui generis – ein kleines Manifest, W.Schliemann /J.
Zoepf, in: Können Improvisatoren tanzen? - Wolke Verlag 2003) –
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unterscheidet sich zumindest in der Radikalität ihres Anspruchs
auf Freiheit der Artikulation grundlegend von anderen Spielarten, nicht nur, weil sie Unwiederholbarkeit, also Einmaligkeit
beansprucht, sondern unbedingte Authentizität fordert und
sich dabei auf nichts als die Präsenz im Hier und Jetzt verlässt.
„Beides, Empfindsamkeit und Genauigkeit, kennzeichnen als zusammengehörend künstlerisches Schaffen, in dem nicht Vervielfältigung und die Gesetze einer nachstellbaren Kausalität Wirklichkeit
herstellen, sondern der Grenzgang des Künstlers zwischen inneren
und äußeren Kräften Wirklichkeit immer wieder neu bestimmt.“
ES, Ins Offene, S.38
So falsch, wie Adorno mit seiner pauschalen Disqualifikation
des Jazz als musikalische Errungenschaft lag, so falsch hat Cage
die freie Improvisation als Einfallstor unreflektierter Vorlieben
bewertet - der eine aus Unkenntnis und wahrscheinlich ahnungsvoll aus Angst vor der Entfesselung unkontrollierbarer
Triebhaftigkeit, der andere aus Misstrauen gegenüber der eigenen Neigung zur Redundanz.
„Frei improvisierte Musik
verläuft nicht
monokausal, linear,
als Eins aus
dem Anderen; sie
verläuft in
einer Verspannung
polyvalenter,
multiintentionaler
und multifunktionaler Prozesse. (…)
Das zentrale Merkmal musikalischen Gelingens Freier
Improvisation
liegt in der musikalischen Störung. Im
Stören eines wohlgefälligen Funktionierens, bei welchem absehbare
Verfahren der Spannungserzeugung und ein produktives Nebeneinander auf virtuos ausgetretenen Pfaden das musikalische Geschehen im bereits musikalisch Erlebten erschöpft. (…) Freie Improvisation ist kein Experiment, aber in dieser Instanz der Störung
liegt ihr experimenteller Zug, mit dem sie ihre Arbeitsweise immer
wieder auf ihr innovatives Potenzial hin überprüft.“
ES, Ins Offene, S.41/42
Wie schon früher festgestellt (u. a. mit Alvin Curran und Peter
Niklas Wilson) ist die Improvisierte Musik längst ihrem Entstehungsmilieu entwachsen, hat einerseits ihre provokative Kraft
verloren, andererseits erhält sie stetig Erneuerungsimpulse, die
– richtig verstanden und angewandt – ihr Subversionspotenzial
erhalten.
„Vielleicht ist die Angst in der Realität so überwältigend geworden, dass ihr unverhülltes Bild sich kaum mehr ertragen ließe: das
Altern der Neuen Musik konstatieren, heißt nicht, es als zufällig
verkennen. (…) Vor hundert Jahren hat Kierkegaard als Theologe
davon gesprochen, dass dort, wo einmal der furchtbare Abgrund
gähnte, nun eine Eisenbahnbrücke gespannt sei, von der die Reisenden behaglich in die Tiefe hinunterblicken. Nicht anders steht es
um die Musik. Selbst wenn die geschichtliche Gewalt, die es dahin
bringt, so übergroß wäre, dass sie den Widerstand zur Vergeblich-
Ausgabe LXXVII • April 2O14
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
keit verurteilte, ist wenigstens die Illusion zu zerreißen,
solche Kunst wäre noch das, wofür sie sich hält und
wofür sie inmitten eines aufs Mitmachen geeichten
Betriebs immer noch gilt.“
TA, Dissonanzen, S.104
Es liegt mittlerweile schon mehr als eine Generation zurück, dass ein Utopos für ein Überleben
der menschlichen Gesellschaft gedacht und artikuliert worden ist, ein (Über-) Lebensmodell, das als ein
neuer Begriff in den Diskurs eingebracht wurde und dabei sich
selbst zu seiner Verwirklichung voraussetzt: die Soziale Plastik
als Vision gesellschaftlichen Miteinanders, die Denken ist.
„Das Denken = Plastisch
Das Konzept der „Plastik“ offenbart sich wie eine zeitlich konzentrierte Substanz, die zwischen zwei Pole gespannt wird: der erste
Pol ist der der Form bzw. der Idee, der zweite der der reinen Kraft.
Hiermit möchte ich klarmachen, dass man es – wenn man sich die
Soziale Plastik wie eine Idee vorstellt – mit einer Form zu tun hat,
die auch durch Konzepte beschrieben werden kann. So wie Beuys
das immer demonstriert hat, und auf die wir in dem Maße zusteuern müssen, als sie ein zu erreichendes Ziel darstellt. Wenn man von
„Sozialer Plastik“ spricht, spricht man von einer noch nicht existierenden Plastik, bzw. von einer Plastik, die in jedem Menschen
potenziell vorhanden ist; (…) Außer diesen beiden Polen existiert
auch noch ein dritter: das Element der Bewegung.
Jedem dieser drei Elemente ist eine besondere Stellung des Menschen
zugeordnet, der immer als Künstler betrachtet wird.
Erster Punkt: Der Künstler (=Mensch) kann in einer zukünftigen
Sozialen Plastik selbstbestimmend produzieren und leben.
Zweiter Punkt: Der Künstler (=Mensch) verfügt durch sein Selbstbewusstsein über den Willen, die Soziale Plastik zu organisieren.
Dritter Punkt: Der Künstler (=Mensch) verfolgt den in dieser
Hinsicht notwendigen Ansatz und weiß, wo er hin will, er ist also
derjenige, der die Methode kennt
(…) Der Ort dieser Idee der „Plastik“ ist also der Mensch selbst,
oder genauer gesagt, das Denken. Diese Idee vergegenwärtigt sich
im Denken, das auch den Ursprung des erweiterten Kunstbegriffes
darstellt.“
JS in: LdDD, Beuys Voice, S.584/85
Und hier treffen sich auch Beuys und Adorno: beim Denken.
Beide konstatierten bereits ein Stadium der gesellschaftlichen
Entwicklung, das absehbar in ein finales übergehen wird, wenn
ihr nicht Einhalt geboten wird. (Inwieweit seither der Fortschritt
global vorangekommen ist, soll hier nicht erörtert werden.)
„…Wenn die Menschheit scheitert, wird die Natur ihre schreckliche Rache nehmen, eine entsetzliche Rache, die Ausdruck ihrer
Intelligenz ist und der Versuch sein wird, die Menschen durch das
Mittel der Gewalt zur Vernunft zu bringen. Wenn der Menschheit
nichts anderes übrig bleibt, als in ihrer Dummheit zu verweilen,
wenn sie nicht bereit ist, die Intelligenz der Natur anzuerkennen,
wenn sie sich weigert, mit ihr zusammen zu arbeiten, wird die
ringgespräch über gruppenimprovisation
Natur mit Gewalt reagieren, um die Menschen dazu zu zwingen, einen anderen Weg einzuschlagen. Wir sind an einem
Punkt angekommen, an dem wir eine Entscheidung treffen müssen. Entweder wir treffen sie, oder wir treffen sie
nicht. Und wenn wir sie nicht treffen, werden wir einer
Reihe enormer Katastrophen ins Auge sehen müssen, die
jede Ecke des Planeten heimsuchen werden. Aber jetzt,
für eine gewisse Zeit noch, haben wir die Gelegenheit, zu
einer freien Entscheidung zu gelangen; die Entscheidung,
einen anderen Weg zu gehen als den, den wir in der Vergangenheit eingeschlagen haben. Wir können uns jetzt noch dazu entschließen, unsere Intelligenz auf die der Natur abzustimmen.“
JB, 13.05.1984, LdDD, Beuys Voice, S.31/32
Von Beuys jedenfalls ist überliefert, dass er in den 1980er Jahren dazu aufgerufen hat. Ein Auszug dieses Aufrufs und andere richtungsweisende Aussagen zur Perspektive der kulturellen
und politischen Dimension von Improvisation finden sich als
Zitate in dieser Textsammlung: gültige Originalgedanken anstelle von bemühten Neuformulierungen.
AUFRUF ZUR ALTERNATIVE
Joseph Beuys, 23.Dezember 1978
(…) Der Mensch „…ist der Bildner der SOZIALEN PLASTIK und nach seinem Maß und
seinem Wollen muss der soziale Organismus eingerichtet sein.
1. Er will seine Anlagen und seine Persönlichkeit FREI ENTWICKELN und seine Fähigkeiten in Verbindung mit den Fähigkeiten
seiner Mitmenschen FREI für einen als SINNVOLL erkannten
Zweck einsetzen können.
2. Er erkennt jede Art von Privileg als untragbare Verletzung der
demokratischen Gleichberechtigung. Er hat das Bedürfnis, als mündiger Mensch hinsichtlich aller Rechte und Pflichten – ob sie in
einen wirtschaftlichen, sozialen, politischen oder kulturellen Zusammenhang gehören – als GLEICHER UNTER GLEICHEN zu
gelten und am demokratischen Vereinbaren auf allen Ebenen und
in allen Bereichen der Gesellschaft mitbestimmen zu können.
3. Er will SOLIDARITÄT SCHENKEN UND SOLIDARITÄT
IN ANSPRUCH NEHMEN. Es mag vielleicht bezweifelt werden,
dass darin ein vorrangiges Grundbedürfnis des heutigen Menschen
zum Ausdruck kommt, weil der Egoismus das weithin dominante
Motiv im Verhalten der Einzelnen ist. Eine gewissenhafte Prüfung
zeigt jedoch etwas anderes. Zwar mag der Egoismus noch im Vordergrund stehen und das Verhalten bestimmen. Aber: ein Bedürfnis, ein angestrebtes Ideal ist er nicht. Er ist ein Trieb, der herrscht
und beherrscht. Gewollt jedoch ist: DIE GEGENSEITIGE HILFE
AUS FREIER ENTSCHEIDUNG. (…)
Wenn dieser solidarische Impuls als das menschliche und menschheitliche Ideal empfunden wird, dann stellt sich die Aufgabe, jene
Mechanismen, die aus den sozialen Strukturen heute den Egoismustrieb aktivieren, so umzuformen, dass sie den inneren menschlichen
Absichten nicht mehr entgegenwirken.“
JB LdDD, Beuys Voice, S. 40/41, 46/47
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Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
Kunst resp. Musik, die gesellschaftlich wirksam sein soll, muss
notwendig ihre Praxis auf Gesellschaft hin denken. Einmal erkannt habend, dass die Verhältnisse, so wie sie sind,
nicht bleiben können, also zu verändern sind,
kann sich eigentlich niemand zufrieden geben
mit einer Nische im etablierten Betrieb – sei es
der Kunst oder sonst wo. Ergo: Hinterfragung
der eigenen Lebensführung, des Umfelds, in
dem ich mich bewege, mit dem Ziel der Entwicklung solidarischer Bezugssysteme.
Eine strenge Forderung, gewiss, doch wird nicht
diese schon erhoben, sobald von Improvisation als Sozialer Kunst die Rede ist? Andernfalls wären all jene Bemühungen
um die Verbreitung von Improvisationsfertigkeiten reine Augenwischerei, denn es ginge um nicht mehr als das bloße Einüben von harmlosen Befriedungstechniken.
„Das Denken erlebt sich als musikalische Qualität, die ihm den
intimen Begriff vermittelt, dass alles Musik sei. Es erlebt sich selbst
als Musik, und indem es die Musik von innen hört, erlebt es einen
neuen Begriff von ihr, den neuen, auf alles erweiterten Musikbegriff, erlebt den Musikbegriff selbst, ihn, der alles umfasst. Klang,
Melodie, Rhythmus, Takt, Harmonie, Kontrapunkt, Dissonanz,
Akkord, Geschwindigkeit, Dauer, Stärke, Wiederholung, Maß,
Kraft, Pause und Zeit – allesamt musikalische Kategorien – beziehen sich, geradeso wie sie das Denken an sich selbst erfährt, wenn es
sich selbst zuhört, auf jeden Vorgang oder Zustand.“
JS: Musik für’s Denken, S.3/4
Selbstbestimmtes Denken als Voraussetzung und Substanz, als
Bewusstseinspraxis in der Vermittlung zwischen der schlechten
Wirklichkeit und einer ganzheitlichen, freien, gerechten und
solidarischen Zukunftsvision vermag allein, etwas zu bewegen.
„Wenn es nicht gelingt, die musikalische Energie als spirituelle Substanz aus dem Musik-Bereich herauszufiltern und sie in die Bereiche zu transportieren, wo allein sie verändern kann, weil jede
Veränderung des Ganzen durch sie, die Produktionsverhältnisse,
hindurch muss, dann bleibt die Musik in einem dem Denken entzogenen Bereich zurück und wird selbst unfruchtbar, weil ihre Ursprungsenergie verbraucht ist.“
JS, S.10
Jeder Impuls in einem improvisationsgeleiteten Prozess will
auf Sozialtauglichkeit hin befragt werden; dabei kommt es entscheidend auf den Abgleich zwischen den eigenen Bedürfnissen
und denen der Anderen an. Nur die komplexe Erfahrung des
Zusammenwirkens von Mitteilung und Teilhabe u n d
deren bewusstes Reflektieren ermöglichen die Erhaltung resp. Weiterentwicklung d e r überlebenswichtigen Humaneigenschaft, die aktuell - zumal unter
der gleichschaltenden Vorherrschaft des inflationären
Massenkonsums digitaler Medien - sukzessive und irreversibel verloren zu gehen droht: Empathiefähigkeit
ist nicht angeboren, sie muss sich entwickeln können,
muss geübt werden können.
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In Gruppen zu improvisieren ist das Mittel der Wahl - wirksam
aber nur, wenn die alltägliche Lebenswirklichkeit der Beteiligten nicht ausgeblendet, abgespalten wird. Beuys´- auf das
menschliche Potenzial zielender Satz - „Jeder Mensch ist
Künstler (von ihm selbst auch zu „Jeder Mensch ist
Musiker“ modifiziert) nimmt uns hier in eine Verantwortung, die nicht überbewertet werden kann.
„Der Künstler spielt im gegenwärtigen sozialen Wandel
eine Schlüsselrolle. Eine Verantwortung, die das eigene
grundsätzliche Bedürfnis veranschaulicht. Eine Macht,
die die Menschen erfasst, festhält und formt. Das ist die Aufgabe des Künstlers, weil die Kunst sich aus dem ernährt, was die
Gesellschaft verurteilt, ausschließt, beiseite schiebt und vergisst. (..)
Künstler ist derjenige, der die Kunst zum Angelpunkt unseres Lebens macht, eine Funktion, die vor allem unsere Art zu leben, zu
denken und zu sehen verändert.“
JB, LdDD, Beuys Voice, S.32/33
Obgleich auch der Begriff der Authentizität mittlerweile sprachlich korrumpiert ist, scheint damit noch am ehesten bezeichenbar, was mit dem „erweiterten Kunstbegriff“ im Kern gemeint
ist und warum Improvisierte Musik mit der ihr immanenten
Aufforderung zu authentischer Resonanz für dessen Ausbildung
taugt.
Wenn „Künstlersein“ Ausdrucksfähigkeit meint, die das soziale
Wesen des Menschen unverfälscht zu Geltung und Blüte bringt,
ist Improvisierte Musik als prozesshaft offene Kunstform genauer Ausdruck
des Sozialen, prädestiniert, dem
„erweiterten Kunstbegriff“ eine
erste, flüchtige Gestalt zu geben.
Darüber hinaus kann sie, indem
sie sich den Widersprüchen des
Kunstbetriebs stellt, die Trennung
zwischen Kunst und Alltag hinterfragen resp. überwinden.
Für die Aufführungspraxis kann das Erproben neuer Formate,
neuer Orte in der Konsequenz durchaus die Abkehr vom konventionellen Konzertbetrieb bedeuten und so der Scheinwelt
dieses Kunstbetriebs ganz im Sinne sozial-plastischen Denkens
tragfähige Alternativen entgegensetzen.
Musikalische Gruppenimprovisation ist ebenso als Modell für
das alltägliche Sozialverhalten der Aktiven untereinander unmittelbar anwendbar wo – durchaus als Bekenntnis zu einer politischen Kultur notwendiger, solidarischer Auseinandersetzung
– vor allem Konfliktbereitschaft dem Konfrontationsgebot vor dem Harmoniebedürfnis den Vorrang geben
sollte.
„Die Rebellion gegen den Schein, das Ungenügen der
Kunst an sich selber, ist als Moment ihres Anspruchs auf
Wahrheit intermittierend seit unvordenklichen Zeiten
in ihr enthalten gewesen. Dass Kunst aller Materialien
von je Verlangen nach der Dissonanz trug, dass dies Verlan-
Ausgabe LXXVII • April 2O14
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
Literatur:
Theodor W. Adorno (TA), Das Altern der Neuen Musik, in:
Dissonanzen, (1956), Vandenhoeck & Ruprecht
Theodor W. Adorno (TA), Ästhetische Theorie, Ges. Schriften
Band 7, (1970), Suhrkamp, Frankfurt/Main
Lucrezia De Domizia Durini (LdDD), Beuys Voice (2011),
Mondadori Electa, Milano
Elke Schipper (ES), Ins Offene – über die Wirklichkeit einer
musikalischen Utopie des Entgrenzens (1994), edition explico,
Hannover
Johannes Stüttgen (JS), Musik für’s Denken, Vorbereitung für
eine Betrachtung des Musikbegriffs auf der Grundlage des von
J. Beuys entwickelten „erweiterten Kunstbegriffs“ (1980/81),
FIU Verlag
gen niedergehalten wurde nur von dem affirmativen Druck der
Gesellschaft, mit dem der ästhetische Schein sich verbündete, sagt
das Gleiche. Dissonanz ist soviel wie Ausdruck, das Konsonierende, Harmonische will ihn besänftigend beseitigen. Ausdruck und
Schein sind primär in Antithese.“
TA, Ästhetische Theorie, S.168
So verstanden ist die Synthese von sozial-plastischem Denken
und der Praxis der Improvisation nahe liegende Konsequenz
und entspricht (analog etwa zur Forderung nach dem bedingungslosen Grundeinkommen für alle) einem prinzipiell nach
Entfaltung utopischer Potenziale strebenden Menschenbild.
„Die einzig revolutionäre Kraft ist die Kraft der menschlichen Kreativität“.
JB LdDD, Beuys Voice, S.30
ringgespräch über gruppenimprovisation
Wolfgang Schliemann, *1956, betreibt als Perkussionist und
Performer die Kunst des Schlagzeugspiels als fortgesetztes Projekt
erweiterter Möglichkeiten. Seine radikale Spielauffassung
(:alles, was klingt, kann auch Musik werden) schlägt sich in der
Praxis vorwiegend freier Improvisation nieder. Demgegenüber
stehen medienübergreifende Projekte unterschiedlicher
Präsentationsformen – Aufführungen wie Installationen – mit
einem sich ständig verändernden und wachsenden Fundus
von Instrumenten und Klangobjekten. Außer auf zahlreichen
CD-Veröffentlichungen ist er in Konzerten mit MusikerInnen
der europäischen Szene zu hören; Mitinitiator von ARTist –
Musik zur Zeit, des HumaNoise congress – Tage zeitgenössischer
Improvisierter Musik Wiesbaden und der Landesarbeitsgemeinschaft
Improvisierte Musik Hessen sowie Mitglied mehrerer sich
überregional vernetzender Organisationen; langjährige Tätigkeit
als Instrumentallehrer, Dozent für Gruppenimprovisation in
Kursen/Workshops sowie als Kurator.
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Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
Improvisation – Spielraum utopischen Handelns
von Matthias Schwabe, Berlin
I. Improvisation als künstlerische (Lebens-) Praxis
1. Individuum und Kollektiv
Künste sind Probierräume, Orte von Utopien und häufig auch
Orte politischer Auseinandersetzung. In Literatur, Theater, Film
kann Realität erprobt werden, können Herrschaftsstrukturen
entlarvt, politische Systeme bloßgestellt oder propagiert, Ideen
proklamiert werden. Wie diese Werke zustande gekommen sind,
ist allerdings nicht Bestandteil der Utopie. Brechts diverse Frauen
hatten angeblich großen Anteil an seinen emanzipatorischen Werken, aber er hat stets nur unter seinem eigenen Namen publiziert.
Und wenn in Beethovens Neunter alle Menschen Brüder werden,
steht bisweilen ein tyrannischer Dirigent am Pult, der die Musiker
in den Proben bis zur Schmerzgrenze gedemütigt hat.
Was mich in den letzten Jahren am meisten fasziniert hat, ist
die Beobachtung, dass der seit vielen Jahrzehnten politisch hoch
gekochte angebliche Gegensatz zwischen individuellen und kollektiven Interessen in der freien Improvisation aufgelöst wird.
Eine ästhetisch überzeugende Improvisation ist immer das kollektive Produkt einer Gruppe ausgeprägter Individuen. Beides ist
gleichermaßen unverzichtbar: das Kollektiv ebenso wie das Individuum. Beides gegeneinander auszuspielen ist in der Improvisation kontraproduktiv. Vielmehr findet eine ständige Rückkopplung zwischen Individuum und Kollektiv statt. Die individuellen
kreativen Beiträge sind nur dann musikalisch sinnvoll, wenn sie
sich in das musikalische Ganze – also das kollektive Produkt –
sinnvoll einfügen. Das musikalische Ganze / kollektive Produkt
braucht im Gegenzug die Initiativen der Individuen und bietet
zugleich Inspiration für die Beiträge der Einzelnen. Vielleicht ist
es sogar ganz falsch, die beiden Begriffe Individuum und Kollektiv überhaupt zu benutzen, weil sie eine Trennung implizieren,
die in der Praxis nicht vorhanden ist. Ganz bei sich sein in der
Gruppe ist beim Improvisieren eigentlich ganz einfach.
In der Improvisation ist das anders. Hier sind der Prozess
des Entstehens, die Haltung und das Handeln der SpielerInnen das eigentlich utopische Moment. Und mehr noch
– das Gelingen dieses utopischen Handelns ist eine wichtige Voraussetzung für die ästhetische Qualität der entstehenden Musik. Das ästhetische Resultat ist sozusagen die Probe aufs Exempel für das Gelingen des utopischen Handelns.
In der Improvisation wird Utopie also nicht erdacht und beschrieben, sondern sie wird exemplarisch umgesetzt. Dies geschieht zugegebenermaßen in einem künstlichen Raum. Aber
immerhin: es geht um reales Handeln und nicht um Fiktion!
Worin besteht nun aber der utopische Charakter improvisatorischen Handelns?
Improvisation im Ensemble ereignet sich in einem selbstbestimmten musikalischen Gruppenprozess unter gleichberechtigten (nicht gleichen) SpielerInnen, die darauf vertrauen, dass die
Synergie der Gruppe mehr kreatives Potential besitzt als jede/r
Einzelne, die ihre eigenen kreativen Impulse in den Dienst des
Gruppenprozesses stellen und in diesem Sinne handeln, die entsprechend auch bereit sind, sich zurückzunehmen, wenn der
musikalische Prozess dies erfordert. Voraussetzung dafür ist eine
Haltung hoher Aufmerksamkeit und Reaktionsbereitschaft sowie Offenheit für das, was die jeweilige Situation erfordert.
Die zentralen Themen dieses improvisatorischen Handelns
möchte ich genauer beschreiben:
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Voraussetzung ist dabei aber, dass jede/r Einzelne bereit ist auf
individuelle Anerkennung zugunsten einer Anerkennung für
das gesamte Kollektiv zu verzichten. Wenn ich mich individuell
produzieren will, setze ich die Qualität des ästhetischen Resultats aufs Spiel.
Jenseits der politischen Differenzen zwischen individualistischen und kollektivistischen Konzepten handelt es sich dabei
auch um ein Thema aus der Alltags-Psychologie. Wie kann ich
meine eigenen Interessen und Impulse mit denen einer sozialen
Gruppe in Einklang bringen? Und anders herum: Wie kann ich
auf andere eingehen und dennoch bei mir selbst bleiben?
2. Kompetentes selbstbestimmtes Handeln ohne Führung
Freie Improvisation gelingt dann, wenn individuelle Kompetenzen sich in einem kollektiven kreativen Prozess gegenseitig befruchten und befeuern, so dass die Fähigkeiten der Einzelnen sich
nicht addieren, sondern multiplizieren. Dieser Prozess geschieht
Ausgabe LXXVII • April 2O14
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
vollkommen ohne Führung – zumindest während des Spiels.
Improvisation braucht nicht nur keine Führung, vielmehr würde Führung den interaktiven Prozess unterwandern und so ein
Gelingen verhindern. Selbstverständlich können einzelne Stimmen temporär in den Vordergrund treten, entscheidend ist aber,
dass der Gesamtprozess sich aus der Interaktion entwickelt und
nicht von einer festgelegten Führungsstimme dominiert wird,
die eine echte Dynamik des Prozesses verhindern würde. Dass
dies ästhetisch überzeugender ist, gilt übrigens auch in komponierter Musik. So wird in der Geschichte des Streichquartetts die
Entwicklung weg von der führenden 1. Violine hin zur Gleichberechtigung aller Stimmen als wichtiger Fortschritt betrachtet.
Als Spieler heißt das für mich, dass es vor allem darum geht, den
Prozess zu fördern, wodurch auch immer: durch Impulse oder
Zurücknahme, durch Unterstützung oder Provokation. Im Prozess selbst stellt sich die Frage allerdings häufig gar nicht, weil
Handeln dann einfach nur logisch erscheint.
3. Die kreative Genialität der Gruppe
ersetzt in dieser Vorgehensweise das traditionelle Bild vom individuellen Genie. Die Naturwissenschaften haben das längst
für sich entdeckt. Dort forscht man in Teams, teilweise über
Länder- und sogar Erdteilgrenzen hinweg, was alljährlich bei
der Verleihung der Nobelpreise evident wird. Den Nobelpreis
für Literatur erhalten dagegen immer nur Einzelpersonen. In
den Künsten gilt nach wie vor die Vormachtstellung des individuellen Genies.
4. Die Suchbewegung als Ausgangspunkt
Improvisieren bedarf der Suchbewegung von Seiten der SpielerInnen. Als improvisierender Musiker handle ich nicht aus einer Position der Kontrolle und Sicherheit, sondern ich begebe
mich immer wieder von neuem auf eine Expedition, die mich
in unbekanntes Terrain führen, mich mit neuen Erfahrungen
konfrontieren kann (und soll). Wenn ich bereit bin, mich wirklich auf den musikalischen Prozess und die Aktionen meiner
MitspielerInnen einzulassen, ergeben sich von ganz allein neue
Wege, Klänge und Lösungen.
Natürlich ist es möglich, mit eingeübtem und kontrolliertem
Vokabular zu improvisieren. Besonders groß ist die Versuchung,
bewährte „Tricks“ immer wieder auszuspielen. Dabei kann
durchaus „gut gemachte“ Musik entstehen, aber – so glaube
ich zumindest – niemals wirklich fesselnde. Abgesehen davon
verdient eine solche Musizierweise wohl kaum die Bezeichnung
„Improvisation“ im Sinne von „Unvorhergesehenem“.
Ich bin übrigens der Meinung, dass diese Suchhaltung von gesellschaftlich großer Relevanz ist. Sie ist das Gegenteil der „So ist
es!“-Haltung. „So ist es!“ unterstellt absolutes Wissen und unterbindet jede Form von Hinterfragung. „Darauf müssen wir nicht
mehr schauen, darüber müssen wir nicht mehr nachdenken,
darüber brauchen wir nicht mehr diskutieren.“ Diese Haltung
ringgespräch über gruppenimprovisation
steht für Unangreifbarkeit, das macht sie so attraktiv. Wer die
Suchbewegung vertritt, macht sich hingegen angreifbar. Dafür
winken als Gewinn neue Erkenntnisse und Weiterentwicklung.
5. Wachheit, Wahrnehmung, Offenheit
Eine suchende Herangehensweise bedarf großer Wachheit und
Aufmerksamkeit, bedarf der intensiven Wahrnehmung all dessen, was um mich herum ist bzw. geschieht und der Offenheit
für alles, was jetzt passieren könnte.
Musik (und eigentlich das ganze Leben) aus einer Haltung der
Wahrnehmung und der Offenheit heraus zu entwickeln, ist eines der zentralsten und auch faszinierendsten Merkmale des improvisatorischen Ansatzes. Ich handle nicht nach vorgegebenen
Mustern und Gebräuchen, sondern entwickle mein Tun aus einem Gefühl dafür, was einer Situation wirklich angemessen ist.
6. „Ökologisch“ agieren
Wenn ich beim Improvisieren wirklich aus der Wahrnehmung
meines Umfeldes heraus agiere, dann bedeutet das, dass ich mit
dem Vorgefundenen umgehe und korrespondiere, anstatt ihm
meinen Willen aufzuzwingen. Das vielleicht deutlichste Beispiel
dafür ist die Raumakustik. Als Improvisationsmusiker habe ich
die Möglichkeit, mich auf deren Besonderheiten einzustellen,
ihre speziellen Chancen zu nutzen, meine Musik so zu erfinden, dass beides, Musik und Akustik, sich optimal miteinander
verbindet.
Ein solches konstruktives Umgehen mit der umgebenden Umwelt bezeichne ich als „ökologischen“ Ansatz.
Natürlich kann ich auch darauf insistieren, dass ein Raum so
klingen soll, wie ich ihn haben möchte. Dann nivelliere ich die
akustischen Besonderheiten und mir entgeht die Chance, Neues
zu erfahren.
7. Vertrauen
All die genannten Aspekte verlangen von mir als Musiker die
Bereitschaft, mich „anders“ zu verhalten. Das setzt voraus, dass
ich Vertrauen in diese andersartige Verhaltensweise habe, dass
ich von seinem Sinn und seiner Wirkung überzeugt bin. Nur
dann kann ich mich wirklich darauf einlassen – und letztlich
auch nur dann Sinn und Wirkung erleben.
Zwischenbemerkung
Ich bin weit davon entfernt zu behaupten, dass jemand, der sich
auf improvisatorische Praxis mit all den beschriebenen Merkmalen einlässt, in der Lage ist, auch im alltäglichen Leben so zu agieren. Improvisation ist ein künstlicher Raum. Aber es ist dennoch
ein besonderes Erlebnis, innerhalb eines solchen Raumes eine
Form utopischen Handelns tatsächlich umzusetzen, seine Wirksamkeit praktisch zu erleben. Ein Handeln wohlgemerkt, dessen
Realisierbarkeit viele Menschen schlicht abstreiten würden.
43
Thema: Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation
Ob damit Improvisation eine Art „politische Haltung“ ist oder
doch eher das Verlagern utopischen Handelns auf einen „ungefährlichen“ Spielraum („Wegen ungünstiger Witterung fand die
deutsche Revolution in der Musik statt“ lästerte Tucholsky) oder
ob gar improvisatorische Musikpraxis bei manchen MusikerInnen
Kompensation für einen ganz und gar unimprovisatorischen Lebensstil ist, darüber läst sich trefflich streiten.
In einem anderen Bereich, mit dem ich mich intensiv beschäftige, nämlich dem pädagogischen, hat Improvisation jedoch sehr
deutliche Auswirkung auf die Lebensrealität der am Lernprozess
Beteiligten. Dies möchte ich nachfolgend erläutern.
II. Improvisieren lernen als (musik-) pädagogischer Ansatz
In der Frage des Lehrens und Lernens ist der improvisatorische
Ansatz mehr als nur eine methodisch-didaktische Sonderform.
Vielmehr geht es um eine grundlegend anders geartete Haltung,
weil das Bild vom Schüler ein anderes ist. Im Mittelpunkt steht
nicht der kompetente Lehrer, der dem unwissenden Schüler etwas beibringt, sondern vielmehr der kompetente Lernende, der
in einem Prozess des eigenständigen Entdeckens seine eigenen Potentiale freisetzt. „Lehren“ heißt hier, Probier-Räume zu schaffen,
darin Prozesse anzustoßen und Entwicklungen zu begleiten.
Während in der konventionellen Musikpädagogik bestimmte
musikalische Teil-Leistungen (insbesondere die Fähigkeiten, eine
Melodie nachzusingen und ein Metrum zu erkennen bzw. einzuhalten) als Gradmesser für Musikalität gelten, aufgrund derer die
sogenannten „Unmusikalischen“ von der weiteren musikalischen
Praxis ausgeschlossen werden bzw. sich selbst schamvoll ausschließen, sucht ein improvisatorischer Ansatz, der sich einem erweiterten experimentellen Musikbegriff verpflichtet fühlt, die musikalischen Potentiale auf einer viel grundlegenderen Ebene. Hier geht
es darum, Menschen die Gelegenheit zu geben, ihren „KlangSinn“ zu entdecken, d.h. ihre Lust am Klang, am Finden von
Klängen, am Spielen mit Klängen, am Er-Lauschen von Klängen,
am Mischen und Kombinieren von Klängen. Und damit ist auch
schon der zweite Schritt beschrieben: den Prozess des eigenständigen Erforschens zu begleiten. Dafür gibt es ganz unterschiedliche methodische Ansätze: vom Spielregel geleiteten Improvisieren
über das freie Improvisieren mit anschließender Reflexion bis zum
Improvisieren ohne jegliche kognitive Aufarbeitung. Die Grundhaltung ist aber dieselbe: wir erforschen gemeinsam die Musik.
Einige wichtige Merkmale solcher Lernvorgänge sind:
—Als Schüler lerne ich aus eigener (!) Erfahrung und dem
Austausch darüber mit anderen
—und werde als kompetenter Lernender anerkannt
—insbesondere als Person mit kreativen Fähigkeiten (die ich
vielleicht selbst bisher noch nicht kannte).
—Von Anfang an steht der lustvolle Umgang mit Klingendem
44
im Mittelpunkt. Alte (und immer noch weit verbreitete)
Ideologien wie „Ohne Fleiß kein Preis!“ oder „Erst die Arbeit,
dann das Vergnügen!“ haben hier keine Gültigkeit.
—Forschendes (experimentelles) Lernen baut auf intrinsischer
Motivation auf. Extrinsische Motivationsmaßnahmen wie
Belohnungen sind eher Misstrauensbeweise oder aber die
Kapitulation vor einem nicht gelungenen Prozess
—Anstelle der derzeit populären Parole für Lehrerverhalten
„fordern und fördern“ würde ich für improvisatorisches Lernen
formulieren: „zutrauen und begleiten“. Ich traue einer Gruppe
etwas solch Anspruchsvolles zu wie das kollektive Erfinden
von Musik. Das ist dem Fordern nicht unähnlich, aber meine
innere Haltung als Lehrender ist eine andere, nämlich eine
ermutigende.
—Misslungenes gehört zum Lernprozess wie das Salz zur
Suppe. Aus Fehlern lässt sich hervorragend lernen. Unter
anderem auch genau dies: dass Misslungenes nichts ist, was
es zu verbergen gilt (weshalb ich wohlgemerkt auch als Lehrer
„Fehler“ machen und zugeben darf ).
Natürlich kommen dazu auch all die unter der künstlerischen
Praxis genannten Aspekte, die als besondere Handlungsformen
beim Improvisieren erfahren werden. Das befreiende Moment ist
aber in der pädagogischen Arbeit real. Hier befreien sich Menschen von Ängsten und Komplexen, lernen eigene (bisweilen
verborgene) Fähigkeiten kennen und erhalten ganz konkret Zugang zu Musiziermöglichkeiten, die ihnen vorher verwehrt waren.
Deshalb ist es nicht übertrieben zu sagen: hier findet tatsächliche
Emanzipation statt!
Wenn wir über die politischen Dimensionen von Improvisation
sprechen, sollten wir daher die pädagogische Seite nicht aus dem
Blick verlieren. Und wenn wir Improvisation betreiben, weil wir davon überzeugt sind, dass es andere und sinnvollere Verhaltensweisen
gibt als die immer noch und immer wieder gängigen des „Sich-gegen-andere-Durchsetzens“ – mit allen daraus folgenden Handlungsformen – , dann müssen wir ganz unbedingt die improvisationspädagogische Arbeit in unsere Aktivitäten mit einbeziehen!
Matthias Schwabe, *1958, studierte Komposition und Musiktheorie in Karlsruhe und Hamburg. Ausbildung und Mitarbeit
bei Lilli Friedemann in Musikalischer Gruppenimprovisation.
Seit 1984 freiberuflich tätig in Berlin als Komponist, Improvisationsmusiker, Musikpädagoge und Musikpädagogik-Autor.
Gründungsmitglied des Improvisationsensembles Ex Tempore.
Fortbildungstätigkeit im Bereich kreativer Musikpädagogik im
In- und Ausland. Lehraufträge am Sozialpädagogischen Institut
Berlin und an der Universität der Künste Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen über musikalische Improvisation und Kreativität.
Gründer und Leiter des exploratorium berlin.
Ausgabe LXXVII • April 2O14
Ausbildung
Ausbildung
Contemporary Improvisation –
Master Studyprogram in Estonian Academy of Music and Theatre.
by Anto Pett, Professor of contemporary improvisation at Estonian Academy of Music and Theatre, Tallin
In 2011 the Estonian Academy of Music
and Theatre [EAMT] opens the possibility to get a master degree in Contemporary Improvisation.
Why do we need this and what can
be studied in this program?
We have an improvisation study in
the curriculum of EAMT, Tallinn,
since 1988 and it was step by step developing towards a more professional music making level, regular improvisation concerts (by students
and teachers) and researches about this field during these 23
years and it was a logical outcome to open the speciality of improvisation for these musicians, who were interested in developing themselves in this topic more professionally.
There is also a possibility to make an artistic PhD research in the
field of improvisation at EAMT.
We call the improvisation master program contemporary, to
show the openness for all music styles. There are now, in Jan.
2014, 10 master-students in this study program and they all
have very different backgrounds: classical-, jazz- and folk musicians, theatre- and even modern dance-artists.
The only demand for actors and dancers is, that there should be
combined the musical / sounds improvisation (which we regard
as essential, at least in the study period) with their own specific
fields and expression techniques.
We emphasise especially the social ability to communicate with
other musicians (i.e. to play together, to create different ensembles) and also cooperating with other art fields: actors, dance,
multimedia, visual-art etc. This kind of skills and ability can
really open many new doors for young artists!
On the other side it is also very important to develop solo performance skills.
It is clear, that it is not enough or can be a limited approach,
if the students study 2 years only with these two professors.
Therefore we have created many international connections
with other improvisation-artists and -schools. There are regular
masterclasses, for example – with Christoph Baumann (Musikhochschule Luzern) and Alfred Zimmerlin (Hochschule für Musik
Basel) and lot of other improvising artists and teachers.
In the future we will hope to create more intensive co-operation
between the improvisation master programs with different European Music Academies and Conservatories.
Interest has been aroused and first steps in this direction are
already made, there are more than 10 schools that would like to
cooperate in these fields.
On the Youtube channel for free improvisation – apett2001 –
you can find all final exams of EAMT’s improvisation master
students and many other performances, students international
meetings and improvisation-artists / -teachers and videos.
There are two leading professors, who guide this study program,
Anne-Liis Poll, singer, who teaches voice improvisation and
Anto Pett, pianist, who teaches instrumental improvisation. All
improvisation master students can have individual lessons every
week by both professors and the same with group lessons during
the two years course.
The aim of the master program is to supply the students with tools
and knowledge, how to develop themselves in a more professional
way within this direct, open creative, self expressing process and
also experience skills to communicate with other artists as well as
pedagogical / teaching knowledge concerning improvisation.
ringgespräch über gruppenimprovisation
45
Forschung
Forschung
Teilhabe / Partizipation und Selbstorganisation bei Gruppenimprovisation?
Erste Befunde aus einem laufenden Forschungsvorhaben
von Verena Seidl, München
Auf die Frage, ob Partizipation und Selbstorganisation Erfahrungen sind, die beim Improvisieren in der Gruppe gemacht
werden können, lassen sich aus einem aktuell laufenden musikpädagogischen Forschungsvorhaben heraus erste Antworten geben. Dabei geht es darum, ob oder inwieweit davon gesprochen
werden kann, dass Musiklernen durch Gruppenimprovisation1
geschieht, bedacht wird oder als Absicht intendiert ist.
Dazu werden derzeit in einer Text- und Interviewstudie ausgewählte Gruppenimprovisationskonzeptionen sowie eigens
durchgeführte Leitfadeninterviews ausgewertet, in denen Überlegungen zum Musiklernen durch welche die Gruppenimprovisation Anleitenden erfragt wurden. Die bislang abgeschlossenen
Auswertungen und eine neuerliche Durchsicht der vorliegenden
Datencorpora lassen sich für eine Antwort auf die oben genannte
Frage nutzen bzw. für Hinweise zur Thematik Teilhabe / Partizipation und Selbstorganisation im Zusammenhang mit Gruppenimprovisation.
Im Folgenden werden zunächst in einem ersten Abschnitt – nach
einer ausführlichen Orientierung – die Begriffe Teilhabe / Partizipation mit relevanten Textstellen aus den Datencorpora in
Beziehung gesetzt. Danach folgt im zweiten Teil des Artikels auf
eine Verortung des Begriffs der Selbstorganisation wiederum die
Verknüpfung mit ausgewähltem Datenmaterial, bevor schließlich in einem Fazit die wichtigsten Aspekte zusammengefasst
werden.
I. Teilhabe / Partizipation
Grundsätzlich wird der Begriff Teilhabe bzw. der in synonymer
Bedeutung gebrauchte Begriff der Partizipation aus unterschiedlichen Blickrichtungen genutzt.
Aus einer Perspektive, die als ‚politische‘ charakterisiert werden könnte, bietet zunächst der Bundeskongress für politische
Bildung als erste Definition für Partizipation folgende Formulierung: „[...] Partizipation bezeichnet die aktive Beteiligung
der Bürger und Bürgerinnen bei der Erledigung der gemeinsa1 In meinen weiteren Ausführungen verstehe ich unter Gruppenimprovisation pädagogische Gruppenimprovisationen, d. h. die Differenzierung der Akteure in Anleitende und Teilnehmende.
46
men (politischen) Angelegenheiten bzw. der Mitglieder einer Organisation, einer Gruppe, eines Vereins etc. an den gemeinsamen
Angelegenheiten.“2 Diese Formulierung scheint als Merkmal von
Partizipation in Gruppenimprovisationssituationen brauchbar,
wenn dort das Musizieren, Entwickeln von Spielregeln usw. als
gemeinsame Angelegenheit explizit erfasst, d. h. benannt wird.
Wird die Gemeinsamkeit nicht explizit gefasst und geäußert,
ist sie nicht beobachtbar. Jedoch scheint der Aspekt expliziter
Gemeinsamkeit die Qualitäten innerhalb einer Gruppenimprovisation nicht umfassend darzustellen.
Pädagogisch und zugleich soziologisch dimensionieren Hazibar und Mecherli Partizipation. Ihnen zufolge muss der Begriff
Teilhabe, wird er pädagogisch verwendet, zugleich gesellschaftliche Kontexte berücksichtigen. Teilhabe ermöglichen heiße –
nicht nur im Zusammenhang mit Inklusion - der „Abbau von
Zugangsbarrieren zu gesellschaftlich relevanten Räumen [...]“3.
„Teilhabe am gegebenen gesellschaftlichen und kulturellen Leben
bedeutet insofern auch immer ein Einstimmen in gesellschaftlich
herrschende Grundprinzipien. In gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen wird die Frage, wer als mit Selbstbestimmungs- und
Teilhaberechten ausgestattetes Subjekt gilt und als solches nicht
nur agieren kann, sondern sich als agierendes Subjekt zu verstehen lernt, über differentielle Adressierungen als zurechnungsfähiges, intelligibles Subjekt hergestellt.“4 Diese Überlegung lässt sich
auf Gruppenimprovisation übertragen, denn Gruppenimprovisation ermöglicht es ihren Teilnehmern, an der bestehenden
Musikkultur teilzuhaben, in dieser zu agieren und sich als agierendes Subjekt zu erleben, da ein dezidiertes Vorwissen nicht
erforderlich ist, sieht man von einer gewissen Bereitschaft zum
Improvisieren ab.
Musikpädagogisch werden die Begriffe Teilhabe / Partizipation
von Heinz Geuen und Stefan Orgass im Kontext von Überle2www.bundeskongress-partizipation.de/wiki/index.php/Was_ist_Partizipation%3F
(zugegriffen am 11.11.13)
3Es gibt keine richtige Pädagogik in falschen gesellschaftlichen Verhältnissen.
Widerspruch als Grundkategorie der Behindertenpädagogik, in: Zeitschrift für
Inklusion Nr. 1, 2013, www.inklusion-online.net/index.php/inklusion/article/
view202/183 (zugegriffen am 11.11.2013).
4Ebd.
Ausgabe LXXVII • April 2O14
Forschung
gungen zu Kompetenzen und Bildungsstandards für das Unterrichtsfach Musik genutzt. Unter den von ihnen im Titel ihres Buches angeführten drei Merkmalen von Musikunterricht,
Partizipation, Relevanz und Kontinuität stellen sie den Begriff
Partizipation aus neurobiologisch-kognitivistischer, kulturalistischer und politischer Perspektive dar. Neurobiologisch-kognitivistisch realisiere sich Partizipation bei der Konstituierung
musikalischer Gegenstände5, insofern solche „nicht nur in der
Assimilation oder in der Akkommodation musikalischer und musikbezogener Schemata im Abgleich mit einem jeweils wahrgenommenen musikalischen oder musikbezogenen Phänomen [geschehe],
sondern bereits auch in der spontanen emotionalen Bewertung des
zu Hörenden, letzteres allerdings in vorbewusster Form“.6 In kulturalistischer Hinsicht geschehe Partizipation, da „Musikkultur
als Handlungs- und Interaktionsprozess zu verstehen [ist], in dem
der Sinn von Musik bestimmt wird“7 und insofern sei dieser Sinn
situationsbedingt veränderbar.8
Schließlich dimensionieren auch Geuen und Orgass Partizipation politisch, wenn sie die „Teilhabe an didaktischen
Entscheidungen“9 thematisieren bzw. als notwendig postulieren. Dabei beziehen sie sich auf Fellsches‘ Differenzierung der
Begriffe ,Teilnahme‘, verstanden als ‚Identifikation mit Situationen‘, und ‚Teilhabe‘ als ‚Definition von Situationen‘ – eine
Sichtweise, die für die Beschreibung von Gruppenimprovisation
einen sehr guten Bezugspunkt bereitstellt.10
Anne Niessen merkt in ihrer Rezension des Buches von Geuen
und Orgass kritisch an, dass die dort (in der dritten genannten
Hinsicht) aufgeführte Ebene des Partizipationsbegriffs notwendig zu einer Auffassung führe, dass es kein Musikhören ohne
Partizipation gebe. Dies verleite zu Missverständnissen im Bezug auf Partizipation und dazu, dass dann dieser Begriff seine
bildungspolitische Stoßkraft verliere.11
5 Vgl. Geuen, Heinz; Orgass, Stefan: Partizipation – Relevanz – Kontinuität. Musikalische Bildung und Kompetenzentwicklung in musikdidaktischer Perspektive,
Aachen 2007, S. 74.
6Ebd.
7 Ebd., S. 75.
8 Vgl. ebd.
9 Ebd., S. 77.
10 Vgl. ebd., S. 78.
11Vgl. Niessen, Anne: Wider den bildungspolitischen Zeitgeist. Rezension von
Geuen, Heinz; Orgass, Stefan: Partizipation – Relevanz – Kontinuität: Musi-
ringgespräch über gruppenimprovisation
Unbenommen davon, ob man sich der Dimensionierung sensu
Geuen et Orgass anschließen mag, die den Wahrnehmungsvorgang selbst schon partizipativ auffassen, oder jener bei Niessen artikulierten Relativierung, die Teilhabe nicht derartig basal angesetzt sehen möchte, scheint die Dimensionierung des
Partizipationsbegriffs durch die Autoren Geuen und Orgass
sehr plausibel nutzbar, um Facetten von Gruppenimprovisationssituationen zu fassen. Die dort verwendete „Definition von
Situationen“12 zeigt, dass beim Improvisieren von Gruppen auf
jeden Fall von der Möglichkeit von Partizipation gesprochen
werden kann.
Dies lässt sich mit Forschungsergebnissen untermauern. Dort
erscheint zum einen in der Perspektive der Anleitenden im Kontext von Überlegungen zur Qualität der Gruppenimprovisation
der Aspekt Teilhabe und dann auch bei den ermittelten Hinweisen zu sozialen Zielen von Gruppenimprovisationen.
Für Schwabe bedeutet Qualität in einer Gruppenimprovisation,
dass das Erleben von musikalischen Situationen, „in denen alle
das Gefühl haben, hier sei das einzig Richtige zum einzig richtigen
Zeitpunkt geschehen“13, stattfindet. Demnach bedarf es also, damit
qualitativ hochwertige Musik entsteht, einer Partizipation des Individuums am Gruppengeschehen: „Wem es aber gelingt, sich dem
Fluss der Musik, dem Gruppengeschehen und dem eigenen Impuls
zu überlassen, wird „echt“ und überzeugend sein können.“14 Damit
steht in diesem Beispiel neben dem sozialen Rahmen der Gruppe
und der klingenden Musik die Initiative des jeweiligen Teilnehmers im Fokus. Partizipation kann somit von zwei Richtungen
gedacht werden, von der Gruppe auf den Einzelnen hin und vom
Einzelnen als ‚agierendes Subjekt‘ (s. o.) auf die Gruppe hin.
Auch in Bezug auf die Rolle der Anleitenden wird in Interviews
die Ermöglichung von Partizipation als Aspekt genannt. Diese
sollen eine performative Spannung bzw. Atmosphäre kreieren,
die im Sinne von Vorbedingung und sicherem Rahmen alle am
kalische Bildung und Kompetenzentwicklung in musikdidaktischer Perspektive
(Aachen: Shaker 2007), in: Vogt, Jürgen (Hg.): ZfkM 2008, www.zfkm.org/08niessen.pdf (zugegriffen am 11.11.13), S. 4.
12 Geuen, Heinz; Orgass, Stefan, S. 78.
13 Schwabe, Matthias: Musik spielend erfinden. Improvisieren in der Gruppe für
Anfänger und Fortgeschrittenen, Kassel 1992, S. 110.
14Ebd.
47
Forschung
Gruppenimprovisationsgeschehen Beteiligten ausdrücklich einbezieht bzw. für sie zur Verfügung steht. Disziplinprobleme im
schulischen Alltag werden weniger, „und dann ist es tatsächlich
gelungen, dass dieser Junge dann tatsächlich nachher mit seinem
Instrument improvisieren konnte“15.
„[W]enn jeder einfach mal mitmacht und jetzt nicht nur „Alle
meine Entchen“ gespielt hat, sondern jeder sich mal die Zeit genommen hat.“16 ‚Sich mal Zeit nehmen‘ heißt nichts anderes,
als sich zur Teilhabe am musikalischen Prozess zu entschließen.
Und darüber hinaus wird dabei nicht im Belanglosen verharrt,
sondern ein Handeln in Musik eines Individuums benannt, das
sich ‚die Zeit genommen hat‘, was so viel heißen könnte, wie,
dass es sich bei seinem Improvisieren konzentriert hat und nicht
auf Gemeinplätze wie ‚Alle meine Entchen‘ zurückgegriffen
hat. Außerdem lässt die Formulierung ‚jeder‘ darauf schließen,
dass dabei der Zugang zur Musik (unbenommen der jeweiligen,
unterschiedlichen musikalischen Sozialisation) für wirklich alle
Teilnehmenden möglich war, natürlich unter der Voraussetzung
einer Bereitschaft, sich musikalisch zu äußern.
In der Perspektive der Anleitenden fällt auf das Moment ‚Beteiligung’ das Augenmerk, wird also Teilhabe thematisiert: „Für
mich macht Qualität die Beteiligung aus. Wenn spürbar wird, dass
alle beteiligt sind.“17 Hier wird der Qualitätsaspekt stark mit der
Aktivität der Teilnehmenden gekoppelt, später in eingeschränkter Weise, „wenn die meisten beteiligt sind“18. Zeigt sich Teilhabe
am Musizieren, so spielt hier die Beachtung oder das Erzielen
musikalischer Qualität demgegenüber sogar eine untergeordnete bis zu vernachlässigende Rolle. Wurde oben noch auf die
musikalische Qualität hingewiesen, ist sie jetzt kein Kriterium
mehr für Teilhabe. Dies unterstützt Niessens Bemerkung, die
davor warnt, das zu basale Fassen des Partizipationsbegriffs und
damit dessen eingrenzende Funktion zu verwässern (s.o.). Helfen kann hier die Differenzierung von ‚Teilnahme‘ und ‚Teilhabe‘ im Sinne Fellsches‘. So könne man bei der Formulierung,
dass alle bzw. die meisten beteiligt seien, auf eine Form von
‚Teilnahme‘ schließen, in der sich die Teilnehmer mit der Gruppenimprovisationssituation zwar identifizieren, aber nicht in einem emphatischen Sinne teilhaben, dergestalt, dass sie sich eine
neue Situation definieren (s.o.).
II. Selbstorganisation
Nachdem soeben die Aktivität der einzelnen Person als Aspekt
für die Beschreibung und Reflexion von Gruppenimprovisation angesprochen wurde, soll dieser Punkt im Folgenden näher
konturiert werden.
Selbstorganisation kann lerntheoretisch mit Schett zu den Termini ‚Selbststeuerung’19 und ‚Selbstregulation’20 gruppiert und
15 Interviewtranskript B, Z. 303 ff.
16 Interviewtranskript F, Z. 200 ff.
17 Interviewtranskript H, Z. 678 f.
18 Ebd., Z. 720.
19Schett, Alois: Selbstgesteuertes Lernen. Boizenburg 2008, S. 15-31, in: www.
mediaculture-online.de (zugegriffen am 01.12.13), S. 1.
20Ebd.
48
unter dem Oberbegriff des ‚selbstbestimmte[n] Lernen[s]’21
subsumiert werden; teilweise würde er mit ‚selbstständigem
Lernen‘ umschrieben.22 „Der Begriff ‚Selbstorganisiertes Lernen
[(SOL, SoLe)]’ leitet sich aus dem Hochschul- und Erwachsenenbildungsbereich ab und wird vermehrt im schulischen Bereich
verwendet. Dort meint SOL in der Hauptsache, dass sich Schülerinnen und Schüler innerhalb eines vorgegebenen Arbeits- und
Auftragsrahmens selbst organisieren können bzw. sollen. [...] Aber
innerhalb dieser vorgegebenen Strukturen kommen den einzelnen
Lernenden nach einer gemäßigt konstruktivistischen Ansicht doch
noch ein hoher Anteil an individueller Wissensgenerierung bzw.
-konstruktion zu. Und es gilt, dies in entsprechenden Lernabläufen
richtig zu organisieren. Dabei bezieht sich die Selbstorganisation
auf folgende mögliche Punkte [...]:
a) freie zeitliche Einteilung (wann),
b) freie inhaltliche Einteilung (was),
c) freie Wahl der Sozialform (mit wem),
d) freie Wahl der Örtlichkeit (wo) und
e) freie Materialwahl (wie, womit).“23
Dieser erziehungswissenschaftlich-lerntheoretische Begriff der
Selbstorganisation, in dem die Perspektive des Teilnehmenden
beleuchtet wird, soll mit dem naheliegenden musikpädagogisch
gebrauchten Begriff der ‚Selbststätigkeit‘ kombiniert werden, in
dem eher die Blickrichtung der Anleitenden zum Zuge kommt.
Die Kombination von ‚Selbstorganisation‘ und ‚Selbsttätigkeit‘
kann einen differenzierten Blick auf das Phänomen der Gruppenimprovisation lenken.
Unter dem ‚Prinzip musikalischer Selbsttätigkeit‘ versteht AbelStruth Folgendes: „Das Lehrprinzip musikalischer Selbsttätigkeit
stellt dem Musiklehrer die methodische Aufgabe, das Interesse des
Schülers für den musikalischen Lerngegenstand zu wecken, Problembewusstsein für die anstehende Frage und Erwartung, Spannung hinsichtlich des zu Hörenden oder zu Musizierenden. Nur
dadurch kann musikalische Selbststätigkeit wieder vom bloßen Tun
zum Entdecken musikalischer Eigenart und des Sinnes von Musik
führen. Seit den siebziger Jahren gibt es unterrichtspraktische Arbeiten, die diesen Weg, musikalische Selbsttätigkeit mit dem Ziel der
Einsicht in musikalische Phänomene, bewußt einschlagen (MeyerDenkmann, 1972; Paynter und Aston, 1972).“24
Nach Schwabes konzeptionellen Überlegungen ermöglicht experimentelles Verhalten Eigenbetätigung: „Experimentelles Improvisieren hingegen öffnet das Terrain musikalischer Eigenbetätigung
für alle, weil jeder die hierfür erforderliche Musikalität erwerben
kann, sofern er sie erwerben will.“25 Hier wird zwar nicht wörtlich
von Selbstorganisation der Teilnehmer gesprochen, jedoch wird
als Voraussetzung für „musikalische[...] Eigenbetätigung“26 die
21Ebd.
22 Vgl. ebd.
23 Ebd., S. 3.
24 Abel-Struth, Sigrid: Grundriß der Musikpädagogik, Mainz 1985, S. 384.
25 Schwabe, S. 103.
26Ebd.
Ausgabe LXXVII • April 2O14
Forschung
Experimentierfreude der Akteure benannt, durch die jeder Teilnehmende, ‚wie er eben will‘27, sich durch musikalische Betätigung selbst musikalisieren kann.28 Somit sind, konzeptionell,
aus der Perspektive des Anleitenden gedacht, Selbsttätigkeit,
Selbstständigkeit und Selbstorganisation im Blick und gehören zum Beabsichtigten. Wann, Was, mit Wem, Wo und Wie /
Womit (s.o.), also Fragen, mit denen Schett selbstorganisiertes
Lernen zu lokalisieren versucht, sind beim experimentellen Improvisieren gegeben.
In der Konzeption von Higgins und Campbell wird als eines
von mehreren Zielen für einen ihrer Events formuliert: „Independency within a group setting“29. In Hinsicht auf die Teilnehmenden wird gesagt, dass sie sich frei, unabhängig von Zeit, Inhalt, Sozialform und Örtlichkeit verhalten, was dem Lernbegriff
der Selbstorganisation entspricht. Reglementiert wird bei Higgins und Campbell das Material, der Atem. Jeder Teilnehmer
soll unabhängig von den anderen atmen, heißt es, und seinen
eigenen Atemrhythmus finden nach dem Konzept „individual
within a group“30. Dies soll vom Anleitenden eingefordert werden. Somit würde er die Teilnehmer im Sinne Abel-Struths (s.
o.) zur Selbsttätigkeit anregen.
In einem Interview äußert eine der befragten Personen: „Die
müssen schon selbst kommen, die müssen sich einbringen und dann
kann auch jeder Unterricht gut ablaufen. Also sehr schülergesteuert,
schülerzentriert würde das Modell heißen.“31 Hier zeigt sich deutlich, dass der Anleitende auf sich in das Unterrichtsgeschehen
einbringende Teilnehmer aus ist. Guter, gelingender Unterricht
geschieht für ihn dann, wenn die Teilnehmenden, im angesprochenen Fall Schüler, sich bzw. den Unterricht steuern. Dieser
Gesichtspunkt liefert mit den pädagogischen Fachausdrücken
„schülergesteuert, schülerzentriert“32 einen interessanten Akzent. Während Abel-Struth unter dem Stichwort Selbsttätigkeit
das Motivieren bzw. das Wecken des Interesses der Teilnehmer
(s.o.) anspricht, also die Perspektive der Anleitenden thematisiert, scheint in der Äußerung im Interview die Initiative für das
Geschehen von den Teilnehmern auszugehen.
Eine andere spannende Äußerung zielt nicht auf eine Betrachtung der Makroebene von Unterrichts- und Gruppenimprovisationsgeschehen, sondern eher auf eine Mikroebene ab. Die
darin gegebene Schilderung bezieht sich auf das Perturbieren einer laufenden Gruppenimprovisation, in die ein Impuls gegeben
werden soll, der sich „per kurzer verbaler Anweisung oder aber
im Prinzip am besten aus den Ideen der Schüler selbst sich entwickeln lässt“33. Hier scheint ein selbstgesteuert-selbstorganisierendes Agieren der Teilnehmenden als besonders wünschenswert.
Die pädagogische Situation wird dahingehend reflektiert, dass
nicht allein oder bevorzugt durch das Agieren des Anleitenden
27 Vgl. ebd.
28 Vgl. ebd.
29 Higgins, Lee; Campbell, Patricia Shehan: Free to Be Musical: Group Improvisation in Music. Lanham 2010, S. 55.
30 Ebd., S. 56.
31 Interviewtranskript A, Z. 194 ff.
32 Ebd., Z. 196 f.
33 Interviewtranskript B, Z. 264 f.
ringgespräch über gruppenimprovisation
die Teilnehmer zum weiteren Improvisieren angeregt werden,
sondern ‚am besten‘ durch die Teilnehmer selbst weiterimprovisiert wird. Wenn auf solche Weise Selbsttätigkeit verwirklicht
wird, vollzieht sich Selbstorganisation. Geschieht sie, wird das
im Interview sogar als besondere Qualität beschrieben.
Im Konzept von Spahlinger tritt Selbsttätigkeit explizit in Erscheinung, wenn es in einer Spielanleitung heißt: „jeder bestimmt den einsatzzeitpunkt und die dauer ihrer / seiner einmaligen und unverwechselbaren klänge selbst, d. h. sie / er wartet den
selbstinszenatorisch günstigsten zeitpunkt ab.“34 Bei Spahlinger
wird die Selbstorganisation des Einzelnen durch das selbstbestimmte Einsetzen beim Konzept „eigenzeit“35 direkt und explizit gefordert.
Schließlich soll noch eine Textpassage eines Interviews angeführt
werden, in der Selbsttätigkeit und -organisation zusammenfallen: „Es (gemeint: das Improvisieren) hat ja im Klassenkontext immer irgendein methodisches Ziel, wenn auch nicht so festgelegt, aber
es soll trotzdem halt auf etwas Bestimmtes rauslaufen, dass sie was
verstehen, was man ihnen nicht mit einem Arbeitsblatt raufknallen
mag. Sondern, dass sie es sich selber erarbeiten in der Praxis.“36
In der Vorstellung des Anleitenden führt die Selbsttätigkeit der
Schüler dazu, dass der Unterrichtsablauf durch deren Tun organisiert wird. Ziele, die intendiert sind, ohne im Einzelnen konkret formuliert zu sein, verfolgen ein ‚Mehr‘ an Verstehen, das
durch eigene Tätigkeit und Organisation des Teilnehmenden
geschaffen wird.
III. Fazit
Die Begriffe Teilhabe / Partizipation und Selbstorganisation finden sich wörtlich oder in ähnlicher Form in Beschreibungen
von Gruppenimprovisationssituationen, sei es in konventionellen Schriften sei es in Interviews. Sie erscheinen dort in thematisch zentralen Kontexten, in denen Vorgänge der Musizierweise
Gruppenimprovisation sowohl im Blick auf die Teilnehmenden
wie auch auf das Tun der Anleitenden hin näher betrachtet und
abgewogen werden.
Verena Seidl promoviert derzeit an der Hochschule für Musik und
Theater München.
34 Spahlinger, Mathias: vorschläge. konzepte zur (ver)überflüssigung der funktion
des komponisten, Rote Reihe Band 70, Wien 1993, S. 11.
35Ebd.
36 Interviewtranskript G, Z. 218 ff.
49
Quergedacht
Quergedacht
Von der bildenden Kunst lernen: Musik als Recherche
von Reinhard Gagel, Berlin
Dieser Text basiert auf der Schrift Sturm auf die Bastille: Kunst
als GEGENwart von Ulrich Puritz1 und fasst ein paar Grundgedanken zusammen. Allerdings habe ich in den Zitaten alle Worte, die auf visuelles Erfassen (Kunst) verwiesen, durch auditives
Erfassen (Hören/Musik) ersetzt.
Puritz ist Inhaber des Lehrstuhls Theorie und Praxis der Bildenden Kunst am Caspar-David-Friedrich-Institut der Universität
Greifswald.
Musikpraxis soll der Auseinandersetzung mit konkreten Lebensverhältnissen dienen. „Sie empfiehlt sich als Kraft, die erhellen, anregen und verändern kann“ (S. 7). „Heute nimmt Musik Untersuchungen vor und leuchtet Hinter- und Untergründe
aus. Sie macht hörbar, was bisher unhörbar war oder überhört
wurde“(S. 7). Man kann auf diese Weise Vorurteile aufbrechen
und Unhörbares in gewohnten Klängen aufdecken. Man muss
„verrückt“ werden, von Mustern abrücken, die Sicherheit bieten aber auch das Hören verstellen können. Musik-Techniken
dazu wären: „Perspektivwechsel, Ausschnitt, Isolierung von Einzelaspekten, Vergrößerung, Zufall, Demontage, Spiel, Konfrontation
und Herstellung von Verbindungen dort, wo bislang keine gesehen
wurden“ (S. 7). Musik zerstört und fügt zusammen, sie de-konstruiert. Neue musikalische Kunst will sich selbst überraschen,
will eigene Grenzen überwinden, Routinen durchbrechen und
„verdeckte ästhetische Steuerungssystem freilegen“ (S. 7). Sonst
würde man nur für wahr halten, was man wahrzunehmen gelernt hat. „Damit läuft man Gefahr, sich in vorhandenem Wissen
einzuschließen“ (S. 7).
Verrückt spielen: Das Gehirn konstruiert das, was an Sinneseindrücken ankommt, nach reizvoll und reizlos, nach bekannt und
fremd, nach verständlich und unverständlich. Dadurch kann
etwas hörbar werden, aber auch unhörbar bleiben. „Hören und
Nicht-hören liegen dicht beieinander. Sie sind durch eine Grenze getrennt, die sich durch Lernen – auch Verlernen – in die eine
oder andere Richtung verschieben lässt“ (S. 8). Zwei Sinnestrainer:
alltägliches Funktionieren und seine Notwendigkeiten und die
massenmediale Klangflut. Funktionieren ist notwendig, doch
einseitig, es setzt auf Anpassung, schnelles und adäquates Re-
agieren. Mediale Klänge „operieren mit Reizfülle, bedienen
Wünsche und Gefühle, sind oft
eingebettet in Wahrnehmungskonventionen und kulturelle Erzählmuster, welche Gegenwelten
zum Alltag vorhalten und von
diesem ablenken“(S. 8). Bedienen von Erwartungen, Reizfülle
kann Inhaltsleere verdecken, das Bewusstsein kann behindert
werden, Distanz zu gewinnen und „sich von Fremdsteuerung zu
lösen“ (S. 8). Es entsteht „Auditiver Analphabetismus“.
Musik verrückt, „dehnt und verlangsamt Wahrnehmungsprozesse und nötigt dazu, genau hinzuhören“ (S. 10). „Die Arbeit mit
Körper, Händen und medienspezifischen Klangsprachen wirken als
Brenngläser, Seziermesser und Materialumwandler“ (S.10). Wirklichkeitsfragmente werden zerlegt und noch unbekannte Essenzen daraus gewonnen. Reflexionsanlässe werden geschaffen, die
ermöglichen, sich selbst und andere kennen zu lernen.
Zum Musikprozess als Recherche gehört das passive und aktive Gedächtnis. Passiv ist das Unterbewusstsein, „ein Wissen,
von dem wir nicht wissen, was wir wissen“ (S. 10). Biografisches,
Erinnertes, emotionale Resonanzen, die gespeichert sind. Bei
hinreichender Intensität verbindet „experimentelle Musikpraxis
Hören mit körperlichen, emotionalen und bewussten und willentlichen Aktivitäten zu einem „Workflow“, in dem Intuition die Regie
übernimmt, die beteiligten Kräfte zusammenhält und durch unkalkulierbare Abenteuer manövrieren hilft“ (S. 10). Überraschende
Konstellationen entstehen, werden durch Innehalten, Hinsehen, Prüfen und Distanzieren abgelöst. „Zündende Ideen können
auftauchen, wenn hinreichend Zeit investiert wird, um das passive
Gedächtnis aufzuwecken, zu stimulieren und zum Zuge kommen
zu lassen“ (S. 10/11). Gegenwart kommt zustande: „Eine solche,
in der Beachtung findet, was an Unbekanntem, Fremden und Zukünftigen entgegenkommt, und die überdies in der Lage ist, dem
Betrachter poetische Angebote zu machen, auf dass Hören, Fantasie
und Erkenntnis herausgefordert werden und zu tun haben“ (S. 11).
1 Ulrich Puritz, Sturm auf die Bastille: Kunst als GEGENwart, C/O Friedrich_Projekte, Greifswald 2011
50
Ausgabe LXXVII • April 2O14
50 Jahre ring für gruppenimprovisationen
50 Jahre ring für gruppenimprovisation
Vorbemerkung der Redaktion: Auf unsere Aufforderung, über eigene Erfahrungen mit dem ring zu berichten, haben erfreulicherweise
viele Mitglieder reagiert, vor allem aus den Anfangszeiten des rings. Interessant ist allerdings, dass die meisten eigentlich über ihre
Begegnung mit Lilli Friedemann schreiben und nur nebenbei über den Verein. Dies sagt viel über den ring in seinen ersten 25 Jahren
aus: Der ring, das war damals sie!
Erinnerungen an Lilli Friedemann (Auszüge)
von Wolfgang Metzler, Schmitten / Hessen
Lilli Friedemann habe ich 1959 als Mitarbeiterin für Improvisation auf einer musischen Pfingstwoche in Fürsteneck kennengelernt. Die damals als Spezialistin für historische Aufführungspraxis auf Barockinstrumenten bekannte Geigerin hatte ihrem Leben
eine entscheidende Wendung gegeben: Erfahrungen mit Verzierungspraxis in alter Musik, Tanzmusik zu Kontratänzen und Aufzugsmusik hatten zu dem Entschluss geführt, gemeinsame Improvisation zu ihrer Hauptbetätigung zu machen. In meinen letzten
Schuljahren und während meines Musikstudiums gehörte ich zu
dem ersten Kreis von SchülerInnen, die sie zu speziellen Improvisationstreffen einlud. Ich erinnere mich besonders an diejenigen
Treffen, als sie in Fürsteneck in der neben dem Küchentrakt etwas abseits gelegenen Wohneinheit „Frankfurt/Oder“ lebte, sich
etliche ‚moderne’ oder ‚exotische’ Schlaginstrumente gekauft hatte
und uns u. a. norddeutsches Teetrinken beibrachte. Musikalisch
verdanke ich Lilli Friedemann hauptsächlich einen wirklichen
Kontakt zu neuer Musik, weil Improvisation eigene diesbezügliche Erfahrungen ermöglicht, die durch Musikhören, Musik nach
Noten und Erläuterungen nicht ersetzbar sind.
Im Juniheft 1967 der Mitteilungen für die Musische Gesellschaft
schreibt sie selbst dazu: „Hingegen ist das Spielen alter und gemäßigt
moderner Musik (z. T. im unerkannten musikalischen HJ-Stil) keine
Domäne unseres Kreises, und wir könnten uns ohne Gefahr selbst zum
Ziel setzen, im Verstehen wirklich neuer Musik voranzukommen. Es gibt
jetzt Wege, die das Verstehen lernen ermöglichen, z. B. durch improvisatorische Klangexperimente, wie ich sie begehe.“Die Scherenschnittköpfe
dieses ersten Improvisationskreises um Lilli, die in einer Neujahrsnacht in Göttingen entstanden (Gunthild Bitterhof, Ellen Bövers,
Lilli Friedemann, Winfried Kretschmer, Wolfgang Metzler, Johannes
Schramm) zieren noch heute den Übergang meines Arbeitszimmers
vom musikalischen zum mathematischen Teil – und Lilli war später
gerührt, als sie sie dort sah, nachdem die Gruppe schon längst nicht
mehr bestand. Wir haben (zum Teil in modifizierter Besetzung) in
Berlin und in Budapest auf musikpädagogischen Tagungen gespielt
und für einige Jahre auch regelmäßig bei den Kasseler Musiktagen zu
ringgespräch über gruppenimprovisation
dem von Walter Sons betreuten Kontratänzen die Musik beigesteuert. Ferner musizierten wir bei einem Laienspiel, das unter Marie
Mettlers und Rudi Christls Anleitung anlässlich der 50jährigen Wiederkehr des Meißnertreffens stattfand. Unsere Erfahrungen und Gedanken sammelten wir in einer kleinen Zeitung Der Rauch, die dann
später zum ringgespräch des rings für gruppenimprovisation wurde.
Ab etwa 1967 gingen unsere Wege auseinander:
a) Lilli hatte uns zwar immer wieder erzählt, welche Anregungen sie
P. Hindemith und G. Götsch verdanke; sie empfand aber die Musische Gesellschaft als zu beengend für ihre improvisatorischen Ziele
und ihren ring als das ihr gemäßere Wirkungsfeld.
b) Mit dem Beginn des Berufslebens trennten sich auch die Wege
ihrer ersten Improvisationsschüler. Es hatte in der Gruppe ohnehin
häufig ‚geknistert’ (man hat mir erzählt: in späteren auch), und eine
gewisse Distanz schien mir für einen dauerhaften persönlichen Kontakt eher förderlich zu sein. An einem solchen aber war ich deutlich
interessiert.
Mit einigen eigenen Akzenten, zum Beispiel der Einbeziehung von
Improvisation bei Chorarbeit, Bibelarbeit, mit vokaler Improvisation
und bei Ensembleimprovisation mit Orgel und Klavier habe ich seitdem eigene Erfahrungen gesammelt. Lilli und ich standen über ihre
Hamburger und Möllner Zeit hinaus im Briefwechsel. Gelegentlich
haben wir uns getroffen und uns in Gesprächen, durch Hören von
Tonbändern und durch praktisches Musizieren ausgetauscht. Michael Dahms hat von uns beiden gelernt, und Lillis ‚Schüler’ Matthias
Schwabe ist inzwischen auch in Veranstaltungen der Musischen Gesellschaft aktiv geworden. Von Lillis Tätigkeit ab 1975 bis zu ihrem
Tod können sie detaillierter erzählen als ich.
Über das letzte Gespräch mit ihr in Mölln vor ein paar Jahren möchte ich aber noch berichten: Sie erkundete sich liebevoll nach gemeinsamen Bekannten und dem Anteil, den gegenwärtig musikalische
Improvisation in deren Leben ausmache. Und da ihr Kurzzeitgedächtnis stark nachgelassen hatte, stellte sie die gleichen liebevollen
Fragen nach einer halben Stunde ein weiteres Mal. Dazu gab es Tee
aus kleinen Tassen wie zu der Zeit in Fürsteneck, als sie nur wenig
älter war als ich heute.
(Lilli Friedemanns Lebensdaten: 18. 06. 1906 bis 20. 12. 1991)
In: Mitteilungen der Musischen Gesellschaft 55, Febr. 1992 sowie ringgespräch Juni 1992
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50 Jahre ring für gruppenimprovisationen
Lilli lebt
von Willem Schulz, Melle
Bevor ich Lilli Friedemann kennenlernte, machte ich bereits Improvisation – wild und eigenwillig, Ausdruck meines jugendlichen
Ausbrechens aus familiären, klassischen und gesellschaftlichen
Normen und inspiriert durch Fluxus und Happening der 60er.
Freie Sessions und Kunst-Aktionen aller Art entstanden ebenso
wie die Trios NED mit Gerhard Stäbler und Max E. Keller sowie
DEKADENZ mit Gerd Lisken und Anke Züllich-Lisken.
Lilli trat über Seminare seit 1968 (!) in mein Leben, die ich als
Musikstudent – dürstend nach Alternativen zum selbstgefälligen
Klassik-Repertoire – wahrnahm. Sie hatte bereits eine Form dafür
arrangiert, was sich für mich eher wildwüchsig entwickelte, mit
dem grimmigen Charme des Protest-Charakters. Lilli war eine
Mama, nahm die wilden Kerle bei der Hand und setzte sie auf
ihren Platz im Stuhlkreis.
Die brisante Mischung des Mama-Sohn-Verhältnisses bestimmte
dann auch die Jahre, die wir miteinander zu tun hatten. Sie wies
mir den Platz in ihrem Stuhlkreis-Setting und ich gehorchte etwas
widerwillig ihren Spielregeln. Aber sie verkörperte die alternative
Mama, die etwas Anderes zu bieten hatte – neue Klänge, Begeisterung für Unerhörtes und eine gemütliche Earl-Grey-Runde mit
weißen Kluntjes.
Andererseits bot sie die Mama, mit der ich mich auseinandersetzen
konnte: Warum soll ein Klavier, die Stimme, Elektronik ein Tabu
sein, wenn wir doch die Tabus überwinden wollen? Warum immer
diese Regeln und nicht einfach nur hören und klanglich kommunizieren? Ist Freiheit immer nur eine Freiheit bezogen auf vorgegebene Regeln? Oder gibt es eine Freiheit, die unendlich offen ist, so
wie wir es gerade schaffen können?
Mein Freiheitsdrang war unbändig und ich konnte wahnsinnig
werden, wenn ich an diese Grenzen stieß. Aber dann waren da
diese tollen musikalischen Erfahrungen, die im Zusammenspiel
entstanden, gleichgültig, ob mit oder ohne Regeln. Wenn es stimmig war, spannend, verrückt, berührend,....
In diesen Momenten wussten alle, die dabei waren: Das war es, das
war der Sinn unseres Zusammenspiels! Vielleicht sogar: Das ist der
Sinn von Musik überhaupt. Lilli kommentierte die entstandenen
Musikprozesse oftmals mit einem begeisterten Stoßseufzer, der uns
Jungen gerne alle Zweifel nahm.
Euphorisiert von diesen Momenten kamen dann noch höhere Ziele der Gruppenimprovisation auf: Musik als allgemein einsetzbares
nonverbales Kommunikationsmittel für Dialoge, Gruppenprozesse, Therapien, ja sogar Heilungen gesellschaftlicher Abschreckungsszenarien des Kalten Krieges. Lilli sagte einmal, wenn Breschnew
und Nixon zusammen improvisieren würden, dann könnte sich
diese Wahnsinnsspannung lösen und die Weltgeschichte einen anderen Verlauf nehmen.
Lillis Ambitionen entwickelten sich im „Wirtschaftswunderland“
der 50er und 60er Jahre, in dem nach den kapitalistischen Regeln alles marktgerecht deklariert und verpackt werden sollte.
Komponisten und ihre Werke wurden in den Himmel gehoben.
52
Die offene Form der Improvisation stand dagegen gesellschaftlich
vollkommen im Abseits. Während in der europäischen Geschichte
ebenso wie auch heute noch in den meisten Weltkulturen Improvisation die hauptsächliche, wenn nicht sogar einzige Musizierform
darstellt, schien sie im verklemmten Nachkriegsdeutschland nicht
„angesagt“ zu sein. Lilli kämpfte. Sie wusste aus ihrer Erfahrung
mit der normalen klassischen Musikpraxis um deren Beschränktheit und verband mit ihrer Botschaft der musikalischen Gruppenimprovisation einen großen Beitrag zur Entfaltung von Freiheit
und Frieden in unserer Gesellschaft.
In ihrer „konspirativen“ Urgruppe, in der wir immer wieder zusammen kamen, suchten wir nach einer musikalischen Qualität,
die es mit zeitgenössischen Kompositionen aufnehmen konnte –
und zugleich in der Entstehung soviel mehr Spaß machte. Lilli
nahm uns mit in die Öffentlichkeit – wir nahmen eine Platte auf,
spielten in Darmstadt und anderswo. Und setzten uns auseinander
mit damals durchaus vorhandenen „Mitbewerbern“ wie Gertrud
Meyer-Denkmann, Margret Küntzel-Hansen, Wolfgang Roscher,
Vinko Globokar, Cornelius Cardew.
1972 schrieb ich meine Examensarbeit zur Musikalischen Gruppenimprovisation, die sich noch heute erstaunlich aktuell anhört.
Gerne stelle ich sie Interessenten zur Verfügung.
Lilli Friedemann hatte keine leiblichen Kinder. Ihre Kinder waren
wir, eine ganze Reihe von jungen Menschen, die sich über Jahre
mit ihr in einem musikalischen Forschungs-Prozess befanden. Am
6. Dezember bekamen wir alljährlich liebevoll Nikolaus-Päckchen
aus Hamburg zugesandt und sie begleitete unsere Wege durch ihre
unvergesslichen handgeschriebenen Briefe. Kinder müssen sich
trennen. So wandten sich immer wieder Einzelne ab und gingen
ihre eigenen Wege. Auch ich. Aber im Inneren kann ich sagen:
Lilli lebt! Danke Lilli!
Mit Lilli Friedemann in Hamburg
von Jan Bäumer, Berlin
Fünfzig Jahre ist er alt, der ring für gruppenimprovisation. Demnach wurde er von Frau Lilli Friedemann 1964 erfunden, und zwar in Hamburg-Othmarschen, einem reizvollen Elbvorort im Westen von Hamburg.
Meine Begegnung mit der Erfinderin, einer damals schon älteren
Dame, fand in ihrer Dachwohnung einer Jugendstilvilla statt. Die
Frau sprudelte nur so von musikalischen Einfällen, die sie im Kreis
ihrer männlichen und weiblichen „Jünger“ zu Gehör brachte. Als
ehemalige Konzertgeigerin hatte sie ihr Instrument an den Nagel
gehängt und fand nun ihre Erfüllung in der Verwirklichung von
Spielen mit Rhythmen, Klängen und Tönen, allerdings nach genau fixierten Spielregeln.
Als lebenskluger Geist hat sie ihre diesbezüglichen Erfahrungen
in mehreren Schriften zu Papier gebracht, von denen ich eine mit
eigenhändiger Widmung besitze.
Ausgabe LXXVII • April 2O14
50 Jahre ring für gruppenimprovisationen
Aus persönlicher Erfahrung in ihrer musikfreudigen Gruppe lernte
ich von Frau Friedemann folgendes:
1. Überall ist Musik, auch in Klängen und Geräuschen aller Art.
2. Das Improvisieren in der Gruppe öffnet die Ohren für ganz
neue, ungeahnte Klangwelten und -erlebnisse.
3. Als Gruppenteilnehmer ist jeder Mensch gleich wichtig und
bedeutsam und wird zum einfühlsamen Diener eines neuen
Ganzen.
4. Die Gruppe ist nicht – wie bei vielen anderen Improvisationsgruppen (Jazz, Pop, Metal etc.) – eine Schar von ehrgeizigen Selbstdarstellern, sondern eine Einheit im Dienst an
– durchaus moderner – Musik.
5. Zu den herkömmlichen Orchesterinstrumenten (Streicher,
Bläser, Pauken etc.), die auch verfremdet gespielt werden,
gesellen sich neben Xylophonen, Rasseln und Becken auch
Küchengeräte und Brummkreisel etc., kurz, alles, was klingt.
6. Durch gestaltete Experimente zum Beispiel bei Trommeln
(wischen, reiben, kratzen, schaben) lassen sich mühelos (a-)
metrische Effekte erzielen, besonders, wenn sie an Bildern
aufgehängt werden.
7. Zur Hauptregel in der Gruppe gehört: Musizieren ohne
Worte, anschließend Gespräche über das, was entstanden
war. Durch die zuvor geregelte Spielthematik uferten diese
Gespräche nie in sachfremdes Gelaber aus, wie ich es später
in Gruppen ohne Friedemannsche Spielregeln mit Entsetzen
erleben musste.
8. Dank meiner persönlichen Erfahrung beim Musizieren mit
Frau Friedemann wuchs in mir die Erkenntnis: Es gibt keine unmusikalischen Menschen, sondern nur musikalisches
Brachland, das es zu kultivieren gilt.
Um dieses Brachland ging es Frau Friedemann. Als erstes schuf
sie den ring für gruppenimprovisation, eine Vereinigung für improvisatorisch Interessierte und Aktive in ihrem Sinne, nicht nur in
Deutschland, sondern auch weit über seine Grenzen hinaus, mit
der Satzung eines gemeinnützigen Vereins, um so durch Mitgliederbeiträge eine finanzielle Grundlage zu erzielen. Als zweites –
nicht minder wichtiges – Anliegen war Frau Friedemann das, was
sie Musikalische Basisausbildung nannte. Sie wollte ihre Erfahrungen im Rahmen musikalischer Ausbildung an Musikhochschulen
als Studienfach institutionalisiert wissen. So weit ich weiß, wurden
ihre diesbezüglichen Wünsche – mit Ausnahme von Hamburg –
angesichts ehrgeizigem Hochleistungsdünkel der Studenten von
deren Professoren als belanglose Spielerei nur milde belächelt.
Fazit: Wer Mitglied im ring für gruppenimprovisation werden
möchte, sollte sich zuvor eingehend mit den Hauptschriften von
Frau Friedemann beschäftigt haben. Ein Mensch unserer Zeit sollte wissen und begründen können, worauf er sich einlässt auch und
besonders in musikalischer Hinsicht. (Anmerkung der Redaktion:
In den letzten Jahrzehnten hat sich der Verein ganz ausdrücklich
auch für andere methodische Ansätze der Improvisation geöffnet!)
Improvisation ist gespielte Komposition aus dem Augenblick, wobei der ganze Mensch mit Geist, Seele und Körper sich entfaltet.
Gruppenimprovisation ist spielerische Gestaltung einer Kollektivkomposition, wobei im Gegensatz zu musikalischem Hochleistungssport das Spiel im Vordergrund steht. Wie sagte doch der
klassische Dichter Friedrich Schiller: Der Mensch ist nur dann ganz
Mensch, wenn er spielt.
Meine improvisierten Ringmelodien
von Gesine Thomforde, Hamburg
„Sammeln Sie bitte in der Pause Naturmaterialien, mit denen wir
dann musizieren werden“, so verabschiedete Lilli Friedemann, die
beeindruckende Gründerin des ring für gruppenimprovisation uns
Seminarteilnehmer/Innen in der evangelischen Akademie Bad Segeberg in unsere Mittagspause.
Dann erlebte ich dort gemeinsam mit den anderen TeilnehmerInnen meine erste von Lilli angeleitete Gruppenimprovisation, die
ich in lebendiger Erinnerung habe. Mit Zimmerschlüsseln, Steinen und gesammelten Holzstöcken entstand ein interessanter
Klangteppich, auf dem sie mit ihrem Rebec eine tänzerische Melodie improvisierte. Ich habe mich damals entschlossen, sie kennen
zu lernen und unser gemeinsamer Weg begann. Das war in den
Anfängen der 1970er Jahre.
In ihrer Hamburger Wohnung am Leistikowstieg lernte ich anschließend Ringmitglieder beim Improvisieren kennen.
Foto: privat
Das Bild zeigt ein Improvisationserlebnis aus ihrer Wohnung. Auch hier spielt
Lilli ihr Rebec, Frank Grootars am Metallophon, Jürgen Lemke, Gitarre mit
Etta Cramer an der Trommel sind zu erkennen, ich selbst vorne links improvisiere auf einer Bongo.
An die Spielregel erinnere ich mich nicht mehr; doch es ist zu
spüren, dass die Stimmung heiter und lebendig war. Durch die
Teilnahme an der von Lilli Friedemann konzipierten Basisausbildung Neue Wege zur Musik erlernte ich ihre Improvisationskunst
verstehen und anwenden. Das Improvisieren von Melodien in der
Gruppe auf einem Teppich wurde zu meinem wichtigsten Erlebnis,
das mir neue Klangräume erschloss. 1
1 Das Konzept der Basisausbildung befindet sich auch in meiner 1.Staatsexamens-
ringgespräch über gruppenimprovisation
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50 Jahre ring für gruppenimprovisationen
In den zahlreichen Ringveranstaltungen, die ich anschließend besuchte, habe ich interessante Spielregeln und Musiker/Innen kennengelernt. Aus Platzgründen kann ich darauf nicht näher eingehen. Sehr eindrucksvoll bleibt für mich die Zusammenkunft bei
Hella Nagel, in der Lilli ihren Vorsitz an Matthias Schwabe abgegeben hat. Sie spielte für uns zum Abschied eine Melodie auf ihrem
Rebec, die prägnant und wehmütig in meinen Ohren nachklingt.
In diesen Umbruch hinein trat das Wirken von Lilli Friedemann.
Ich war damals Dozent für Musik an der Pädagogischen Hochschule in Bielefeld. In meinen Seminaren hatte ich die Hinführung zur
Neuen Musik durch die Entwicklung von Spielmodellen praktiziert, die aus Werken der Neuen Musik gewonnen waren und über
die kollektiv improvisiert wurde. Anschließend erfolgte die Begegnung mit dem Original, analysierend und hörend.
Warum begeistert mich diese Spielregel: Melodie auf dem Klangteppich? Was bedeutet sie mir in meiner jetzt vierzigjährigen Improvisationspraxis?
Sie hat mir geholfen, lebendigen eigenen Musik- und Improvisationsunterricht zu erteilen und bleibt eine Energiequelle für meine
eigene musikalische Entwicklung, die besonders auch durch die
Teilnahme an den Ringveranstaltungen unterstützt wird.
Ich war also neugierig, erlebte aber in den Lehrgängen von Lilli
Friedemann etwas entscheidend Anderes.
Das aktuelle Beispiel bleibt die Herbsttagung unseres rings in Mandelsloh 2013 mit dem Gastdozenten Franz Hautzinger, bei der am
Sonntagmorgen mein Wunsch, eine Melodie mit der Blockflöte auf
einem Klangteppich zu improvisieren erfüllt wurde. Gemeinsam
mit anderen Ringmitgliedern entstand eine lebendige Haasenhofmelodie 1, als Resonanz ertönte danach von Franz Hautzinger die
Haasenhofmelodie 2 mit seiner Trompete. Das sind für mich eindrucksvolle, herzerfrischende musikalische Erinnerungen.
Auch während meiner Ausbildung zur Diplom-Musiktherapeutin
an der Hamburger Musikhochschule (HfMT) in den Jahren 2002
bis 2005 war die Improvisation ein wesentlicher Bestandteil des Fächerkanons. In unserem öffentlichen Improvisationsabschlusskonzert im Mendelssohnsaal der Musikhochschule Hamburg war mein
Beitrag eine improvisierte Flötenmelodie auf einem Klangteppich.
Endlich gibt es auch eine Aufnahme, die mir selbst eine Entwicklung zeigt, die ohne meine Begegnung mit Lilli Friedemann und
unserem ring nie stattgefunden hätte. Dieses musikalische Ereignis
erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit!
Einige Gedanken zum Jubiläum des rings
von Gerd Lisken, Berlin
„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ (Hermann Hesse)
Was war los in der professionellen musikalischen Szene Anfang der
Siebziger? Die Serialität, das totale Durchorganisieren von Musik,
als Dogma verkündet, kam an Grenzen, schlug um in die totale
Freiheit, in die totale Zufälligkeit. Professionelle Gruppen kreierten
eine improvisierte Musik, die von serieller Ensemblemusik kaum
zu unterscheiden war. Ich denke z.B. an das Schweizer Trio adesso.
arbeit an der HfMT Hamburg mit dem Titel Musikalische Gruppenimprovisation
mit Kindern – als Teil einer musikalischen Früherziehung, die ich im Rahmen der
Schulmusikausbildung 1980 bei Prof. J. Eschen geschrieben habe.
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Zunächst: Eine Frau als Leiterin, damals keine Selbstverständlichkeit. Dann: Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen, Laien und Profis, jung und alt, Blockflöte bis E-Bass. Das Bindemittel war die
Person Lilli Friedemanns. Höchst engagiert, sehr kreativ, streng im
Verfolgen der gestellten Aufgaben, begabt mit sehr guten Ohren,
künstlerisch anregend durch ihr Spiel (vor allem Geige), begeistert,
wenn das Improvisieren gelang.
Das Zaubermittel war die Spielregel. Was in der Komposition die
Partitur, sind hier die Spielregeln. Sie waren bildhaft und anschaulich, aber auch handwerklich musikalisch konzipiert. Vor allem
aber: Sie müssen von allen Spielenden wirklich begriffen worden
sein. Nur das ergibt die Freiheit des Geistes, die für eine stimmige
und lebendige Improvisation erforderlich ist. Das war Lilli Friedemanns Credo.
Eine neue Klangwelt tat sich mir auf, in der sich die Differenz zwischen Instrumentalklängen und Klängen der Gegenstände des Raumes schloss, damit auch die Differenz zwischen Kunst und Leben.
In dieser Zeit fand auch ein Seminar mit Lilli Friedemann in Bielefeld statt. Es ging über anderthalb Wochen und war neben dem
eigenen Improvisieren der pädagogischen Vermittlung des spontanen Musizierens gewidmet.
Lilli Friedemann war eine gute Pädagogin. Sie konnte das musikalisch Geschehene sehr gut analysieren, weil sie unbestechliche
Augen und Ohren hatte. Wir veranstalteten in diesen Tagen mehrere Lehrproben mit Vorschulkindern, Schülern und Erwachsenen.
Ich habe erfahren, dass die Anleitung von Improvisation eine hohe
Kunst ist.
Wenn ich meinen Worten das Motto Und allem Anfang wohnt ein
Zauber inne gegeben habe, so muss man sich vergegenwärtigen,
dass diese frühe Arbeit mit Lilli Friedemann die Frische des Neuen
hatte. Sie war nicht gestützt durch das Wohlorganisierte der heutigen Zeit. Viel „Menschliches“ passierte, das manchmal zu langen
Gesprächen bis in die Nacht hinein führte. Es war eine stark belebende Zeit, die bei mir zu fruchtbaren Veränderungen meiner
pädagogischen und künstlerischen Praxis führte.
Dass aus dieser frühen Praxis der Improvisationstreffen der ring
wurde, hat m.E. drei Gründe.
Der erste: Wir wollten heraus kommen aus dem örtlich und zeitlich
Ausgabe LXXVII • April 2O14
50 Jahre ring für gruppenimprovisationen
mehr zufälligen Zustandekommen der Termine. Der zweite: Wir
wollten eine aufkommende Tradition sicherstellen, nämlich die der
Kunst des Improvisierens nach und mit Lilli Friedemann. Und der
dritte Grund: Wir wollten die Wiederbegegnung mit möglichst
vielen Kolleginnen und Kollegen. Denn wir waren interessiert am
Kontinuum, an der Feststellung eines Fortschritts von Termin zu
Termin. Das alles konnte nur ermöglicht werden durch die Einrichtung einer Organisation, wie sie der ring dann darstellte.
Dass im Laufe der Jahre sich die Intentionen veränderten, dass wir
nicht in ein Nachbeten der Friedemannschen Theorie und Praxis verfielen, ist ein Zeichen der Lebendigkeit des rings bis heute.
Möge sie erhalten bleiben!
Wie die Gruppenimprovisation für mich zur
Musiktherapie wurde
von Hartmut Kapteina, Siegen
Anfang der Siebziger Jahre habe ich einige
Fortbildungsseminare bei Lilli Friedemann
besucht. Das war die Zeit, in der sie einstiege
in neue klangbereiche durch gruppenimprovisation herausbrachte (1973 erschienen bei universal, Wien). Die darin beschriebenen Regeln für
gemeinsames musikalisches Spiel wurden in den
Seminaren immer und immer wieder erprobt. Wir
sollten lernen, wie man solche Spiele initiiert, ansagt
und begleitet. Dazu gehört, dass man versteht, wie jedes Spiel
bestimmte Erfahrungen anbahnt: z.B.: Klangexperimente im ganzen Raum zentriert die Aufmerksamkeit der Spieler auf die Eigenschaften und Modifizierbarkeit von Klängen; Marschierende
und Opponent thematisiert rhythmische Phänomene, Klangbilder steigert Klangphantasie und Ausdrucksfähigkeit, Darstellen
von Gefühlen die Sensibilität für Atmosphären etc. Eine Spielregel muss die musikalische Aktion so klar formulieren, dass sich
jegliche Nachfrage erübrigt. Musikalische Probleme werden musikalisch gelöst, nicht verbal.
Eines dieser Seminare fand im Frühjahr 1973 im Jugendhof
Vlotho statt. Es dauerte zwei Wochen und sollte die Frage klären, ob und wie Gruppenimprovisation in Schule und Kindergarten stattfinden kann. Zugelassen waren ausschließlich erfahrene Musiker und Musikpädagogen (Musiktherapeuten gab es
damals in Westdeutschland noch nicht).
An den Vormittagen musizierten wir mit Schulklassen oder Kindergruppen. Nachmittags und abends werteten wir die Erfahrungen aus und planten die musikpädagogischen Aktionen für
den nächsten Tag.
An dem Samstag zwischen den beiden Seminarwochen eröffnete
Lilli uns eine Idee: Wir sollten in Kleingruppen selber Spielregeln
schaffen und ausprobieren. Am Abend sollte dann jede Gruppe
ringgespräch über gruppenimprovisation
vor dem Plenum nach ihrer ausgedachten Spielregel musizieren
und die Zuhörer sollten genau
diese Spielregel möglichst genau
erraten.
Die Kleingruppe, der ich angehörte, hatte etwa sechs oder sieben Mitglieder; ich weiß noch,
dass Beate Quaas und Frank
Grootaers dabei waren, sonst
kann ich mich an weitere Teilnehmer nicht mehr erinnern. Genau aber weiß ich, wie unser
Arbeitsprozess verlief. Wir experimentierten nach unterschiedlichen Spielvorschlägen, wurden dabei jedoch immer unzufriedener. Irgendwann schlug einer vor: „Lasst uns doch einfach nur
spielen, wie es uns gerade geht.“ Wir begannen sofort zu spielen. Es
wurde auf Anhieb eine Musik, die uns alle sehr zufrieden stellte.
Wir haben dann lange darüber gesprochen, wie so was möglich
sein konnte. Gegen Ende der Zeit fragten wir uns, was wir denn
jetzt im Plenum spielen sollten. Wir blieben bei der Regel, jeder
spiele, wie es ihm gerade geht und versuche, mit seinen Mitspielern
in Kontakt zu sein.
Nach dem Abendessen versammelten sich alle Teilnehmer im
großen Gruppenraum. Nacheinander betrat jede Gruppe die
kleine Bühne und präsentierte ihre Musik. Nach jeder Aufführung diskutierten wir unter Anleitung von Lilli die Charakteristik der jeweiligen Musik und nach welchen Absprachen die
Musiker sie wohl gestaltet haben.
Unsre Gruppe kam als letzte dran. Ich spielte wie mir zumute
war: angespannt, unsicher; die anderen spielten ähnliches; schon
bald bildeten wir ein homogenes Klanggeschehen, das sich auflöste, jemand blieb alleine übrig, trug neue Ideen vor, andere
kamen dazu... usw.
Ein Phänomen bei solchen freien Improvisationen ist es immer
wieder, dass plötzlich jeder mit traumwandlerischer Sicherheit spürt: „Jetzt ist Schluss“. Dann war es mucksmäuschenstill.
Schließlich wurde applaudiert. Sicher, wir haben eine sehr schöne Musik gemacht; trotzdem: der Applaus war für mich befremdlich; es war doch auch nur eine improvisierte Musik wie
jede andere...
Lilli war ganz aus dem Häuschen: Solch eine in sich stimmige Improvisation habe sie noch nie erlebt. „Wie habt ihr das
gemacht, welche Regel habt ihr vereinbart?“ Ihre Fragen wurden
bohrend und ungeduldig. Uns wurde mulmig. Den Teilnehmern war auch kein Regelwerk aufgefallen. Für sie war es einfach nur „tolle Musik“. „Wiederholt es doch noch mal!“ Nein, das
geht nicht. Schließlich rückte einer damit heraus: „Wir haben
gespielt, wie es uns gerade zumute war und dabei Kontakt zu allen
Mitspielern gehalten.“
Ratlosigkeit herrschte im Raum. Lilli konnte ihre Empörung
nicht verbergen. Mit kurzen Bemerkungen, die ich nicht mehr
erinnere, verließ sie den Raum. Den ganzen Sonntag war sie nicht
auffindbar. Es hieß, sie sei abgereist. Am Montag erschien sie
wieder zur Morgenrunde und traf die notwendigen Absprachen
für den Tag. Dann gingen wir mit unseren Instrumenten und
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50 Jahre ring für gruppenimprovisationen
Materialien in die verschiedenen Schulklassen und Kindergruppen;
der Seminaralltag nahm seinen gewohnten Lauf. Über das sonderbare Erlebnis von Samstagabend wurde nicht gesprochen.
Aber dieser Samstagabend wurde für mich, je länger ich auf ihn
zurückblicke, die Geburtsstunde der modernen Musiktherapie. Es
dauerte noch einige Jahre, bis ich herausfand, dass ich mit dieser
schlichten Anweisung „wir spielen wie es uns zumute ist und nehmen
Kontakt zu unseren Mitspielern auf“ in sozialen Beratungssituationen, Selbsterfahrungsgruppen, Einzel- und Gruppentherapien (das
waren bei mir vor allem Suchtpatienten und Menschen mit verschiedenen psychiatrischen Diagnosen) heilsame Prozesse auslösen
konnte. Von der Entscheidung für ein bestimmtes Instrument bis
zum Finden eines stimmigen Schlusses inszeniert der Patient sein
Lebensdrama, macht seine Schmerzen, seine Ängste seine Aggressionen hörbar. So wie das Gespräch nach der Gruppenimprovisation
nach bestimmten Regeln verläuft, so ist es auch in der Musiktherapie: „Was haben Sie wahrgenommen, was haben Sie erlebt, was haben
Sie unternommen? Was hat das alles mit Ihrer Lebenswirklichkeit zu
tun? Was wollen Sie jetzt tun?“ Der Dreischritt: Wahrnehmen, Verstehen, Entscheiden ist der Prozess der Heilung und ebenso der
Prozess des Lernens.
Die Spiele von Lilli Friedemann, die sie im o.a. Buch von 1973 und
in dem von 1983 (Trommeln – Tanzen – Tönen) veröffentlichte,
sind zeitlose biopsychosoziale Gesamtkunstwerke. Das steht ohne
jeden Zweifel fest. Insbesondere bei Suchtkranken und depressiven
Menschen habe ich sie immer wieder eingesetzt. Lilli benennt selber auch therapeutische Funktionen, etwa die Abfuhr von aggressiven Gefühlen bei den Trommelphasen, die Steigerung von Selbstbehauptungsenergie bei Marschierende und Opponent oder auch
bei der Tummelei (1983). Besonders genial finde ich Darstellen von
Gefühlen: Ein Teil der Gruppe verlässt den Raum; währenddessen
einigen sich die im Raum verbliebenen Spieler auf einen Gefühlszustand, den sie ohne weitere Absprache hörbar werden lassen.
Wenn die Teilnehmer von draußen die Klänge vernehmen, betreten sie schweigend den Raum, hören auf die Klänge, spüren die
Atmosphäre und die biopsychische Resonanz bei sich selbst, wählen ein passendes Instrument, spielen mit und bringen mit allen
gemeinsam die Musik zu Ende. Dann reden sie darüber, welches
Gefühl gemeint war, wobei nicht der Begriff im Fokus stehen soll,
sondern das Musikerlebnis. Genial finde ich diese Spielanordnung
deshalb, weil sprachliche Begriffe wohl das ungeeignetste Mittel zur
Erfassung von Gefühlen sind. Darstellen und Verstehen verbleibt
da, wo es am besten aufgehoben ist: in der Musik.
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Meine persönlichen 35 Jahre im ring
von Matthias Schwabe, Berlin
1979 als 21-jähriger Musikstudent auf der legendären Darmstädter Frühjahrstagung zum Thema Improvisation: Viele Vorträge,
viel Theorie und inmitten eines Workshops meine erste „freie“
Improvisation mit einer (ziemlich skurrilen!) ca. 70-jährigen Geigerin, die sich später als Lilli Friedemann entpuppt. Eine kleine
bunte Gruppe von Leuten ganz unterschiedlichen Alters umRINGt sie und ich werde eingeladen, mit ihnen in den Pausen in
einem leeren Klassenzimmer gemeinsam zu improvisieren. Das
ist mein „Initiations-Erlebnis“: Ich tauche ein in einen klingenden Gruppenprozess, die Musik entwickelt sich wie von alleine,
auch die Geräusche eines an- und abgestellten Wasserhahnes gehören dazu. Der Improvisations-Virus ist auf mich übergesprungen. Ich bin infiziert. Heilung bis heute nicht in Sicht.
Dann eine Art “Ritterschlag“: Lilli Friedemann überreicht mir
das Ring-Beitritts-Formular. Zweifellos eine große Ehre (andere beneiden mich darum!), aber ich verstehe auch: nicht unterschreiben geht nicht! Ich unterschreibe. Und ich soll unbedingt
im Herbst an ihrer Musikalischen Basisausbildung mitmachen. Es
seien nur noch 2 von 8 Plätzen frei. Nachher beteuern die anderen 7 Kursteilnehmer, sie hätte zu ihnen genau dasselbe gesagt.
Im Herbst dann mein (schon lange geplanter) Wechsel an die
Hamburger Hochschule. An den beiden Tagen vor der Aufnahmeprüfung mein erstes Workshop-Wochenende bei Lilli. Gestaltungs-Erfahrungen sammeln im Rahmen von klar definierten
Spielregeln, die so erfunden sind, dass ästhetisch sehr reizvolle
Ergebnisse entstehen. Ich bin in mehrfacher Hinsicht fasziniert.
Zunächst erscheint mir das außerordentlich hilfreich für mein
Kompositionsstudium. Aber im Laufe der weiteren Workshopwochenenden merke ich, dass ich hier eine Art von Musikpädagogik kennen lerne, die mich wirklich überzeugt. Ich werde
als kompetenter Lernender ernst genommen, lerne aus eigener
Erfahrung und dem anschließenden Auswertungsgespräch. Ich
habe nach so etwas gesucht, ohne genau beschreiben zu können,
was es ist und wo ich es finden kann. Hier ist es! Sie hat es entwickelt und ich kann es von ihr lernen. Wahnsinn!
Dann ein Abend mit den Hamburger Ring-Mitgliedern. Wir
treffen uns bei Hella Nagel im Wohnzimmer, denn Lillis Arbeitsräume im Leistikowstieg, der viele Jahre lang die Adresse
des rings war, sind zu klein. Die meisten anderen sind um die
30 Jahre älter als ich, fast alle arbeiten musikpädagogisch oder
-therapeutisch. Aber ich fühle mich trotz des Altersunterschieds
wohl. Wir improvisieren – da spielt Alter keine Rolle.
Der ring in diesen Jahren ist in erster Linie eine Art „Förderverein“. Er unterstützt die Arbeit von Lilli Friedemann, getragen von
ihren Schülern und Sympathisanten. Für die Hamburger gibt es
auch Zusammenkünfte in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen, aber als ich zum ring stoße, wohnt Lilli schon in Mölln
(ca. 1 Std. entfernt) und kommt nur noch selten nach Hamburg. Ihr Bestreben in ihren letzten Lebensjahren ist es, noch
viele Menschen über die „Musikalische Basisausbildung“ an ihre
Ausgabe LXXVII • April 2O14
50 Jahre ring für gruppenimprovisationen
Arbeit heranzuführen. Gleichzeitig möchte sie Improvisation auf die Konzert-Bühne bringen. Daraus
entsteht 1986, im Jahr ihres 80. Geburtstags, das
Ensemble Ex Tempore, in dem neben ihr und mir
noch Eiko Yamada und Herwig von Kieseritzky mitspielen. Außerdem möchte sie einen „harten Kern“
von Nachwuchskräften heranbilden, ein Vorhaben, zu
dem sie immer wieder ansetzt. Aber die Nachwuchskräfte
springen immer wieder ab, aus den unterschiedlichsten Gründen.
Letztlich scheinen auch in dieser Hinsicht die Mitglieder von Ex
Tempore als letzte übrig zu bleiben. Aber mir wird irgendwann
klar, dass es eigentlich ganz anders ist: Viele haben in den letzten
Jahrzehnten bei ihr gelernt, ihre Arbeit in mehr oder weniger
modifizierter Form in die eigene integriert und sich auf eigene
Beine gestellt. Sie unterstützen Lilli über ihre Mitgliedschaft im
Verein, halten aber maßvoll Abstand, weil es nicht ganz einfach
ist, vor einer solch starken Persönlichkeit, wie Lilli Friedemann es
ist, nicht lebenslänglich als Schüler da zu stehen.
Januar 1992, Mitgliederversammlung bei Hella. Lilli ist vor
einem Monat gestorben. Es war absehbar, sie hatte die letzten
drei Jahre im Altersheim verbracht. Wegen des nachlassenden
Kurzzeitgedächtnisses hatte sie die praktische Arbeit einstellen
müssen, und die war ihr Lebenselixier gewesen. Wir waren also
vorbereitet. Ich hatte schon vor zwei Jahren den Vereins-Vorsitz
von ihr übernommen.
Gibt es einen ring nach Lilli Friedemann? Ja, es gibt ihn. Wir
haben mit dem neuen ring bereits begonnen, dem ring, der jetzt
auf die Ressourcen der Mitglieder setzt, viele von ihnen Leute
mit jahrzehntelanger Erfahrung, einige gar mit Professuren. Wir
haben angefangen, Herbsttagungen zu bestimmten Themen zu
veranstalten, bei denen je ein oder zwei der erfahrenen RingMitglieder die Leitung übernehmen: Stimm-Improvisation mit
Gerd Lisken und mir, Material-Musik mit Walter Sons (und
seiner Metall- und Glas-Musik) und Herwig von Kieseritzky,
Therapeutische Aspekte der Improvisation mit Hartmut Kapteina
und Christa Kirchner. Dann kommt auch die Frühjahrstagung
dazu, die wir mit „Nachdenken über Improvisation“ betiteln. Zuerst gibt es Referate und Vorträge, abends wird improvisiert. Im
Laufe der Jahre entwickelt sich das Konzept weiter und wir nehmen uns Tagungs-Themen vor, die wir gemeinsam bearbeiten,
jeweils moderiert von zwei oder drei Personen und mit einem
ausgewogen Wechsel zwischen Theorie und Praxis.
Aber in der Januar-Sitzung 1992 haben wir noch etwas anderes
besprochen. Sind wir ein Verein, der sich ausschließlich mit der
Methodik Lilli-Friedemanns beschäftigt? Oder sind wir auch
offen für andere methodische Ansätze? Ich finde, dass es sich
lohnt, Lillis Ansatz zu pflegen und möchte nicht, dass ihre Radikalität verwässert wird. Aber Herwig bringt dann das Argument,
das mich umstimmt: Wenn Lillis Ansatz wirklich überzeugend
ist, dann wird er auch inmitten anderer Ansätze bestehen. Es ist
beschlossen: Wir öffnen uns. Wir wollen ein Forum sein für alle,
die sich mit Improvisation beschäftigen!
Und dann tauchen sie nach und nach bei uns auf den Tagungen
auf, die anderen Workshopleiter für Improvisation, von denen viele bisher kaum Kontakt zu Gleichgesinnten fanden und die sich
ringgespräch über gruppenimprovisation
deshalb freuen, bei uns eine Plattform der Auseinandersetzung zu finden. Gabi Stenger-Stein ist nach
meiner Erinnerung die erste, dann kommen Klaus
Holsten, Peter Jarchow, Thomas Reuter, Reinhard
Gagel und viele mehr. Je mehr kommen, desto mehr
erhöht sich die Attraktivität des Vereins.
Und Herwig hat Recht behalten: Lillis Arbeit existiert
weiterhin, aber eben als eine Methode unter vielen. Dafür
bieten Herwig und ich jedes Jahr einen Einführungskurs und einen Vertiefungskurs an, in denen man diese Arbeitsweise kennen
lernen kann. Auch darüber gewinnen wir viele neue Mitglieder
Für eine weitere Gruppe neuer Mitglieder ist das ringgespräch
der Einstieg. Nach Lilli Friedemanns Tod machen wir zwei
aufeinander folgende Hefte mit Nachrufen und Artikeln über
sie. Ich habe seit kurzem so ein Computer-Dingsbums, damals
noch eine kollektive Anschaffung mit zwei Mitbewohnerinnen,
schließlich braucht ein Einzelner so was ja gar nicht! Aber das
Ring-Layout sieht da plötzlich richtig professionell aus. Und
statt zusammen getackerter Lose-Blatt-Sammlungen lassen wir
es jetzt als Broschüre kopieren. Das macht was her. Und wo wir
schon ein erstes Thema hatten, machen wir doch gleich weiter
mit Themen: Improvisation im Instrumentalunterricht, Improvisation im Konzert, Musik und Bewegung... Wir recherchieren jetzt
auch nach kompetenten externen AutorInnen, sammeln möglichst viel Sachverstand in unseren Heften. Das ringgespräch ist
plötzlich eine Fachzeitung geworden und kann sogar abonniert
werden. Und siehe da – nicht nur Einzelpersonen, sondern auch
immer mehr Hochschulen und Universitäten tun das!
Der „neue“ ring hat sich herausgebildet, hat sich ein eigenes
Profil gegeben. Aus dem bisher „nur“ gemeinnützigen Verein
wird ein eingetragener Verein. Bei der Gelegenheit gönnen wir
uns einen siebenköpfigen Vorstand, das stellt die Vorstandsentscheidungen auf eine breitere Basis. Mittlerweile laden wir zu
unseren Herbsttagungen externe Kursleiter ein, die nicht dem
Verein angehören, uns aber interessieren: die Komponisten Peter Hoch und Alan Bern, den Posaunisten Johannes Bauer, den
amerikanischen Geiger Malcolm Goldstein, aus der Schweizer
Improvisations-Szene Peter K Frey, Christoph Baumann, Franziska Baumann und Alfred Zimmerlin, aus der österreichischen
Szene den Gitarristen Burkhard Stangl und den Trompeter Franz
Hautzinger und viele mehr. Viele von ihnen werden Mitglied
und erweitern so unsere große Palette spannender Kursleiter.
Und so ist es auch nur folgerichtig, dass 2010 mit Reinhard
Gagel zum ersten Mal ein Vorsitzender gewählt wird, der Lilli Friedemann nicht mehr selbst kennen gelernt hat. Er selbst
hat eine neue Veranstaltungsform in unser Angebot eingebracht:
das Improvisiakum, ein jährlicher Treffpunkt für ImprovisationsInteressierte, das 2014 bereits zum 16. Mal stattfinden wird.
Und jetzt wird der ring 50 Jahre alt! Ein halbes Jahrhundert! Aus
der Idee einer einzelnen überzeugten Improvisations-Pionierin
ist eine breite Plattform vor allem solcher Improvisations-MusikerInnen und –Interessierten geworden, die sich neben der
künstlerischen Arbeit auch der Vermittlung widmen. Eine gute
Basis für die nächsten 50 Jahre!
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50 Jahre ring für gruppenimprovisationen
Ring–Tagungen
Frühjahrstagungen „Nachdenken über Improvisation“ (ab 1993)
Herbsttagungen (ab 1990)
1990
Gerd Lisken (Bielefeld) & Matthias Schwabe (Berlin): Vokalimprovisation
Ort: Melle bei Osnabrück
1991
Walter Sons (Kassel) & Herwig von Kieseritzky (Berlin): Materialmusik
Ort: Dörnberg und Kassel
1992
Referent: Peter Jarchow (Leipzig)
Ort: Abbensen (bei Hannover)
1993
Gesine Thomforde: „Gruppenimprovisation als Teil einer musikalische Früherziehung“ Matthias Schwabe: „Improvisation als Weg
zum Musikverstehen“ Ort: Wedemark bei Hannover
Hartmut Kapteina (Siegen) und Christa Kirchner (Lübeck): Improvisieren an
der Grenze zur Therapie
Ort: Abbensen
1994
Gerd Lisken: „Welchen Stellenwert hat die Improvisation heute?“
Herwig von Kieseritzky: „Die Intelligenz der Sinne: Improvisation
als ästhetische Selbsterziehung“ Ort: Wedemark
Referenten: Thomas Niese (Hamburg), Gabriele Stenger-Stein (Frankfurt)
Ort: Wedemark
1995
Michael Dahms: „Wahrnehmung in der Gruppenimprovisation“
Willem Schulz: „Von der Improvisation zur Komposition“
Ort: Wedemark
Manuela Widmer (Salzburg, A): Musik und Bewegung
Ort: Wedemark
1996
„Methodik der Improvisation“ mit Beiträgen von Matthias Schwabe, Gabriele Stenger-Stein, Ralf Thomas und Gerd Lisken
Ort: Dassel (Nähe Göttingen)
Grazyna Przybylska-Angermann (Berlin): In der Spannung zwischen Körper
und Stimme
Ort: Dassel
1997
„Konzeptimprovisationen“ (Moderation: Carl Bergstrøm, MS)
Ort: Dassel (Nähe Göttingen)
Gerhard Kaufmann (Tübingen): Vokalimprovisation
Ort: Duderstadt
1998
„Was bedeutet uns Improvisation?“ (MS, HvK) Ort: Duderstadt
Gerd Lisken (Bielefeld): Meditatives Improvisieren Ort: Dassel
1999
„Musikalische Qualität in der Improvisation“ (Moderation: RG,
HvK, MS) Ort: Schlüchtern (Süd-Hessen)
Michael Bradke (Düsseldorf ): Klangbilder – Bilderklänge
Ort: Sprengel-Museum Hannover
2000
„Improvisieren üben“ (RG, HvK, GSS)
Ort: Schlüchtern
Referent: Thomas Reuter (Hannover)
Ort: Vlotho
2001
„Ausgefallen mangels Teilnehmern (Thema wie 2002)
Referent: Peter Hoch (Trossingen) Ort: Schlüchtern
2002
„Konstruktives Blabla und harmonischer Streit – Über das Reden
beim Improvisieren“ (BG, HvK) Ort: Schlüchtern
Peter Ausländer (Vlotho): Stimme – Geste – Raum
Ort: Vlotho
2003
„Improvisieren nach Konzepten“ (HvK, MS) Ort: Schlüchtern
Referent: Peter K Frey (Basel, CH) Ort: Schlüchtern
2004
„Hören und Improvisieren“ (BG, GSS) Ort: Schlüchtern
Referent: Johannes Bauer (Berlin) Ort: Göttingen
2005
„43200 Sekunden Musik“ – 12 Stunden Improvisation (HvK, MS)
Ort: Gießhaus Kassel
Referent: Urs Leimgruber (Luzern, CH)
Ort: Schlüchtern
2006
„Selbstorganisation in Improvisationsprozessen“ (RG, WS)
Ort: Schlüchtern
Referent: Malcolm Goldstein (Vermont, USA)
Ort: Schlüchtern
2007
„Improvisieren zu Stummfilmen“ (Karen Schlimp, MS),
Ort: Schlüchtern
Referent: Christoph Baumann (CH)
Ort: Schlüchtern
2008
„Raum, Klang & Bewegung“ (MS, WS) Ort: Kunsthaus Wiesbaden
Referentin: Franziska Baumann (CH) Ort: Schlüchtern
2009
„Zeit gestalten“ (WS, Caroline Knöbl)
Ort: Haasenhof Mandelsloh (bei Hannover)
Christoph Widauer (Puppenspieler, Wien, A), Karen Schlimp (Moderation,
Linz): Improvisierte Musik und experimentelles Puppenspiel Ort: Schlüchtern
2010
„Den ring neu denken“ (BG) Ort: Mandelsloh
Burkhard Stangl (Wien, A) Ort: Mandelsloh
2011
„Spielregelgeleitetes Improvisieren – Lilli Friedemanns Methode
heute in Kunst und Pädagogik“ (MS, RG) Ort: Mandelsloh
Alan Bern (USA und Berlin)
Ort: Mandelsloh
2012
„Der Umgang mit Tonhöhren in der freien Improvisation“
(Teresa Hackel, RG) Ort: Schlitz (Hessen)
Alfred Zimmerlin (CH)
Ort: Mandelsloh
2013
„Politische und kulturelle Dimensionen der Improvisation“ (RG,
WS) Ort: Mandelsloh
Franz Hautzinger (Wien, A)
Ort: Mandelsloh
2014
„Open stages – das Phänomen der Offenen Bühnen in der Improvisation“ (RG, WS) exploratorium berlin
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Namensabkürzungen in der Tabelle:
BG: Barbara Gabler
GSS: Gabriele Stenger-Stein
HvK: Herwig von Kieseritzky
MS: Matthias Schwabe
RG: Reinhard Gagel
WS: Wolfgang Schliemann
Ausgabe LXXVII • April 2O14
50 Jahre ring für gruppenimprovisationen
Currriculum Vitae improvisatae
Improvisation und der ring
von Karen Schlimp, Linz
von Eva-Maria Heinz, Pforzheim
1993 Wien – Berlin... Ich bin Mitte zwanzig, kurz nach einem
abgeschlossenen Instrumentalstudium an der Wiener Musikhochschule zum Studienabschluss schenkt mir eine Freundin
Musik spielend erfinden. Ich bin auf der Suche nach Improvisation. Unser Studienführer hatte das Fach aufgelistet mit dem
Zusatz „noch nicht eingerichtet“.
Klassisches Klavierstudium der 70iger Jahre und die vielen
Übestunden und dann sollst Du etwas vorspielen: „Aber ich
kann das neue Stück noch nicht vorspielen, da es meinen Ansprüchen bis jetzt nicht entspricht…“
Dann gleich hinein in die vielfältige pädagogische Welt des Unterrichtens am Klavier…
Meine Gedanken: „Das soll meinen Schülern nicht so gehen!“
So habe ich mich von diesem Zeitpunkt an mit Veröffentlichungen zu diesem Thema beschäftigt. Da fällt mir als erstes der wunderbare, wegweisende Klavierpädagoge Peter Heilbut ein. Später
natürlich dann Matthias Schwabe; und bis heute ist die Improvisation Bestandteil meines Klavierunterrichts, es gibt Gruppen
mit mehreren Spielern und auch Weiterbildung für KollegInnen.
Mein Weg führte dann auch zur Musikalischen Früherziehung
und damit zur Gruppenimprovisation. Ich unterrichtete an der
Fachschule bei den ErzieherInnen und führte auch hier Weiterbildungen durch.
Irgendwann erfuhr ich vom ring für gruppenimprovisation und
vom exploratorium berlin.
Bei Matthias Schwabe besuchte ich einen Kurs und konnte auch
an Veranstaltungen im exploratorium teilnehmen. Leider ist der
Weg aus dem Südwesten doch etwas zu weit, um regelmäßig dabei zu sein. Aber alle Veröffentlichungen und Aktivitäten verfolge ich mit großer Aufmerksamkeit und danke dem Vorstand
herzlich für ihre wichtige, informative und gute Arbeit.
Zu meiner großen Freude habe ich selbst Anschluss gefunden
bei den improvisierenden Musikern des Freien Forum Karlsruhe.
Dort ging gerade das 5. Festival für improvisierte Musik zu Ende,
bei dem ich selbst aktiv künstlerisch und pädagogisch mitgewirkt habe.
Ich suche, suche, suche… finde einen Kurs von Schwabe / von
Kieseritzky in Berlin. Fahre weit und alleine mit dem Zug, lande
irgendwo in einem Eck von Berlin, treffe lauter fremde Leute:
„Ich gehe durch ferne Landschaften, lande auf fremden Planeten,
spiele fremde Wesen und gestalte Klangikebanas-3-Klänge die sich
in ihrer Unterschiedlichkeit ergänzen“. Ich trete dem Ring bei.
1997 Herbsttagung in Schlüchtern – Ich lerne das „Mo“ kennen. Wir probieren Texte und Konzepte aus, ich fahre heim voll
von Ideen. Ich suche noch andere Improvisatoren auf; ich absolviere ein Improvisationsstudium; ich schaue und horche mich
in der deutschsprachigen Szene um.
1999 Ich fahre immer wieder zum Improvisationssymposion nach
Luzern: Ich treffe lauter bekannte Leute, laute und leise Improvisatoren aus Deutschland, Matthias, Eiko, Herwig, Reinhard.
Wir improvisieren, wir diskutieren, wir tauschen uns aus.
2000 Ich arbeite inzwischen an der Bruckneruniversität in Linz,
ich wende die Spielregeln von Matthias schon im eigenen Unterrichten an. Ich initiiere das „Freie Improvisationsforum“, organisiere die Linzer Improvisationstage und bitte Matthias als
Referenten zu uns nach Österreich. Wir vernetzen uns.
2005 Ich werde gebeten eine Ringtagung zu moderieren. Improvisieren zu Stummfilmen. Ich spiele seit Jahren zu Filmen
– jetzt geht es auch darum, darüber zu reflektieren. Mich bringt
es in meiner Arbeit wieder auf ein neues Level. Qualitätsmanagement in der Improvisation. 2009 Inzwischen unterrichte
ich auch mit anderen Mitgliedern (Reinhard Gagel) zusammen
ein Fach an der Musikuniversität Wien, Ensemble-musikalische
Kommunikation. Jedes Semester beim Performancetag überflügeln wir uns an Ideen und Konzepten zum Improvisieren.
Gleichzeitig unterschiedliche Improvisationswege zu gehen
und sich immer wieder zu treffen, bereichert mein Tun.
2014 Immer wieder treffe ich auf Improvisationsinseln in Österreich, Deutschland und der Schweiz; dazwischen fließt es hin
und her, wachsen Improvisationspflanzen, gedeihen Urwälder
und kleine Gärten. Manchmal pflücke ich, manchmal gieße
ich, immer wieder säe ich, und all das mit dem Bewusstsein, dass
ich Teil dieser Improvisationslandschaft bin, die auch durch
das Netzwerk ring für gruppenimprovisation entstanden ist.
ringgespräch über gruppenimprovisation
50 Jahre ring Gruß
von Carl Bergstrøm-Nielsen, Dänemark
Der ring für gruppenimprovisation ist so richtig ein solider Verein
im guten, klassischen Sinne, mit regelmäßigen Arrangements
und einem Blatt mit sowohl internen Mitteilungen als auch
Inhalten von allgemeinem Interesse innerhalb des Fachgebiets.
Das stiftet Austausch und soziale Dynamik.
Im ringgespräch kann man sowohl journalistisch als auch wissenschaftlich schreiben – die Grenzen sind fließend. So entwickeln sich diskret und zwanglos, aber am Ende schlagkräftig,
einzigartige Studien, die bedeutungsvoll zum Sichtbarmachen
improvisierter Musik in der Musikkultur beitragen.
So ein breiter Verein für Ausübende und alle andere Interessier-
59
50 Jahre ring für gruppenimprovisationen
ten, präzis fokussierend auf unserem schmalen Gebiet ist eine
Seltenheit. Es hat gut zu meiner Kenntnis und Verbindungen
von und zu Deutschland beigetragen. Weiter so!
rischen Input zu geben. Auch Grenzgänger der Improvisation
— Improvisation zu Film und Theater – haben inspirierende
Einblicke vermittelt. Beide Tagungen finden in Tagungsstätten
statt, sodass neben dem musikalischen Arbeiten auch der Kontakt untereinander eine große Rolle spielt. Nicht eine originäre
Ringveranstaltung, aber seit Jahren assoziiert ist das Improvisiakum in Köln, das eine Mittelstellung zwischen Werkstatt, Workshop und Forum einnimmt und sich aus einem Mitspielwochenende zu einer Werkstatt des Improvisierens entwickelt hat.
ringgespräch
Ringjubiläum
von Reinhard Gagel, Vorsitzender
des ring für gruppenimprovisation, Berlin
Der ring für gruppenimprovisation entstand 1964 aus einem
Kreis von Musikern, Pädagogen, Rhythmikern, Psychologen,
Therapeuten und interessierten Laien um die Geigerin und Improvisationspädagogin Lilli Friedemann (1906 bis 1991).
Wir sind ein Forum für Menschen, die sich für musikalische
Gruppenimprovisation interessieren. Improvisieren verstehen
wir als musikalische Interaktion, insbesondere mit dem erweiterten Material der neuen Musik. Unser Ziel ist, Improvisation
—als Form künstlerischen Ausdrucks
—als Möglichkeit musikalischer Kreativität
—als pädagogisch und therapeutisch anwendbare Disziplin
zu pflegen und zu fördern.
Wir bemühen uns um die qualitative Weiterentwicklung von
Methodik, Theorie und Praxis der Gruppenimprovisation und
verstehen uns als Ansprechpartner für Interessenten, die diese
Disziplin unterrichten, praktizieren oder erlernen wollen.
Der ring heute: Was wir sind ...
So steht es auf unserer Website www.impro-ring.de. Aber sind
wir wirklich ein „Kreis“? In den Anfangsjahren war das sicher so.
Aber heute sind wir eher ein „Ring“ und „ganz normaler“ Verein
geworden, mit weit über hundert Mitgliedern, mit einem vielköpfigen aktiven Vorstand und einigen wenigen regelmäßigen,
dafür aber umso zentraleren Veranstaltungen und Publikationen.
Das ringgespräch über gruppenimprovisation ist seit Jahren über
ein „Vereinsblatt“ herausgewachsen, sowohl was das Layout
und die Bandbreite und Qualität der veröffentlichten Texte betrifft. In ihr diskutieren namhafte Autoren Theorie und Praxis
der Improvisation; internationale Autoren können veröffentlichen; Musiker, Pädagogen und Veranstalter berichten über
ihre Projekte. Das einmal jährlich herausgegebene Heft ist ein
Kompendium der Gruppenimprovisation, vor allem durch die
– auf die ursprüngliche Idee des Forums bezogene – Praxis, ein
Hauptthema zu formulieren. Autorinnen aus dem ring schreiben ebenso wie ringferne Personen, sie formulieren Positionen,
Erfahrungen und Reflexionen zum Haupthema und laden ein,
sie in Beziehung zu setzen untereinander und zur eigenen Meinung zur Gruppenimprovisation. Das Redaktionsteam Reinhard Gagel, Matthias Schwabe und Iris Broderius als „Chefin
vom Dienst“ streben, sowohl was das Layout als auch die Redaktionsarbeit und den Umfang und die Bandbreite der Texte
betrifft, das Niveau einer Fachzeitschrift für Theorie und Praxis
der Improvisation an. Die Wahl der Themen spiegelt die Fragen
und Probleme, der sich die freie Gruppenimprovisation heute
stellt, und liefert grundsätzliche Texte und Berichte, die auch in
Bibliotheken und Universitäten erhältlich sind.
Website
Darüber hinaus haben wir eine sehr attraktive Website, www.
impro-ring.de, auf der nicht nur die Idee und die Personen des
Vereins präsentiert werden, sondern auch die Nachbestellung
von ringgesprächen, das Herunterladen von Texten und das Suchen nach Literatur möglich ist. Ebenso gibt der ring seit Jahren
einen auch auf der Internetseite zu findenden Kurskalender der
Improvisation heraus, in dem Mitglieder, aber auch externe Veranstalter und Musiker ihre Angebote veröffentlichen können.
Zweimal im Jahr veranstalten wir Tagungen:
Die Frühjahrstagung beschäftigt sich mit einem Thema, sie ist
dem Anliegen, ein Forum zu sein, am nächsten: Sie wird deshalb auch von Mitgliedern moderiert und dient dem Austausch,
der Reflexion und der Erprobung ausgewählter Probleme und
Themen improvisatorischer Praxis.
Zur Herbsttagung laden wir Künstler und Pädagogen der Improvisation ein, ihre Praxis zu vermitteln und damit künstle-
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Ausgabe LXXVII • April 2O14
50 Jahre ring für gruppenimprovisationen
exploratorium berlin
ring- und exploratoriumsjubiläum 2014
Aus dem ring hervorgegangen ist schließlich das exploratorium
berlin, das Matthias Schwabe 2004 in Berlin gründete und somit in diesem Jahr ebenfalls ein Jubiläum feiert. Das eine Vision eines Ortes der Improvisation verwirklichte, die eng mit der
Pionierin Lilli Friedemann und ihrer Vorstellung von Improvisation verbunden ist. Die Lilli-Friedemann-Stiftung finanziert
den Raum und die Mitarbeiter, das Programm ist ebenso wie
das ringgespräch exemplarisch für die Bandbreite und die Praxis
der Gruppenimprovisation. Konzerte mit namhaften Vertretern
der freien Improvisation und Grenzgängern hin zu anderen Stilen und Medien wie Tanz und Performance sind die eine Säule,
Workshops mit ausgesuchten, eigenständigen und originellen
Künstlern und Pädagogen die andere, zu der seit 2012 auch die
Forschung als dritte Säule dazukam. Nicht zuletzt wegen des
Angebotes von „barrierefreien“ Zugängen zum Improvisieren
in Offenen Bühnen hat das exploratorium kulturellen Modellcharakter und folgt der Vision einer sozialen Kunst. Erstkontakt mit dem improvisatorischen Musizieren ist ebenso möglich
wie das Erlernen und die Vertiefung der pädagogisch-künstlerischen Vermittlung für interessierte Musiker,
Therapeuten und Lehrer. Durch den Aufbau
einer Bibliothek, dem Angebot, Hilfestellung für wissenschaftliche Erforschung
der Improvisation und ihrer Pädagogik
zu geben und mit eigenen Forschungsprojekten fördert das exploratorium die
Weiterentwicklung und Vertiefung der
Improvisation.
Ein Ring von Menschen war einmal ein Wort für eine starke
Verbindung – heute ist es im Sprachgebrauch vom Netzwerk abgelöst. Networken ist eine Kulturtechnik geworden, einen Ring
zu bilden, klingt eher ein bisschen altmodisch. Doch ein Ring
kann eine Klammer bedeuten, die viele Dinge eigenständig und
trotzdem aufeinander bezogen zusammenhält. Dieser Gedanke
war leitend für die Idee eines Veranstaltungsrings im Jubiläumsjahr 2014. Wir haben Einzelpersonen, Initiativen oder Ensembles animiert, an ihrem jeweiligen Ort oder in ihrer Region
—Konzerte
—Workshops
—Performances
— Offene Bühnen
— Andere Projekte: Vorlesungen, Vorträge, Seminare usw.
zu veranstalten oder durchzuführen. Dabei soll es um Veranstaltungen gehen, die sich mit Improvisation befassen, sie künstlerisch präsentieren, pädagogisch vermitteln, therapeutisch einsetzen oder künstlerisch-wissenschaftlich reflektieren.
Und......was wir sein könnten
An diesem Punkt stehen wir im Jahre 2014, dem 50jährigen
Jubiläum, wir schauen zurück und nach vorne. So lange hat sich
keine Initiative der Improvisation gehalten, was nicht zuletzt
das Verdienst der immer noch wirkenden Bindungskraft und
Faszination von Lilli Friedemann ist und ebenso das von Matthias Schwabe, der den Verein so lange animiert und angeführt
hat. Was ist der ring für die Mitglieder, die sich entschlossen
haben, beizutreten, was möchten sie eigentlich haben, was wünschen sie sich? Was könnte der ring sein? Aber auch: Wer sind
die Mitglieder eigentlich? Wir haben natürlich Namenslisten –
aber was tun sie eigentlich, was geschieht in den vielen Orten,
in denen sie wirken und wohnen? Wird Improvisation vermittelt? Wird sie praktiziert? Werden Konzerte veranstaltet? Werden Kinder, Jugendliche und Erwachsene unterrichtet? Gibt
es offene Mitspielorte? Gibt es Zusammenschlüsse von Musikern, die künstlerisch über die Improvisation auf ihre Region
einwirken? Gibt es therapeutische Maßnahmen und Praktiken?
Welche Zielgruppen werden erreicht, welche vielleicht neu erschlossen? Gibt es Traditionen und wirkende Geschichten des
gemeinsamen und solistischen Improvisierens?
ringgespräch über gruppenimprovisation
Verklammert ist das Ganze durch eine zentrale Veröffentlichung
und Publikation, die der Öffentlichkeit allgemein präsentiert
wird und den Initiatoren zur Verfügung gestellt wird. Es ist ein
Flyer oder ein kleiner Katalog geworden, der das Label „ring“
trägt und damit auch die „Improvisation“ bekanntmacht. Da
wir davon ausgehen, bundesweit und auch in einige europäische
Länder zu wirken, wird eine solche Aktion auch überregional
wahrgenommen.
Unter dem Titel exploring improvisation findet vom 29. Mai
bis 1. Juni 2014 die Jubiläumsveranstaltung des exploratorium
berlin statt, in der auch mit einer Podiumsdiskussion der ring
gewürdigt wird. Namhafte Musiker der Improvisation treffen
in Konzert und Gespräch aufeinander, es wird Workshops und
offene Bühnen geben. Weiterhin vorgesehen ist ein künstlerischwissenschaftliches Symposium mit dem Thema Improvisation
erforschen – improvisierend forschen, zu dem forschende Wissenschaftler und Musiker eingeladen sind.
Zum Schluss
Der ring ist ein Verein mit einer langen Geschichte. Wir werden
immer älter, wir, die wir von Anfang an dabei waren. Was heute
nottut, ist die Öffnung zur jüngeren Generation und zu den
lebendigen Szenen der Improvisation. Weiterhin beginnen wir,
internationale Kontakte (aktuell nach Polen) auszubauen und in
öffentlichkeitswirksamen Aktionen wie dem Flyer, dem ringgespräch und dem Ringorchester bei der Herbsttagung 2014 den
ring im Bewusstsein zu verankern. Wir als Vorstand des rings
arbeiten weiter daran, diesen Verein als Improvisationsforum zu
erhalten. Wir danken allen, die bei der Vorbereitung des Flyers
mitgeholfen haben und wünschen uns weitere Jahre des Arbeitens am Weiterentwickeln der Gruppenimprovisation.
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10 Jahre exploratorium berlin
10 Jahre exploratorium berlin
Gästebuch des exploratorium berlin
Eintragungen von 2004 bis 2014
Ausgewählt und zusammengestellt von Iris Broderius
Das exploratorium berlin, 2004 gegründet als Zentrum für improvisierte Musik und kreative Musikpädagogik und in die erste
(Halbjahres-)Saison gegangen mit zwei Improvisations-Konzerten
(eines immerhin mit der Komponistin Sofia Gubaidulina und
ihrem Ensemble ASTRAEA), einer monatlichen Offenen Bühne,
drei regelmäßigen Kursen und vier Wochenendworkshops, kann
an seinem 10-jährigen Jubiläum im Mai 2014 auf mehr als 140
Konzerte mit Musikern aus der internationalen ImprovisationsSzene verweisen, auf über 300 Wochenendworkshops, pro Saison bis zu 13 verschiedene sogenannte Impro-Treffs und bis zu
15 parallele regelmäßige Kurse, außerdem auf fünf Festivals, ein
einjähriges Schulprojekt mit anschließendem pädagogischem
Symposion und Buchveröffentlichung sowie die Einrichtung einer Fachbibliothek. Der Dreiklang aus Konzerten, pädagogischer
Arbeit und sogenannter „partizipativer“ Arbeit – so nennen wir
die verschiedenen Formen der Offenen Bühnen – war stets das
Grundkonzept der praktischen Arbeit und wurde seit 2012 noch
durch den Bereich Theorie & Forschung ergänzt.
Damit dürfte das exploratorium der einzige Veranstaltungsort
weltweit sein, der sich in dieser Bandbreite mit dem Thema Improvisation auseinander setzt.
Nachfolgend drucken wir Besucher-Kommentare aus unserem
Gästebuch ab sowie Nutzer-Kommentare von Two Tickets, einer
Internetplattform, die uns regelmäßig Konzertbesucher vermittelt
hat, und zwar in der Regel solche, für die Freie Improvisation ein
völlig neues Erlebnis war.
Diese Kommentare beziehen sich fast ausschließlich auf Konzerte,
daher sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass dieser Bereich nur
einen Teil der Arbeit des exploratorium abdeckt.
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22. August 2004, Die Rote Fingur
Ein wunderbarer Raum für Klänge und experimentelle Arbeiten, ein besonderes Erlebnis war die ROTE FINGUR. Danke,
viel Erfolg für weiteres.
Ihre Freude und Begeisterung für Ihre Arbeit nehme ich mit
nach Hause.
Ein wunderbarer Ort zum Sein und zum Ausprobieren!
30. September 2004, ASTRAEA – Sofia Gubaidulina, Victor
Suslin & Alexander Suslin
Auf Klangreise mit ASTRAEA im exploratorium war eine
spannende Angelegenheit. Super auch mal wieder ganz andere
ausgefallenen Instrumente zu erleben. Freu mich schon auf die
nächste Klangreise im exploratorium.
Ich war ganz Ohr!
27. Februar 2005, S.I.E. Sächsisches Improvisationsensemble
war super.
hat mir gut gefallen, wie es 13 Leute geschafft haben, transparente Musik zu machen.
ausgewogene Mischung von Spielen und Nicht-Spielen jedes
Einzelnen.
spannend zu sehen und zu hören.
gute Idee, nicht zu verraten, welches die freien und welches die
Konzeptstücke waren.
aufregendes Spiel mit Einzelklängen und mit Transformationen
des Gesamtklangs.
11. Juni 2005, Urs Leimgruber & Eiko Yamada
Energiegeladen. Konsequent. Nervend. Beeindruckend. Musik.
Es tönte mir in den Knochen und rief leise schöne duftende
Bilder hervor.
Ausgabe LXXVII • April 2O14
10 Jahre exploratorium berlin
12. August 2005, Hubweber, Sheridan & Frangenheim
...eine Ersterfahrung für mich... Nachrichten aus dem All? Sehr
kreativ, aus dem Augenblick, explosiv. Zeitweise witzig, ernst,
leise, laut. Duos, Trios, Solos. Danke für dies.
20. Oktober 2005 Günter Heinz, Fred van Hove & Lou Grassi
Herzlichen Dank für die herrliche Konzertsituation. Eine so
schöne Atmosphäre hab ich lange nicht erlebt!
25. – 27. November 2005, Workshop Klangbewegungsfolgen
Wir haben den klaren, lichtdurchwanderten, resonanzlebendigen Raum sehr genossen – freuen uns auf neue Klangbewegungsfolgen.
17. Februar 2006, Fritz Hauser & Urs Leimgruber
Wunderbar, endlich ein Musik-Ort der Art in Kreuzberg.
Mitreißend – in Welten.
1. November 2006, Malcolm Goldstein
Improvisation mit voller Seele und ganzem Körper – ein beeindruckendes Erlebnis.
17. Mai 2007, Peter Michael Hamel / Trio Phono_Phono
Merci pour le concert – ça ouvre l’imagination – ça fait beaucopu de bien aux oreilles.
Sehr sehr gut, vor allem der Mut zu Rhythmus und Melodie
freute mich. Mindblowing.
9. September 2007 Dörner & Anissegos / Kammerlärm
So leise Töne und so spannungsvoll... so etwas habe ich lange
nicht hören dürfen. Es war ganz wunderbar!
2. Dezember 2007, Augen hören – Ohren sehen
Dass Musik und Tanz in der Improvisation so miteinander/ineinander aufgehen, habe ich bisher noch nicht gesehen/gehört.
Spannend – so sensibel und konzentriert – behutsam und impulsiv – in dieser Kombination ein Augen- und Ohrenschmaus!
29. Februar 2008, Limpe Fuchs
Sehr inspirierend! Verspielt, clowneske Katze, schön, lebendig,
vielfältig, temperamentvoll, tanzender Harlekin. Humor fängt
da an, wo der Spaß aufhört.
21. April 2008, Malcolm Goldstein & Matthias Kaul
Das war eine zunehmend wundersame Expedition in einen magischen akustischen Dschungel! Vielen Dank für die Intensität.
8. Mai 2008, Hans Koch & Christine Sehnaoui
Expressiv, körperlich – kraftvoll, anrührend – originell, spannungsgeladen...
13. Juli 2008, ODYSSEUS 2008
Eine tolle Aufführung! Absolut stimmig, manchmal bewegend,
selten langweilig, fast immer spannend.
Habe es genossen.
ringgespräch über gruppenimprovisation
19. Oktober 2008, Bernd Bleffert & Wolfgang Schliemann
„Versuch, die Zeit tot zu schlagen“ – ein Stück, das mich sehr
beeindruckt hat! Auch sonst: ein toller Abend!
21. – 24. Mai 2009, Festival Klangbildung
Kam jeweils am Abend und fand eine heitere, gelassene, offene und
produktive Stimmung vor – Grund zum Feiern, wer so arbeiten
kann.
Danke! Well organized! Generous! Great stuff!!! Fabulous Musicians & Teachers! Good luck for the next 5 years!
WS Stimmimprovisation mit Christian Wolz (2009)
Ich finde das exploratorium echt toll. Bin jeden Dienstag hier
zum Stimmimprovisationskurs bei Christian. Als Anfänger ist
es nicht immer leicht für mich, aber es gibt mir echt viel. Nette
Leute und vor allem stimmliche & improvisatorische Erfahrungen, und vor allem „aus mir herauskommen“. Danke.
8. – 12. Oktober 2009, Violinale
Großartig, bin begeistert!
Richtig gut.
Musiker sind schräge Vögel.
Tolle Improvisationseindrücke, ein vielseitiges, durchwachsenes, schräges Festival!
Wie reich die Streicherszene ist. Dies konnte man hier wirklich
erleben!
27. November 2009, Schlippenbach-Trio: Winterreise
Herzlichen Dank für einen wunderschönen Konzertabend. Ihr
habt mir das Hirn wieder frei gepustet!
25. Januar 2010, Sarotti Instant
Interessanter Einblick in die hohe Kunst der Improvisation! Hat
mich gefreut hier gewesen zu sein. Und einen Augenblick vergaß ich die Zeit.
25. März 2010, Vinko Globokar & Jean-Pierre Drouet
Impressionante, une grande plaisir!
Wunderbar, die beiden alten Meister der Improvisation & Komödie.
Fabulous Fun!
8. Juni 2010, Eine Schulklasse zum Improvisationskurs
Herzlichen Dank für die musikalischen Experimente!
Was wir hier gemacht haben, war richtig toll.
26. Juni 2011, Under Ground Symphony
Herzlichen Dank für dieses außergewöhnliche Musik-Ereignis,
was uns selbst als Berliner total überrascht hat und in seiner
faszinierenden Weise in Erinnerung bleiben wird.
Danke für den wunderschönen Abend. Selten so eine spannende Stunde mit (halb) improvisierter Musik verbracht – selten so
geschmackvoll eingesetzte Elektronik erlebt, selten so vielseitige
Klänge so homogen zusammengeführt erlebt.
Klangwunder bewegt von selbst. Danke!
63
10 Jahre exploratorium berlin
3. – 6. Oktober 2011, Yoshito Ohno Tage
Ein Geschenk! Danke. Nicht nur Yoshito Ohno’s Unterricht,
auch das Programm mit Lecture, Filmen und netten Leuten
stimmen mich rundherum zufrieden!! Ich fühle mich wohl und
bin sehr glücklich.
Dank! Wunderbar! Voller Inspiration, Tiefe, Leichtigkeit...
Sehr berührend und rührend der Herr Yoshito.
Ein Traum... Ein Gebet an den Raum...
15. Januar 2012, KLANK
ANDERS! Alles ist anders heute Abend. So ist dem Publikum angesichts/angeohrts des Klanggewitters, – gesäuselt – gekratzten –
gepflöckten – verknarzten – himmlisch-höllischen musikalischen
und sonstigen Ereignissen zwar nicht die Spucke weggeblieben,
wohl aber die Fähigkeit, sich mittels Worten in diesem Buch zu
äußern. Dass es außerordentlich gefallen hat, war dem Beifall zu
entnehmen, der auch nach einer Zugabe mit allerliebst bespielten
roten KLANK-Ballons nur schwerlich enden wollte. Danke.
3. Juni 2012, Blind Date
Musik ist nicht immer schön, aber spannend. Es hörte sich an
wie die Geburt der Improvisation.
15. Dezember 2012, Schlippenbach-Trio: Winterreise
Als der Klang fliegen lernte!
Stimmen aus dem Off – Zuhörer erzählen1
Ein wundervoller Off-Ort in Kreuzberg, der ein bisschen an das
frühere New York erinnert. Nach dem Konzert habe ich auf der
Internet-Seite des exploratorium gesehen, dass hier regelmäßig
eine Reihe sehr anspruchsvoller, interessanter Veranstaltungen
und Kurse zum Thema „Improvisation“ stattfinden. Die Leute,
die hier in Form einer Stiftung arbeiten, scheinen sehr offen,
freundlich und engagiert zu sein, in den Räumen herrscht eine
familiäre Atmosphäre.
(23.09.13)
Kimmig – Studer – Zimmerlin, 30.06.13
Wenn man bereit ist, sich auf diese Art von Musik einzulassen,
eröffnen sich doch recht neue Musikerfahrungen. Es war schon
erstaunlich, welche Töne und Geräusche sich mit diesen Instrumenten erzeugen lassen.
Demierre – Leimgruber – Phillips, 06.06.13
Absolut überzeugende Musik (ohne Lieder), jedoch mit der maximalen geistigen und seelischen Tiefe. Was die drei Musiker
gespielt haben war eine Reise in die Zeit vor der Entstehung der
Menschheit.
KOLK / Great Waitress, 18.10.12
Bei der zweiten Gruppe Great Waitress war ich dann Mr. Ganzohr und lauschte gespannt von Anfang bis Ende. Die Musiker/innen entwickelten mit ihren Instrumenten sowas wie atonale und
rhythmische Klangwolken, die leise entstanden, nach und nach an
Kraft und Ausdruck gewannen, den Raum füllten, um sich nach
einem Höhepunkt wieder in leise Geräusche zu verflüchtigen, aus
denen dann wieder neue Klangwolken entstanden. Das war meine
Wahrnehmung, andere haben es sicher anders gehört. Mir hat es
wieder sehr gefallen und ich kann einen Besuch im exploratorium
wärmstens empfehlen, für Musiker und Laien gleichermaßen.
Ensemble 2013, 12.02.12
Es war nicht so mein fall. die drei musiker spielten“geräusche
machen“.so ist das halt mit experimentaler „musik“. im zweiten
teil tanzte noch eine dame dazu. oder, vielmehr, bewegte sich
im nicht vorhandenden rhythmus. aber man muss den herren
bestätigen, dass sie sehr ernsthaft bei der sache waren.
Ich gehe immer wieder gern ins exploratorium, da hier die Improvisation an keine Vorgaben gebunden ist, also nicht Teil einer bestehenden Kompositionsstruktur ist. Von daher ist alles
neu und 100 % Überraschung.
(Nov. 2013)
Katharina Weber – Capece – Malfatti, 25.09.11
Das exploratorium berlin ist ein ganz spezieller Ort. Wer sich in diese Räume traut, muss seine Vorstellungen von herkömmlicher Musik verlassen und sich auf experimentelle zeitgenössische Musik einstellen. Für mich war es ein faszinierender Abend. Allerdings fehlen
mir alle Voraussetzungen, um die Leistungen der Musiker bewerten
zu können. Katharina Weber verblüffte mich mit ihrem Spiel voller
Kraft und Energie und Geräuschhaftem, das mich an ein beeindruckendes Gewitter erinnerte. Noch stärker überfordert war ich vom
Duo Lucio Capece & Radu Malfatti. Mir fehlte die Erfahrung, die
musikalischen Entscheidungen, Pausen und das großartige Timing
der Klänge zu genießen. Während die Kenner die geheimnisvolle
Schönheit der Klänge priesen, nahm ich Musikbanause das Ereignis mehr als Performance in der Art von Becketts Spiel ohne Worte
oder Warten auf Godot wahr. Das war zwar nicht im Sinne der Erfinder, aber ich hatte auch mein erstaunliches Erlebnis.
1 Erfahrungsberichte aus dem Online-Portal Two Tickets zum Ort exploratorium
berlin. Das Online-Portal Two Tickets verlost kostenlose Karten für kulturelle Veranstaltungen in Berlin, Hamburg, München und anderen Großstädten Deutschlands. Um diesen Service nutzen zu können, muss man sich gegen eine monatliche
Gebühr online anmelden.
Dans les arbres, 20.02.11
für mich waren dans les arbres eine akustische neu erfahrung. das
ganze ist halt etwas besonderes und jenseits des mainstream. zu
empfehlen für alle die experimente mögen oder sowieso experimentelle musik.
tolle „show“, freundliche menschen, getränke zum einkaufspreis. danke.
Konzertraum in der Fabriketage der Sarottihöfe – recht ungewöhnliche Stätte für Konzerte. Das Personal ist sehr nett und
erklärungsbereit. Getränke sind sehr preisgünstig in Selbstbedienung erhältlich.
(18.07.13)
64
Ausgabe LXXVII • April 2O14
Improvisations-Bibliothek im exploratorium berlin
Mit einer lecture performance „theory on stage“ wurde Anfang
März 2014 die Bibliothek im exploratorium berlin eröffnet. Sie
ist thematisch konzentriert auf musikalische Improvisation, kreative Musikpädagogik, medienübergreifende Performance- und
Improvisationsliteratur und bietet sowohl Theorie (Soziologie,
Philosophie, Musiktheorie) als auch praktische Handreichungen, Unterrichtsmaterial und Konzeptionen grafischer und verbaler Natur. Wir sammeln auch in Deutschland nicht so häufig rezipierte Literatur, insbesondere aus dem angelsächsischen
Raum. Die Bibliothek ist Sammlung, Archiv und Treffpunkt,
sie wendet sich an Improvisationsinteressierte, seien es Musiker, Hörer, Forschende, Lehrer und Künstler. Wir bieten eine
(ständig erweiterte) Zusammenstellung bisheriger und aktueller
Veröffentlichungen.
Ein weiterer Schwerpunkt ist eine CD-Sammlung: Produktionen aktueller Improvisationsensembles sind ebenso zu hören
wie Konzertmitschnitte aus dem Programm des exploratorium
aus den letzten 10 Jahren.
Außerdem stehen die Videomitschnitte der Konzerte und weitere DVDs mit Filmen über Improvisationsmusiker und Konzerte
zur Verfügung und können im Raum angesehen werden.
Wir beherbergen Material von Lilli Friedemann, der Improvisationskünstlerin, -pädagogin und -pionierin. Das sind ihre
Veröffentlichungen (Bücher und in Zeitschriften veröffentlichte
Texte), die von ihr gegründete Zeitschrift ringgespräch über gruppenimprovisation und Archivmaterial über ihre Arbeit (z.B. Teilnehmerlisten). Weiterhin lagern Bänder mit Mitschnitten ihrer
Improvisationsworkshops, die wir mit der Zeit digitalisieren
werden. Dieses Material bietet Interessierten eine Chance, ihr
pädagogisches und künstlerisches Wirken intensiver kennenzulernen und könnte auch vertiefenden Forschungen dienen.
Die Bibliothekalien stehen nur als Präsenzbibliothek zur Verfügung, eine Ausleihe ist nicht möglich. Allerdings besteht die
ringgespräch über gruppenimprovisation
Möglichkeit, nach Vereinbarung auch längere Zeit innerhalb der
Öffnungszeiten des exploratorium arbeiten, lesen oder hören zu
können. Eine extra eingerichtete Bibliothekssuchmaschine hilft
bei der Suche nach Titeln und Schlagworten, nach Musikern und
Ensembles; ein monatlich ergänzter Katalog ist auch im Internet
über http://exploratorium-berlin.de/bibliothek/ einsehbar. Die
momentan im Wachsen befindliche Sammlung wird laufend
ergänzt, wir sind um Tipps und Hinweise zum Thema Improvisation sehr dankbar.
Als Treffpunkt soll die Bibliothek den Ankerpunkt der Abteilung
Theorie und Forschung der Improvisation am exploratorium bilden, regelmäßige Veranstaltungen zum Theorie-Praxisverhältnis
freier Improvisation und Kammermusik (die Konzertreihe
Sound and lecture und das Gesprächsformat Labor) werden im
Programm extra ausgewiesen. Hilfestellung und Beratung für
Diplomanden, Doktoranden und eine Sammlung wissenschaftlicher Arbeiten über Improvisation sind vorgesehen. Die Bibliothek wird geführt von Dr. Reinhard Gagel, an ihn kann man
sich wegen eines Besuchs oder anderer Informationen zu Literatur und Theorie der Improvisation wenden.
Improvisations-Bibliothek im exploratorium berlin.
Öffnungszeiten nach Vereinbarung.
Anmeldung und Info:
Dr. Reinhard Gagel, (030)53 05 06 46
[email protected]
65
10 Jahre exploratorium berlin
Demierre_Leimgruber_Phillips 10. Februar 2008
Schlippenbach Trio 27. November 2009
13. Juli 2008 Odysseus
Fotos: Archiv exploratorium berlin, Sergej Horovitz, Berlin
Malcolm Goldstein & Matthias Kaul
im Konzert am 21. April 2008
Sommerfest im Juni 2012
exploratorium berlin in der Akademie der Künste während des FeldForschungsFestivalKultur 2010
30.09.2004 Sofia Gubaidulina
Performance von Matthias Schwabe & Anna Barth am 22. November 2012
underground symphony in einem stillgelegten Berliner U-Bahnhof am 26. Juni 2011
Sound and Lecture ZIMT Duchamp Default 16. Februar 2014
Vorgestellt
Vorgestellt
Plattenteller
Der Atem des Spontanen
von Hannes Schweiger, Wien
Spontaneous Music Ensemble
Challenge
(EMANEM 5029): Kenny Wheeler (flh), Paul Rutherford (tb),
Trevor Watts (fl, ss, as), Evan Parker (ss), Bruce Cale, Jeff Clyne,
Chris Cambridge (b), John Stevens (dr) – rec.: 1966/67
New Surfacing
(EMANEM 5030): John Stevens (perc, tp, voice),
Nigel Coombes (v), Roger Smith (g) – rec.: 1978, 1992
Der Schlagzeuger John Stevens war der Motor schlechthin der
sich damals gerade bildenden jungen britischen Szene der freigeistigen Improvisatoren, die er in dem Musikerpool Spontaneous Music Ensemble zusammenführte. Die beiden, vom wichtigsten Archivar der britischen Improvisationsmusik Martin
Davidson, auf seinem Emanem-Label nun wieder veröffentlichten Aufnahmen, belegen den Entstehungsprozess des einzigartigen, richtungsweisenden Klangkosmos des SME. Challenge,
aufgenommen 1966, war die erste offizielle Veröffentlichung
des neu gegründeten Kollektivs. Man stellte sich der Herausforderung, andockend an die gerade aufs äußerste brodelnde
amerikanischen Free Jazz-Bewegung, Wesenszüge zu einer eigenen Klangsprache, gespeist von einer sich auf die europäische
komponierte Avantgarde beziehende Klangästhetik – im Sinne
einer den Free Jazz befruchtenden Ergänzung – zu entwickeln.
Der Niederschlag, eben auch gerade von Seiten der Neudefinition der rhythmischen Funktionalität, zu der John Stevens
Bahnbrechendes leistete, war umwälzend und ist rückblickend
betrachtet von nachhaltiger Wirkung. Die Stücke von Challenge
umspielen in origineller Weise das erweiterte Tonalitäts- und
Harmonieverständnis wie es große amerikanische Neuerer wie
Coleman, Dolphy oder die Musiker des New York Art Quartet
gepflogen haben, erkunden aber mit Konsequenz bereits neuartige Klangqualitäten und Interaktionsformen, die mit Reduktionen, einem anders gearteten Tempoverständnis und kristallinerer Gefügebildung arbeiten. Durchzogen sind die Texturen
mit famosen, bereits enorm reifen Improvisationen dieser jungen Querdenker. Im Zusatzstück Distant Little Soul von 1967
manifestiert sich in einem grazilen, kollektiven Parforceritt die
Autonomie vom amerikanischen Free Jazz-Idiom bereits noch
deutlicher. Die weitestgehende Abnabelung und die Herausbildung einer eigenständigen Klanglichkeit untersteichen die
68
Aufnahmen, die auf New Surfacing zusammengefasst sind.
Sie entstammen der mittleren und letzten Schaffensperiode
des saiteninstrumente-dominierten SME. Spezifikum wurden
mosaikhafte Schichtungen, subtile Vehemenz, Umgehen der
Wiederholbarkeit, ein atmender Dichtegrad. Ausgelebt in der
expressiven Direktheit engmaschiger Interaktion. Mastermind
Stevens hatte sich immer deutlicher an den Klangeindrücken
der Dodekaphonie, im Speziellen Anton Weberns und der Abstraktheit seiner musikalischen Sprache, ein Beispiel genommen.
Mit seelenverwandten Mitstreitern erimprovisierte der jetzt nur
mehr an einem spartanischen Drumset agierende Schlagzeuger
eine luftige, trockene, idiomentsagende, klangfördernde Abstraktästhetik, die als eine wichtige Säule Improvisierter Musik
Bestand hat.
Brotherhood of Breath
Procession – live At Toulouse
(Ogun CD 040): Chris McGregor (p), Mike Osborne, Dudu
Pukwana, Evan Parker, Bruce Grant (saxes), Harry Beckett,
Marc Charig (tp), Radu Malfatti (tb), Johnny Dyani, Harry
Miller (b), Louis Moholo-Moholo (dr) – rec.: 1978.
Jointventure der südafrikanischen und britischen Free Jazz Szene. Initiiert von dem südafrikanischen Pianisten Chris McGregor, der mit den wichtigsten Musikern der zeitgenössischen,
Ausgabe LXXVII • April 2O14
Vorgestellt
südafrikanischen Jazzbewegung Mitte der 1960er Jahre nach
England emigrierte. Dort baute er seine „Flagship“-Band, das
Großensemble Brotherhood of Breath auf. Zusammengesetzt aus
Südafrikanern, die auch die Gruppe Blue Notes bildeten, und einigen der herausragendsten Improvisatoren der englischen Free
Music. Dieser erstmals, mit Extramaterial angereicherte, auf
CD veröffentlichte Konzertmitschnitt dokumentiert eine Sternstunde in der Geschichte der Band. Die „Brotherhood“-Musik
atmete die Solidarität und den Respekt füreinander unter Menschen verschiedener Kulturen. Und dieser Atem war heiß und
entströmte einem kollektiven Geist, der im Zentrum der Musik
stand. In befruchtender und einfühlsamer Weise verschmolzen
in ihr südafrikanische Khwela-Tradition und Townshipmusik
mit den avancierten Klangforschungen der britischen Improvisationsmusik. Sangbare Abstraktheit und abstrakte „Melodramatik“ kehrten sich hervor. Kaum waren die Kollektivcluster
dichter, kraftvoller. Die Soli waren keine Showcases, sondern
Impulsgeber für die nächste Gemeinschaftsaktion wie etwa freie
Ausbrüche, trancehafte polymetrische Orchestertutti, ergreifende, vor Leben sprühende afrikabezogene Melodiesequenzen
oder fulminate Up-Tempo Reißer mit messerscharfen Bläsersätzen. Eine Klangprozession der Farbenpracht, Leidenschaft und
Liebe zum Menschen.
Lol Coxhill / Michel Doneda
Sitting On Your Stairs (EMANEM 5028): Lol Coxhill, Michel
Doneda (ss) – rec.: Feb. 2011; www.emanemdisc.com
nalen Brechungen. Zwei solche Zauberer auf ihren Stufen, und
der Tag kann kommen. Free Improvisation extraordinaire.
Rupp / Müller / Fischerlehner
Tam
(not applicable recordings 027): Olaf Rupp (g), Matthias Müller (tb), Rudi Fischerlehner (dr) – rec.: Mai 2013
Spontane Improvisationskultur der sinnfälligen Art. Hier prallen nicht nur uneingeschränkte Klangqualitäten aufeinander,
türmen sich auf, fallen auseinander, sondern es wird auch mit
intuitiv aufkeimenden Struktursequenzen modelliert, was für
die Musik ein Zugewinn an Suspense und Farbigkeit ist. Urheber dieser belebenden Musik ist dieses Berliner Trio inklusive
eines Zugereisten – dem Österreicher Fischerlehner. Der kollektive Gedanke gilt ihnen als grundlegender Ansatz. Den verlautbaren sie mit enormer Sensibilität. Das Klangwerk gerinnt
zu einem kompakten Ereignisfluss. Von dynamischen Wechselwirkungen gekennzeichnet. Beispielsweise durch den Aufbau
von elegischen Crescendo – Decrescendo Verläufen oder fein
gewobenen Klangballungen, die in Ausdünnungen übergehen.
Saturierte Idiome bleiben außen vor. Demzufolge blitzt auch
versteckt Humoreskes in den zerdehnten, zerstückelten Rhythmusmustern auf, die einen Klangschwall anregen, der am Siedepunkt herumwirbelt. Aber alles bleibt luftig und biegsam und
die Musik wird zu einem suggestiven Schwebezustand zurückgenommen. Eine Tonschüttung von polydimensionaler Qualität. Um dieses Trio könnte man ruhig mehr Tam-Tam machen.
“The sopranos at their best”. Zwei herausragende Innovatoren
auf diesem lange Zeit als sperrig verschrienen Instrument. Zwei
kompromisslose Klangapologeten, die sich ausschließlich dem
Sopransaxophon verschrieben haben / hatten. Hatten, weil der
großartige Lol Coxhill vergangenes Jahr leider dem Irdischen
entschwunden ist. Somit handelt es sich um einige seiner letzten veröffentlichten Aufnahmen. Und die strotzen vor Leben,
Imaginationskraft und Leidenschaft. Mit dem um eine Generation jüngeren Doneda tritt Coxhill in einen flirrenden, lodernden Diskurs, der sich weitestgehend entschleunigt zuträgt und
vom Hineinfallenlassen in die Fantasien des anderen profitiert.
Korrespondieren, kommunizieren, interagieren. Mit größtem
Respekt füreinander, einem großen Herz für libertäre Improvisation und einer Sensibilität für Klangnuancen. Die beiden
„Leib und Seele“-Improvisatoren gehören zu jener Spezies Musiker, die die Möglichkeiten ihrer Instrumente an den Rand des
Machbaren getrieben haben. Was sie mit signifikantem Klangbewusstsein zu nutzen wissen. Hier werden auch die Divergenzen zwischen den beiden Musikern hörbar. Agiert Doneda mit
scharf konturierten Stakkatoketten und ausgeprägter Geräuschanbindung, so ist Coxhills abstrahierte Legatospielweise mehr
im Tonalen verankert und lässt unorthodoxe Klangqualitäten
als Leuchtpunkte erstrahlen. Da kulminieren die Überschneidungen, funkensprühenden Reibungen, magischen Symbiosen,
mikrointervallischen Feinheiten, melodischen Eigenheiten, ato-
ringgespräch über gruppenimprovisation
69
Vorgestellt
Büchertisch
Lesetipp
von Carl Bergstrøm-Nielsen
Nanz, Dieter A. (Hrsg.)
Aspekte der freien Improvisation in der Musik.
Wolke Verlag, Hofheim 2011
Webseite mit Bonusmaterial: www.getreidesilo.net
In der Schweiz wurde die freie Improvisation diskutiert. 2003 bis
2010 wurden Basler Improvisationsmatineen arrangiert auf Initiative von Nicolas Rihs und Hansjürgen Wäldele mit Konzerten, kleinen Vorträgen und Diskussionen, auch in noch weiteren Städten.1
Der von Kritiker Thomas Meyers 2010 veröffentlichte Artikel
Ist die freie Improvisation am Ende? provozierte einen Sturm von
Kommentaren – nicht weniger als 35 Kommentatoren beschrieben ihren Eindruck von der Szene.2 Kurz nachher erschien dieses
Buch mit 33 Beiträgen auf dem Hintergrund der Improvisationsmatineen. Es zeugt von einer Breite in der Diskussion, so decken
sich die Namen der Verfasser nur ganz wenig mit denen, die auf
Meyers Artikel reagierten – die Besucher von Matineen und Leserschar der Zeitschrift sind nicht dieselben Leute.
Die Diskussion in der Schweiz über freie Improvisation scheint
also neuerdings umfassend zu sein, und Improvisation ist an
1 Nanz kommentiert hier: Improvisieren und Forschen. Gedanken am Rande der Basler Improvisationsmatineen. In: MusikTexte 114, August 2007, S.83-84.
2 Sowohl Meyers Artikel (Dissonanz 110, 2010) als auch die Reaktionen sind hier
im Internet zu sehen: www.dissonance.ch/de/rubriken/6/95
70
Musikhochschulen schon etwas etablierter geworden. Das Buch
ist Resultat einer Umfrage, die Autoren wurden gebeten, folgende Frage zu beantworten: Welche Frage muss man stellen, um das
Wesentliche der freien Improvisation zu erfahren? Nicht nur Musiker, auch Journalisten, Musikwissenschaftler und Komponisten
wurden befragt.
Programmatisch erscheint ein Zitat von Miriam Sturzenegger auf der Hinterseite des Buches, das eine Erweiterung der
Sprache, das Schaffen von neuen Begriffen, die einer adäquaten
Beschreibung und Perspektivierung dienen, als wünschenswert
sieht. Freie Improvisation hatten wir schon lange3. Kann der Leser aus dem Buch eine generelle, aktuelle Charakterisierung der
freien Improvisation gewinnen? Ich versuche das im Folgenden
zu skizzieren – obgleich die Vielfalt der Beiträge, wie man sich
denken kann, jenseits möglicher Zusammenfassung ist. Vieles
wird für mich als Leser zu einem Hexenkessel von ‚gemischten Betrachtungen’, worin Teilmomente aufleuchten können.
Solches Labyrinthische („Mäandernde“ sagt Thomas Meyer)
könnte vielleicht auch ein Zeichen sein für das von Sturzenegger
formulierte Problem: Wie kann man sinnvoll und verständlich
über die frei improvisierte Musik sprechen?
In direktem Zusammenhang mit Spielen oder Hören können
viele Beobachtungen und Fragen auftauchen. Meyer bezeichnet
die Begriffe ‚Form’, ‚Interaktion’ und ‚Verantwortung’ als oft
verwendete während der Matineen. Urban Mäder präsentiert
eine detaillierte Dokumentation aus einer seiner Lehrstunden
für freie Ensembleimprovisation an der Musikhochschule Basel.
Das kann ein Beispiel dafür sein, wie wichtig Dialoge sind für
die Entstehung von Bedeutung. Was aber sehr bedeutungsvoll
3 Kein Quellennachweis im Buche, doch das Zitat scheint ein leicht revidiertes
Auszug aus ihrem Text in Antwort zu Meyer zu sein, siehe URL in Note 2.
Ausgabe LXXVII • April 2O14
Vorgestellt
mitten in einer Diskussion erscheint, könnte in einem anderen
Kontext nicht nur schwer „generalisierbar” sein, sondern einfach
weniger erhellend. Das könnte wiederum auch an einem Mangel
an Verbindungen zu allgemeinen und gängigen Begriffen liegen.
Einige Autoren kritisieren den Begriff von ‚Freiheit’ und andere
solche, die wie dieser mit Emanzipation oder Ähnlichem zu tun
haben können. Für Sebastian Kiefer sind ‚Unvorhersehbarkeit’
und ‚Spontaneität’ weder notwendig miteinander verbunden,
noch ist Spontaneität ein besonderes Privileg für improvisierte
Musik. Claudia Ulla Binder (S.187) beschreibt letzteres eindringlich: Wenn „alle Anwesenden am Entstehen von aufregender
Musik teilhaben“, dann gilt zwar, dass „wer das einmal erlebt hat,
will es unbedingt wieder erleben“. Aber: „Nun gibt es aber diese
‚wahnsinnigen’ Momente auch dann, wenn großartige Interpreten
oder Interpretinnen einen riesigen Konzertsaal zum gemeinsamen
Atmen oder zum Anhalten desselben bringen…und dies mit komponierten Werken, die vor vielen Jahren zu Papier gebracht wurden“.
Für Matthias Kaul (S.53) existiert Freiheit nur in der Wahl von
‚Spielmaterialien’ (er meint vielleicht Instrumente und Ähnliches?) – sonst herrscht eine situationsabhängige Disziplin. Für
Harald Kimmig (S.138) sind Begriffe wie ‚Kreativität’ und ‚Intuition’ „überstrapaziert” und „missverständlich”. Peter Baumgartner (S.190) ist dagegen, „Mythopoet des ‚Augenblicks‘, der
‚Präsenz‘, des ‚Neuen‘, etc.” zu sein. Er verweist auf eine vorhersehbare Dimension in Improvisationen und auf konventionelle
Züge im Klingenden und in der Interaktion. Rudolf Kelterborn
(S.177) sowie Binder (S.186) führen dies weiter aus. Ersterer
moniert einen Mangel an „unorganischen” Impulsen sowie eine
Dominanz von langen allmählichen Entwicklungen; letztere
das häufige Auftreten bekannter Texturen: Klangfläche, mit
Löchern, mit Höhepunkt. Möglicherweise waren Begriffe wie
‚Freiheit’ etc. relevanter in den sechziger und siebziger Jahren als
jetzt, und es ist jetzt mehr an der Zeit, die freie Improvisation
ringgespräch über gruppenimprovisation
als eine Praxis anzuschauen, welche die Spieler mit ihren spezifischen Ansprüchen beauftragt. Das ist wenigstens in negativer
Umschreibung zu erkennen. Nanz beschreibt den Sachverhalt
mit dieser Metapher: „Die rotglühende musikalische Lava der
sechziger Jahre ist abgekühlt, man beginnt, das unwegsame neue
Atoll zu vermessen - um es zu besiedeln”4.
Praktische Ratschläge für Musiker könnten vielleicht leichter zu
formulieren sein. Walter Fähndrich führt eine Zahl von Checklisten an, die auf Vermeidung von Klischees zielen. Und Rohner
macht seine Vorschläge wunderbar klar durch grafische Illustrationen.
Christoph Schiller fasst Charakteristika der Musik zusammen
in eine Liste – so eine einfache Systematik hilft schon, über das
Rhapsodische hinauszukommen. Ein ähnliches Verfahren ist das
thematische Register des ganzen Buches. Und Harald Kimmig
demonstriert, dass es doch innerhalb des Möglichen liegt, zu
gemeinsamen Begriffen, in welchen man über die freie Improvisation sprechen kann, zu gelangen. Er stellt fünf Fragen: ”Was
geschieht instrumentaltechnisch? Was geschieht ästhetisch? Ist Motorik (Körper), Emotion, Intellekt im Spiel? Wie wird kommuniziert?
Ist Bereitschaft zum Risiko vorhanden?”. Sie sind anwendbar auf
jede Musik und zielen pragmatisch auf „hard facts”. So könnten
sie deskriptiv funktionieren, eine ethnologische / soziologische
komparative Perspektive andeuten. Was überwiegt hier, so kann
man anhand dieses Modells fragen.
So, zum Beispiel, kommen wir vielleicht aus der „mythopoetischen” Sphäre hinaus und hin zur Aktualität.
4 Aus dem in 2007 geschriebenen Artikel S.83, siehe Note 1
71
Berichte
Berichte
Wuppertal - ein Ort für improvisierte Musik
Konzert von Gagel & Irmer und von Camatta, Tang & Wissel am 19. April 2013
von Gerd Rieger, Krefeld
Von Krefeld fahre ich fast eine Stunde
nach Wuppertal-Elberfeld. Dort steht
im Zentrum von Elberfeld eine besondere Kirche, die Neue Kirche in der
Sophienstraße. Eine Zwischenetage für Konzerte und Gottesdienst wurde in die alte
Kirche hinein gebaut. Im
Parterre sind kleine Gruppenräume und eine Bar entstanden.
Auf der ersten Etage liegt vertieft
eine Bühne mitten im Raum, groß
genug für Gottesdienste, Theateraufführungen und Musikveranstaltungen. Durch die
Kirchenfenster scheint schwach das Abendlicht. Die Fenster
filtern das Licht und es wird allmählich dunkel. Ein frühlingshafter Abend in Wuppertal. Rundherum sind bequeme Stühle
aufgestellt. Einige Zuhörerinnen und Zuhörer sitzen auf der
Empore. Wir schauen von oben in die Mitte des Raumes: eine
große Leinwand, ein Flügel. Wir sitzen um die Musiker herum.
In der Mitte hinter den Musikern wurde eine weiße Leinwand
platziert.
Der Konzertabend beginnt mit dem ersten Set von Reinhard
Gagel am Flügel und Moog-Synthesizer und Christoph Irmer
an der Geige.
In Wuppertal ist Christoph Irmer zu Hause. Er improvisiert
hier regelmäßig, ist er im Wuppertaler Improvisationsorchester
(WIO) engagiert, spielt beim Londoner Improvisationsorchester, ist Lehrer und Forscher. Reinhard Gagel ist bekannt als Improvisator, studierte Klavier, ist Hochschullehrer, Forscher und
Autor. Auch er spielt beim WIO. Er ist ein vielseitiger Künstler.
Schon lange entdeckte er für sich eine weitere künstlerische Seite: das Malen. Malen führt nach innen, lässt gefühlvoll Farben
von innen aufsteigen und Formen komponieren. Dabei ist man
ganz bei sich. Das Bild steht im Raum, kann von verschiedenen
Seiten betrachtet werden, wirkt anhaltend, bleibt. Der Klang
geht und lebt im Jetzt.
Irmer und Gagel beginnen. Sie spielen 40 Improvisationen von
je 40 Sekunden zu 40 farbigen Bildern, die an die Leinwand
im Kirchenraum projiziert werden. Gagel hat kleine abstrakte Kunstwerke gestaltet, die unterschiedliche Assoziationen
hervorrufen. Kräftige und matte Farben, bewegte und ruhige
Formen, krasse und weiche Linien – es scheint, als habe Gagel
72
die ganze Welt der Möglichkeiten kreativen Ausdrucks in kleine Bilderlandschaften gesteckt, die immer wieder neue Atmosphären schaffen. Die Bilder erscheinen jetzt groß, fließen an
uns vorbei. Allein diese Bilder sind eine intensivere Betrachtung
wert und man wünscht sich, sie in einer Ausstellung zu sehen
ohne den zwingenden Wechsel vom Beamer nach 40 Sekunden.
Diese Bilder sind keine Ablenkung von der Musik, sondern ein
gleichberechtigtes visuelles Angebot, das dem Zuhörer in der
Konzertsituation eine neue Dimension der Wahrnehmung ermöglicht. Musik und Bild dürfen sich ergänzen, verstärken und
auch voneinander ablenken. Die Farben hüllen uns visuell ein,
wie der Klang uns musikalisch umschließt. Und so wechseln die
Gedanken mit den Stimmungen im Sekundentakt durch die
Klänge der beiden Improvisatoren.
Die beiden Musiker beschäftigen sich bereits seit längerer Zeit
mit den Möglichkeiten, kleine Formate für die Improvisation
zu nutzen. Irmer und Gagel kennen sich seit vielen Jahren gemeinsamer Arbeit und haben bereits einige Konzerte mit Miniaturen und kleinen Musikstücken veranstaltet. Das ist spürbar.
Die Musik könnte für sich stehen. Ihnen gelingt eine fast meditative Übereinstimmung in ruhigen und auch aufbrausenden
Passagen. Man lässt sich gerne mitnehmen in die Klangräume
und Klanglandschaften, träumt in die Dunkelheit, die immer
wieder von Farben und Formen zu neuen Assoziationen anregt.
Alles passt in den Rahmen der 40 Sekunden. Die kleinen Pausen von 10 Sekunden bieten eine Phase der Ruhe und erhöhen
die Spannung auf das nächste Angebot.
Es ist beeindruckend, wie es den Musikern gelingt, neue Stimmungen zu
erzeugen, Dynamiken zu entwickeln,
musikalische Schlüsse zu generieren
und sich dabei zuzuhören. Sie beziehen sich traumwandlerisch auf die
Klänge des Partners, setzen Akzente, lassen sich treiben. Gagel nutzt
das Klavier für kräftige Sounds und
seinen auf dem Klavier liegenden
Moog-Synthesizer, manchmal spielt er
ohne die Tasten zu berühren, stumm.
Die Körperbewegungen der Musiker
unterstützen die Aussage der Bilder und ihre
Musik. Irmer steht neben dem Flügel mit dem Blick ins Publikum, spielt klare melodische Linien, sauber im hohen Bereich,
einfühlsam mit leisen Sounds und Pizzicato.
Ausgabe LXXVII • April 2O14
Ring_Informationen
Regionale Kontaktpersonen des rings:
Berlin: Matthias Schwabe
Tel. (030) 84 72 10 50 | Fax: (030) 814 15 03
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Frankfurt: Gabriele Stenger-Stein
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Hamburg: Ute Schleicher
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Kassel: Barbara Gabler
Tel. (0561) 50 04 93 11 (Verlag) | [email protected]
Köln: Angelika Sheridan
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München: Dazze Kammerl
Tel. (08151) 95 33 44 | Fax: 95 33 45
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Oldenburg: Ulla Levens
Tel. (0441) 723 43 | [email protected]
Österreich: Karen Schlimp
Tel. (0699) 11 34 66 01 oder (0732) 77 43 35
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Schweiz: Teresa Hackel
Tel. (0041-31) 535 18 43 oder (078) 873 23 25
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Der ring für gruppenimprovisation im Internet
Musikalische Improvisation in Theorie und Praxis:
www.impro-ring.de
—Kurskalender Improvisation – die aktuelle Version
zum Download
—Das aktuelle Ring-Veranstaltungsprogramm
—Ringgespräch über Gruppenimprovisation –
Inhaltsverzeichnisse, Probeartikel und Bestell-Formular
—Virtuelle Bibliothek: die wichtigste Literatur,
kurz charakterisiert
— Wichtige Links zum Thema u.v.m.
ringgespräch über gruppenimprovisation
Folgende alte Ausgaben des Ringgesprächs sind zum Stückpreis von 3 € (ab LXXIII: 4 €, ab LXXV: 5 €) zuzüglich Versandkosten käuflich zu erwerben. Bei Abnahme des Gesamtpakets gilt ein vergünstigter Preis.
—ringgespräch LV, juni 1992
„Zum Gedenken an Lilli Friedemann“
—ringgespräch LVI, dezember 1992
„Zum Gedenken an Lilli Friedemann (2)“
—ringgespräch LVII, juni 1993
„Improvisation im Instrumentalunterricht“
—ringgespräch LVIII, januar 1994
„Improvisation im Konzert“
—ringgespräch LX, februar 1995
„Improvisation in der Schule“
—ringgespräch LXI, november 1995
„Improvisation - Haltung oder Handwerk?“
—ringgespräch LXII, juni 1996
„Improvisation in Literatur, Tanz, Theater, Bildender
Kunst und Architektur“
—ringgespräch LXIV, märz 1998
„Die Stimme in der Improvisation“
—ringgespräch LXV, märz 1999
„Dimensionen der Improvisation“
—ringgespräch LXVI, märz 2000
„Improvisation und Spiel“
—ringgespräch LXVII, juni 2001
„Qualität in der Improvisation“
—ringgespräch LXIX, juni 2003
„Kreativität“
—ringgespräch LXX, juli 2004
„Orte der Improvisation“
—ringgespräch LXXI, oktober 2006
„Hören“
—ringgespräch LXXII, april 2008
„Visionen“
—ringgespräch LXXIII, april 2010
„Improvisation zwischen Reflex und Reflexion“
—ringgespräch LXXIV, april 2011
„Improvisieren(d) lernen“
—ringgespräch LXXV, april 2012
„Raum“
—ringgespräch LXXVI, april 2013
„Improvisation zuhören“
Bestellungen bitte an die Redaktionsadresse (siehe Impressum
S. 2). Bezahlung nach Erhalt der Sendung, Rechnung liegt bei.
Zum Abonnieren des Ringgesprächs genügt eine formlose
schriftliche Nachricht
Die Hefte LIX, august 1994: Musik und Bewegung, LXIII, april
1997: Improvisation und ihre Wirkung sowie LXVIII, juni 2002:
Improvisieren nach Konzepten sind vergriffen und werden nicht
mehr nachgedruckt. Sie werden demnächst als pdf-Datei auf
unserer Internetseite zum Download bereit stehen
81
Berichte
Interessante, irritierende Momente entstehen durch die Wiederholung von Bildern an der Leinwand. Waren es bereits 40
Bilder? Nun zeigt sich, wie die veränderte Stimmung im Raum
durch die vorherigen Improvisationen zu einer Neuinterpretation der Bilder führt. So kann ein farbig ruhiges Bild durchaus
kräftige Klänge provozieren und ein kräftig farbiges Bild eine
meditative Stimmung erzeugen.
Die Zeit vergeht wie in Trance. Pause – zurück in die Realität
mit einem Glas Wein.
Im zweiten Set spielen Simon Camatta (Drums),
Achim Tang (Bass) und
Georg Wissel (Saxophon). Camatta spielt
ein einfühlsames Schlagzeug, abwechslungsreiche
percussive Sounds; er hat
ein außergewöhnliches
Gefühl für Dramatik.
Tang ergänzt die Atmosphäre mit seinem Bass und
setzt mit seinen Impulsen Akzente, die
die Gruppe wieder aufgreift. Wissel arbeitet überwiegend experimentell am Saxophon. Mit
Stäbchen, Bällen und Plastikflaschen bearbeitet er sein
Instrument und entlockt ihm allerlei neue Sounds. Er wechselt die Mundstücke, schraubt den Hals ab und bläst mit einem
Doppelrohrblatt in den Korpus. Immer wieder entstehen überraschende Klänge, die meist im Hintergrund bleiben und oft
wie ein Teppich geräuschhaft schweben. Auch solistisch spielt
er schöne Linien, expressiv und klar und stützt den Sound der
Gruppe.
In Wuppertal finden häufig Konzerte mit frei improvisierter
Musik statt. Schließlich hat hier Peter Kowald gelebt, hat hier
die Karriere von Peter Brötzmann begonnen und es gibt eine
muntere Abteilung der Hochschule, in der viel experimentelle
Musik gemacht wird. Es scheint, als sei das Wuppertaler Publikum mit dieser Musik vertraut. Die Wuppertaler Neue Kirche
ist ein besonderer Ort für diese Musik. Ihre Akustik und der
eigenwillig gestaltete Raum faszinieren Musiker immer wieder.
Es ist bereits gute Tradition, dass ein kleiner mutiger Verein hier
immer wieder Konzerte veranstaltet. So wünscht man sich, dass
diese noch lange erhalten bleibt und die Musik weiter lebt.
Schließlich gibt es ein letztes Set mit allen Musikern, das noch
einmal zu einem besonderen Ereignis wird. Als sich Drums und
Bass gegen Ende aus dem frei improvisierten Spiel zurückziehen, gibt es von ihnen einen neuen gemeinsamen und überraschenden Einstieg, der das Ending des Sets einleitet. Ohne
Absprache, ohne Augenkontakt spielen sie im richtigen Moment ihren Beitrag und überraschen sich und das Publikum.
Ein Schlüsselerlebnis dieses Konzertes! Viel Applaus gab es für
alle Musiker.
ringgespräch über gruppenimprovisation
73
Berichte
Pianopyramid: Eine Klavierskulptur im Wandel der Jahreszeiten
von Claus Faber und Karen Schlimp, Linz
schaft als Kletterin in den Bergen und als Stummfilmpianistin,
ihre Assoziationen an alte schwarzweiß-heroische Bergfilme mit
Steinschlag, Gewitterwolken und die Sorge um den Bergsteiger
– eine musikalische Untermalung der eigenen Aktion.
Die Pianopyramid
Die Pianopyramid wird erklettert…
Eine Klavier-Skulptur im Freien lädt ein, bespielt zu werden.
Neu erbaut, im strahlenden Schellack der Konzertflügel, am
Flachdach einer Schmiedewerkstatt. Es ist Sommer – die Klaviere bieten noch alle spieltechnischen und klanglichen Möglichkeiten. Dann wird es Herbst – die Skulptur verwittert, die
Tasten beginnen zu klemmen, die Saiten verstimmen sich. Die
Bespielung der Skulptur mit Improvisationen bietet die Möglichkeit einer Verbindung von spontan entdeckten ungewöhnlichen Klängen mit daraus entwickelten Strukturen.
Part 2 Gliding Leaves (Schweben) wurde im November 2013 gespielt. Fallende Blätter und bunte in Blätterform ausgeschnittene Notenblätter waren Teil der Performance. Die Performance
beinhaltete verschiedene Formen des Schwebens – analog des
Herbstes. Drei Fragmente entstehen – wie einzelne Blätter hat
jedes seinen eigenen Weg nach unten. Bunt, ausrufend, versuchend-verstummend.
Alle Fotos: Claus Faber und Karen Schlimp
2002 erfand sie das Pianomobile – ein Konzertflügel auf einem
Fahrradanhänger. 2013 ging sie in die Höhe und stellte Klaviere
aufeinander: Pianopyramid war geboren – aus der Idee, mit Flügeln in den Himmel zu wachsen.
Die Linzer Improvisationskünstlerin Karen Schlimp ist schon
Stammgast bei den Bildhauern des Symposions Sound of Sculpture im Kärntner Krastal. Nun hat sie dort mit ihnen eine
Skulptur gebaut und auch gleich bespielt. Das Klavierstudio
Schneider aus Villach stellte der Pianistin ausgemusterte Klaviere zur Verfügung.
Karen Schlimp eröffnet ihre Performance
Die Eröffnungsperformance der Pianistin thematisierte das
Ersteigen der Skulptur. Part 1 „Climbing Piece“ hieß das erste
Improvisationsstück, das im Juli 2013 auf dieser Skulptur aufgeführt wurde. Dabei wurden verschiedene Aspekte aufgegriffen
und zu einem Gesamtkunstwerk zusammengeführt: Ihre Eigen-
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„Verwittert, das Furnier wölbt sich auf, bringt sich in ungewöhnliche Formen, die Klänge spielen sich von oben nach unten, zarte
Glockenspieltöne eines bunten toy pianos vermischen sich mit schwebenden Klängen verstimmter Saiten, die Partitur auf bunte Blätter
gemalt, verlangt immer wieder eine Exclamatio: ta di——, der
Schmerz über nicht mehr spielende Tasten mischt sich immer mehr
ein – Vergänglichkeit. Die letzten spielbaren Tasten erklingen, dazwischen stumme Versuche einer Klangerzeugung, der Verwitterung
preisgegeben verstummen die Klänge, während ich sie noch zum Leben erwecken will – Herbst-Rückzug. Gefallene Blätter und Notenblätter bleiben liegen – der Schnee wird darauf gleiten.“
Weitere Aufführungen auf dieser Pyramide, die derzeit auf dem
Dach der Werkstatt des Kunstwerk Krastals (Einöde bei Villach,
Österreich) ausgestellt ist, werden zu verschiedenen Jahreszeiten folgen. www.pianomobile.com
Ausgabe LXXVII • April 2O14
Berichte
Zeugen unkalkulierbarer Ereignisse in Zeiten der Großen Koalition
von Gregor Bohnensack-Schlösser, Münster
Der Posaunist Vinko Globokar sagt: „Was mich betrifft, so betrachte ich die Improvisation als ein ganz privates Geschehen, das
nur für die innere Entwicklung des Spielers wichtig ist und bei dem
das Publikum nur als Zeuge anwesend ist.” So zitiert ihn jedenfalls Christoph Irmer im ‚ringgespräch‘ vom April 2013. Der
Gedanke von der ‚Zeugenschaft’ des Publikums gefällt mir: Im
improvisatorischen Geschehen vollzieht sich das Unwiederholbare des Augenblicks. Eine Improvisation ist kein einstudiertes
Programm, sondern ein TOR zum Leben. Der ImprovisaTOR
weiß nicht, wie seine Aktion ‚ankommt’; er tappt im Dunkel des
Augenblicks, wie der Philosoph Ernst Bloch sagt.
November 2013: Ich bereite mich auf einen Improvisationsabend im SpecOps vor. Das SpecOps ist ein Cafe in Münster.
Man kann dort Kickern und – im Spielzimmer – auch Tischtennis spielen. Das ‚Spielzimmer‘ im SpecOps ist ein Ort, wo nach
dem Konzert das Tischtennisspiel gleich weitergeht. Alles fließt
hier zwischen Leibesübung und leibhaftiger Musik.
Ich sortiere meine Instrumente und Utensilien. Es sind Dämpfer, aber auch Gegenstände wie zwei Voice-Recorder, dabei.
Wenn Adorno in Minima Moralia (1951) sagt, dass das legitime
Kunstwerk sozial unerwünscht sei, so gilt auch, dass der improvisierende Musiker selbst sozial unerwünscht ist.
Grenzgängerische Musiker treten in Nischen auf. Das Spielzimmer im SpecOps ist die Nische einer Nische.
In solchen Hinterzimmern kreativen Handelns hocken die Zeugen unkalkulierbarer Ereignisse auf billigen Plastikstühlen.
Ich fotografiere meine blaue Plastikposaune mit dem weißen
Tischtennisball im Kelch und poste Bild und Veranstaltungshinweis über facebook in die weite Welt hinaus. Zur weiteren
Vorbereitung höre ich eine CD von Albert Ayler, Truth Is Marching In, 1966 und betrachte ein Plattencover von Peter Brötzmann, Maschine gun, 1968. Ich lese in Sieben Wege, ins Freie
zu gelangen von Ekkehard Jost (aus: Europas Jazz, 1987) über
den Schlagzeuger John Stevens: „Dabei war es in den 50er Jahren keinesfalls ungewöhnlich, dass sich angehende Jazzmusiker in
Großbritannien der Luftwaffe anschlossen, um kostenlos studieren
zu können und sich in einer der zahlreichen RAF-Bands die für
ihre spätere professionelle Laufbahn notwendige Spielpraxis anzueignen.” Improvisieren heißt, unter allen Umständen, auch in
der RAF, den Weg ins Freie zu suchen.
Wir – Thomas Schnellen, Elektronik und ich – nennen unsere
Aktion im SpecOps: EinSpielungen im SpielZimmer. Der Kelch
ringgespräch über gruppenimprovisation
der Posaune wirkt wie ein Schlund, der den Tischtennisball zu
verschlingen droht. Der Ball als Dämpfer. November 2013. Es
droht die Große Koalition. Zeit der Elefantenrunden... Ins Spec
Ops werden ein paar Leute kommen. Diese Publikum zu nennen, wäre eine Übertreibung. Es kommen Zeugen, die eine Präsentation von ‚Partikelgestöber‘ hören und sehen wollen. Zwei
alternde Männer, die sich unter zu Hilfenahme von Musikinstrumenten, an einem Begriff von Paul Celan, in seinem Gedicht Engführung, erscheint das Wort ‚Partikelgestöber’, abarbeiten. Andere arbeiten überhaupt nicht, sondern regieren.
In den Nationalhymen lassen die Herrschenden ihre eigene Musik erklingen. Der Große Zapfenstreich bildet einen würdigen
Rahmen für die GroKo. Beim großen Zapfenstreich lässt die
Verteidigungsministerin vielleicht ‚Preußens Gloria’ aufspielen,
niemals aber ‚Truth Is Marching In’. Mit Albert Aylers Saxophonspiel ist kein Staat zu machen: es ist zu laut und zu wild.
Moderne Improvisationsmusiker können aber auch still werden.
Still und verstörend wie die Trompeterin Birgit Ulher. Es liegen
Welten zwischen Ursula von der Leyen und Birgit Ulher. Der
große Zapfenstreich übertönt noch immer die subtile Tonsprache eines improvisierenden Individuums. Eigentlich müsste die
FDP zu treuesten Freunden der improvisierten Musik gehören.
Vielleicht ist es kein Zufall, dass Ulher ursprünglich in der Bildenden Kunst unterwegs war. Ich denke an Joseph Beuys, der
Klaviere und andere Instrumente durch Ummantelung zum
Schweigen brachte. Es ist besser, Instrumente zum Schweigen
zu bringen als Menschen. Über 800 Millionen Menschen leiden
Hunger. Andere haben zuviel. ImprovisaTOREN wie Ulher
entziehen ihrem Instrument das übliche ‚musikalische Potenzial’. Über ihr Spiel heißt es bei Wikipedia: „Sie entwickelte auf der
Trompete eine differenzierte Grammatik von Klängen jenseits des
konventionellen Trompetentons.” Für mich ist diese neue Grammatik, diese Sprache der Törichten, auch von Albert Ayler abgeleitet. In den 60ziger Jahren erfindet der schwarze Saxophonist,
neben Peter Brötzmann, dieses – eigentlich für Militärmusik
gedachte – Instrument neu. Ayler lässt sein Horn aufschreien.
Ein Schwarzer, der aus der Reihe tanzt wie so viele in Zeiten der
Revolte. Am Ende soll Ayler sein Saxophon in den Fernseher
geworfen haben. Kann jemand verzweifelter sein? Er starb, wie
Paul Celan, 1970 durch Selbsttötung. Ayler habe sich auf der
Fähre nach New York vor der Freiheitsstatue ins Wasser gestürzt,
heißt es. Aber es gibt keine Zeugen. Niemand ist so fragil wie
ein ImprovisaTOR auf dem Wasser.
75
Berichte
Stegreif-Chor und Stegreif-Coach
Singen aus dem Stegreif, Impro-Chor und Circlesongs – Eine neue Weiterbildung vermittelt die Tools
von Thomas-Maria Reck, Basel
Die Weiterbildung zum Stegreif-Coach lief im Januar 2013 mit
der ersten Ausbildungsgruppe vom Stapel. Fünfzehn Sängerinnen, Gesangspädagogen, Erwachsenenbildner und Chorleiterinnen aus Deutschland und der Schweiz studieren bei den
beiden Dozenten für Orale Chortradition Fabio Jegher und
Thomas-Maria Reck aus Basel (CH). Die Weiterbildung wendet
sich an alle, die mit einer Gruppe von Menschen im Bereich des
improvisierten Chorgesanges tätig sind oder tätig werden wollen. Ihr Schwerpunkt liegt in der Vermittlung der Werkzeuge
des improvisierten Singens ohne Noten und in der Begleitung
eines Stegreif-Chores.
Der Stegreif-Chor
Der Stegreif-Chor wurde 1996 von Thomas-Maria Reck in Basel
(CH) ins Leben gerufen. Seit der Anfangszeit bildet er in immer
wieder wechselnder Zusammensetzung ein Spiel- und Lernfeld
des improvisierten Singens aus dem Stegreif. 2005 ist Fabio Jegher dazu gestoßen. Seither hat sich der Stegreif-Chor verdichtet
zu einem Format, das über Landes- und Sprachgrenzen hinweg
Menschen verschiedenster Altersgruppen und Kulturen zum
gemeinschaftlichen Singen ohne Noten zusammenbringt. Der
Chor schöpft aus dem unendlichen Fundus des gegenwärtigen
Augenblicks seine eigene Musik.
Der Stegreif-Chor umfasst alle möglichen Formen des spontanen Singens. Dazu gehört das Singen ohne Noten von Chanting, über Circlesongs bis zur offenen Chorimprovisation. Er
verbindet uralte Orale Chor-Traditionen indigener Völker mit
neuen Traditionen der letzten Jahrzehnte. So spannt der StegreifChor einen Bogen vom Naturjodel des Alpenraums über rituelle
Chants bis zum Circlesong von Bobby McFerrin oder improvisierenden Formen wie wir sie von Lisa Sokolov, WB3, Rhiannon, Bobby McFerrin, Fritz Hegi und vielen anderen kennen.
Dem Stegreif-Chor geht es im Gegensatz zu anderen Formaten nicht in erster Linie um das musikalische Ergebnis. In der
Hingabe zum immer wieder unendlich offenen Horizont des
jeweiligen Augenblicks schöpft der Stegreif-Chor aus dem, was
ist mit den Mitteln, die gerade da sind. Damit ist dieser ImproChor in erster Linie auch der sozialen Gegenwart der Gruppe
verpflichtet: Der Stegreif-Chor lässt alle Beteiligten mit ihren
unterschiedlichsten musikalischen und sozialen Biografien gleichermaßen am kreativen Wirken der Musik teilhaben. Jeder hat
Teil am Ganzen mit dem, was er beitragen kann und möchte.
Der Stegreif-Chor rückt den integrativen Aspekt der Oralen
Chortradition in den Mittelpunkt, wie er uns beispielsweise in
vielen indigenen Musiktraditionen begegnet1.
1Ueber die sozialen Wirkungen des improvisierten Gesanges im Stegreif-Chor hat
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Der Weg des Stegreif-Chors ist aber auch eine Musikalische
Initiation2. Er kann die gesamte grundlegende Phänomenologie der Musik verinnerlichen. Vom Puls über den Rhythmus,
über Klangfarben, Modi, Intervalle, Skalen, Stufenharmonik,
usw. bis hin zur Komposition vielstimmiger Gesänge geht der
Stegreif-Chor den Weg einer Elementaren Musikpädagogik.
Das Medium des Stegreif-Chores ist die Stimme, ureigenes Organ des Ausdrucks und der Kommunikation. Sie setzt die Beteiligten ganz unmittelbar den musikalischen Prozessen im kreativen Geschehen aus. Hier können sich der singende Laie und
der ausgebildete Chorleiter, die Musikerin und die Prokuristin
auf Augen- und Ohrenhöhe begegnen.
Die Hauptwerkzeuge des Stegreif-Chors sind der Humor und
das Spiel. Sie ermutigen zur Bereitschaft sich an die Regeln der
Musik zu halten oder sie zugunsten eines kreativen Moments
zu brechen. Sie befördern den Wunsch, sich mit der Stimme
auszudrücken und gleichzeitig die eigenen Ängste und Grenzen
wahrzunehmen und zu respektieren. Sie helfen zur Gelassenheit
bei Fehlschlägen im „trial and error“. Sie wecken die Lust, dem
musikalischen Ganzen zu dienen. Und sie schaffen eine Atmosphäre der Achtsamkeit unter allen Gliedern der Gruppe.
Der Stegreif-Chor vereint so das spielerische Element des Erfindens mit dem sozialen Element des Ausdrucks und des Dienstes
im spontanen Chor. Das musikalische Lernen im Stegreif-Chor
bietet eine immer im Werden begriffene Bühne für die grundlegenden sozialen und musikalischen Bedingungen des jeweiligen
Moments. Sei es an einem einmaligen Familienfest, an einer Kaderveranstaltung von Managern, sei es an einem WochenendWorkshop, beim allmorgendlichen Ritual einer Schulklasse, sei
es in der improvisierenden Circlesong-Gruppe oder beim Einsingen des gemischten Dorfchores.
Der Stegreif-Coach
Improvisiertes Singen im Chor oder der Kleingruppe ist ein großer Trend der letzten Jahre. Die Praxis zeigt, dass das Handwerk
in der leitenden Funktion im Impro-Chor gelernt sein will. Die
große Nachfrage bei Multiplikatoren-Kursen der beiden Dozenten Fabio Jegher und Thomas-Maria Reck legte nahe, ein Format anzubieten, wo sowohl musikalische Werkzeuge, wie pädagogisches Netzwerk, Austausch und Übungsfelder für konkrete
Improstrukturen angeboten werden. Seit Januar 2013 begleitet
Thomas-Maria Reck 2001 publiziert in der Diplomarbeit im Fach Pädagogik an
der Musikakademie Basel, Abteilung Jazz: „Der Stegreif-Approach, Kompetenz
durch direkte Erfahrung – Chanting und Circlesongs in Theorie und Praxis“, Basel
200
2 Reck, Thomas-Maria: „Die Musikalische Initiation“, Beitrag im Heft „Klangkörper – Zeiträume – Elementare Musik mit Erwachsenen“, ConBrio Fachbuch Band
15, 2009
Ausgabe LXXVII • April 2O14
Berichte
nun die Weiterbildung die erste Gruppe auf ihrem Weg zum
Handwerk des Stegreif-Coachs und vermittelt:
— Trittsicherheit in musikalischer Struktur und Freiheit
—musikalische Kenntnisse der Phänomene der improvisierten Musik: Modi, Harmonische Stufen, Rhythmische
Grundstrukturen, Intervalle usw.
— Die Werkzeuge der Circlesongs und des Singens ohne Noten
— Strukturideen zur Chorimprovisation
— Sicherheit im Auftreten und Spielen mit der eigenen Stimme
— Kompetenzen der Gruppenleitung — Kenntnis globaler Traditionen der Oralen Chortradition
— Und/oder eine konkrete Vision, das Gelernte im eigenen
beruflichen Umfeld zu nutzen für Erwachsenenbildung,
Coaching, Firmenberatung, Ritualbegleitung bei Hochzeiten, Geburten, Taufen oder in der Begleitung Sterbender
oder Trauernder etc.
— Ein neugieriger und offener Geist gegenüber der Musik
und anderen Menschen
Die zweite Ausbildungsgruppe startet im Januar 2015.
Der ausgebildete Stegreif-Coach hat
— Zugang zum entstehenden Netzwerk Elementarer Musikpädagogik
— International Kontakt zu mit spontaner Musik arbeitenden
Pädagogen
— Zugriff auf eine ständig wachsende Sammlung von Übungen- und Strukturideen
— Zugang zu Dokumentationen, Publikationen, und Arbeiten zum Thema Chorimprovisation und Orale Tradition
— Überblick über Noten und Medien verschiedener Traditionen der spontanen Chorsingens
Von den Teilnehmern wird erwartet:
— Eine eigene Chorgruppe aufzubauen oder bereits zu haben,
sie zu leiten, um die Inhalte der Ausbildung zu erproben
und zu vertiefen
ringgespräch über gruppenimprovisation
www.stegreif-coach.ch
www.saudadenova.com
www.musikwerkstatt.ch
www.originalurban.ch
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Berichte
Musikalische Prozessbegleitung – Persönlichkeitsentwicklung, Gemeinschaftsbildung und
Gesellschaftsgestaltung mit den Mitteln der Musik
Neuer Weiterbildungsstudiengang im Klanghaus am See, Klein Jasedow / Nähe Insel Usedom
von Klaus Holsten & Christine Simon, Klein Jasedow
Nach langjähriger Weiterbildungsarbeit im musiktherapeutischen Bereich und neben einem erfolgreich laufenden Studiengang für Musikpädagogen mit dem Kernthema Improvisation
eröffnet die Europäische Akademie der Heilenden Künste in Klein
Jasedow im Mai 2014 ein neues Format: den ersten Studiengang für Musikalische Prozessbegleitung im deutschsprachigen
Raum. Er wird von dem Berufsverband der Präventologen e.V.
mitgetragen und von beiden Institutionen zertifiziert. Die Zertifizierung erfolgt zur/zum ärztlich geprüften Salutologin/Salutologen mit Schwerpunkt Musik. Der berufsbegleitende Studiengang geht über zwei Jahre und qualifiziert zur musikalischen
Prozessbegleitung von Menschen und Gruppen in allen Lebensaltern sowie in Praxisfeldern der sozialen und kulturellen Arbeit,
der Prävention, Rehabilitation und innovativen Projektarbeit.
Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf der Einbeziehung
und Verbindung mit weiteren künstlerischen Medien wie Tanz,
Theater, Poesie und bildende Kunst. Er zielt auf Menschen, die
professionell mit Musik umgehen und ihre Berufung darin sehen, andere Menschen in sensiblen Lebensphasen zu begleiten
und bei persönlichen, gemeinschaftlichen wie gesellschaftlichen
Gesundungsprozessen zu unterstützen.
Die Gestalt des Konzepts für den Weiterbildungsstudiengang
Musikalische Prozessbegleitung basiert auf der Überzeugung,
dass Gesundheit durch gelingende Beziehungen zu sich selbst,
zum Mitmenschen und zur Natur entsteht, sowie auf der Erfahrung von Musik als heilsamer Kraft, die in der sich gegenwärtig so stark wandelnden Kultur – im individuellen wie sozialen
Kontext – wirksam ist.
Das bedeutet, sich der historischen Rolle der Musik – in diesem
Zusammenhang in erster Linie der aus dem Augenblick entstehenden improvisierten Musik – als ursprünglichem Wissensfeld
bewusst zu werden: Improvisierte Musik als Inspirationsquelle,
als hochsensible Indikatorin für individuelle und Gruppenprozesse und als Beispiel dafür, wie man sinnerfüllt leben und in
einer lebendigen Beziehung zur Welt stehen kann.
Im Zentrum des Konzepts stehen sowohl die persönliche Begegnung als auch die Erforschung der Beziehungen zwischen
Musik und transformativen Prozessen, Gesundheit, Natur und
der heutigen Gesellschaft. Dazu gehört, neben der Vermittlung
empathischer und künstlerischer Fähigkeiten, die Steuerungsfähigkeit von musikalischen Gruppenprozessen – vom Mitmachkonzert bis zur improvisierten Performance im öffentlichen
Raum. Die musikalische Seite umfasst ein breites Spektrum an
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Themen der freien und stilgebundenen Improvisation, Instrumentenkunde, Spieltechnik, gruppenimprovisatorische Kommunikation und Konzepte sowie angewandte Musiktheorie.
Weitere Themenfelder sind Wahrnehmungs- und Erkenntnisvermögen, Fragen nach der Selbstbestimmung und der Fähigkeit zur inneren Freiheit sowie nach dem Wesen von Kunst und
Kreativität. Um eine möglichst weite Perspektive zu vermitteln,
werden musikalische Praxis und Musiktheoretisches miteinander verwoben und vielfältige Ansätze aus den Bereichen der
Salutogenese, Community Music Therapy, Tanz, Poesie, Theater,
Tiefenökologie, dem Transformative Learning und der Deep Democracy mit einbezogen.
Die Studienwege gestalten sich erfahrungszentriert in Seminaren, Arbeitsgruppen, Praktika und individuell nach den jeweiligen Zielsetzungen der Studierenden. Im Bewusstsein, dass es
in bestimmten Phasen der Wissensvermittlung ohne die traditionelle Rollenverteilung von Lehrenden und Lernenden nicht
geht, folgt die Arbeit grundsätzlich einem durch und durch partizipativen Ansatz. Er geht davon aus, dass sowohl heilsame als
auch künstlerische und Lernprozesse immer in einem Kontext
entstehen, an dem vielfältige Teilhabende – Mensch und Natur, Medien und Ideen, Aufnehmende und Empfangende – auf
gleichwertiger Basis mitwirken.
Von jeher haben so unmittelbar persönliche Erfahrungsfelder
wie Musik, Kunst und die empathische Begleitung von Menschen eine gesellschaftliche Relevanz: Sie wirken sich unmittelbar auf das Denken und Handeln in der menschlichen Gemeinschaft aus. Versteht man kunstorientiertes Wirken in einem
weiten Sinn auch als Medien des Erkennens und Veränderns
von Welt, so können schöpferische Bewusstseinsprozesse zu
einem (r)evolutionären und heilsamen Gestaltungsprozess der
Gesellschaft führen. In der Überzeugung, dass intellektuelles
Wissen nicht ausreicht, um eine wahrhaft zukunftsfähige, humane Gesellschaft zu kreieren, begeben sich in diesem Studiengang alle Beteiligten in Erfahrungs- und Wissensfelder, die Körper, Herz und Seele im Sinn einer „Kultur des inneren Menschen“
(Ernst F. Schumacher) verbinden.
Kontakt: Europäische Akademie der Heilenden Künste e.V., c/o
Klaus Holsten, [email protected], www.eaha.org, (038374) 7 52 28.
Ausgabe LXXVII • April 2O14
Ring_Internes
In den letzten Monaten sind dem ring folgende neue Mitglieder
beigetreten:
„Veranstaltungs-Rings“ liegt diesem Heft bei und steht auch auf
unserer Internetseite http://impro-ring.de zum Download bereit.
Christoph Irmer ist Lehrer und Musiker in Wuppertal sowie
Autor eines Beitrages in diesem Heft (S. 15 - 19). Dort sind
auch weitere Details über ihn zu erfahren.
*
Die Mitglieder des aktuellen Vorstands und ihre Verantwortungsbereiche:
Martin Weber ist Geiger, Musikpädagoge und Promotionsstudent in Köln.
Reinhard Gagel (Berlin) – Vorsitzender, Ringgespräch
Tel. (030) 53 05 06 46 [email protected]
Andrea LaRose ist Musiklehrerin, Komponistin und Querflötistin. Sie lebt in Erlangen.
Barbara Gabler (Kassel) – stellvertretende Vorsitzende,
Frühjahrstagung | Tel. (0561) 89 73 52 (Verlag)
[email protected]
Nicolaas Cottonie ist Musiker und lebt in Gent/Belgien.
Stefan Roszak ist Musikpädagogoge und Instrumentenbauer. Er
lebt in Berlin und ist dort seit vielen Jahren pädagogischer Mitarbeiter bei Querklang, einem Projekt der Universität der Künste
Berlin, das experimentelles Komponieren in Schulklassen initiiert.
Matthias Schwabe (Berlin) – stellvertretender Vorsitzender,
Kasse | Tel. (030) 84 72 10 50 | [email protected]
Teresa Hackel (Bern) – Herbsttagung
Tel. (0041-31) 535 18 43 | [email protected]
Christiane Meis-Schrörs ist Lehrerin für Kunst und Deutsch.
Sie lebt in Meerbusch.
Jeannine Jura (Berlin) – Mitgliederbetreuung
Tel. (030) 65 94 16 98 | [email protected]
Hinnerick Bröskamp ist Trainer/Coach und Regisseur. Er lebt
in Köln und arbeitet mit musikalischer Improvisation in verschiedenen Kontexten, u.a. in Business-Seminaren.
Wolfgang Schliemann (Wiesbaden) – Kooperationen
Tel. (0611) 95 90 843 | [email protected]
Robert Jedrzewski aus Warschau ist Musiker, Improvisator,
Cellist und Komponist sowie Mitglied des SALULU-Duos improvisierender Komponisten. Er ist Mitinitiator der Intuitiva
(siehe nächste Seite).
Max Stehle lebt in Berlin und ist seit vielen Jahren leidenschaftlicher Hobby-Improvisator, insbesondere auf dem Saxophon.
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Vor wenigen Monaten ist Hella Nagel aus Hamburg verstorben. Sie war in den 1970er-, 80er und 90er-Jahren Geschäftsführerin des rings und hat in ihrem musikalischen Wohnzimmer
unzählige Mitglieder-Versammlungen und Improvisations-Treffen beherbergt. Allen, die sie in dieser Zeit erlebt haben, wird
ihre angenehme ruhige und gastfreundliche Art in Erinnerung
bleiben.
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Anlässlich seines 50-jährigen Bestehens bietet der ring eine Veranstaltungsreihe, welche die vielfältigen Aktivitäten seiner Mitglieder
– Festivals, Tagungen, Konzerte, Workshops, Offene Bühnen – in
verschiedenen Städten Deutschlands, in der Schweiz, in Österreichs und sogar in Polen präsentiert. Der Informationsflyer dieses
ringgespräch über gruppenimprovisation
Eiko Yamada (Heidelberg) – Kurskalender
Tel. (06221) 48 49 73 | [email protected]
Zahlungserinnerung
Wer seinen Beitrag für 2014 noch nicht entrichtet hat,
möge dies bitte möglichst bald nachholen oder aber uns
eine Einzugsermächtigung erteilen. Ein Formblatt senden
wir gerne zu, per Mail oder Post.
Die aktuellen Beitragssätze lauten:
Vollzahler
25 – 40 Euro (Selbsteinstufung!)
Studenten, Rentner 5 Euro
Arbeitslose
Ehepaare, Familien 45 – 70 Euro (Selbsteinstufung!)
Zahlungen bitte auf das Konto:
Ring für Gruppenimprovisation
IBAN DE73 1001 0010 0474 9511 05
BIC PBNKDEFF
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Ring_Veranstaltungen 2014
14. – 15. Juni 2014 , Köln
Kleines Improvisiakum - Freie Kammermusik
Das kleine Improvisiakum ist ein Workshop für Improvisation
an der Rheinischen Musikschule. Er ist gedacht für (klassische)
Instrumentalisten, die neben dem Stücke-Spielen auch die kleinen Freiheiten eigenen Musikerfindens erlernen und dies mit
anderen in einem Ensemble erleben wollen. Leitung: Reinhard Gagel
Ort: Rheinische Musikschule der Stadt Köln, Regionalschule
Köln-Ehrenfeld, Vogelsanger Str. 28, 50823 Köln
Zeit: Samstag, 14.6. 2014 | 10.00 – 17.00 Uhr;
Sonntag 15.6. 2014 | 11.00 – 14.00 Uhr
Werkstattkonzert am 14.6.2014 | 20:30 Uhr im LOFT Köln,
Wissmannstr. 30, 50823 Köln.
Anmeldung per mail bis zum 6.6.2014
bei Reinhard Gagel | [email protected]
Infos auch unter Tel. (030) 53 05 06 46
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13. – 15. Juni 2014, exploratorium berlin
Wege zur Freien Improvisation
Das Experimentieren mit verschiedenen Klangerzeugern und
(sofern vorhanden) eigenen Instrumenten, das intensive Lauschen, das Aufeinanderhören und -reagieren sowie das Erkunden musikalischer Struktur und Form weisen uns den Weg zur
Freien Improvisation. Praxisbewährte Spielregeln helfen, die
Aufmerksamkeit zu bündeln, wichtige neue Erfahrungen zu
sammeln und notwendige Kompetenzen zu erwerben.
Leitung: Matthias Schwabe
Anmeldung: Matthias Schwabe | Tel. (030) 84 72 10 50
[email protected]
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26. – 28. September 2014, Köln
16. Improvisiakum – Internationale Werkstatt für improvisierte Musik
Das Improvisiakum dient dem Austausch von improvisierenden
MusikerInnen und dem Forschen und Weiterentwickeln improvisatorischer Fähigkeiten. Eingeladen sind improvisierende
MusikerInnen aller Instrumente und Stimme mit und ohne
Vorerfahrungen, auch interessierte SchülerInnen und LehrerInnen der Rheinischen Musikschule
Eröffnungs-Konzert: Fr 20.30 Uhr, Ort: N.N.
Workshoptag 1: Samstag 10.00 – 18.00 Uhr
Workshoptag 2: Sonntag 11.00 – 16.00 Uhr
Ort: Rheinische Musikschule Köln, Vogelsanger Str. 28, 50823
Köln-Ehrenfeld
Werkstattkonzert: Sa, 20.30 Uhr Teilnehmerensembles
Leitung, Anmeldung, Information: Reinhard Gagel
Tel. (030) 53 05 06 46 | [email protected]
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31. Oktober – 1. November 2014, Haasenhof Mandelsloh
25. Herbsttagung des ring für Gruppenimprovisation
Thema: RingOrchester – Improvisieren in der Großgruppe
Auf dieser Tagung wird das improvisatorische Arbeiten in der
Großgruppe im Mittelpunkt stehen. Die Großgruppe ist eine
besondere Herausforderung für improvisierende Ensembles,
weil sie einerseits besonders viele Gestaltungsmöglichkeiten bietet, andererseits von den Beteiligten ein besonders hohes Maß
an Zurückhaltung, Einfügen in den musikalischen Prozess und
kompositorisches Mitdenken erfordert. Dafür haben wir wieder
Franz Hautzinger als Referenten eingeladen, der dieses Thema
schon auf der vergangenen Herbsttagung mit uns behandelt
hat. Diesmal wollen wir auf zwei Konzerte hin arbeiten, eines
am Samstagabend in Mandelsloh, das andere am Sonntagvormittag in Hannover. Näheres wird rechtzeitig auf unserer Website bekannt gegeben.
Gast-Referent: Franz Hautzinger (Wien)
Anmeldung: Teresa Hackel | Tel. 0041 (31) 535 18 43
[email protected]
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5. – 7. Dezember 2014, 16. – 18. Januar 2015,
13. – 15. Februar 2015, exploratorium berlin
Intensivkurs Musikalische Gruppenimprovisation
Dieser Kurs richtet sich an Personen, die sich an drei Wochenenden in gleich bleibender Besetzung intensiv mit musikalischer
Gruppenimprovisation auseinandersetzen wollen. Dabei sind
sowohl rein musikalisch Interessierte angesprochen als auch
Musik- und SozialpädagogInnen sowie MusiktherapeutInnen,
die das gemeinsame Improvisieren in Musik- oder allgemeinbildenden Schulen bzw. in der pädagogischen oder therapeutischen Arbeit mit verschiedenen Zielgruppen einsetzen wollen.
Leitung: Matthias Schwabe
Anmeldung: Matthias Schwabe | Tel. (030) 84 72 10 50
[email protected]
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30. Juli – 3. August 2014, bei Wroclaw/Polen
Intuitiva New Art Conference
Zuletzt noch der Hinweis unseres dänischen Ring-Mitglieds
Carl Bergstrøm auf ein spannendes internationales Improvisations-Treffen:
DIMC, Denmark‘s Intuitive Music Conference, findet seit 1995 in
Dänemark statt und brachte bisher Improvisatoren und Komponisten (auch aus anderen künstlerischen Bereichen) aus 20
Nationen zusammen. Die Ziele waren: Unsere Kunst zu praktizieren und einander unter freien Formen zu begegnen. Seit
2013 gab es eine Fusion mit dem polnischen Intuitiva Festival.
Neuer Name ist Intuitiva New Art Conference, der Veranstaltungsort befindet sich in der Nähe von Wroclaw, also in zentraler Lage in Europa. Das nächste Treffen wird vom 30. Juli bis 3.
August stattfinden. Alle Improvisatoren mit Vorerfahrung sind
herzlich eingeladen.
Info unter www.intuitivemusic.dk/intuitiva/
Ausgabe LXXVII • April 2O14
exploring improvisation
10 Jahre exploratorium berlin
Festival Freie Improvisation
in Theorie und Praxis
29.5. – 1.6.2014
ringgesprächfür
gruppenimprovisation
Nehmen Sie sich Raum
Eröffnung
am 29.5., 15.30 h
Für Musizierende und Improvisationsinteressierte, für Instrumentenbauer
und Stimmakrobaten, für Workshopankündigungen und vieles mehr ist
Ihre Anzeige hier
am richtigen Platz. Und mit 80 Euro für eine Achtelseite oder 160 Euro für
eine Viertelseite lange Zeit präsent.
konzerte 29.5., 20 h: hübsch acht // 30.5., 20 h: Neumann – Phillips –
Prévost – Shibolet // 31.5., 19.30 h: Fritz Hauser & Jean Laurent Sasportes
// 1.6., 16 h: Ensemble Explorativ symposion 30.5. & 31.5.: Improvisation
erforschen – improvisierend forschen workshops mit Barre Phillips
und Ariel Shibolet gespräche 29.5., 16.15 h: Why do we improvise?
Barre Phillips und Eddie Prévost im Gespräch // 1.6., 11.30 h: Improvisation ist mehr! 50 Jahre Improvisation in der künstlerischen, pädagogischen und therapeutischen Arbeit, Roundtable-Gespräch mit Experten
impro-treffs 30.5. & 31.5., 12.30 h: Offene Bühne // 30.5. & 31.5.,17 h:
Tutti-Aktion: SOUP // 1.6., 11 h: Offene Bühne
Mehr Informationen unter www.exploratorium-berlin.de
Die Improvisationszeitschrift ringgespräch für gruppenimprovisation
– Theorie und Praxis improvisierter Musik besteht seit 1992 aus
Themenheften wie „Die Stimme in der Improvisation“ oder „Qualität in
der Improvisation“, die zeitlose Aktualität haben und daher regelmäßig
nachgedruckt werden. Als einzige deutsche Fachzeitung zu diesem Thema
wird das ringgespräch nicht nur von Einzelpersonen, sondern auch von
zahlreichen Hochschulbibliotheken abonniert. So erreicht die Zeitung
gezielt interessiertes Publikum. Aktuell erscheint das ringgespräch einmal
jährlich im Frühjahr in einer Erstauflage von 1.000 Stück, bei Interesse
wird nachgedruckt. Das ringgespräch wird bei Konzerten, Symposien und
internationalen Musikkongressen verkauft. Der Verkaufspreis von 5 Euro
entspricht dem Selbstkostenpreis bei einem Heftumfang von 80 bis 88
Seiten.
Kontakt: [email protected]
Mehringdamm 55 // Sarotti-Höfe // 10961 Berlin
wEitErbildungsstudiEngängE
mit improVisAtion
im klAnghAus Am sEE
Musikalische Prozessbegleitung
Persönlichkeitsentwicklung, Gemeinschaftsbildung und Gesellschaftsgestaltung mit den Mitteln der Musik
Kooperationspartner: Berufsverband der Präventologen e.V.
Weiterbildungsstudiengang Musik
Improvisation, angewandte Musiktheorie, instrumentale Fortbildung
Kooperationspartner: Herbert von Karajan-Stiftung
Beide berufsbegleitenden Studiengänge sind staatlich anerkannte
Weiterbildungen, werden zertifiziert und sind über Bildungsprämie
und Bildungsscheck förderbar.
Information und Anmeldung:
Klaus Holsten, (03 83 74) 7 52 28, [email protected], www.eaha.org
EuropäischE AkAdEmiE dEr hEilEndEn künstE E.V.
17440 klEin JAsEdow / lAssAn
www.eaha.org
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