1 Einsame Selbstbestimmung statt fürsorglicher Gemeinschaft – ist

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Einsame Selbstbestimmung statt fürsorglicher Gemeinschaft – ist das die
Zukunft für Menschen mit Behinderungen?
Prof. Dr. Markus Dederich (Vortrag vom 30.6.2006)
1. Neue Konzepte: Deinstitutionalisierung und Community-Care
Menschen mit Behinderungen selbst haben in den 1970er Jahren begonnen, sich
gegen die fürsorgliche Belagerung durch Fachleute und Behindertenverbände zur
Wehr zu setzen und Alternativen zur „Schutzhaft der Nächstenliebe“ (Klaus Dörner)
in separierenden und fremdbestimmenden Institutionen einzufordern. Fremdhilfe hat
erheblich an Kredit verloren und wurde durch die von Betroffenen entwickelte und
umgesetzte Idee der Selbsthilfe abgelöst, die einerseits den Aufbau von
Selbsthilfeinitiativen und eines Systems wechselseitiger Hilfe gefördert hat,
andererseits aber auch zu einem politischen Engagement und Einsatz für die
eigenen Interessen geführt hat.
Auch als Reaktion auf diese Entwicklung hat in der Behindertenhilfe und
Behindertenpädagogik ein gewisses Umdenken eingesetzt, wenn auch mit
Verzögerung und unterschiedlichen Akzentsetzungen. Seitdem sind Autonomie und
Selbstbestimmung, Assistenz, Behinderte als Experten in eigener Sache und als
Kunden Schlagwörter der Diskussion und werden teilweise als Paradigmen der
Behindertenhilfe gehandelt.
Eine der wichtigen politischen Weichenstellungen für die Umsetzung dieser Ideen
war die rechtliche Verankerung des Prinzips „ambulant vor stationär“ vor etwa 20
Jahren und das Inkrafttreten des SGB IX im Jahre 2001. Für den Bereich des
Wohnens lässt sich die Konsequenz dieser Entwicklungen unter dem Begriff
„Deinstitutionalisierung“ bündeln. Diese steht für den Versuch, ein Übermaß an
Institutionalisierung
der
Hilfe
abzubauen.
Hinter
dem
Konzept
der
Deinstitutionalisierung steht die Idee, nicht mehr die Menschen zu ändern, sondern
die Institutionen abzubauen, den Grad der Institutionalisierung von Hilfe möglichst
weitgehend abzubauen, so weit jedenfalls, bis die durch die Institutionalisierung
verhinderte oder minimierte Wahl- und Entscheidungsfähigkeit der Klientel der
Institution wieder hergestellt und Selbstbestimmung möglich wird.
Der Kern der Kritik am alten System besagt, dass Bewohner von Institutionen als
Insassen behandelt und ihrer Menschenwürde beraubt werden, da sie zumindest
teilweise drastische Einschränkungen von selbstverständlichen Bürgerrechten
hinnehmen müssen. „Heime sind Relikte des vergehenden Jahrtausends, und ihre
Betreiber müssen, auch wenn das hart klingt, als Geiselnehmer ‚ihrer’ psychisch
Kranken und geistig Behinderten betrachtet werden, wenn sie weiter an der
»Schutzhaft der Nächstenliebe« festhalten. Obendrein sind die Heimbetreiber als
notorische Kostenmacher gegenüber Anbietern, die die ambulante Betreuung
professionell organisieren können, rettungslos im Nachteil“ (Dörner 1999).
Weder chronisch psychisch Kranke noch Menschen mit geistiger Behinderung
müssen, so lautet die Überzeugung des Befürworter der Deinstitutionalisierung,
dauerhaft in Anstalten leben. Vielmehr sind neue Formen der dezentralen Betreuung
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in kleinen, integrierten Einheiten tatsächlich möglich – und das sogar
kostengünstiger. Allerdings steht der Prozess der Deinstitutionalisierung in
Deutschland noch ganz am Anfang.
Der Erfolg der Deinstitutionalisierung und des integrierten Wohnens und Lebens im
Stadtteil ist an wichtige Voraussetzungen gebunden, etwa das Vorhandensein einer
als sinnvoll erlebten Arbeit, abgestufter und individuell passgenau zugeschnittener
Hilfen oder die Verfügbarkeit von Kriseninterventionsdiensten. Eine weitere, häufig
genannte Voraussetzung für das Gelingen ist bürgerschaftliches Engagement, das
sich im Zuge der Herausbildung einer neuen Bürger- oder Zivilgesellschaft
entwickeln soll.
Eines der am meisten diskutierten Konzepte, das diese neue Philosophie,
Konzeption und Organisationsform der Behindertenhilfe umreißt, ist die sog.
„Community Care“. Hierbei geht es um eine integrierte, gemeindenahe Form
institutionalisierter Hilfe, die die notwendige Unterstützung behinderter Mitbürger bei
einem anzustrebenden Maximum an Selbstbestimmung und gleichzeitiger
Einbindung in einen sozialen Kontext gewährleisten soll. Das Community-CareKonzept steht für das Prinzip der Fürsorge in der Gemeinde. Angestrebt wird eine
Aktivierung vorhandener Netzwerke oder der Aufbau solcher Netzwerke, die auf der
Nutzung vorhandener lokaler Ressourcen beruhen, also ausdrücklich die
nichtbehinderten Bürger eines Ortes oder Stadtteiles einbeziehen. Gegenseitige
Unterstützung und Solidarität, der Aufbau von tragfähigen Beziehungen und die
Möglichkeit, einer integrierten Arbeit bzw. sinnvollen Beschäftigung nachzugehen,
sind ebenso wichtig für dieses Konzept wie die Gewährleistung von Schutz,
Assistenz und, wo notwendig, advokatorischer Unterstützung. So sollen Behinderte
als Mieter, Nachbarn, Bürger mit Rechten und Pflichten zu einem
selbstverständlichen Bestandteil der Kommune werden. Gelingt dieser Prozess, so
werden nach Vorstellung der Verfechter dieser Idee professionelle Helfer im Laufe
der Zeit zunehmend überflüssig.
2. Gefährdungen und Risiken
Es steht außer Frage, dass das Community-Care-Konzept eine positive Vision
darstellt, deren Verwirklichung eine tatsächliche Revolutionierung, also eine an die
Wurzel gehende Umwälzung des Systems der Behindertenhilfe bedeuten würde. Die
nachfolgenden kritischen Anfragen, sind nicht als grundlegende Kritik an diesem
Konzept zu verstehen, sondern als Hinweise auf gegenwärtige sich abzeichnende
gesellschaftliche Entwicklungstendenzen, die einer Umsetzung des Konzeptes
entgegenstehen bzw. das Gelingen gefährden.
a) Paradoxien des Inklusionsgebotes
Ich beginne mit einem prinzipiellen Problem. Der Soziologe Peter Fuchs (2002) stellt
politisch völlig inkorrekt fest, dass Behinderung soziale Systeme strapaziert. Dies ist
besonders dann der Fall, wenn die Bedingungen der Möglichkeit von Kommunikation
berührt werden. Auf der Ebene verbalsprachlicher Kommunikation kann dies der Fall
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sein, wenn Störungen des Hörens oder des Sprechens vorliegen, die
Wahrnehmungsverarbeitung und Sinnverarbeitung erschwert oder verlangsamt sind
und in deren Folge die zeitliche Synchronisation der Beteiligten psychischen
Systeme nicht hinreichend gelingt. Die Bedingung der Möglichkeit des Gelingens von
Kommunikation wird ebenfalls berührt, wenn Routinen sozialer Systeme stark gestört
werden. Behinderungen führen mit anderen Worten innerhalb sozialer Prozesse zur
Frustratration von Erwartungen und zu der Erfahrung, dass etwas nicht in dem
erwarteten Maße oder auf die erwartete Weise geht. Nach Fuchs führen solche
Behinderungen in den Umwelten, in denen sie auftauchen, zu Einschränkungen von
Freiheitsgraden der Akteure. Dies geschieht etwa dadurch, dass das Niveau und
Tempo der Kommunikation angepasst werden müssen, Aktivitäten nicht oder nur
eingeschränkt oder modifiziert möglich sind und Aufmerksamkeiten stark gebunden
werden. Nach Fuchs bilden Missverständnisse in der Kommunikation ein großes
Hindernis. Dies taucht besonders bei verbalsprachlichen Störungen auf, weil durch
sie häufig die Frage offen bleibt, ob und wie Kommunikationen durch den anderen
verstanden wurden. Wie die Geschichte zeigt, werden solche Belastungen bis zu
einem gewissen Grad durch die sozialen Systeme aufgefangen, haben aber die
Tendenz, eine Exklusionsdrift zu erzeugen. Exklusion bedeutet hier: Es erfolgt eine
Herausbildung spezialisierter Institutionen oder die Ausbildung von Experten, die auf
die mit Behinderung verbundenen Probleme spezialisiert sind.
Vor diesem Hintergrund macht Fuchs auf folgende Paradoxien aufmerksam: Die
Spezialisierung setzt insbesondere dort ein, wo eine Gesellschaft sich selbst ein
Exklusionsverbot auferlegt. Das Exklusionsverbot führt zur Ausfächerung von
speziellen Institutionen, Einrichtungen und Experten, die ihrerseits dafür da sind, die
Exklusionsdrift aufzuhalten oder umzukehren. „Das Exklusionsverbot steigert die
Komplexität der Gesellschaft durch die Notwendigkeit an der Exklusionsdrift
Institutionen zu installieren, die differenzieren Exklusionsbereiche aufspannen,
abweichende Karrieren produzieren und dagegen wieder Vorkehrungen treffen
müssen, die wiederum Differenzierungen darstellen. Nach dieser These ist es gerade
der Verbot von Verbesonderung, der die Dynamik einer Verbesonderung am Laufen
hält.
b) Exklusion
Nach diesem eher grundsätzlichen Problem komme ich nun auf Entwicklungen
unserer Gesellschaft zu sprechen, die sich ebenfalls als Hindernisse auf dem Weg zu
Integration und Selbstbestimmung erweisen können. In den vergangenen 10 Jahren
ist „Exklusion“ zu einem häufig diskutierten Thema in den Sozialwissenschaften
geworden. Während in der Behindertenpädagogik und Behindertenhilfe Integration
bzw. Inklusion immer noch normative Leitideen bilden, wird kaum über Exklusion
gesprochen. Dies ist in den Sozialwissenschaften ganz anders. Die hier geführte
Debatte rückt eine in sich heterogene, wachsende Zahl von Menschen in den Blick,
Verlierer der Modernisierung, Gruppen die am Rande der Gesellschaft leben und aus
gesellschaftlichen Funktionssystemen herausfallen, Arme bis hin zu gesellschaftlich
und ökonomisch Überflüssigen und Entbehrlichen. Der Soziologe Zygmunt Bauman
(2005) spricht scharfzüngig von der „Produktion menschlichen Abfalls“ (S. 59), die
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eine „Nebenhandlung des wirtschaftlichen Fortschritts“ (ebd.) ist, insbesondere der
Globalisierung: Eine Masse von Menschen, für die keine Arbeit mehr vorhanden ist,
die
ihren
gesellschaftlichen
Nutzen
verlieren
und
die
aus
Anerkennungszusammenhängen herausfallen. Überflüssig zu sein bedeutet Bauman
zu Folge „überzählig und nutzlos zu sein, nicht gebraucht zu werden (...). Die
Anderen brauchen dich nicht, sie kommen ohne dich genau so gut zurecht, ja, sogar
besser. Es gibt keinen einleuchtenden Grund für deine Anwesenheit und keine nahe
liegende Rechtfertigung für deinen Anspruch hier bleiben zu dürfen“ (S. 21). In der
Folge kommt es zum Ausschluss aus immer mehr gesellschaftlichen
Funktionsbereichen. Besonders hart betroffen hiervon sind die Menschen, die z.B.
auf Grund körperlicher, kognitiver und psychischer Beeinträchtigungen nicht in der
Lage sind, den Anforderungen nach zu kommen, die heute an eigenverantwortliche
Aktivsubjekte, etwa an ständig mit der Selbstoptimierung beschäftigte Ich-AGs,
gestellt werden. Wenn die solidarischen Sicherungssysteme herunter gefahren
werden oder wegbrechen, geraten insbesondere diese Menschen in eine hochgradig
prekäre Situation. Das diese Entwicklung in vollem Gange ist, steht für die meisten
Sozialwissenschaftler außer Frage.
c) Ökonomisierung und Abbau des Wohlfahrtsstaates
Abbau des Wohlfahrtstaates, der Prozess der Globalisierung, die Ökonomisierung
des Sozialen, der Neoliberale Rückzug des Staates aus seiner Verantwortung
gegenüber schwachen oder hilfsbedürftigen Mitbürgern und Individualisierung sind
große Themen unserer Zeit. Grundlegende Paradigmen der Behindertenhilfe wie
Teilhabe und Selbstbestimmung gewinnen im Lichte dieser Entwicklung eine
neuartige Bedeutung.
In jüngerer Zeit wird häufig von einem Wandel vom fürsorgenden hin zum
aktivierenden Wohlfahrtsstaat gesprochen. Im Zuge der Verknappung des für den
sozialen Sektor zur Verfügung stehenden Geldes und der Ökonomisierung des
Sozialen taucht eine neue Rhetorik auf, die der Einsicht geschuldet ist, dass
neoliberale Minimalabsicherungen nicht ausreichend sind, um insbesondere
diejenigen Menschen angemessen zu unterstützen, denen mittel- bis langfristig ein
Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt verschlossen bleibt. Hier wird nun seit einiger
Zeit von Arbeitsmarktaktivierung, Förderung des lebenslangen Lernens, der Bildung
von Netzwerken, von Selbsthilfe, Kultivierung von Sozialkapital, bürgerschaftlichen
Engagement und ähnlichem gesprochen. Der Rückzug des Staates soll durch neue
sozialpolitische Ziele, durch Aktivierung der Bürger und deren Befähigung im Namen
der Eigenverantwortung aufgefangen werden.
Wo sich der Staat zurückzieht und die notwendigen Ressourcen zur eigenständigen
Lebensbewältigung nicht zur Verfügung gestellt werden, seien sie materieller,
personeller oder geistiger bzw. psychischer Natur, enthüllen sich die Schattenseiten
und Gefahren des Prinzips der Selbstbestimmung und Eigenverantwortung. Der
Mensch – mit und ohne Behinderung – bleibt sich selbst überlassen. Er hat die
Verantwortung für sein Leben zu übernehmen, und zwar für dessen Gelingen und für
dessen Scheitern. Die Brisanz bzw. Prekarität der Individualisierung liegt in dem mit
ihr untrennbar verbundenen Zwang „zur Herstellung, Selbstgestaltung,
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Selbstinszenierung nicht nur der eigenen Biographie, sondern auch ihrer
Einbindungen in Netzwerke und dies im Wechsel der Präferenzen und
Lebensphasen und unter dauernder Abstimmung mit anderen und den Vorgaben von
Arbeitsmarkt, Bildungssystem, Wohlfahrtsstaat usw.“ (Beck/Beck-Gernsheim 1994,
14).
Wenn die durch das Individuum nicht verschuldete Ungleichheit der Verteilung und
Verfügbarkeit von Ressourcen nicht mehr ausreichend kompensiert werden, ist das
Prinzip der Eigenverantwortung kaum mehr als ein blanker Hohn. So zeigt sich, dass
benachteiligende Lebensbedingungen und fehlende Ressourcen zu einer
Verringerung des Selbsthilfepotentials der Betroffenen führen. Das Gleiche gilt für
den Umgang mit Gesundheitsrisiken und die Fähigkeit, Erkrankungen und
Schädigungen vorzubeugen. Gerade bei sozialschwachen, chronisch Kranken und
behinderten Menschen kann von einer nur sehr eingeschränkten Möglichkeit der
Kontrolle über die eigenen Lebensumstände ausgegangen werden. Ebenso trifft zu,
dass dieser Personenkreis überdurchschnittlich häufig geringe Einkommen und einen
niedrigen Bildungsstand aufweist.
d) Zunehmende Fremdenfeindlichkeit
Die Übernahme von Eigenverantwortung ist an die Verfügbarkeit von Ressourcen
gebunden, sonst ist sie zum Scheitern verurteilt. Wie steht es in unserem
Gemeinwesen in Zeiten leerer Kassen mit der Bereitschaft, solche materiellen und
nicht materiellen Ressourcen für Bürger am Rande der Gesellschaft aufzubringen?
Ökonomische und (sozial-)politische Veränderungsprozesse bleiben nicht ohne
Auswirkungen auf das Wahrnehmen, Denken und Fühlen der Menschen, auf ihre
Mentalität und Einstellungsmuster. So scheint es mit Blick auf die Gesellschaft
insgesamt fragwürdig, ob sich parallel zum Prozess des Umdenkens in Fachkreisen
auch ein Einstellungswandel nichtbehinderter Menschen gegenüber ihren
behinderten Mitbürgern vollzogen hat und ob das gesellschaftliche Klima insgesamt
heterogenitäts- und integrationsfreundlicher geworden ist. Die wirtschaftlichen und
politischen Entwicklungen könnten gerade umgekehrte Effekte erzeugen und
negative Auswirkungen auf das Verhältnis der Gesellschaft zu ihren behinderten
Mitbürgern nach sich ziehen. Wie Heitmeyer (2005) in seiner neuen empirischen
Untersuchung zu den „Deutschen Verhältnissen“ feststellt, wirkt sich die
wirtschaftliche und soziale Destabilisierung und Verunsicherung nicht mehr nur auf
den Rand der Gesellschaft aus, sondern ist in ihrer Mitte angelangt. Heitmeyers
Befund: „Wenn die Desintegrationsgefahren bei der Mehrheit und in der Mitte
zunehmen (…), reduziert sich die Anerkennung schwacher Gruppen. Die
Bereitschaft, für sie Integrationsgelegenheiten offen zu halten, könnte zurückgehen“
(Heitmeyer 2005, 24). Diese Dynamik fördert das, was Heitmeyer „gruppenbezogene
Menschenfeindlichkeit“ nennt: „Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Islamophobie,
Abwertung von Obdachlosen, Homosexuellen und Aversionen gegen weitere
Gruppen“ (ebd.). Hieraus wird geschlussfolgert, die ‚Mitte’ der Gesellschaft sei
„ähnlich feindselig geworden wie Personen, die ihre Position rechts verorten. Man
kann sagen: Die Mitte wird ‚normal feindselig’“ (ebd.). Pointiert gesagt: Die
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Destabilisierungs- und Erosionsprozesse im Inneren der Gesellschaft lassen
individuelle und gruppenbezogene Exklusionsrisiken ansteigen.
Wie weiter oben gesagt wurde, erfordern Konzepte wie gemeindenahe Integration
oder Community Care Solidarität, bürgerschaftliches Engagement und den Aufbau
tragfähige Netzwerke. Hier stellt sich die Frage, ob wir in einer Zeit leben, in der die
Voraussetzungen gegeben sind bzw. erfüllt werden können?
Zygmunt Bauman sagt: In der modernen Gesellschaft, vor allem in größeren Städten,
ist mein Nächster mein Fernster.
3. Behinderte als Kunden? Autonomie, Abhängigkeit und Gefährdung von
Integrität
Im Kontext dieser Diskussion scheint auch die seit einigen Jahren kursierender
Begriff des Kunden in seiner ganzen Zwielichtigkeit. Natürlich ist der Begriff des
Kunden für die Adressaten sozialer Dienste verheißungsvoll, taucht er doch immer
mit den Formeln von Selbstbestimmung, Empowerment, neuen Wahlmöglichkeiten
und Einfluss nach der Nachfrage auf. Vor dem Hintergrund dieser Formeln erscheint
das Unternehmertum in eigener Sache tatsächlich als große Verlockung, allerdings
verdeckt diese einseitige Sicht der Dinge, dass Menschen Krankheiten,
Behinderungen und psychosoziale Beeinträchtigungen nicht frei gewählt haben, so
wie man sich im Supermarkt für ein bestimmtes Produkt entscheidet. Krankheiten
und Behinderungen sind Widerfahrnisse und nicht Optionen, für die wir uns frei
entscheiden. Der kranke Mensch ist „kein Konsument, Nutzer, Verbraucher, Kunde
oder Klient, er ist vielmehr ein Not befindlicher Mensch, eben Patient in der Regel
voller Angst in einer Ausnahmesituation, also vertragsfähig als vertrauens- und
verantwortungsbedürftig“ (Dörner 2003, 50).
Hier wird das Thema Abhängigkeit, Verletzbarkeit, Angewiesenheit usw. wichtig. Um
es noch einmal zu betonen, Integration, Selbstbestimmung und der möglichst
weitgehende Abbau von Angewiesenheit auf fremde Hilfe sind als hohe Güter
anzusehen. Jedoch darf nicht verleugnet werden, dass die menschliche Situation
durch ein gewisses Maß an Abhängigkeit und Angewiesenheit gekennzeichnet ist.
Diese Abhängigkeit ist anthropologischer Art, das heißt kein Mensch kann sich ganz
von ihr frei machen. Noch mehr aber gilt, gerade für Menschen mit schweren
Behinderungen, dass ihre Situation durch ein mehr an sozialer Abhängigkeit
charakterisiert ist. Ein Mehr an Abhängigkeit impliziert einen höheren Bedarf an
Unterstützung und Ressourcen, aber auch eine höhere Gefährdetheit durch fehlende
unzureichende oder unangemessene Unterstützung. Ein erhöhtes Maß an
Abhängigkeit erhöht für Menschen die Gefahr in ihrer Integrität auf körperliche und
psychischer oder sozialer Ebene verletzt zu werden. Gerade hierdurch besteht aber
auch ein erhöhtes Maß an Verantwortung. Die Asymmetrie von helfenden
Beziehungen ist von je her ein großes Problem. Zugleich aber lässt sich aber die
Asymmetrie von Beziehungen bei einem erhöhten Maß an Abhängigkeit kaum in
einer totalen Symmetrie auflösen.
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Asymmetrie, Abhängigkeit, das Angewiesensein auf Hilfe, auf Solidarität, auf
materielle und nicht materielle Unterstützung kennzeichnen die existenzielle Situation
insbesondere von Menschen mit schweren Behinderungen.
4. Schlussüberlegungen
Damit wir uns nicht missverstehen: Wir brauchen Ideen und Ziele, um
Veränderungen anzustoßen. Verbesserung der Lebensbedingungen behinderter
Menschen setzt neben klaren Zielen auch Veränderungsbereitschaft voraus.
Veränderungen anzustoßen heißt auch, vertrautes Denken aufzugeben und neue
Wege zu gehen, als vertrautes Gelände zu verlassen, sich dem Unbekannten zu
öffnen
und
damit
auch ein gewisses Wagnis
einzugehen. Jeder
Veränderungsprozess ist mit einer Entsicherung, mit Schritten ins Offene verbunden.
Jedoch müssen Veränderungen trotz ihres prinzipiell nicht sicher bestimmbaren
Ausgangs kalkuliert und verantwortet werden. Zugleich muss die Kritik an neuen
Konzepten sich davor hüten, nicht konservative Reflexe zu bedienen und
Beharrungs-, vielleicht sogar Erstarrungstendenzen in der Behindertenhilfe zu
unterstützen. Die vorgebrachten Aspekte der Kritik sind ideologiekritisch, wo es etwa
um die Ökonomisierung, den Neoliberalismus und die Individualisierung geht. Jedoch
muss sich die Ideologiekritik hüten, selbst zu einer Instanz zu werden, die sinnvolle
und ethisch gebotene Veränderungen verhindert.
Die gegenwärtige ökonomische Entwicklung, die Zunahme an Fremdenfeindlichkeit
(Heterophobie), die Prozesse der Entsolidarisierung in unserer Gesellschaft lassen
insbesondere dort, wo sich mit dem Prinzip der Individualisierung und mit der
Zurückgabe der Verantwortung für das eigene Leben an die Individuen verbindet,
nicht erwarten, dass das Community-Care-Konzept erfolgreich sein kann. Ohne ein
offenes heterogenitätsfreundliches Umfeld, ohne soziales Engagement und ohne die
Sicherstellung von sozialen, materiellen und personellen Ressourcen besteht die
Gefahr, dass Prozesse der Deinstitutionalisierung tatsächlich in Isolierung,
Vereinsamung, neue Formen der Vernachlässigung und Atomisierung in unserer
Gesellschaft führen.
Literatur
Klaus Dörner: Gegen die Schutzhaft der Nächstenliebe - Umgang mit Kranken und
Behinderten. In: Publik-Forum; Zeitung kritischer Christen, Nr. 15/1999
Klaus Dörner: Die Gesundheitsfalle. Dörner, Klaus: Die Gesundheitsfalle. Woran
unsere Medizin krankt. Zwölf Thesen zu ihrer Heilung. München 2003
Bauman, Z.: Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne, Hamburg 2005.
Beck, U. / Beck-Gernsheim, E.: Individualisierung in modernen Gesellschaften,
Perspektiven und Kontroversen einer subjekt-orientierten Soziologie, in: Dies.
(Hg.): Riskante Freiheiten. Frankfurt 1994.
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Fuchs, P.: Behinderung und soziale Systeme, Anmerkungen zu einem schier
unlösbaren Problem, in: Das gepfefferte Ferkel 2002. http://www.ibsnetworld.de/altesferkel/fuchs-behinderungen.shtml (10.8.2005).
Heitmeyer, W.: Die verstörte Gesellschaft, in: Die Zeit Nr. 51, 15. Dezember 2005.
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. Markus Dederich
Universität Dortmund
Theorie der Rehabilitation und Pädagogik bei Behinderung
Emil-Figge-Str. 50
44221 Dortmund
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