1 Altern und Pflege – auf dem Weg zur Gerontologischen Pflege Hermann Brandenburg Ziel dieses Beitrags ist es Ihnen einen Einblick in das Feld der Gerontologischen Pflege zu geben. Damit ist die Schnittstelle zwischen „Altern“ und „Pflege“ bezeichnet. Die beiden hierfür zuständigen Disziplinen – Gerontologie und Pflegewissenschaft – haben auf je eigene Art und Weise diese Schnittstelle vernachlässigt. Der Gerontologie ging und geht es im Kern um das normale Altern, d.h. um Gesundheit, Aktivität und Kompetenz. Das pflegebedürftige Altern ist zwar nicht ausgeblendet worden, beispielhaft seien an dieser Stelle die Arbeiten des Heidelberger Gerontologen Andreas Kruse genannt. Aber der Fokus lag bei körperlichen, psychischen und sozialen Aspekten, weniger bei der Pflege – erst Recht nicht bei Pflegeinterventionen. Die Pflegewissenschaft selbst hatte auch nicht unbedingt das Altern im Blick, der Akzent lag und liegt hier auf der Krankenpflege, häufig auf die stationäre Akutversorgung im Krankenhaus bezogen. Diese Begrenzung ist in der alten Bezeichnung der Pflegeforschung als „Krankenpflegeforschung“ noch deutlich akzentuiert. Tatsächlich wurde die Schnittstelle, d.h. eine „gerontologischen Pflegeforschung“ von beiden Hauptdisziplinen eher randständig thematisiert. Dies ist ein Grund dafür, warum dieser Bereich als neues wissenschaftliches und praktisches Feld in Erscheinung treten konnte. Ziel des folgenden Beitrags ist es Ihnen einen Einblick zu geben, dabei werden drei Aspekte vertieft angesprochen. Erstens geht es um die historische Entwicklung. Hier wird deutlich, dass das Feld der Gerontologischen Pflege lange vernachlässigt wurde und keinen hohen Stellenwert besitzt – bis heute! Zweitens geht es um die Ambivalenzen in er Professionalisierung des Felds. Der demografische Wandel, die Erfolge der Medizin, die „Emanzipation“ der Altenpflege von der Krankenpflege – diese Entwicklungen haben einen (vorsichtigen) Akademisierungs- und Professionalisierungsschub ausgelöst, der aber durchaus kritisch zu bewerten ist. Denn von einer wie auch immer gearteten Autonomie des Felds kann (noch) keine Rede sein, denn es ist nach wie vor weitgehend fremdbestimmt, vor allem durch die Medizin. Drittens sollen – auf der Grundlage der Historie und Ambivalenzen – Gegenstand, Zielsetzung, Notwendigkeit und Themenfelder der Gerontologischen Pflege skizziert. Insbesondere an dieser Stelle wird erkennbar, dass die Schnittstelle von Altern und Pflege nur multi- und interdisziplinär bearbeitet werden kann. Die Zusammenarbeit von Pflege- und Sozialberufen wird im Kapitel von Sabine Hahn sowie im Epilog am Ende dieses Buches ins Zentrum der Überlegungen gerückt. 1. Zur Geschichte der Gerontologischen Pflege 2 Bereits zu Beginn der 1960er Jahren war davon die Rede, dass die Arbeit mit alten Menschen in der Langzeitversorgung echte Pflege darstellt und sich die Pflege in diesem Bereich durch hohe Qualität auszeichnen sollte (Norton et al. 1962). Aber dieses Potential ist bis heute nicht ausgeschöpft worden. High-tech Medizin und Akutversorgung sind gesellschaftlich in hohem Maße anerkannt. Hingegen ist die Pflege und Versorgung von alten, chronisch kranken und sterbenden Menschen mit wenig Prestige verbunden, finanziell schlecht entlohnt und auch für Pflegende nur „the least prefered career option“ (Nolan et al. 2012, 25). Wie ist es dazu gekommen? Werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf die stationäre Gesundheits- und Krankenversorgung alter Menschen in den letzten zwei Jahrhunderten, wie sie von Angehörigen verschiedener Disziplinen beschrieben wurde (Wilkin und Hughes 1986, Foucault 2005, Stollberg 2010, Sachße 2010, Hämel 2012). Folgende „Stationen“ lassen sich nachzeichnen: • Die „Geburt der Klinik“: Erwähnt wird, dass die Hospitäler, die sich in kirchlicher oder städtischer Trägerschaft befanden, zunächst multifunktional ausgerichtet waren: Pfründer, Schwache, Hilfsbedürftige, Waisen, Findlinge, Alleinstehende, alte Menschen, arme Durchreisende fanden Aufnahme nicht nur zur Krankenbehandlung (Stollberg 2010, 74). Schon immer gab es funktionsspezifische Häuser (z.B. Leprosorien), aber die „Geburt der Klinik“ (Foucault 2005) in unserem heutigen Verständnis ist erst ein Phänomen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert gewesen. Gemeint ist die Neuorganisation des Krankenhauswesens, die Entstehung der modernen spezialisierten Kliniken, damit verbunden die systematische Untersuchung des menschlichen Körpers, die Entwicklung medizinischer Fachsprachen. Hintergrund dafür war ein grundlegender Wandel des menschlichen Selbstbilds, der rationale Umgang mit Krankheit und Tod, die Entwicklung der Wissenschaften in einem neuzeitlichen Sinne. Konsequenz dieser Entwicklung war die Beseitigung aller Metaphysik im Blick auf den menschlichen Körper und dessen naturwissenschaftliche Profanisierung. Damit verbunden war eine Fokussierung auf heilbare Kranke, die zunächst nur auf die unteren sozialen Schichten bezogen war. Ziel war es deren Arbeitsfähigkeit wieder herzustellen. In der Folge wurden nach und nach alle Personen, die aufgrund ihres Alters und ihrer Behinderungen nicht mehr „geheilt“ werden konnten, auf andere Optionen verwiesen: Armen-, Arbeits-, Waisenund Irrenhäuser, die mit den allgemeinen Krankenhäusern locker vernetzt waren. In diesen Institutionen fand – wenn überhaupt - nur eine geringe medizinische Versorgung statt, waren rehabilitativ-aktivierende Angebote unbekannt, dominierte eine „reine“ Versorgung der zu Versorgenden. Eine Förderung, Aufrechterhaltung und 3 Weiterentwicklung der Lebensqualität der Betroffenen, auch und jenseits kustodialer Bemühungen, fand nicht statt. Im Unterschied hierzu richtete sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Entwicklung der modernen Medizin. • Moderne Medizin als Triebkraft: Die naturwissenschaftlichen Entdeckungen (u.a. im Bereich der Hygiene, Bakteriologie etc.), die Verwissenschaftlichung der Medizin insgesamt sowie die zunehmende Ausdifferenzierung medizinischer Spezialgebiete sind hier zu nennen. Seit den 1950er Jahren sind Zentren für „scientific medicine“ entstanden, die eine fachlich fortgeschrittene medizinische Versorgung anbieten konnten. Am Ende dieser Entwicklungen stehen Krankenhäuser als multireferenzielle Organisationen, die - um es in der Terminologie der Systemtheorie zu formulieren – vier verschiedenen Systemen dienen. Das Medizinsystem muss natürlich genannt werden, aber auch das Wissenschaftssystem mit Universitätskrankenhäusern als ärztlicher und pflegerischer Ausbildungsstätte. Insofern dienen sie auch dem Erziehungs- und Ausbildungssystem. Mit der zunehmenden Bezahlung von ärztlichen und pflegerischen Leistungen, die sich zunächst nur die Wohlhabenden leisten konnten, dient die Klinik letztlich auch dem ökonomischen System. • Leitbilder der stationären Versorgung: Auch jenseits des Krankenhauses zeigte sich wenig Sensibilität für die Belange des alten Menschen. Neben anderen „Randexistenzen“ der Gesellschaft wurden sie unter der Kategorie der Siechen zusammengefasst, die weniger der Arbeit und Disziplinierung, sondern viel stärker der Pflege und Wartung zugeführt werden mussten. Konsequent wurden Siechenhäuser als Anhängsel der modernen Krankenanstalten verstanden, worauf bereits hingewiesen wurde. Auch in der Weimarer Republik sowie in der Zeit des Nationalsozialismus blieben die „Entwicklungschancen würdiger Lebensangebote für alte Menschen im Heim begrenzt“ (Hämel 2012, 92). Erst in der Altenhilfe der Nachkriegszeit, vor allem aber seit den 1980er Jahren änderte sich das Bild der Heime als „Verwahranstalten“, wurden Wohnen, Selbständigkeit und Individualität stärker betont. Eine neue Aufmerksamkeit für die Pflege entstand auch dadurch, dass zunehmend eine ambulante Alternative gegeben und – spätestens nach Einführung der Pflegeversicherung – auch niederschwellige Hilfen immer stärker ausgebaut wurden. Insgesamt lässt sich an der Analyse der Leitbilder der stationären Altenpflege – vom „kleinen Krankenhaus“ der 1960er Jahre über die Betonung des Wohnens vor allem in den 1990er Jahren bis hin zu aktuellen Debatten um die Öffnung der Heime, Quartiersbezug und stärkerer Einbezug des bürgerschaftlichen Engagements - zeigen, dass Heime als Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklung wahrgenommen werden 4 müssen (Kontratowitz 2005). Hinter dem Normalisierungsprinzip, welches aktuell von vielen Trägern vertreten wird, verbergen sich letztlich gesellschaftliche Vorstellungen über das Altersbild. Heime stehen - trotz aller Reformen und eines hohen Engagements der Beteiligten - in einer Tradition der Ausgrenzung. Konstatiert wurde bereits früh, „dass die geschlossene Altenfürsorge primär als ein Reaktionsmuster des sozialen Systems auf Störfaktoren im Wirtschaftsprozess […] aufzufassen ist“ (Majce 1978, 264). Die Versorgung im Heim sei – so die Soziologen - nicht primär auf die Bedürfnisse der Bewohner selbst ausgerichtet, vielmehr hätten „die Wünsche des Personals, der Heimleitung, auch außerinstitutionelle Instanzen wie z.B. der Familie, des Sozialamtes – häufig in der ideologischen Gestalt des „Sachzwangs“ die höheren Verwirklichungschancen (Majce 1978, 262). Trotz aller Veränderungen – vor allem architektonischen Erscheinungsbild der Heime – hat sich diese „Binnenstruktur“ nicht substantiell verändert. Aktuell kommt eine Regulierung der Pflegequalität durch externe Prüfinstanzen hinzu (Brandenburg 2010), verschärft die prekäre Personalsituation die ohnehin angespannte Gesamtlage (Bettig et al. 2012, ist durch die „Ökonomisierung“ zunehmend die Handlungsautonomie der Akteure vor Ort begrenzt worden (Slotala 2010). Insgesamt bleibt die De-Institutionalisierung und Öffnung der Heime eine Herausforderung – nicht zuletzt auch für die Gesellschaft selbst. 2. Ambivalenzen in der Professionalisierung des Felds Die Professionalisierung der Medizin ist von einer Paraprofessionalisierung der Pflege begleitet worden, die nicht zuletzt durch Medizin und Staat befördert wurde (Schweikart 2008). Sie war von Anfang an fremdbestimmt und ist bis heute der ärztlichen Entscheidungsbefugnis untergeordnet. 1781 wurde in Mannheim eine Krankenwärterschule gegründet, an der Ärzte lehrten. Die 1836 in Kaiserswerth gegründete Diakonissenanstalt etablierte die medizinisch-fachliche Bildung durch Ärzte, die konzeptionell noch deutlicher in der von Florence Nightingale in London gegründeten Pflegeschule ausgeprägt war (Stollberg 2010). 1906 wurde in Preußen eine fakultative Prüfung nach einjähriger, 1921 nach zweijähriger Ausbildung eingeführt. Dies war ein Fortschritt, denn in der Charité blieb bis 1907 die Ausbildung auf drei Monate begrenzt. Die Verlängerung der Ausbildung korrespondierte mit gestiegenen Anforderungen, welche durch medizinisch-technischen Fortschritt ausgelöst wurden. Die Krankenpflege blieb jedoch ein Stiefkind des preußischen (und später deutschen) Medizinalwesens, der Übergang zum Krankenpflegeberuf als eigenständiger bürgerlicher Frauenberuf fand real nie statt, die marginalen berufspolitischen 5 Mitwirkungsmöglichkeiten des Pflegeberufs lassen sich bis in die jüngste Zeit nachweisen (Schweikart 2008, 267 ff.). Die Altenpflegeausbildung, zunächst ebenfalls nur auf wenige Monate konzipiert, konnte sukzessive an Qualitätsstandards herangeführt werden und 2003 als bundesweite Ausbildung etabliert werden. Allerdings ist sie nach wie vor in hohem Ausmaß fremdbestimmt, vor allem durch die Medizin (Twenhöfel 2011). Trotzdem – die Anzeichen einer eigenständigen Entwicklung im Bereich der Gerontologischen Pflege dürfen nicht übersehen werden: • Akademisierungsprozesse: Der Akademisierungsprozess in der Pflegwissenschaft ist in diesem Zusammenhang zu nennen. 1907 wurde ein Lehrstuhl für Krankenpflege an der New Yorker Columbia Universität eingerichtet. Vor allem seit den 1950er und 1960er Jahren hatte sich in den USA eine breitenwirksame Durchsetzung pflegewissenschaftlicher Studiengänge etabliert, die erst in den 1990er Jahren in Deutschland „nachgeholt“ wurde, vorwiegend an Fachhochschulen. Allerdings blieben gerontologische Fragen randständig, denn die meisten Pflege-Studiengänge waren „krankenhauslastig“ ausgerichtet. Die Situation hat sich in den letzten Jahren nur wenig, etwa durch Schwerpunktsetzungen und Neuberufungen an den Fachhochschulen, geändert. • Forschung: Die universitäre Forschung in der Pflege blieb in Deutschland auf wenige Zentren begrenzt (Witten, Berlin, Bielefeld, Bremen, Osnabrück, Vallendar). Auch in der Schweiz gibt es nur wenige Zentren, an denen pflegewissenschaftliche Forschung betrieben wird (Basel, Bern, Zürich). In Deutschland ist ein vom Bundesforschungsministerium im Jahre 2004 initiiertes Programm von vier Pflegeforschungsverbünden, an dem 24 Hochschulen mit 25 Teilprojekten beteiligt waren, (in Teilen) bis 2010 gefördert worden (Schaeffer et al. 2008a). Dieses Programm behandelte auch wichtige Fragen der Gerontologischen Pflege, u.a. Bewältigung chronischer Krankheit, Umgang bei Menschen mit Demenz oder Optimierung des Pflegeprozesses. Insgesamt hat es eine Vielzahl von Anregungen für die Pflegepraxis, auch bei alten Menschen, gegeben. Hierzu hat entscheidend auch das Deutsche Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege beigetragen, welches Expertenstandards veröffentlicht hat, die sich überwiegend mit klinischen Herausforderungen in der Langzeitpflege beschäftigt haben. Zu erwähnen ist auch das interdisziplinäre Graduiertenkolleg „Demenz“ an der Universität Heidelberg. International ist Deutschland jedoch „Schlusslicht in der Pflegewissenschaft“ (Behrens et al. 2012, 7) – so jedenfalls die „Agenda Pflegeforschung für Deutschland“. 6 • Theoriediskussion: Neben Ausbildung und Forschung wurden Fragen der Gerontologischen Pflege auch in der Theoriediskussion der Pflege thematisiert. Ein Beispiel hierfür ist die Diskussion um die Pflegemodelle / Pflegetheorien, die seit den 1980er Jahren (vor allem aus den USA kommend) international wahrgenommen wurde (Meleis 2012). Auch in Deutschland wurde die Debatte positiv aufgegriffen, häufig enthusiastisch adoptiert, in der Regel unkritisch rezipiert (Brandenburg & Dorschner 2013). Die Kritik ließ jedoch nicht lange auf sich warten. Wadenstein und Carlsson haben 2003 insgesamt 17 Pflegemodelle dahingehend untersucht, ob sie als Orientierung für die Pflege alter Menschen und ihrer Familien nützlich sind. Im Ergebnis wurde festgestellt, dass kein Modell den Anforderungen entsprochen hatte: Sie waren zu abstrakt, wurden häufig nicht verstanden, bezogen sich nur indirekt auf die Situation alter Menschen. Es handelte sich um normative Sollkonzepte (Schaeffer et al. 2008b). Vor allem gelang es nicht für Betroffene, Angehörige und Pflegende einen gemeinsamen theoretischer Rahmen zu erarbeiten, welcher in der Praxis zur Anwendung kommen könnte. • Pionierarbeit in Großbritannien: Ein entsprechendes „Framework“ konnte erst in 1990 Jahren vorgestellt werden und umfasste ein therapeutisches Viereck: Betroffene, Professionelle, Angehörige und Krankheit/Behinderung. Vor allem Mike Nolan, der die erste Professur für Gerontologische Pflege in Großbritannien besetzen konnte, leistete Pionierarbeit. Ein von ihm entwickeltes Modell wurde als „Senses Framework“ bekannt und konnte die spezifischen Bedingungen der Pflege bei multimorbiden und chronisch kranken alten Menschen besser berücksichtigen (Nolan et al. 2006). Konkret ging es um sechs Bereiche: (A sense of security, a sense of belonging, a sense of continuity, a sense of purpose, a sense of achievement, a sense of significance), welche als Zielvorgaben für die Gerontologische Pflege relevant wurden. Sie trugen zu einer angemessenen Pflegeumwelt bei, konnten in die Praxis umgesetzt werden und haben letztlich zu einer „relationship-centred care“ beigetragen (Nolan et al. 2012; vgl. auch Parker 2008). • Aktuelle Handbücher: Mittlerweile liegen ausgezeichnete Lehr- und Handbücher1 für die Gerontologische Pflege vor, die sich an der Tradition und Weiterentwicklung 1 In Deutschland liegt bis heute kein adäquates Lehr- und Handbuch für die Gerontologische Pflege vor, das substantiell über die die üblichen „How-to-do“-Anweisungen der klassischen Pflegelehrbücher hinausgehen würde. Hervorzuheben sind Versuche die US-amerikanische Debatte bzw. internationale Debatte auf dem deutschen Pflegemarkt zu positionieren. Genannt werden sollen exemplarisch die Arbeiten von Corr und Corr (1992), Abraham et al. (2001) sowie Milisen et al. (2004). Erwähnenswert sind auch Monographien zu einzelnen klinischen Themen (Stürze, Dekubitus, Inkontinenz, Schmerzen etc.) sowie eine gerontologische Einführung für Schülerinnen und Schüler in der Altenpflege 7 der personenzentrierten Pflege orientieren, die ursprünglich von dem Sozialpsychologen Tom Kitwood entwickelt wurde (Kitwood 1997). In Großbritannien ist das Buch von Reed et al. (2012) erschienen, welches ein großes Kapitel über „Fundamentals of working with older people“ enthält. In dieser Tradition steht auch das Werk von Dening und Milne (2011), welches sich um eine Innen- wie auch eine Außensicht der stationären Langzeitpflege bemüht. Hervorzuheben ist das in einer amerikanisch-britischen Koproduktion konzipierte Buch „Excellence in Dementia Care“ (2011) von Bowers (Wisconsin, USA) und Downs (Bradford, GB). Dieses Buch fasst den internationalen Forschungsstand zur Demenzpflege. Die genannten Bücher haben – wie oben bereits erwähnt – einen theoretischen Leitfaden, orientieren sich an der Diskussion um Kitwood und seiner Weiterentwicklung durch Dawn Brooker, Mike Nolan, Brendam McCormack und Christine Brown Wilson. Hauptzentren der Debatte sind die Universitäten Stirling, Bradford und Sheffield. Aus Australien, vor allem aus Melbourne, kommen ebenfalls innovative Diskussionsbeiträge. Zu nennen ist vor allem der von Nay und Garrett (2009) herausgegebene Band „Older people – issues and innovations in care“ mit insgesamt 28 Beiträgen. Dieses Handbuch ist interdisziplinär konzipiert, ähnlich wie die genannten britischen Bücher, enthält eine Vielzahl von Texten international führender Forscher auf dem Feld der Gerontologischen Pflege. Alle genannten Bücher enthalten einen umfassenden Ein- und Überblick über klinisch relevante Fragen, aber sie ordnen diese in einen versorgungs- und gesellschaftlich relevanten Kontext ein. Das ist der wichtigste Unterschied zu vielen US-amerikanischen Büchern, die in exzellenter Weise klinische Fragen thematisieren, in der Regel aber Fragen der Lebensqualität, der gesellschaftlichen Inklusion alter Menschen sowie Aspekte der politischen Mitwirkung und Teilhabe ausblenden, etwa Maas et al (2001). Insgesamt liegt eine Vielzahl von wichtigen Erkenntnissen zur Gerontologischen Pflege vor, die in Deutschland und auch im deutschsprachigen Ausland bislang nur ansatzweise zur Kenntnis genommen wurde. Das wichtigste Desiderat ist die fehlende Rezeption einer theoretischen Grundlage, vor allem im Hinblick auf die Grundlagen und die Weiterentwicklungen der personenzentrierten und rehabilitativen Pflege. (Brandenburg und Huneke 2006), eine theoretische Grundlegung der gerontologischen Pflege insgesamt steht jedoch nach wie vor aus. 8 3. Gegenstand, Zielsetzung, Notwendigkeit und Themenfelder der Gerontologischen Pflege Die Gerontologische Pflege versteht sich als eigenständiges und empirisch orientiertes wissenschaftliches Fach an der Schnittstelle von Pflegewissenschaft und Gerontologie, die als Leitdisziplinen angesehen werden können (vgl. Abb. 1). Abb. 1: Verortung der Gerontologischen Pflege • Gegenstand: Inhaltlich geht es um die Beschreibung, Analyse und Kritik von Pflegesituationen alter Menschen im familiären, institutionellen und gesellschaftlichen Kontext. Interdisziplinarität ist konstitutiv für die Gerontologische Pflege. Prägend ist der Einfluss der Leitdisziplinen, die wiederum abhängig sind vom Forschungsstand ihrer sogenannten „Mutterdisziplinen“, z.B. der Soziologie, der Philosophie und der Psychologie. Vor allem im Hinblick auf klinische Fragen werden die Befunde aus der Geriatrie und der Gerontopsychiatrie, de Gerontopharmakologie und der Versorgungsforschung aufgegriffen2. Ebenfalls ergeben sich Anregungen aus der Heilpädagogik sowie den Rehabilitationswissenschaften. Die Gerontologische Pflege berührt fachliche, kulturelle und ethische Dimensionen. • Zielsetzung: Die Kategorien des Guten und Besseren sind Bestandteil des wissenschaftlichen Programms der Gerontologischen Pflege. Die Kritik an menschlich und fachlich inakzeptablen Problemsituationen der Pflege alter Menschen ist der Gerontologischen Pflege inhärent. Insofern versteht sie sich nicht als ein „wertneutrales“ Forschungsfeld, im Gegenteil: Die Verbesserung der körperlichen, sozialen und psychischen Situation von hilfe- und pflegebedürftigen alten Menschen und ihrer Angehörigen sowie ihrer professionellen Betreuer ist ihr ein wichtiges 2 Zur Vertiefung der medizinisch-naturwissenschaftlichen Perspektive in der Gerontologischen Pflege sei an dieser Stelle auf das ausgezeichnete Handbuch von Capezuti et al. (2008) verwiesen. 9 Anliegen. Daher kritisiert sie das hohe Ausmaß der Fremdbestimmtheit und der gesellschaftlichen Regulierung der Pflege alter Menschen und ihrer pflegenden Familien. Damit verbunden ist auch die weitgehende Sprach- und Machtlosigkeit professionell (und bürgerschaftlich) engagierter Personen in der Pflege alter Menschen. Die Förderung und Entwicklung einer beruflichen Identität der professionell Pflegenden ist ein wichtiges Anliegen für die Gerontologische Pflege. Zur wissenschaftlichen Bearbeitung der genannten Herausforderungen sind kritische Theorien besonders geeignet. Aus diesem Grunde ist die Gerontologische Pflege an einer kritischen Wissenschaftstradition, insbesondere der Frankfurter Schule und ihren Weiterentwicklungen, orientiert. Anknüpfungspunkt sind Diskussionen im Rahmen der „Kritischen Gerontologie“ (Cole et al. 1993; Aner 2010; Köster 2011) wie auch der „Kritischen Pflegewissenschaft“ (Friesacher 2008; Kersting 2008; HülskenGiesler 2008). • Notwendigkeit der Gerontologischen Pflege: Während sich die Gerontologie klassischerweise vorwiegend mit dem „normalen Altern“3 beschäftigt und die Pflegewissenschaft in Deutschland sich vorwiegend auf den Krankenhausbereich konzentriert hat, wendet sich die Gerontologische Pflege explizit der Versorgungssituation im Alter, insbesondere Fragen einer guten Pflege alter Menschen zu. Dabei profitiert sie von Beiträgen der o.g. „Mutterdisziplinen“ (vgl. Schaubild 1), die bereits wichtige Vorarbeiten geleistet haben. Beispielsweise sind die Arbeiten zur „totalen Institution“ (Goffman 1973), Studien zur Belastung von Pflegenden (Zimber und Weyerer 1999), Programme zur Förderung von Selbständigkeit in Institutionen (Neumann und Baltes 1986) oder Interventionen für ein „gutes Altern“ im Kontext einer angewandten Gerontologie (Wahl et al. 2012) für die Gerontologische Pflege bedeutsam. Allerdings wird die pflegerische Situation und die pflegerische Praxis in diesen Studien nur als ein Forschungsfeld – neben vielen anderen – betrachtet. Weitere Impulse, Orientierung und Forschungsbefunde erhält die Gerontologische Pflege aus dem angloamerikanischen Ausland, vor allem aus den USA, Großbritannien, Skandinavien und Australien. Die entsprechenden Ergebnisse werden bislang nur ansatzweise rezipiert. Insgesamt ist die Gerontologische Pflege in Deutschland ein wissenschaftlich völlig unzureichend bearbeitetes Feld. • Themenfelder: Ein erster Überblicksband, der von Hasseler, Meyer und Fischer (2013) publiziert wurde, vertieft vor allem klinisch relevante Fragen der 3 Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel, siehe vor allem die Arbeiten des Heidelberger Gerontologen Andreas Kruse. 10 Gerontologischen Pflege. Themenfelder sind z.B. Gesundheitsförderung und Prävention (Mobilitätsförderung, Wohnformen, Polypharmazie und Sturz), Assessments (Demenz, Schmerzen, Ernährung, Inkontinenz und Wundversorgung) sowie Herausforderungen in unterschiedlichen Settings (Demenz im Krankenhaus, Beratung in der häuslichen Pflege, palliative Care in Heimen). Darüber hinaus werden wissenschaftstheoretische Grundsatzfragen diskutiert (Verhältnis von Pflegewissenschaft und Gerontologie). Dieses Themenspektrum ist zu ergänzen um grundlegende Debatten, etwa im Hinblick auf die Professionalisierung, die Qualitätsentwicklung und Innovationen in der Langzeitpflege. Diese Aspekte werden in einem Buch angesprochen, welches im nächsten Jahr erscheinen wird (Brandenburg & Güther 2014). Zum Abschluss Wir haben gesehen, dass die Gerontologische Pflege ein wichtiges, aber noch weitgehend „unbeackertes“ Feld ist. Es ist klar, dass Forschungsergebnisse aus diesem Bereich für beide Pflege- und Sozialberufe – von Bedeutung sind. Werfen Sie bei Gelegenheit einmal einen Blick in die entsprechenden Fachveröffentlichungen! Und nutzen Sie das Buch, welches vor Ihnen liegt, um einen ersten Einstieg in die damit verbundenen Inhalte, Diskussionen und Kontroversen zu erhalten. Versuchen Sie auch zwischen den Zeilen zu lesen. Dann merken Sie, dass im Hinblick auf die Zusammenarbeit der Disziplinen – von der Medizin über die Pflege bis hin zur Sozialen Arbeit – vieles erreicht, aber noch viel zu tun bleibt. Literatur: Aner, Kirsten (2010). Kritische Gerontologie und Soziale Altenarbeit im aktivierenden Staat, in: Abraham, I., Bottrell, M.M., Fulmer, T., Mezey, M.D. (2001)(Hrsg.). Pflegestandards für die Versorgung alter Menschen. Bern: Huber. Behrens, J., Görres, S., Schaeffer, D., Bartholomeyczik S., Stemmer, R. (2012). Agenda Pflegeforschung für Deutschland. Halle: Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Bettig, H., Frommelt, M., Schmidt, R. (2012). Fachkräftemangel in der Pflege. Konzepte, Strategien, Lösungen. Heidelberg: medhochzwei. Brandenburg, H. (2010). Qualitätsentwicklung und Pflegereform 2008 – einige Stichworte zur kritischen Einschätzung. Sozialer Fortschritt 59, (2), 46-53. Brandenburg, H., Güther, H. (2014). Gerontologische Pflege. Grundlegung und Perspektiven für die Langzeitpflege. 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