GM 3-2011.indd - Neuraltherapie

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Neuraltherapie-Regulationsmedizin
Grundregulation – Parainflammation –
Extrazelluläre Matrix
Neue Erkenntnisse über die Natur des Störfeldes und
die Bedeutung der Neuraltherapie
Gerasimos Papathanasiou
"…wenn man einen lebenden Organismus auseinander nimmt, indem man seine verschiedene
Teile isoliert, tut man das nur zur Erleichterung der experimentellen Analyse und keineswegs,
um sie getrennt zu verstehen. In der Tat, will man einer physiologischen Eigenschaft ihren Wert
und ihre wirkliche Bedeutung zumessen, muss man sie immer auf das Ganze beziehen und darf
endgültige Schlussfolgerungen nur im Zusammenhang mit ihren Wirkungen auf das Ganze ziehen…" Claude Bernard (1865)
Prinzipien der Regulation
Ein lebender Organismus ist ein evolutives,
selbstreproduzierendes, energetisch offenes und
zweckbestimmtes System, das aus einer Vielzahl
untereinander und mit der Umwelt interagierender
Subsysteme besteht (1,2). Dieses System mit allen
Subsystemen hat hauptsächlich zwei Ziele: Adaptation an innere und äußere Reize und Überleben. Alle
adaptationsfähigen Systeme weisen drei essentielle
Eigenschaften auf:
1. Reizbarkeit: Das System ist dynamisch. Es reagiert auf Reize durch Entfernung aus seinem
Gleichgewichtszustand, um den Reiz zu bewältigen, und erlangt seinen Gleichgewichtszustand
wieder, wenn die Reizeinwirkung sistiert.
2. Vernetzungsfähigkeit: Durch sie entstehen Reaktionsmuster und Regelkreise.
3. Plastizität: Lebende Systeme können sich bei
Veränderungen in ihrer Mikro- oder Makroumgebung meistens nicht-linear mitverändern.
In der Systemtheorie sind Übergänge als "State
or Phase Shifts" bekannt. Ein gutes Beispiel für einen
"Phase Shift" in Bezug auf die sensorische Verarbeitung ist die Entwicklung von Allodynie nach verlängerter nozizeptiver Reizung. Eine ganz wichtige
Eigenschaft nicht-linearer Systeme ist die Tatsache,
dass minimale Reize oft viel größere Veränderungen
hervorrufen als starke Reize (vgl. ZweitschlagphänoGanzheitsmedizin Heft 3, Jahrgang 24, September 2011
men in der Neuraltherapie) (3). Adaptationsfähige
Systeme weisen die Fähigkeit zu Emergenz auf. Es
handelt sich dabei um die spontane Herausbildung
von neuen Eigenschaften oder Strukturen auf der
Makroebene eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente. Dabei lassen sich die emergenten Eigenschaften des Systems nicht auf Merkmale zurückführen, die seine Teile isoliert aufweisen.
Das Ganze ist stets mehr als die Summe seiner Einzelteile.
Andere wichtige Kennzeichen solcher Systeme
sind die Selbstorganisation und die Selbstregulation. Als Selbstorganisation wird in der Systemtheorie hauptsächlich eine Form der Systementwicklung
bezeichnet, in der die formgebenden, gestaltenden
und beschränkenden Einflüsse von den Elementen
des sich organisierenden Systems selbst ausgehen
(4). Selbstorganisation in biologischen Systemen ist
ein Prozess, bei dem das Aktivitätsmuster eines Systems aus den Interaktionen seiner einzelnen Komponenten resultiert. Die Gesetze, die diese Interaktionen bestimmen, entstehen nur durch Austausch
von lokaler Information ohne Bezug auf das gesamte Aktivitätsmuster (5).
Ein bekanntes Beispiel aus der Biologie ist das
sogenannte Schwarmverhalten von Vögeln oder
Fischen. Andere Beispiele sind die Proteinfaltung
(jener Prozess, durch den Proteine ihre dreidimensionale Struktur erhalten) oder die Formierung einer
Doppellipidschicht zu einer biologischen Membran.
5
Neuraltherapie-Regulationsmedizin
Wie schon erwähnt ist der lebende Organismus ein
offenes System, das Energie, Information und Materie mit der Umgebung austauscht. Dabei muss er
sich an Änderungen des äußeren und inneren Milieus adaptieren können, um zu überleben. Daher
muss jeder Lebensvorgang als Regulationsleistung
betrachtet werden (6).
Jeder Organismus besitzt eine angeborene Fähigkeit zur Selbstregulation. Es ist nicht einfach,
diesen Begriff zu definieren. Man könnte ihn als
Summe aller Vorgänge bezeichnen, die eine optimale Anpassung an die wechselnden inneren und
äußeren Bedingungen gewährleisten. Eine weitere
Vertiefung auf das Thema Regulation besonders auf
kybernetischer Ebene würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Es sollte aber an dieser Stelle festgehalten werden, dass das Regelkreismodell immer
noch zur grundsätzlichen Beschreibung der Regulationsmechanismen dient. Sehr wichtig ist dabei,
dass das Grundregulationssystem (die Matrix) diejenige biologische Größe darstellt, die aus offenen
Reflexbögen geschlossene Regelkreise macht (7).
Das Grundregulationssystem ist die funktionelle Einheit von Endstrombahn, Grundsubstanz
(extrazelluläre Matrix, ECM), vegetativem Nervensystem, endokrinem System und Immunsystem (8).
Es umgibt die ausdifferenzierten Zellen aller Organe
und Gewebe. Schon aus dieser Definition ist die
Hervorhebung der drei wichtigsten Systeme für die
Regulation sichtbar: das (vegetative) Nervensystem,
das endokrine System und das Immunsystem. Die
Vernetzungsfähigkeit dieser Systeme ist von grundlegender Bedeutung für die Regulation.
Vernetzung des Nervensystems und
des Immunsystems
Alle lymphatischen Organe und das Knochenmark werden vom vegetativen Nervensystem in-
Abb.1: Das Gehirn hat drei wichtige afferente Hauptwege, um mit
dem Immunsystem in der Peripherie
zu kommunizieren:
A zeigt den Weg über das autonome Nervensystem. Alle lymphatischen Organe einschließlich des
Knochenmarks besitzen eine autonome Innervation (49,50,51). Fast
alle lymphatischen Zellen tragen
auf ihrer Zellmembran adrenerge
Rezeptoren (49,52,53).
B entspricht der bekannten Achse
Hypothalamus-Hypophyse-Nebennierenrinde. Cortisol unterdrückt
sowohl die zelluläre als auch die
humorale Immunantwort (54). Noradrenalin (NE) und Adrenalin (Epi)
aus dem Nebennierenmark wirken
auch auf die Immunzellen.
C beschreibt die Kommunikation
der Peripherie mit dem ZNS über
die Freisetzung der proinflammatorischen Zytokine, die die Bluthinschranke an bestimmten Stellen
passieren können.
Modifiziert nach (32)
6
Ganzheitsmedizin Heft 3, Jahrgang 24, September 2011
Neuraltherapie-Regulationsmedizin
nerviert (9,10,11,12,13). Demzufolge haben alle
Ereignisse (Stressoren), die das autonome Nervensystem aktivieren, gleichzeitig einen Effekt auf das
Immunsystem. Wenn das sympathische Nervensystem aktiviert wird, setzen die terminalen sympathischen Axone Noradrenalin, Neuropeptid Y (NPY)
und Dopamin frei, wobei NPY und Dopamin neuromodulatorische Funktionen haben (9). Lymphozyten, Makrophagen und andere Immunzellen des
Grundregulationssystems besitzen entsprechende
Rezeptoren und reagieren auf die freigesetzten Substanzen (9,11,13).
Das ZNS hat zwei wichtige efferente Hauptwege,
um mit dem Immunsystem in der Peripherie zu kommunizieren [A und B in Abb.1]: Einerseits das autonome Nervensystem (sympathische und parasympathische efferente Fasern), andererseits die Achse
Hypothalamus – Hypophyse – Nebennierenrinde. Es
gibt aber auch Afferenzen, die das ZNS über die immunologische Situation in der Peripherie informieren. Die Freisetzung proinflammatorischer Zytokine
durch periphere Immunzellen (Matrix) liefert das kritische Signal für die Kommunikation mit dem ZNS
(14,15,16). [C in Abb.1].
Vernetzung des Nervensystems mit
dem endokrinen System
Über das vegetative Nervensystem und über die
Regulation glandotroper Hormone der Hypophyse
mittels hypothalamischer Mediatoren (Liberine und
Statine) steuert der Hypothalamus periphere Hormone und gewährleistet damit, dass die hormonregulierten Funktionen peripherer Organe dem
jeweiligen Bedarf angepasst werden (17). Beide
Systeme wirken vor allem bei der Bewältigung von
Stress-Signalen eng zusammen. Drei Mechanismen
sind dabei von Bedeutung:
a) die Ausschüttung von Noradrenalin und Adrenalin als systemische Hormone durch das Nebennierenmark (in der englischen Literatur auch bekannt als sympathetic adrenomedullary axis),
b) die Aktivierung der Hypothalamus-HypophysenNebennierenrinden-Achse mit der Ausschüttung
von Mineralokortikoiden und Glukocortikoiden
c) die Aktivierung der sympathischen Komponente
des VNS (18).
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Vernetzung des Immunsystems mit
dem endokrinen System
Das Immunsystem befindet sich ubiquitär im
Organismus und an seiner Aktivität sind zahlreiche
verschiedene Organe und Zellen beteiligt. Das endokrine System benutzt als Transportweg die systemische Zirkulation, um seine Wirkungen in vollem
Umfang zu entfalten. Daher existieren zwischen beiden Systemen viele Schnittstellen. Diese Verhältnisse
sind am Beispiel der Stressreaktion am besten zu
beschreiben: Stress-induzierte Freisetzung von Adrenalin und Noradrenalin hat eine Aktivierung der
ß-2 Adrenorezeptoren auf der Oberfläche von mononukleären Phagozyten (19,20) und dendritischen
Zellen(21) zur Folge. Dabei spielt CorticotropinReleasing-Hormon (CRH) eine wichtige Rolle in der
Vernetzung des Immunsystems und des Hormonsystems. CRH ist ein Peptidhormon, das im Nucleus
paraventricularis im Hypothalamus gebildet wird.
Es bewirkt einerseits die Aktivierung der Hypothalamus-Hypophyse-Nebennierenrindenachse durch
die Sekretion von ACTH, und andererseits die Aktivierung zentraler noradrenerger Strukturen wie z.B.
den Locus Coeruleus (18,22). Auch die peripher
gebildete CRH (23) hat eine wichtige immunmodulatorische Wirkung.
Die Wirkung von Endocannabinoiden auf das
Immunsystem stellt eine weitere Vernetzungsmöglichkeit zwischen dem Immunsystem und dem Endokrinsystem dar (24,25).
Das Zytokinnetzwerk bildet eine eigene wichtige Möglichkeit der Kommunikation zwischen den
beiden Systemen. Zytokine sind kleine Proteine, die
von verschiedenen Zellen freigesetzt werden und
entweder autokrin durch Bindung an geeignete
Rezeptoren auf dieselbe Zelle oder parakrin auf
Nachbarzellen wirken. Einige haben auch Fernwirkungen (26). Rezeptoren für Zytokine finden sich
auf allen Ebenen der Hypothalamus-HypophysenNebennierenrindenachse (27). IL-6, eines der wichtigsten entzündungsfördernden Zytokine, das von
verschiedenen Zellen des Immunsystems als auch
von Fibroblasten und Epithelzellen gebildet wird,
kann den Hypothalamus über die systemische Zirkulation erreichen (28). IL-1, ein anderes wichtiges
proinflammatorisches Zytokin, das die Rekrutierung
7
Neuraltherapie-Regulationsmedizin
neutrophiler Granulozyten einleitet, kann den Locus
Coeruleus und damit das noradrenerge System für
die Stressreaktion aktivieren (29).
Negative Rückkoppelungsprozesse begrenzen
die überschießende proinflammatorische Zytokinaktivität. Bei einem Anstieg der proinflammatorischen
Zytokine in der Peripherie aktiviert sich die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrindenachse mit
darauffolgender Produktion von Glukocortikoiden.
Dieser induzierte Anstieg der Glukocortikoide wirkt
über die Beeinflussung der Produktion von Zytokinen
auf immunologische Zellen, was die Existenz eines
durch Zytokine vermittelten immunregulatorischen
Regelkreises mit der HHN-Achse nahelegt (30).
Vernetzung durch eine gemeinsame
biochemische Sprache
Es gibt beachtliche Evidenz dafür, dass ein
System von gemeinsamen Liganden und Rezeptoren eine Intra- und Interkommunikation zwischen
dem Nerven-, Hormon- und Immunsystem bildet
(31,32,33,34). Dadurch entwickelt sich eine gemeinsame Sprache zwischen diesen drei Hauptsäulen der Regulation, die die Bewältigung aller
anfallenden Stressoren auf verschiedenen Ebenen
ermöglicht. Die wichtigsten Elemente dieser Sprache
sind Peptide, Hormone, Neurotransmitter, Endocannabinoide und Zytokine. Dabei ist zu beachten, dass
viele dieser Substanzen eine Pleiotropie aufweisen:
ihre Wirkungen können sowohl inhibitorisch als
auch exzitatorisch sein. Welchen Effekt sie aktuell
verursachen, entscheidet sich durch die Eigenschaften und Zustände der Mikroumgebung des Geschehens und im Zusammenhang mit der Wirkung aller
anderer Faktoren (cross talking).
Einen Einblick in die Komplexität dieser Zusammenhänge bietet die Abb. 2. Hier wird an erster
Stelle die Vernetzungsfähigkeit der drei wichtigsten
Systeme für die Regulation dargestellt. Die gemeinsame Sprache zwischen dem Nerven-, Hormonund Immunsystem wird im Zentrum der Abbildung
gezeigt. Die lokale Zirkulation, die Diffusion und
die Zellmigration sind wichtige Wege der lokalen
Informationsübertragung. Die systemische Zirkulation und die Aktivität des autonomen Nervensystems
stellen Möglichkeiten der systemischen Informationsübertragung dar. Dadurch wird eine reziproke
Kommunikation zwischen den regulatorischen Systemen gesichert, die eine koordinierte Antwort auf
jede allostatische Belastung gewährleistet. Der Hintergrund dieser Abbildung zeigt die extrazelluläre
Matrix (ECM).
Die Bedeutung der ECM
Die ECM stellt die periphere
Integrationsebene des Nerven-,
Hormon- und Immunsystems
dar. Da in der ECM die vegetativen Nervenfasern blind enden und diese jeweils Teile von
Spinalnerven sind, ist die ECM
viszeroafferent und -efferent
an das ZNS angeschlossen!
Gleichzeitig ist sie über die Kapillaren mit dem Endokrinium
verbunden (35). Hier spielt sich
auch die Mehrzahl aller immunologischen Vorgänge ab, und
hier kommt die gemeinsame
Abb. 2: Erläuterungen im Text.
Modifiziert nach (55)
8
Ganzheitsmedizin Heft 3, Jahrgang 24, September 2011
Neuraltherapie-Regulationsmedizin
Sprache zum Ausdruck: Das Zytokinnetzwerk koordiniert die rasche lokale Rückkopplung zwischen
Zellen und vegetativen Axonen. Es spielt die wichtigste Rolle in der latenten Entzündungsbereitschaft
der ECM. Das bedeutet, dass sich die ECM in einer
permanenten, kontrollierten proinflammatorischen
Situation als Voraussetzung für einen situationsgerechten Gewebsumbau befindet (35). Der Gewebsumbau kommt in vielen Situationen wie z.B.
bei Traumen, Infektionen, Wundheilungsprozessen,
aber auch als Bestandteil von Stressreaktionen vor.
Es scheint daher logisch zu sein, dass das Phänomen Entzündung eine zentrale Rolle sowohl in der
Physiologie als auch in der Pathophysiologie spielt.
Inflammation
Die Entzündung ist eine adaptive Reaktion des
Organismus zur Wiederherstellung der Homöostase im Falle einer Verletzung oder Infektion. Solche
Ereignisse triggern eine Anflutung von Plasma und
Leukozyten zum Ort der Läsion. Bestimmte Rezeptoren wie TLR (Toll like receptors) oder NOD (nucleotide binding oligomerization domain protein like
receptors), die sich auf Zelloberflächen von Zellen
der angeborenen Immunität befinden, initiieren den
Prozess.
Dabei spielen die ortsständigen Makrophagen
und Mastzellen die wichtigste Rolle (36). Sie sezernieren Mediatoren wie z.B. Zytokine, Chemokine,
vasoaktive Amine, Eikosanoide usw. Dadurch werden zuerst die neutrophilen Granulozyten angelockt (Chemotaxis). Nach Andocken am Endothel
der postkapillären Gefäße über Selektine durchqueren sie dieses (Diapedese), phagozytieren den
Erreger oder schädigen ihn durch Enzyme wie z.B.
Lysozym, oder Oxidantien wie Wasserstoffperoxid,
Sauerstoffradikale und andere potente Substanzen.
Dabei bildet sich das entzündliche Exsudat mit den
bekannten Kardinalzeichen der Entzündung: Rubor,
Tumor, Kalor, Dolor. Eine erfolgreich abgelaufene
entzündliche Reaktion eliminiert die pathogenen Mikroorganismen und geht in eine Finalisierungs- und
Repair-Phase über.
Wenn eine akute inflammatorische Reaktion z. B.
an der Eliminierung der pathogenen MikroorganisGanzheitsmedizin Heft 3, Jahrgang 24, September 2011
men scheitert, dann entwickelt sich eine chronische
Entzündung. Dabei spielen die Makrophagen, und
im Falle einer Infektion die T-Zellen die wichtigste
Rolle. Andere Möglichkeiten für die Entwicklung einer chronischen Entzündung stellen autoimmunologische und Fremdkörperreaktionen dar. Letztere ist
auch bedeutsam für die Neuraltherapie (Störfeldcharakter des Fremdkörpers).
Die homöostatischen Kontrollmechanismen
des Organismus versuchen immer, die Stabilität
verschiedener lebensnotwendiger Parameter des
inneren Milieus (z.B. Sauerstoff- oder GlukoseKonzentration, pH-Wert) um einen gegebenen "Set
Point" mit sehr geringer Variationsbreite konstant zu
erhalten (37). Andererseits wissen wir, dass in letzter
Zeit der Begriff Homöostase durch den Begriff Allostase wesentlich erweitert und ergänzt wurde. Der
wesentliche Unterschied besteht darin, dass bei der
Allostase die Gewinnung von Stabilität durch Aktivierung von physiologischen Mechanismen mit passageren Veränderungen von Sollwerten (Set-Points)
verbunden ist (38).
Ähnlich ist es bei Entzündungsprozessen. Unphysiologische Bedingungen bewirken bei einigen
Parametern eine Abweichung von der Norm, um
dann eine akute Stressreaktion (akute Entzündung
– provisorische Adaptierung an die neuen Verhältnisse) oder eine verlängerte adaptive Reaktion mit
Veränderungen von Set-Points (chronische Entzündung – Allostase und Übergang in die allostatische
Situation) hervorzurufen. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Eine vorübergehende Reduktion der
Insulin-Sensitivität der Skelettmuskeln während einer akuten Entzündung kann für den Organismus
vorteilhaft sein, weil mehr Energie (Glukose) für
Leukoyzten und andere beteiligte Zellen bereitgestellt wird. Wenn aber diese Situation lange Zeit
persistiert, kann sie zu einem Typ2-Diabetes führen.
Typ2-Diabetes stellt in diesem Fall die allostatische
Belastung des Organismus dar (39).
Allgemein gesprochen kommt es immer dann zu
einer Entzündungsreaktion, wenn eine Gewebsdysfunktion auftritt. Im Fall einer reinen Dysfunktion ist
der Grad der inflammatorischen Reaktion sehr gering, verglichen mit der Reaktion auf eine Infektion
9
Neuraltherapie-Regulationsmedizin
oder ein Trauma. Inflammatorische Reaktionen auf
Gewebsdysfunktionen entstehen sehr häufig, laufen
jedoch subklinisch ab und werden im Vergleich zu
einer klassischen inflammatorischen Reaktion kaum
wahrgenommen.
Art und Ausmaß der Gewebsalteration entscheiden darüber, ob die Entzündung durch laborübliche
Biomarker entdeckt wird. Die auftretenden Gewebsveränderungen können von gewebsspezifischen milden Funktionsstörungen bis zum massiven Trauma
reichen. Entsprechend kann auch die Stärke der
inflammatorischen Reaktion variieren. Sehr milde
Stressoren, unabhängig davon, ob infektiös, allergisch, toxisch, mechanisch, chemisch, thermisch,
galvanisch, elektromagnetisch oder emotional,
werden durch die Aktivität von ortsständigen Zellen
bewältigt.
Die wichtigste Rolle spielen dabei Makrophagen
und Mastzellen. Stärkere Stressoren bzw. ein größeres Maß an Funktionsstörung führen zur Rekrutierung von neutrophilen Granulozyten und zu einer
Anreicherung von Plasmaproteinen. In diesem Fall
beginnt eine klassische inflammatorische Reaktion.
Die Signale, die bei Gewebe-Stress oder Gewebsdysfunktion auftreten, sind im Vergleich zu jenen bei
Verletzung oder Infektion nicht vollständig bekannt
(40).
Parainflammation und das Wesen des
Störfeldes
Zellen können sich in einem von vier möglichen
Zuständen befinden: basaler, gestresster, apoptotischer oder nekrotischer Zustand. Eine Zelle befindet sich im basalen Zustand, wenn alle homöostatischen Parameter, die ein stabiles inneres Milieu
gewährleisten, stimmen. Jede Veränderung einer
dieser Parameter induziert eine Stressreaktion, oft
verbunden mit einer Form inflammatorischer Reaktion, die einen Adaptationsversuch an die neuen
Bedingungen darstellt.
Die Zellzustände weisen keine fließenden Übergänge auf. Eine Zelle kann sich immer nur entweder in einem oder einem anderen Zustand befinden. Hier gilt das Alles-oder-Nichts-Prinzip. Im
Gegensatz dazu sind die Übergänge bei den entsprechenden Gewebszuständen stufenlos. Gewebe
können durchaus nekrotische Zellen enthalten, die
sich neben gesunden Zellen oder Zellen in einem
gestressten Zustand befinden und gemeinsam eine
mehr oder weniger ausgeprägte Funktionsstörung
verursachen. Unter Einwirkung von milden Stressoren werden die Gewebe funktionsgestört und
gestresst. Wenn die allostatischen Faktoren (Stressoren) an Stärke oder Dauer zunehmen, dann werden ortsständige Makrophagen und Mastzellen
Abb. 3: Der Zustand eines Gewebes
kann vom basal oder gestresst-dysfunktionell bis zu einem Zustand nach
Verletzung oder Infektion reichen (apoptotisch, nekrotisch). Entsprechend dem
jeweiligen Zustand ändert sich die Aktivität ortsansässiger Makrophagen und
(in einigen Geweben) auch bestimmter
Leukoyzten. Grüne Pfeile = Signale,
die den aktuellen Gewebszustand an
die Makrophagen melden, rote Pfeile = Signale, die den Makrophagen
als Gewebskontrolle dienen. Die Parainflammation ist als ein Zustand zu
beschreiben, der sich zwischen dem
basalen homöostatischen Zustand und
der klassischen Entzündungsreaktion
befindet. Modifiziert nach (40)
10
Ganzheitsmedizin Heft 3, Jahrgang 24, September 2011
Neuraltherapie-Regulationsmedizin
aktiviert, manchmal wird auch eine geringfügige Rekrutierung von neutrophilen Granulozyten initiiert.
Dieser Zustand, der sich zwischen dem basalen
homöostatischen Zustand und der klassischen
Entzündungsreaktion befindet, heißt Parainflammation oder low grade inflammation (40).
Die Parainflammation hat sich zu einem wichtigen Begriff in der Medizin entwickelt. In der Tat
haben viele in der heutigen Gesellschaft häufig
auftretenden Erkrankungen wie Adipositas, Typ2Diabetes, Atherosklerose, Asthma oder Mb. Alzheimer mit parainflammatorischen Zuständen zu tun
(41-46). Dies soll die Abbildung 3 verdeutlichen.
In einem früheren Artikel (39) haben wir versucht,
die Natur des Störfeldes als eine "chronische Entzündung und Entzündungsreaktion, die den Organismus in eine allostatische Situation versetzt und
immer mit einer allostatischen Belastung verbunden
ist", zu beschreiben. Heute können wir diese Definition verfeinern, wenn wir unter dem Begriff Entzündung Parainflammation verstehen. Das stimmt
mit der klinischen Beobachtung überein, dass das
Störfeld von oligosymptomatischem oder asymptomatischem Charakter ist. Die Parainflammation
(oder low grade inflammation) ist der gemeinsame Nenner aller Störfelder unabhängig von der Art der Stressoren,
die einen bestimmten Gewebsabschnitt zum Störfeld gemacht haben.
Monozyten, neutrophile Granulozyten und Mastzellen unterdrückt werden. Mit anderen Worten zeigt
sich hier die Möglichkeit der Lokalanästhetika, die
gemeinsame Sprache zwischen Immunsystem, Nervensystem und Endokrinsystem zugunsten der Homöostase zu modifizieren.
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Bedeutung für die Neuraltherapie
Beseitigung des Störfeldes bedeutet also Beseitigung des parainflammatorischen Zustandes. Das ist möglich
durch die sogenannten "alternativen
Effekte" der Lokalanästhetika, und insbesondere ihre antiinflammatorischen
Wirkungen. Lokalanästhetika greifen
an verschiedenen Stellen der inflammatorischen Kaskade wie z.B. bei Adhäsion, Aktivierung, Priming und Phagozytose ein (47,48). Abbildung 4 zeigt,
welche Entzündungsmediatoren durch
die lokalanästhetische Wirkung auf
Abb. 4: Modifiziert nach (47). Erläuterungen im Text.
Neuraltherapie-Regulationsmedizin
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Journal of Pain 9(2):122-145, 2008
Referenten:
4.
Internationales
Johannes Bischko Symposium
Fokus Geriatrie
F. Badelt
M. Bijak
P. Deadman
J. Gleditsch
K. Gold
D. Halfkenny
B. Iglseder
D. Irnich
B. Kostner
W. Laube
H. Liertzer
Th. Marquardt
A. Meng
Y.S. Mosch
J. Nepp
H. Nissel
W. Ortner
F. Pfab
K. Pils
M. Rainer
R. Rauhofer
G. Schwestka
N. Sieber
K. Stockert
D. Stockenhuber
W. Stör
S. Thiel
H. Tilscher
K. Watanabe
A. Winkler
Vorankündigung
25. – 27. November 2011
Bundesministerium
für Gesundheit
Wien
www.akupunktur.at
Ganzheitsmedizin Heft 3, Jahrgang 24, September 2011
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