17 internationales forum 14

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17 internationales forum
14
des jungen films berlin 1987 ,SS
f
i
LENZ
Z u diesem F i l m
V o n Andras Szirtes
Land
Ungarn 1986
Produktion
Balazs-Studio, Budapest
Regie
Andras Szirtes
Buch
Maty as Büki, Tamas Pap,
Andras Szirtes, unter Verwendung
der Novelle ' L e n z ' von Georg
Büchner
Kamera
Andras David, Barna M i h o k
Spezialaufnahmen
Andras Szirtes
Musik
Gustav Mahler, 1. Symphonie
Bauten, K o s t ü m e
Lujza Gccser, Laszlo Rajk
Schnitt
Eszter Kovacs
Ton
Eszter Matolcsy, G y u l a Traub
Darsteller
Lenz
Andras Szirtes
Klara Monus, K a t i Szerb,
Tamas Pap
Uraufführung
14. Februar 1987, Budapest
Format
35 m m , Farbe, 1 : 1.37
Länge
100 Minuten
Inhalt
E i n Kernforscher, der eine Überdosis Strahlung abbekommen
hat, fährt — auf Anraten der Ärzte — i n die Berge zur Erholung.
Dabei erlebt er die P h ä n o m e n e der Natur, vielleicht auch unter
Einwirkung seiner Krankheit, in einem besonderen Zustand:
Stunden u n d Jahre eilen sekundenschnell an ihm vorbei, w ä h r e n d
er als A u s e r w ä h l t e r Gottes mit sich selbst ringt.
Nach Ablauf des Kuraufenthaltes kehrt er zurück i n die Stadt
und baut unter Einsatz seines ganzen technischen Wissens eine
Selbstdeutungs- (Traumdeutungs-)maschine. D o c h er erlebt eine
bittere E n t t ä u s c h u n g : Der Apparat ist a u ß e r s t a n d e , seine Persönlichkeit oder auch nur seine T r ä u m e zu deuten. In seiner Entt ä u s c h u n g beginnt er an einer Bombe zu basteln. Er ist sogar
entschlossen, die Welt in die Luft zu jagen, würde ihm sein Sohn
nicht seine Verantwortung für die kommenden Generationen
b e w u ß t machen.
Wer ist dieser Lenz?
Es handelt sich u m zwei verschiedene Personen mit Namen ' L e n z ' .
Der eine, Jakob Michael Reinhold Lenz (1751 - 1792) ist eine
sonderbare Gestalt der frühen deutschen R o m a n t i k . Er h ö r t e bei
Kant Philosophie. Er war Goethes und Hegels Freund. In der
zweiten Hälfte der 70er Jahre des 18. Jahrhunderts verbrachte
er lange Zeit i n Weimar. Zeichen von Schizophrenie zeigten sich
bei i h m , später verschlimmerte sich sein Zustand stufenweise, allmählich trat aber ein Heilungsprozeß ein.
1781 reiste er nach R u ß l a n d , wo er in Petersburg u n d Moskau
lebte. E r starb in Moskau, dort liegt er auch begraben. In seiner
1774 geschriebenen Arbeit 'Anmerkungen übers Theater' formulierte er die für die deutsche Romantik grundlegende Sturm-undDrang-Theorie. Sein i m Jahre 1774 geschriebenes Drama 'Der
Hofmeister' wurde 1952 von Bertolt Brecht überarbeitet. Sein
anderes Drama 'Die Soldaten' (1776) wurde vom jungverstorbenen Ungarn Gabor Body 1977 als Fernsehfilm des Ungarischen
Fernsehens verarbeitet.
Über diesen Lenz schrieb Georg Büchner (1813 - 1837) eine mit
ausgezeichneter psychologischer Einführung versehene Novelle,
die die immer größer werdende Schizophrenie fast mit psychiatrischer Genauigkeit darstellt. Die unvollendete Novelle 'Der L e n z '
entstand i m Jahre 1835. Darin wird der Besuch von Lenz im November 1777 bei dem Schweizer Lavater i n Erinnerung gerufen.
Johann Kaspar Lavater (1741 - 1801) war der Begründer einer
psychologischen Charakterbeschreibung, die auf der F o r m des
Schädels u n d der Beschreibung der Gesichtszüge beruhte.
Lenz ging von Lavater zu dessen Freund Kaufmann, und nach
dem ersten schweren Schizophrenie-Anfall suchte er, auf Heilung
hoffend, den als Menschenfreund bekannten Waldersbacher Pastor J o h a n n Friedrich Oberlin auf. (Das Dorf liegt in der Nähe
Straßburgs, wo Lenz später Goethe kennenlernte).
Lenz stellte — in der Erzählung von Büchner — w ä h r e n d seiner
Wanderungen durch Berge u n d Wälder eine solch intensive Beziehung zur Natur her, zu der nur ein überempfindlicher Seelenzustand (im gegebenen Falle schon Schizophrenie) imstande ist.
Das Spiel der Wolken oder das Sich-Tummeln der Insekten erlebt er so stark, d a ß die Welt in seinem fiebrigen Bewußtsein fast
in elementare Bestandteile zerlegt erscheint. Er sieht Farben und
Z u s a m m e n h ä n g e , die das gesunde Bewußtsein sonst nicht aufnehmen k ö n n t e .
Das ist also der eine Lenz.
Der andere Lenz: ein ungarischer Ingenieur der A t o m p h y s i k von
heute. E r ist Mitte 30, hat Familie. E r fährt i m Sommerurlaub
irgendwo nach West-Europa (oder einfach ins Ausland). E r fährt
allein, mit einem Rucksack. U n d w ä h r e n d er ziellos durch die
kleineren und g r ö ß e r e n Städte bummelt, erlebt er verschiedene
gewöhnliche Abenteuer. Erst in den Bergen trifft er auf echte
Abenteuer: die u n b e r ü h r t e Natur. Der an das n e r v t ö t e n d e Gewühl der G r o ß s t a d t g e w ö h n t e Mensch erlebt in dieser wunderbaren Umgebung wahrhafte Schockwirkungen. E r bestaunt die
Bäume, Pflanzen, er entdeckt das Spiel der Wolken, die wunderbaren Variationen des Lichts zwischen den Bergen, die Welt der
Insekten, trifft auf einfache Menschen, und diese für i h n unge-
wohnten Erlebnisse bringen ihn in einen schizophrenen Zustand.
In seinen Visionen tut sich ihm schon die materielle Struktur der
Natur auf, der schizoide Seelenzustand läßt das Auge wie ein
Mikroskop oder Spektroskop arbeiten. E r lernt die bis dahin
unbekannten Wunder der Welt kennen. Aber der Urlaub ist bald
zu Ende, er m u ß wieder nach Hause. U n d dort erwartet ihn die
Neubau-Wohnung, das u n p e r s ö n l i c h e , kalte Gewimmel der Großstadt, die monotone F r o n am Arbeitsplatz. U n d dadurch gerät
Ingenieur Lenz i n eine ähnliche schizophrene Situation, wie
durch das Erlebnis der Entdeckung der Natur. N u r der reine u n d
unschuldige Blick der Kinder hält ihn von einem tragischen
Schritt zurück.
Der F i l m A n d r ä s Szirtes' L E N Z projiziert diese beiden Lenz-Figuren aufeinander. U n d zwar, indem er nicht nur Büchners geniales Erzählungsbruchstück, dessen Figuren und A t m o s p h ä r e
mit der Geschichte eines heutigen, jungen ungarischen Intellektuellen verschmelzen l ä ß t , sondern indem er bei der Gestaltung
der Bilderwelt des Films die G e m ä l d e des bedeutendsten Malers
der deutschen Romantik verwendet, Caspar David Friedrich
(1774 - 1840), mit dem sich zwei ungarische Buchneuerscheinungen beschäftigen und der sehr i n Mode gekommen ist. Der
zwischen Bergen, Felsen, Wäldern, Bächen u n d Wasserfällen
wandernde Lenz irrt durch die gleichen Farben- und Lichtverhältnisse, zwischen denen die Figuren auf den G e m ä l d e n Friedrichs erscheinen.
Der F i l m betont - auch indem der Drehbuchautor, Regisseur,
einer der K a m e r a m ä n n e r und sogar der Hauptdarsteller ein und
dieselbe Person sind:(ein junger Intellektueller von heute), d a ß
es zwischen dem Lebensweg und den Erlebnissen des Lenz der
Romantik und des heutigen Lenz gewisse spezifische Uberstimmungen gibt. ' L e n z ' ist i n diesem Sinne eine Parabel. U n d es
ist bei der Themen- und Titel wähl seines Films kein Zufall, d a ß
das deutsche Wort Lenz i m Ungarischen Frühling, Erwachen bedeutet.
/ « _ « . .
(Produktionsmitteilung)
Filme:
1978
Woyzeck, abendfüllender Dokumentarfilm
1980 Hajnal (Morgengrauen) kurzer Experimentalfilm
Oberhausen, 1980: Spezielle E r w ä h n u n g
1981
Gravitacib (Gravitation) kurzer E x p e r i m e n t a l f ü m
Madarak (Vögel) kurzer Experimentalfilm
Tükör - Tükrözes (Spiegel - Spiegelung) kurzer
Experimentalfüm
1983 A pronuma bolyok törtenete (Die Geschichte der PronumaMotten) abendfüllender Experimentalf ilm
1984 Naplb (Tagebuch) Dokumentarfilmserie, 8 Teile
1986
LENZ
Bio film ograp hie
Der Regisseur des Films L E N Z , Andras Szirtes, wurde 1951
geboren. E r legte das A b i t u r ab, erwarb als Elektriker einen Facharbeiterbrief. Als Facharbeiter wechselte er mehrmals den A r beitsplatz. Er begann, sich für das Amateurfilmen zu interessieren, und nahm an der Arbeit der visuellen Werkstatt der L ö r a n d
Eötvös Universität teil.
Er bewarb sich an der Hochschule für Theater- und Filmkunst
als Cutter und wurde auch angenommen.
Nach Erlangen seines Diploms arbeitete er beim Ungarischen
Fernsehen als Cutter. Unter anderem war er für die historischdokumentarische Filmserie Unser Jahrhundert als Schnittmeister tätig. Inzwischen begann er, im K l u b der jungen Künstler
des ungarischen Fernsehens u n d im Bela-Balazs-Studio der jungen Filmleute Filme zu drehen. 1981 bekam er in Oberhausen
einen g r o ß e n Preis für seinen 21 Minuten langen experimentellen F i l m Die Dämmerung.
1983 bekam er dort den Sonderpreis
der Evangelischen J u r y für seinen 20minütigen F i l m Gravitation.
Ende 1983 wurde das Drehbuch des Films: L E N Z fertig. A l s
Grundlage diente die Novelle Georg Büchners ' L e n z ' . Co-Autor
des Drehbuchs war Maty as Büki. Der F ü m wurde 1986 fertiggestellt, er wurde im Rahmen des Bela-Balazs-Studios gedreht.
Bei der endgültigen Fassung arbeitete Tamas Pap am Drehbuch
mit, die Kamera führte Barna M i h o k . D i e speziellen Effekte des
F ü m s photographierte Andras Szirtes — und er spielt auch die
Rolle von Lenz.
Die Schöpfer des Films haben die Naturbilder in den Wäldern,
Lichtungen u n d an den Bächen der tschechischen Hohen Tatra
und im Riesengebirge aufgenommen. Die alte Kleinstadt ist die
ebenfalls tschechische Stadt Tele. Die Momente der Schizophrenie, die phantastisch farbigen Wolken, die Wunder der Mikroweit wurden auf 3 D I N empfindliches Kodak-Eastman-PositivMaterial aufgenommen (dies bezeichneten die Filmemacher als
den Lenz-Auge-Effekt).
Die 'normale' Welt u n d die 'normalen' Bilder der Natur kamen
auf ein Kodak-Eastman-Negativ. Diese im Prinzip ganz einfache
Lösung zeigte erstaunliche Ergebnisse, die Bilderwelt des Films
wurde a d ä q u a t mit der Gedanken- und Gefühlswelt. Die Idee
half auch bei der Verkopplung und beim Ü b e r e i n a n d e r k o p i e r e n
der Erlebnis- und der Gefühlswelt sowie der Gedanken der beiden Lenz-Figuren. Dem gleichen Zweck diente auch die MahlerMusik (die 1. Symphonie und die Stücke aus den Liedern eines
Wanderburschen).
herausgeber: internationales forum des jungen films / freunde der
deutschen kinemathek, berlin 30, welserstraße 25 (kino arsenal)
druck: grafiepress, berlin 31, detmolder str. 13
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