Peter Bingel Lesen Juden und Christen dieselbe Bibel

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Peter Bingel
Lesen Juden und Christen dieselbe
Bibel ?
Vom unterschiedlichen Gebrauch der Bibel
und seinen politischen Folgen im Nahostkonflikt
Erstellt von Peter Bingel, ev. Theologe, Schulleiter i. R.,
in enger Zusammenarbeit mit Winfried Belz, kath. Dipl.-Theologe
und Klinikseelsorger i. R., in Heidelberg.
5. Fassung
November
2010
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Ein weiser Rabbi stellte seinen Schülern einmal die folgende Frage:
„Wie bestimmt man die Stunde, in der die Nacht endet
und der Tag beginnt?“
Einer der Schüler antwortete:
„Vielleicht ist es der Moment, in dem man einen Hund
von einem Schaf unterscheiden kann?“
Der Rabbi schüttelte den Kopf.
„Oder vielleicht dann, wenn man von weitem
einen Dattel- von einem Feigenbaum unterscheiden kann?“
Der Rabbi schüttelte wieder den Kopf.
„Aber wann ist es dann?“
Der Rabbi antwortete:
„Es ist dann, wenn Ihr in das Gesicht eines beliebigen Menschen schaut
und dort Eure Schwester oder Euren Bruder erkennt.
Bis dahin ist die Nacht noch bei uns.“
Aus: Martin Buber, Die Erzählungen der Chassidim
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Lesen Juden und Christen dieselbe Bibel?
Vom unterschiedlichen Gebrauch der Bibel und seinen politischen Folgen im Nahostkonflikt
Stellen wir uns vor, es gäbe die Bibel nicht, speziell das Alte Testament bzw. die Hebräische Bibel (AT = HB):
Gäbe es dann die jüdische Kolonisation Palästinas seit dem Ende des 19. Jahrhunderts? Gäbe es dann die
zionistische Bewegung, die politisch auf den jüdischen Besitz von ganz Palästina abzielt? Wären dann Millionen
arabische Palästinenser, die in Palästina dasselbe Heimatrecht haben wie wir Deutschen in Deutschland und wie
überhaupt jeder Mensch in seinem Land, vertrieben, teils getötet, ins Elend getrieben, in Flüchtlingslager oder in
kleinen Inseln unter israelischer Militärbesatzung im Westjordanland eingesperrt oder ins Freiluftgefängnis
Gazastreifen gepresst? Würde dann seit Jahrzehnten diese tiefe Wunde zwischen der westlich-christlichen Welt
und der arabisch-muslimischen Welt schwären?
Nun, es gibt diese Bibel, das meistverbreitete Buch auf unserem Globus, das Buch der Juden und der Christen,
ihre „Heilige Schrift“, die sie gemeinsam haben, abgesehen davon, dass die Christen im Neuen Testament die für
sie zentrale Urkunde haben, nämlich die Zeugnisse von Jesus Christus und von der frühen Kirche Jesu Christi.
Wer liest was in der Bibel?
Dass die meisten Menschen kaum wissen, was im muslimischen Koran steht, ist bekannt. Viel weniger bewusst
ist, dass den meisten nur sehr partiell klar ist, was – christlich gesprochen – im „Alten Testament“ steht. Das ist
deshalb so entscheidend, weil Christen völlig andere Dinge in diesem riesigen Schriftenkomplex lesen bzw. gelehrt
bekommen als Juden. Selbst christliche Theologen nehmen kaum wahr, was Juden hauptsächlich in dieser Bibel
lesen und was das für sie praktisch-politisch bedeutet.
Für Christen ist diese Bibel ein rein religiöses Buch.
Dagegen ist sie für die meisten Juden ein national-geschichtliches Buch, zumal die Mehrheit der Juden (75 – 80%)
keine religiöse Orientierung hat. Für die Minderheit der religiösen Juden ist sie primär ein religiöses, aber sie ist
zugleich auch ein politisches Buch, weil wesentliche Glaubensfragen für Juden, z. B. die Landfrage, zugleich auch
politische Fragen sind. Die Gesprächspartner der christlichen Theologen sind religiöse Juden, Rabbiner, also keine
Vertreter des nichtreligiösen Mehrheitsjudentums.
Diese Rabbiner pflegen für das gesamte Judentum zu sprechen, als würden alle Juden ihr Judentum religiös
verstehen. Dadurch lassen sich die christlichen Gesprächspartner in die Irre führen.
Wichtig für Christen sind die „Urgeschichten“ von Schöpfung und Sündenfall, vom Turmbau zu Babel und der
Arche Noah etc. Sie hören von Abrahams Gottesbegegnung und Berufung, von Joseph in Ägypten, vom Auszug
des Volkes Israel aus Ägypten, von den am Berg Sinai gegebenen Geboten und vom Einzug in das sog. „gelobte“,
also „das von Gott versprochene Land“. Auch die Propheten und die Psalmen spielen für sie eine große Rolle.
Dem gegenüber hat die Bibel für Juden eine ganz andere Betonung und Bedeutung, weil sie vorwiegend andere
Texte in dieser großen Schriftensammlung lesen.
Juden lesen ihre Bibel als geschichtliches, als nationales, als politisches Buch.
Es enthält für sie die identitäts- und gemeinschaftsstiftenden Volksgründungsmythen. Diese liegen für die
Frühgeschichte in mythologisch-legendären Formen vor. Später sind diese Schriften geschichtlich zuverlässiger,
tradiert mit religiös-theologischen Kommentaren. Immer steht dabei die „Ethnie Israel“ im Mittelpunkt, mit
Jahwe, dem Gott Israels. Im Judentum waren Religionsgemeinschaft und Volksgemeinschaft ungewöhnlich lange
identisch, weit über die Zeitenwende hinaus, bis ins 18. Jahrhundert hinein.
Für das religiöse Judentum ist die Torah, das sind die fünf Bücher Mose, der zentrale Teil der Hebräischen Bibel.
In der wissenschaftlichen Exegese und in der kath. Tradition heißen sie: Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri und
Deuteronomium [im Judentum heißen sie: Bereschit, Schemot, Wajikra, Bemidbar, und Devarim]. Neben vielen
Gesetzesvorschriften enthält die Torah bereits viel Politisches, von der Landverheißung an Abraham bis zur
befohlenen Art und Weise, wie gegen die in Palästina einheimischen Völker vorzugehen sei, z.B. 5. Mose/Dtn 20
[Kriegsgesetze]. Für den überwiegenden Teil des Judentums, der säkular ist, sind folgende Bücher innerhalb der
Hebräischen Bibel von hoher, nämlich nationaler Bedeutung: Teile aus den Mosebüchern, Josua und Richter,
1. und 2. Samuel, sowie 1. und 2. Könige, 1. und 2. Chronik, Esra und Nehemia, und später dann auch die nur in
griechischer Sprache vorliegenden Makkabäerbücher.
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Dasselbe Buch in völlig verschiedener Nutzung
Wir haben also zwischen zwei Buchdeckeln sehr verschiedenartige Literaturen, die auch völlig unterschiedlich
genutzt werden. Das Christentum hat nach dem Zeugnis des Neuen Testaments nicht das geringste Interesse an
der geschichtlich-politischen Bedeutung von alttestamentarischen Texten, wie sie heute der Zionismus für seine
Begründungen benutzt. Entsprechend werden solche Texte im Gegensatz zu vielen anderen alttestamentarischen
Schriftstellen im NT nicht zitiert. Für das zionistische Judentum dagegen sind die geschichtlich-politischen Teile
der Hebräischen Bibel ein wichtiger Teil der ethnisch-nationalen Selbstfindung und Selbstgestaltung, die seit über
100 Jahren im Gange ist. Mit anderen Worten:
Faktisch haben Christen und Juden sehr unterschiedliche Bibeln, weil das Mammutwerk Bibel je nach
Interessenlage sehr Unterschiedliches hergibt.
Das Judentum als religiöse und als ethnisch-nationale Gemeinschaft
Die unterschiedliche Nutzung hängt damit zusammen, dass Christentum und Judentum derart verschieden sind,
dass man diese „Größen“ nicht direkt parallelisieren kann.
Denn das Christentum ist eine reine Religionsgemeinschaft. Das Judentum dagegen ist zugleich eine religiöse und
eine ethnische Gemeinschaft. Es gibt Judentum als Religion und Judentum als Nation, als Ethnie, als Volk.
Im Laufe der Geschichte hat sich das Zueinander dieser beiden Elemente stark gewandelt. Im Altertum und bis in
die beginnende Neuzeit hinein gab es das Judentum nur in der Zusammengehörigkeit von Religionsgemeinschaft
und Volksgemeinschaft, wobei das Element Religionsgemeinschaft bei Juden und Nichtjuden im Vordergrund des
Bewusstseins stand. Die genannte Verbindung zerbrach in der Aufklärungszeit, zunächst in der westlichen Welt.
Das führte zu einer großen Identitätsunsicherheit bzw. auch zu Identitätsverlust im Judentum. Ende des 19. Jhdts
gab es dann eine im Judentum bis dahin noch nie da gewesene Erscheinung: eine neue, nicht religiöse, sondern
rein nationale Identität des Judentums, die vor allem Theodor Herzl propagierte und förderte. Das ist die
weitgehend erfolgreiche und auch heute noch hochwirksame Zionistische Bewegung, deren Ziel, einen eigenen
Nationalstaat im historischen Palästina zu gründen, inzwischen weitgehend erreicht ist.
Etwa 50 Jahre nach der Begründung des Zionismus ergab sich mit der jüdisch-israelischen Staatsgründung von
1948 und erst recht mit dem Zugang zur Klagemauer in der Jerusalemer Altstadt und mit der Okkupation des
gesamten Restpalästina 1967 eine grundlegende Wandlung bei Teilen der jüdischen Religion: Bis dahin,
konkret seit dem Sieg der Römer gegen die jüdischen Aufstände zwischen 67 und 132 n. Chr., war die jüdische
Religion weitgehend unpolitisch gewesen. Nun aber wandelte sich mit der militärischen Eroberung des sog.
Eretz Israel, des „Landes Israel“, das jüdische Religionsverständnis radikal: Der Landesanspruch trat wieder in
den Mittelpunkt religiösen Glaubens, und zwar das Land in seiner ursprünglichen politischen Bedeutung.
Nach den tief verstörenden Holocaustgeschehnissen schloss sich die jüdische Religion gewissermaßen dem von
seiner Gründung her rein säkularen und inzwischen grundlegend erfolgreichen Zionismus an: Nach der jüdischen
Staatsgründung im Jahr 1948 wurden die national-zionistischen Ziele rasch auch als religiös-jüdische Ziele und
als Selbstverständlichkeiten definiert. Der Vorgang dieser tiefgreifenden Wandlung in der jüdischen Religion seit
der Mitte des 20. Jahrhunderts ist noch kaum ins allgemeine Bewusstsein getreten. Im Ergebnis haben wir im
heutigen Judentum, vor allem im israelischen, ein neues Amalgam von Nation und Religion vor uns. Es ist
vergleichbar mit dem Judentum der alten Zeit vor der aufstandsbedingten Diaspora. Allerdings haben wir
es in einer anderen Gewichtung vor uns: Im Vordergrund steht heute nach jüdischem Selbstverständnis eindeutig
das Judentum als Ethnie, als Volk, als Nation.
Innerhalb dieser jüdischen Nation spielt die jüdische Religion eine eigene, eine begrenzte, aber durchaus
bedeutende Rolle. Die Verbindung von Nation und Religion, die es in der Weltgeschichte schon oft gab, führt im
heutigen Judentum vielfach zu einem spezifischen Fundamentalismus und Fanatismus.
Christlicher Irrtum: das Judentum nur als Religion [Ignoranz der völkisch-politischen Dimension]
Auf christlicher Seite werden die Wandlungen weitgehend übersehen, die auf jüdischer Seite stattgefunden haben.
Theologen und Kirchenführer pflegen nur mit Rabbinern umzugehen, um Genaueres über das Judentum zu
erfahren und mit der jüdischen Seite das Verhältnis „Christen - Juden“ zu reflektieren. Von Rabbinern werden alle
Juden als religiöse Juden betrachtet und deshalb verstehen sie auch „Israel“ grundlegend religiös. Das ist eine
Verzerrung der Wirklichkeit. Christen ihrerseits denken und argumentieren immer noch so, als lebten wir in
biblischen Zeiten. Ihr Bild vom Judentum ist von den biblischen Texten geprägt. Dadurch wird verhindert, dass
im Christentum und entsprechend in der westlichen Welt das Judentum in seiner ethnisch-nationalen und somit
politischen Realität sachgemäß in den Blick genommen wird.
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Das Judentum, speziell das israelische, kann aber in seiner politisch-nationalen Existenz gar kein Gegenüber zum
Christentum als Religionsgemeinschaft sein, denn der christliche Glaube hat keine spezifische Beziehung zu
irgendeiner Nation, auch nicht zur jüdischen. Dass sich der Staat Israel selbst in unklarer Begriffsbestimmung
auch im Sinne der Religion als „jüdisch“ bezeichnet, hat keinen Einfluss auf das Christentum, denn es ist neutral.
Die politische Zentralbotschaft der Hebräischen Bibel
100te Male steht es im Alten Testament, dass Gott den Juden Palästina, damals „Kanaan“ genannt, zuspricht,
am häufigsten in den oben genannten Geschichtsbüchern, aber es beginnt bereits mit Abraham, der mythologischen
Symbolfigur für Juden, Christen und Muslime. Da wird Gott zitiert: „Das ganze Land, das du siehst, will ich dir
und deinen Nachkommen für immer geben“ (1. Mose/Genesis 13,15, vgl. Abrahams Berufung 12,7). Das setzt
sich fort bei „Gottes Bund mit Abraham“ (15, 18): „An diesem Tag schloss der Herr mit Abraham folgenden Bund:
Deinen Nachkommen gebe ich dieses Land vom Grenzbach Ägyptens bis zum großen Strom Euphrat“, also einem
zukünftig riesigen Volk ein riesiges Land, und dann werden in Vers 19 zehn Völker aufgezählt, deren Land Gott
im Rahmen seines Abraham-Bundes dem jüdischen Volk gelobt/verspricht. Und in 1. Mose/Gen 17,8 heißt es:
„Und ich will dir und deinem Geschlecht nach dir das Land geben, darin du ein Fremdling bist, das ganze Land
Kanaan, zu ewigem Besitz, und will ihr Gott sein.“
In den Geschichtsbüchern, die im 6. Jahrhundert v. Chr. ihre endgültige literarische Form gefunden haben, finden
sich vielfach aus dem Munde Gottes oder in Beziehung auf Gottesworte Wendungen folgender Art: „Zieh über
den Jordan hier mit diesem ganzen Volk in das Land, das ich ihnen, den Israeliten, geben werde. Jeden Ort, den
euer Fuß betreten wird, gebe ich euch.“ „Du sollst diesem Volk das Land zum Besitz geben, von dem du weißt:
Ich habe ihren Vätern geschworen, es ihnen zu geben.“ (Ihr werdet) „in das Land hineinziehen und es in Besitz
nehmen, das der Herr, euer Gott, euch zu eigen gibt“ (Josua 1, 2-3, 6, 11). „So gab der Herr Israel das ganze Land,
das er ihren Vätern mit einem Eid zugesichert hatte. Sie nahmen es in Besitz und wohnten darin“ (Josua 21,43).
Im Zusammenhang mit der Wegführung eines großen Teils der israelitischen Bevölkerung nach Babylon hatte es
in diesem 6. Jahrhundert besondere Gründe gegeben, den Umgesiedelten klar zu machen, dass nach wie vor
Palästina ihr Land, ihr von Gott zugesichertes Land, bleibt. Die betreffenden Schriften sind im Laufe der Zeit
zu heiligem Wort Gottes geronnen und letztlich zum Mittelpunkt jüdischen Glaubens geworden. Dadurch bekam
das jüdische Haften an diesem Land eine über alle Maßen gewichtige göttliche Legitimation und noch viel mehr:
Einen Auftragscharakter.
Einst hatte das Judentum die Wegführung nach Babylon und die dortige Diasporaexistenz überlebt. In unseren
Zeiten glaubt das religiöse Judentum, dass die jetzige Neubesiedlung und dazu die Neubeherrschung Palästinas
weiterhin auf einer Linie mit den einstigen Gottesversprechungen zu sehen ist. Das nationale Judentum seinerseits
betrachtet, - ebenfalls auf dem Boden der Bibel, die zionistische Kolonisation als sein geschichtliches Recht. Das
politische Judentum unserer Tage wird nicht müde, von den „historischen und natürlichen Rechten“ der Juden
auf das Land Palästina zu sprechen. So formulierte es bereits Ben Gurion bei der Ausrufung des jüdischen Staates
im Jahre 1948 und so vertritt es auch heute die israelische Botschaft in Berlin.
Das sind vermeintliche Rechte, die es sonst nirgends auf der Welt gibt. Die Legitimation für den jüdischen Staat
beruht einzig und allein auf dem UNO-Teilungsbeschluss vom 29. 11.1947. Alles andere ist Mystifizierung und
ideologischer Nationalismus.
Die biblische Praxis des befohlenen Genozids
Im Blick auf die nationale und die religiöse Wirksamkeit der Hebräischen Bibel, wie sie im Judentum den Umgang
mit der Landfrage prägt, ist es entscheidend, welche Maßstäbe für die Eroberung des palästinensischen Landes
darin vorgegeben sind. Ein zentrales Muster ist der Genozid, der im Alten Orient übliche Praxis war. Er bedeutete:
In einer eroberten Stadt werden alle Menschen getötet. Manchmal kommt hinzu, alles Lebende zu töten, also auch
alle Tiere (z.B. 5.Mose/Dtn 3,6; 13,13ff; Josua 10,28 – 40; 11,11 -14; Richter 21,10 +11 und 1 Sam 15,3 und 8).
In 5. Mose/Dtn 13,17 wird ein solcher Genozid „Ganzopfer“ genannt, was im Hebräischen „Shoa“ und im
Griechischen „Holocaust“ (!) heißt. Diese Praxis hat nach biblischem Zeugnis beim Volk Israel ihren
selbstverständlichen Platz und nimmt breiten Raum ein. [* siehe Anmerkung zum Schluss]
Das sind natürlich Dinge, die im christlichen Bibelunterricht nicht vorkommen und die in der westlich-christlichen
Gesellschaft kaum bekannt sind, obwohl man sie Schwarz auf Weiß nachlesen kann. Deshalb wird nun von
denjenigen, die diesen Text lesen, einige Geduld gefordert, um unvoreingenommen wahrzunehmen, was durchaus
zum heute in Israel/Palästina virulenten jüdischen Erbe gehört, wobei es nicht auf die Zahl oder die Gesamtheit
der Tötungen ankommt, sondern darauf, dass die Schwelle zum Töten bzw. zur frappierenden Missachtung von
Menschenwürde und Menschenrechten äußerst niedrig ist.
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Der heiligste Teil der heiligen Schriften ist für Juden die Torah, die fünf Bücher Mose am Anfang der Bibel. Die
gesamte Torah wird im Laufe eines jeden Jahres im jüdischen Gottesdienst verlesen. Im letzten Torah-Teil wird
die Praxis des Genozids, die untrennbar eine religiöse und eine ethnische Praxis ist, genauer beschrieben. Es
handelte sich um eine zweistufige Anweisung im Namen Gottes. Bei der ersten Stufe geht es um eroberte Städte,
die entfernt vom vorgesehenen Siedlungsgebiet liegen. In 5. Mose/Dtn 20,10-15 heißt es:
„Wenn du vor eine Stadt ziehst, um sie anzugreifen, dann sollst du ihr zunächst eine friedliche Einigung
vorschlagen. Nimmt sie die friedliche Einigung an und öffnet dir ihre Tore, dann soll die gesamte Bevölkerung,
die du vorfindest, zum Frondienst verpflichtet und dir untertan sein. Lehnt sie eine friedliche Einigung mit dir ab
und will sich mit dir im Kampf messen, dann darfst du sie belagern. Wenn der Herr, dein Gott, sie in deine Gewalt
gibt, sollst du alles, was Männlich ist, mit scharfem Schwert erschlagen. Die Frauen aber, die Kinder und Greise,
das Vieh und alles, was sich darin plündern lässt, darfst du dir als Beute nehmen. Was du bei deinen Feinden
geplündert hast, darfst du verzehren; denn der Herr, dein Gott, hat es dir geschenkt. So sollst du mit allen Städten
verfahren, die sehr weit von dir entfernt liegen und nicht zu den Städten dieser Völker hier gehören.“
Die zweite Stufe, die Ausführung des vollen Vernichtungsbanns (oder auch Vernichtungsweihe genannt), wird
dann mit den folgenden Versen angeordnet: V16-17: „Aus den Städten dieser Völker jedoch, die der Herr, dein
Gott, dir als Erbbesitz gibt, darfst du nichts, was Atem hat, am Leben lassen. Vielmehr sollst du die Hetiter und
Amoriter, Kanaaniter und Perisiter, Hiwiter und Jebusiter der Vernichtung weihen, so wie es der Herr, dein Gott,
dir zur Pflicht gemacht hat.“
Was bei dieser vollen Vernichtungsweihe geschieht, ist bereits im 2. Kapitel des 5. Mosebuches/Dtn beschrieben,
wo es um die Eroberung des Ostjordanlandes geht (V 31 -34): „Und der Herr sprach zu mir (Mose): Siehe, ich
fange damit an, dir Sihon und sein Land auszuliefern. Fangt ihr an, sein Land in Besitz zu nehmen! Und Sihon
rückte mit seinem Kriegsvolk gegen uns aus, um bei Jahza zu kämpfen. Der Herr, unser Gott, lieferte ihn uns aus.
Wir schlugen ihn, seine Söhne und sein ganzes Volk. Damals eroberten wir alle seine Städte. Wir weihten die
ganze männliche Bevölkerung, die Frauen, die Kinder und die Greise, der Vernichtung; keinen ließen wir übrig.“
Das Gleiche wird im Folgekapitel beim Sieg über einen anderen König und sein Volk berichtet.
Ein anderes Beispiel, diesmal aus dem Josuabuch Kap 6: Viele kennen die eindrucksvolle Geschichte von der
Eroberung Jerichos, wie die israelitischen Priester und die bewaffneten Männer täglich unter ständigem
Hörnerblasen die Stadt umrunden und am siebten Tage bei lautestem Kriegsgeschrei der Israeliten die Mauern
Jerichos einstürzen und das Volk Israel die Stadt erobert. Weniger bekannt – oder weniger bekannt gemacht - sind
die Umstände dieser sagenhaften Eroberung: Vor dem Ereignis erklärt der Mose-Nachfolger Josua (V17):
„Die Stadt mit allem, was in ihr ist, soll zu Ehren des Herrn dem Untergang geweiht sein.“ Und das sieht dann
so aus (V21): „Mit scharfem Schwert weihten sie alles, was in der Stadt war, dem Untergang, Männer und Frauen,
Kinder und Greise, Rinder, Schafe und Esel.“
Es wäre interessant zu erfahren, wie viele Menschen in der westlich-christlichen Welt hiervon etwas wissen.
Gibt es im christlichen Bereich überhaupt ein Interesse daran, solche Texte ernsthaft wahrzunehmen?
In der Hebräischen Bibel finden sich Dutzende Beispiele für diese alte orientalische Praxis der Vernichtungsweihe,
die als jüdisch-israelitische Praxis im Namen Jahwes, des Gottes Israels, erscheint. EIN solches Beispiel soll noch
genannt werden, weil es im heutigen Israel immer wieder eine Rolle spielt.
Es geht dabei um die Bekämpfung der Amalekiter, die im Alten Testament als die größten Feinde Israels gelten,
weil sie sich den Israeliten bei ihrem Zug durch die Wüste entgegen gestellt hatten. Nach 1. Samuel 15 bekommt
König Saul vom Propheten Samuel im Namen Gottes folgenden Auftrag: „Gehorche jetzt den Worten des Herrn!
So spricht der Herr der Heere: Ich habe beobachtet, was Amalek Israel angetan hat: Es hat sich ihm in den Weg
gestellt, als Israel aus Ägypten heraufzog. Darum zieh jetzt in den Kampf und schlag Amalek! Weihe alles, was
ihm gehört, dem Untergang! Schone es nicht, sondern töte Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge, Rinder und
Schafe, Kamele und Esel!“
Dieses „Schone es nicht!“, anderen Orts in der Formulierung „Du sollst in dir kein Mitleid aufsteigen lassen!“
(5. Mose/Dtn 7,16 und 19,21) hat seine Entsprechung in der israelischen Militäraktion gegen die Menschen im
Gazastreifen im Dezember 2008/Januar 2009, die der Verteidigungsminister Barak, der sich selbst einen
alttestamentarischen Namen gewählt hat, einen „Krieg ohne Gnade“ nennt. „Amalek“ erscheint auch am Ausgang
der Jerusalemer Holocaustgedenkstätte als Mahnung: „Gedenke an Amalek!“ [** siehe Anmerkung zum Schluss]
Die Bezeichnung „Amalek“ für die größten Feinde der Juden wird im heutigen Israel immer wieder auf die
Palästinenser angewandt, dagegen kaum noch auf die Deutschen und ihre Vernichtungspolitik gegenüber den
Juden in der Zeit des Nationalsozialismus.
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Die Vernichtungsweihe: Menschenbild und Gottesbild
Die Vernichtungsweihe, der Genozid, war eine Praxis, die in Israel wie bei anderen altorientalischen Staaten
zur ethnisch-religiösen Existenz gehörte.
Gelegentlich wird sie in der Hebräischen Bibel genau begründet: „damit sie (die anderen Völker) euch nicht lehren,
ihre (religiösen) Gräuel nachzuahmen, die sie begingen, wenn sie ihren Göttern dienten, und ihr nicht gegen den
Herrn, euren Gott, sündigt“ (5. Mose/Dtn 20,18). Das heißt: Der Genozid diente der religiösen Reinerhaltung,
und zwar mittels der Religion der Reinhaltung des Volkes überhaupt.
Man könnte nun sagen, das sei längst alles grundsätzlich überwunden. Aber in der aktuellen Verehrung der heiligen
Schriften als Gotteswort ist bis heute das zugehörige Menschenbild virulent, nämlich dass man durchaus Menschen
kollektiv und massenhaft umbringen darf, wenn es eine einleuchtende Begründung dafür gibt, und genau das ist
heute im Nahostkonflikt aktuell. Vor allem die israelischen Siedler-Rabbis und das Militär-Rabbinat arbeiten in
dieser Richtung. Der Auschwitzüberlebende Hajo G. Meyer kommt in seinem Buch „Das Ende des Judentums“
zu dem Ergebnis, dass ein Teil der jüdischen Geistlichkeit eine Auffassung von zentralen Lehrsätzen des
Judentums vertritt, die „offensichtlich auch Elemente, die zu barbarischen Taten anstiften“, enthalten. Gerade aus
den Tagen der oben genannten israelischen Militäraktion gegen die Menschen im Gazastreifen gibt es bedrückende
Zeugnisse hierfür.
Die Hebräische Bibel bietet in erheblichen Teilen ein Gottesbild, bei dem es der Gott Israels selbst ist, der vertreibt.
Das beginnt bereits mit der Berufung des Abraham. Gott gibt Abraham und seinen Nachkommen das Land anderer
Völker (1. Mose/Dtn 15,18-21), womit es als gerechtfertigt gilt, sich das (versprochene) Land anderer einfach zu
nehmen. Gott selbst ist es, der diese Völker „verschwinden lässt“, der alle Feinde Israels die Flucht ergreifen lässt
(2. Mose/Ex 23,23-27). Gott vertreibt die betreffenden Völker (V 28), er gibt die Einwohner in die Hand Israels,
damit Israel sie vertreiben (V31) und das Land in Besitz nehmen kann (V 30). Auch in 2. Mose/Ex 34,11 verspricht
Gott Jahwe, die Völker vor Israel her zu vertreiben (vgl. 33,2 und 3. Mose/Lev 18,24 und 20,23), damit Israel
deren Boden in Besitz nehmen kann. Gott ist es, der diesen Boden zum Besitz gibt. Er selbst ist der Eroberer (siehe
4. Mose/Num 32,4). Gott selbst kämpft für Israel (5. Mose/Dtn 1,30). Aus Liebe zu diesem einen, „seinem Volk“,
vertreibt er bei Israels Angriff die Völker, um deren Land Israel als Erbbesitz zu geben (5. Mose/Dtn 4,37-38).
In 2. Mose/Ex 15,3 heißt es wörtlich: „Der Herr ist ein Krieger, Jahwe ist sein Name.“
Eine solche gewaltpolitische Gottesvorstellung ist im Neuen Testament undenkbar.
Gott hatte den Stammvätern Israels, Abraham, Isaak und Jakob, geschworen, ihnen das Land zu geben, im Ergebnis
„große und schöne Städte, die Du nicht gebaut hast, mit Häusern voll von Gütern, die Du nicht gefüllt hast, in den
Felsen gehauene Zisternen, die du nicht gehauen hast, Weinberge und Ölbäume, die du nicht gepflanzt hast“ (siehe
5. Mose/Dtn 6,10-11, vgl. Josua 24,13). All solcher Raub ist also legitimiert im Namen Gottes. Was hier in der
Bibel, in der „Heiligen Schrift“, dem „Wort Gottes“, vorgegeben ist, hat natürlich seine erschreckenden faktischen
Auswirkungen heute, da eine verwandte politische Situation in Palästina gegeben ist. Die genannten und ihnen
verwandte Bibeltexte sind den meisten Christen nicht bekannt. Wenn TheologInnen und ExegetInnen sie auslegen,
versuchen sie den Texten ihre Anstößigkeit zu nehmen, indem sie darauf hinweisen, dass die Vorgänge historisch
sich so nicht zugetragen hätten.
Doch damit ist das Problem, welche Wirkung solche Texte haben, nicht vom Tisch. Im jüdisch-israelischen Staat
werden sie wahrgenommen und umgesetzt, und zwar bei den Nationalen bzw. Nationalisten (Zionisten), bei den
fundamentalistisch Religiösen und bei den in der Knesset gegenwärtig stark vertretenen National-Religiösen. Wen
muss es da noch wundern, dass für das heutige Israel UNO-Beschlüsse sowie Völker- und Menschenrechte
keinerlei Bedeutung haben? Wie sollte für ein Volk, das unter dem Einfluss dieser Bibelpartien steht, ein Rauben,
Töten und Vertreiben, das der Nation dienlich erscheint, als verwerflich gelten, wo doch Gott selbst bzw. die
biblische Überlieferung ein Vorbild für solches Handeln liefern? Nachdem das Judentum eine machtpolitische
Größe geworden ist, bietet die Bibel für alles, was der Staat Israel mit seinen Institutionen, Organisationen und
Gruppen, einschließlich seines Militärs und seiner Kolonisten („Siedler“), an Raub und Gewalttat ausübt, - leider
- eine absolute Rechtfertigung.
Es ist also festzuhalten: Als Hebräische Bibel, traditionell-christlich gesprochen, als Altes Testament, hat die
Bibel gegenwärtig im Nahen Osten eine verheerende Wirkung. Sie predigt, in entsprechenden Partien gelesen,
gerade in der heutigen Situation jede Form von Menschenverachtung, Raub und Unterdrückung gegenüber
nichtjüdischen Völkern. Wenn es einen Weltindex der verbotenen Texte gäbe, müssten Teile dieser Bibel wegen
Volksverhetzung auf diesen gesetzt werden.
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Es sei hier noch einmal eigens betont: Es geht um die Wirkungsgeschichte von biblischen Texten! Wenn auch die
professionellen Bibelausleger heute die Auffassung vertreten, das Eindringen israelitischer Stämme ins
kanaanäische Land habe in Wirklichkeit als ein langsamer und weitgehend friedlicher Vorgang stattgefunden und
die gewaltverherrlichenden Texte seien interessensgeleitete Konstruktionen aus viel späterer Zeit, vor allem aus
den Jahrzehnten der babylonischen Diaspora im 6. vorchristlichen Jahrhundert, so entschärft das keineswegs die
Problematik, welche Wirkung diese Texte haben.
Auf jüdischer Seite ist die historisch-kritische Forschung nicht nennenswert entwickelt. Von jüdisch-religiöser und
jüdisch-nationaler Seite werden die betreffenden Bibeltexte als Mitteilung von Fakten gelesen, ebenso von den
zum Teil einflussreichen christlich-evangelikalen Glaubensgruppierungen in der westlichen Welt.
Die Hebräische Bibel, das Alte Testament und das Ethische Versagen der Christenheit
Im Unterschied zum Judentum in seiner doppelten Gestalt als Religions- und Volksgemeinschaft ist eben
das Christentum als reine Religionsgemeinschaft vom Wesen her keine politische Größe. Zumindest heutzutage
verstehen sich die meisten Kirchen des Westens als eigenständige religiöse, nicht staatsabhängige Gemeinschaften.
Dabei berufen sie sich zu Recht auf das Evangelium und die frühe Kirche.
Seit der konstantinischen Wende im 4. Jahrhundert waren die Kirchen jedoch über viele Jahrhunderte hinweg
Machtinstitutionen, die dem christlichen Ethos zutiefst zuwider gehandelt haben. Dabei ist vor allem an religiöse
Unterdrückung zu denken, an Ketzer- und Judenverfolgungen, an Hexenverbrennungen etc. Doch mit der
langsamen Reduktion dieser Verbindung mit der weltlichen Macht seit der Aufklärung - oft gegen den Widerstand
der Kirchen - hat sich das christliche Menschenbild geklärt in Richtung auf die Gottesebenbildlichkeit und
Menschenwürde eines jeden Menschen, unabhängig von Volk, Rasse, Klasse, Religion und staatlicher
Zugehörigkeit. Im christlich-abendländischen Raum wurden schließlich verbindliche Grundvorstellungen von
Menschenrechten und Völkerrecht entwickelt.
Eine neue Situation ist nach dem 2. Weltkrieg entstanden. Betroffenheit über die NS-Verbrechen an den Juden,
der Wunsch nach Wiedergutmachung und Versöhnung mit dem Judentum bzw. mit „Israel“ sind die eine Sache.
Hierdurch wird aber eine angemessene Kritik an der jüdisch-israelischen völkerrechtswidrigen Besatzungs-,
Landraub- und Kolonisierungspolitik, sowie jegliche Kritik an den massenhaften Menschenrechtsverletzungen
aufs Äußerste erschwert. Kein deutscher Politiker kann zusammen mit israelischen Kollegen ein ehemaliges KZ
in Europa oder Yad Vashem in Jerusalem besuchen und gleichzeitig, also im Rahmen dieser Begegnung, die
schreckliche Menschenverachtung der israelischen Politik gegenüber der einheimischen palästinensischen
Bevölkerung und die jahrzehntelangen katastrophalen Folgen dieser Politik zur Sprache bringen.
Die gemeinsamen Besuche der Horrorstätten gehören aber grundsätzlich zum Ritus aller solcher Begegnungen.
Hier mischen sich moralische Verpflichtungen und politische Interessen. Dies hat zur Folge, dass von westlicher
Seite das christlich-abendländische Menschenbild und Ethos, wenn es um den Staat Israel und sein Handeln in
Palästina geht, fast immer verraten wird.
Eine andere Sache ist es, dass im Christentum trotz zeitweiliger Verachtung und wellenartiger Verfolgung des
Judentums „Israel“ als geistliche Größe immer hoch im Kurs stand. Dabei wurde bis vor etwa fünfzig Jahren dieses
„Israel“ nur als das alte, vergangene, gotterwählte Volk der Juden verstanden, das mit dem Erscheinen Jesu Christi
vom „Neuen Israel“, der Kirche, abgelöst worden ist.
In einer radikalen Neuorientierung, nach dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg, hat die Christenheit in
radikaler Selbstkritik weithin die Überzeugung angenommen, dass die Erwählung des jüdischen Volkes als
„nicht gekündigt“ zu betrachten ist. Damit gilt das jüdische Volk auch in der Gegenwart und weiterhin als das
speziell mit dem Gottesbund beschenkte, bevorzugte, auserwählte Volk Gottes. Für die meisten Christen, vor allem
für die offizielle Theologie, befindet sich somit das aktuelle „Israel“, das heutige Judentum, vielfach auch
identifiziert mit dem jüdischen Staat, in einem spezifischen Status der Besonderheit und Unberührbarkeit,
unantastbar auch in ethischer Hinsicht. Dies potenziert sich mit dem speziell deutschen Schuldbewusstsein
aufgrund der Holocaustereignisse.
Durch das Zusammenwirken der Schuld-Opfer-Problematik mit dem christlichen Glauben an eine göttliche
Erwählung des heute lebenden jüdischen Volkes und des aktuellen Israels kommt es zu einer verhängnisvollen
Gelähmtheit des christlich-ethischen Denkens, wenn es um den Staat Israel geht.
Wie bereits erwähnt, werden die politischen Inhalte der Hebräischen Bibel, des Alten Testaments der „Schrift“,
von Christen weitgehend als „Wort Gottes“ gelesen. Während überall brutale Besatzungsherrschaft,
fortgesetzter Land- und Wasserraub, Unterdrückung, Schikanierung und Erniedrigung von Menschen, massives
Unrecht, Willkür und Zerstörung von Lebensgrundlagen etc. als absolute Verbrechen gelten, gilt dies aber nicht,
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wenn es um Israel und seine Politik geht. Auch aufgrund der entsprechenden oben z. T. aufgeführten Bibeltexte
werden solche Taten als unangreifbar angesehen, schweigend hingenommen und zugelassen. Der Staat Israel
handelt nach biblisch vorgezeichneter Theorie und Praxis: wie im alten Kanaan, so im heutigen Palästina. Warum
soll Israel keine Moscheen bombardieren, wenn ihm in der Bibel geboten ist, die Altäre anderer Völker und
Religionen zu vernichten? Warum soll Israel nicht die Menschen ins Elend führen und vertreiben, die sich
sozusagen fälschlicher Weise noch auf dem Israel zugesprochenen Boden befinden?
Warum soll Israel nicht auf seinem Landanspruch bestehen, ihn rücksichtslos durchsetzen und darin unterstützt
werden, wenn dieser biblisch-alttestamentarisch von Gott hunderte Male zugesprochen und mit Gottes Hilfe
rigoros durchgesetzt wurde?
Überall auf der Welt ist es ohne weiteres möglich, wenigstens in Forderungen das christliche Menschenbild
und die christliche Ethik als Maßstab einzubringen, nicht aber im Nahost-Konflikt:
Die israelische Macht-, Unterdrückungs- und Raubpolitik, die grundlegend dem neutestamentlich begründeten
christlichen Ethos – wie übrigens auch einem humanistisch begründeten Ethos - widerspricht, ist durch die Bibel,
genauer: durch wesentliche Teile des Alten Testaments, gerechtfertigt und gedeckt. Insofern ist sie bibelgemäß,
und aufgrund des weit verbreiteten christlichen Glaubens, dass die gesamte Bibel „Gottes Wort“ ist, wirkt diese
Politik für eine Vielzahl von Christen auch glaubens- und gottgemäß. Deshalb wird im Nahostkonflikt von
christlicher Seite eine an der Menschenwürde und an den Menschenrechten ausgerichtete Politik vom Staat Israel
nicht ernsthaft eingeklagt. Tagtägliche Unmenschlichkeit im Rahmen der völkerrechtswidrigen Besetzung
palästinensischer Gebiete wird ohne wirkliche Kritik zugelassen.
Die politischen biblisch-alttestamentarischen Botschaften lähmen die westlich-christliche Welt, die gegen Völkerund Menschenrechte gerichtete Politik Israels überhaupt realistisch wahrzunehmen, geschweige denn, gemäß der
christlichen bzw. humanistischen Ethik darauf zu reagieren. Dies ist der Hauptgrund für die doppelte Moral, mit
der der „christliche“ Westen auf das Handeln Israels reagiert, des Staates, der die politische Konkretisierung des
gotterwählten Judentums darstellt. Dass im reformierten, calvinistischen Protestantismus, der in den USA
vorherrscht, das Alte Testament eine besonders hervorgehobene Rolle spielt, kommt verstärkend hinzu.
Jedenfalls lädt das Christentum durch seine ethische Inkonsequenz schwere Schuld auf sich.
Durch die immer noch verbreitete und immer noch nicht aufgeklärte Bibelgläubigkeit läuft die Christenheit Gefahr,
ihr Menschenbild und ihre gesamte Ethik zu verraten. Dadurch wird das Christentum und damit weitgehend
auch die westliche Welt korrumpiert. Sie werden zu Komplizen des israelischen Rechtsextremismus und
unsäglicher Unmenschlichkeiten. Mit der blinden Unterstützung des jüdischen/israelischen Staates ist an die Stelle
eines früheren Antijudaismus im Christentum weithin ein pro-jüdischer, anti-palästinensischer Rassismus getreten.
Dies hat kurz- und langfristig tragische und dramatische Folgen: Die arabisch-muslimische Welt beobachtet das
israelische Handeln natürlich nicht mit ähnlich verbundenen Augen. Sie ist mit Recht empört über die doppelten
Maßstäbe, die seitens des Westens angewendet werden, wenn es um Israel geht. Diese „doppelten Standards“
machen den Westen völlig unglaubwürdig. Die jahrzehntelange Vertiefung der Spaltung der Welt zwischen
westlich-christlicher und arabisch-muslimischer Welt, die in der Dauerwunde Nahostkonflikt eine Hauptursache
hat, ist wesentlich durch den verfehlten Umgang mit dem Alten Testament verursacht: Einerseits durch eine
fundamentalistisch-nationalistische Auslegung auf jüdischer Seite und andererseits durch einen unreflektierten
christlichen Bibelglauben.
Es ist zu befürchten, dass das zu vielen weiteren Kriegen führt.
Es gibt nur eine Lösung: Das Christentum und mit ihm die westliche Welt müssen sich aus einer Blindheit lösen,
die von mangelnder Kritik an erheblichen Teilen des Alten Testaments verursacht ist. Die Christen bzw. Kirchen
müssen authentisch christlich werden, das heißt: sich an Jesus Christus und seiner Botschaft orientieren. Jesus
hat mit seiner Botschaft von der radikalen Nächstenliebe, die auch den Feind einbezieht, an prophetischen Texten
der Bibel angeknüpft, die Recht und Gerechtigkeit gerade dem Schwachen und Unterdrückten gegenüber fordern
(vgl. Amos 5,21-24; Jesaja 1,11-17 u.a.). Das Christentum und die westliche Welt müssen sich energisch von
unvertretbaren altorientalisch-israelitischen Bedingtheiten lösen, von denen Teile der Bibel bestimmt sind, die in
Israels aktuelle Politik hinein wirken und die Christenheit dazu verführen, ihrem Ethos substantiell untreu zu sein.
Bei dem Bemühen um eine konsequente christliche Ethik und um entsprechende politisch-ethische Maßstäbe
haben Christen alle jene als Verbündete, die sich den humanen Werten Recht und Gerechtigkeit verpflichtet wissen
– nicht zuletzt auch diejenigen Juden, welche die nationalistisch-zionistische Politik des Staates Israel massiv
kritisieren, und zwar in Israel selbst, bei uns in Deutschland, in Europa und weltweit.
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Es gibt im Judentum auch eine universalistische, humanistische Tradition, die in Texten der Hebräischen
Bibel zum Ausdruck kommt, wie z. B. Amos 3,9-10; 4,1b; Micha 4,2c-3; 6,8; Jesaja 32,17; Sacharja 4,6. Heute
sind es Gruppierungen wie die „Rabbiner für Menschenrechte“ und „Juden für einen gerechten Frieden“, die sich
an dieser Tradition ausrichten. Außerdem gibt es im Staat Israel mehrere hochengagierte Friedens- und
Menschenrechtsgruppen, die bisher einen nur sehr geringen politischen Einfluss haben, vielmehr auf dem
allgemeinen nationalistischen Hintergrund oft als Verräter am Judentum betrachtet werden. Aber gerade sie sind
es, die die geistig-ethische Substanz des Judentums bewahren.
Ihnen ist wachsender Einfluss zu wünschen!
* Anmerkung H. Ostermann: Im Begriff „Ganzopfer“ (= Holocaust) kulminiert die jüdische Doppelmoral und „Auserwähltendünkelei“;
während die Verfolgung der Juden im 2. Weltkrieg fortlaufend - im Kino, in Fernsehdokus, in Büchern, Artikeln, Schulen, Museen, in Form
von Holocaustdenkmälern und Holocaustgesetzen, ja neuerdings sogar in Form von politischen Zwischenschaltungen (Spots!) und noch über
mehrere von unschuldigen Generationen zu berappende Reparationszahlungen - gerne auch in Form von milliardenteuren mit Atomwaffen
bestückbaren U-Booten aus Deutschland -, immer und immer wieder, medial und öffentlich, in einer schier unerträglichen Endlosschleife
aufgekocht und aller Welt serviert wird, kommt die eigene genozidale Tradition des Judentums überhaupt nicht zur Sprache … und die
Menschenrechtsverbrechen an den Palästinensern sowieso nicht – es herrscht praktisch Nachrichtensperre in den deutschen Medien, über die
schändlichen Vorfälle bei der „Besiedelung“ Palästinas und wer es wagen sollte all dies zur Sprache zu bringen „Der ist ein Antisemit!“
Diese Landkarten veranschaulichen die territorialen Veränderungen in Palästina durch den Staat Israel,
nicht zuletzt aufgrund der im Text behandelten Bibelstellen.
** Anmerkung H. Ostermann: 5. Mose/Dtn 7,16-17-18: „Du wirst alle Völker vertilgen, die der Herr, dein Gott, dir geben wird. Und du sollst
sie nicht schonen und ihren Göttern nicht dienen; denn das würde dir zum Fallstrick werden. Wirst du aber im Herzen sagen: diese Völker sind
größer als ich, wie kann ich sie vertreiben?, so fürchte dich nicht vor ihnen. Denke daran, was der Herr, dein Gott, dem Pharao und allen
Ägyptern getan hat.“ V19-21: […] So wird der Herr, dein Gott allen Völkern tun, vor denen du dich fürchtest. Dazu wird der Herr, dein Gott,
Angst und Schrecken unter sie senden, bis UMGEBRACHT SEIN WIRD, WAS ÜBRIG IST ... Laß dir nicht grauen vor ihnen; denn der Herr,
DEIN GOTT IST IN DEINER MITTE – DER GROSSE UND SCHRECKLICHE GOTT.
[Übersetzung aus der Lutherbibel]
Die meisten biblischen Zitate wurden der Einheitsübersetzung entnommen, manche aus der Lutherbibel.
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