Einsame Selbstbestimmung statt fürsorglicher Gemeinschaft – ist das die Zukunft für Menschen mit Behinderungen? Prof. Dr. Markus Dederich (Vortrag vom 30.6.2006) 1. Neue Konzepte: Deinstitutionalisierung und Community-Care Menschen mit Behinderungen selbst haben in den 1970er Jahren begonnen, sich gegen die fürsorgliche Belagerung durch Fachleute und Behindertenverbände zur Wehr zu setzen und Alternativen zur „Schutzhaft der Nächstenliebe“ (Klaus Dörner) in separierenden und fremdbestimmenden Institutionen einzufordern. Fremdhilfe hat erheblich an Kredit verloren und wurde durch die von Betroffenen entwickelte und umgesetzte Idee der Selbsthilfe abgelöst, die einerseits den Aufbau von Selbsthilfeinitiativen und eines Systems wechselseitiger Hilfe gefördert hat, andererseits aber auch zu einem politischen Engagement und Einsatz für die eigenen Interessen geführt hat. Auch als Reaktion auf diese Entwicklung hat in der Behindertenhilfe und Behindertenpädagogik ein gewisses Umdenken eingesetzt, wenn auch mit Verzögerung und unterschiedlichen Akzentsetzungen. Seitdem sind Autonomie und Selbstbestimmung, Assistenz, Behinderte als Experten in eigener Sache und als Kunden Schlagwörter der Diskussion und werden teilweise als Paradigmen der Behindertenhilfe gehandelt. Eine der wichtigen politischen Weichenstellungen für die Umsetzung dieser Ideen war die rechtliche Verankerung des Prinzips „ambulant vor stationär“ vor etwa 20 Jahren und das Inkrafttreten des SGB IX im Jahre 2001. Für den Bereich des Wohnens lässt sich die Konsequenz dieser Entwicklungen unter dem Begriff „Deinstitutionalisierung“ bündeln. Diese steht für den Versuch, ein Übermaß an Institutionalisierung der Hilfe abzubauen. Hinter dem Konzept der Deinstitutionalisierung steht die Idee, nicht mehr die Menschen zu ändern, sondern die Institutionen abzubauen, den Grad der Institutionalisierung von Hilfe möglichst weitgehend abzubauen, so weit jedenfalls, bis die durch die Institutionalisierung verhinderte oder minimierte Wahl- und Entscheidungsfähigkeit der Klientel der Institution wieder hergestellt und Selbstbestimmung möglich wird. Der Kern der Kritik am alten System besagt, dass Bewohner von Institutionen als Insassen behandelt und ihrer Menschenwürde beraubt werden, da sie zumindest teilweise drastische Einschränkungen von selbstverständlichen Bürgerrechten hinnehmen müssen. „Heime sind Relikte des vergehenden Jahrtausends, und ihre Betreiber müssen, auch wenn das hart klingt, als Geiselnehmer ‚ihrer’ psychisch Kranken und geistig Behinderten betrachtet werden, wenn sie weiter an der »Schutzhaft der Nächstenliebe« festhalten. Obendrein sind die Heimbetreiber als notorische Kostenmacher gegenüber Anbietern, die die ambulante Betreuung professionell organisieren können, rettungslos im Nachteil“ (Dörner 1999). Weder chronisch psychisch Kranke noch Menschen mit geistiger Behinderung müssen, so lautet die Überzeugung des Befürworter der Deinstitutionalisierung, dauerhaft in Anstalten leben. Vielmehr sind neue Formen der dezentralen Betreuung 1 in kleinen, integrierten Einheiten tatsächlich möglich – und das sogar kostengünstiger. Allerdings steht der Prozess der Deinstitutionalisierung in Deutschland noch ganz am Anfang. Der Erfolg der Deinstitutionalisierung und des integrierten Wohnens und Lebens im Stadtteil ist an wichtige Voraussetzungen gebunden, etwa das Vorhandensein einer als sinnvoll erlebten Arbeit, abgestufter und individuell passgenau zugeschnittener Hilfen oder die Verfügbarkeit von Kriseninterventionsdiensten. Eine weitere, häufig genannte Voraussetzung für das Gelingen ist bürgerschaftliches Engagement, das sich im Zuge der Herausbildung einer neuen Bürger- oder Zivilgesellschaft entwickeln soll. Eines der am meisten diskutierten Konzepte, das diese neue Philosophie, Konzeption und Organisationsform der Behindertenhilfe umreißt, ist die sog. „Community Care“. Hierbei geht es um eine integrierte, gemeindenahe Form institutionalisierter Hilfe, die die notwendige Unterstützung behinderter Mitbürger bei einem anzustrebenden Maximum an Selbstbestimmung und gleichzeitiger Einbindung in einen sozialen Kontext gewährleisten soll. Das Community-CareKonzept steht für das Prinzip der Fürsorge in der Gemeinde. Angestrebt wird eine Aktivierung vorhandener Netzwerke oder der Aufbau solcher Netzwerke, die auf der Nutzung vorhandener lokaler Ressourcen beruhen, also ausdrücklich die nichtbehinderten Bürger eines Ortes oder Stadtteiles einbeziehen. Gegenseitige Unterstützung und Solidarität, der Aufbau von tragfähigen Beziehungen und die Möglichkeit, einer integrierten Arbeit bzw. sinnvollen Beschäftigung nachzugehen, sind ebenso wichtig für dieses Konzept wie die Gewährleistung von Schutz, Assistenz und, wo notwendig, advokatorischer Unterstützung. So sollen Behinderte als Mieter, Nachbarn, Bürger mit Rechten und Pflichten zu einem selbstverständlichen Bestandteil der Kommune werden. Gelingt dieser Prozess, so werden nach Vorstellung der Verfechter dieser Idee professionelle Helfer im Laufe der Zeit zunehmend überflüssig. 2. Gefährdungen und Risiken Es steht außer Frage, dass das Community-Care-Konzept eine positive Vision darstellt, deren Verwirklichung eine tatsächliche Revolutionierung, also eine an die Wurzel gehende Umwälzung des Systems der Behindertenhilfe bedeuten würde. Die nachfolgenden kritischen Anfragen, sind nicht als grundlegende Kritik an diesem Konzept zu verstehen, sondern als Hinweise auf gegenwärtige sich abzeichnende gesellschaftliche Entwicklungstendenzen, die einer Umsetzung des Konzeptes entgegenstehen bzw. das Gelingen gefährden. a) Paradoxien des Inklusionsgebotes Ich beginne mit einem prinzipiellen Problem. Der Soziologe Peter Fuchs (2002) stellt politisch völlig inkorrekt fest, dass Behinderung soziale Systeme strapaziert. Dies ist besonders dann der Fall, wenn die Bedingungen der Möglichkeit von Kommunikation berührt werden. Auf der Ebene verbalsprachlicher Kommunikation kann dies der Fall 2 sein, wenn Störungen des Hörens oder des Sprechens vorliegen, die Wahrnehmungsverarbeitung und Sinnverarbeitung erschwert oder verlangsamt sind und in deren Folge die zeitliche Synchronisation der Beteiligten psychischen Systeme nicht hinreichend gelingt. Die Bedingung der Möglichkeit des Gelingens von Kommunikation wird ebenfalls berührt, wenn Routinen sozialer Systeme stark gestört werden. Behinderungen führen mit anderen Worten innerhalb sozialer Prozesse zur Frustratration von Erwartungen und zu der Erfahrung, dass etwas nicht in dem erwarteten Maße oder auf die erwartete Weise geht. Nach Fuchs führen solche Behinderungen in den Umwelten, in denen sie auftauchen, zu Einschränkungen von Freiheitsgraden der Akteure. Dies geschieht etwa dadurch, dass das Niveau und Tempo der Kommunikation angepasst werden müssen, Aktivitäten nicht oder nur eingeschränkt oder modifiziert möglich sind und Aufmerksamkeiten stark gebunden werden. Nach Fuchs bilden Missverständnisse in der Kommunikation ein großes Hindernis. Dies taucht besonders bei verbalsprachlichen Störungen auf, weil durch sie häufig die Frage offen bleibt, ob und wie Kommunikationen durch den anderen verstanden wurden. Wie die Geschichte zeigt, werden solche Belastungen bis zu einem gewissen Grad durch die sozialen Systeme aufgefangen, haben aber die Tendenz, eine Exklusionsdrift zu erzeugen. Exklusion bedeutet hier: Es erfolgt eine Herausbildung spezialisierter Institutionen oder die Ausbildung von Experten, die auf die mit Behinderung verbundenen Probleme spezialisiert sind. Vor diesem Hintergrund macht Fuchs auf folgende Paradoxien aufmerksam: Die Spezialisierung setzt insbesondere dort ein, wo eine Gesellschaft sich selbst ein Exklusionsverbot auferlegt. Das Exklusionsverbot führt zur Ausfächerung von speziellen Institutionen, Einrichtungen und Experten, die ihrerseits dafür da sind, die Exklusionsdrift aufzuhalten oder umzukehren. „Das Exklusionsverbot steigert die Komplexität der Gesellschaft durch die Notwendigkeit an der Exklusionsdrift Institutionen zu installieren, die differenzieren Exklusionsbereiche aufspannen, abweichende Karrieren produzieren und dagegen wieder Vorkehrungen treffen müssen, die wiederum Differenzierungen darstellen. Nach dieser These ist es gerade der Verbot von Verbesonderung, der die Dynamik einer Verbesonderung am Laufen hält. b) Exklusion Nach diesem eher grundsätzlichen Problem komme ich nun auf Entwicklungen unserer Gesellschaft zu sprechen, die sich ebenfalls als Hindernisse auf dem Weg zu Integration und Selbstbestimmung erweisen können. In den vergangenen 10 Jahren ist „Exklusion“ zu einem häufig diskutierten Thema in den Sozialwissenschaften geworden. Während in der Behindertenpädagogik und Behindertenhilfe Integration bzw. Inklusion immer noch normative Leitideen bilden, wird kaum über Exklusion gesprochen. Dies ist in den Sozialwissenschaften ganz anders. Die hier geführte Debatte rückt eine in sich heterogene, wachsende Zahl von Menschen in den Blick, Verlierer der Modernisierung, Gruppen die am Rande der Gesellschaft leben und aus gesellschaftlichen Funktionssystemen herausfallen, Arme bis hin zu gesellschaftlich und ökonomisch Überflüssigen und Entbehrlichen. Der Soziologe Zygmunt Bauman (2005) spricht scharfzüngig von der „Produktion menschlichen Abfalls“ (S. 59), die 3 eine „Nebenhandlung des wirtschaftlichen Fortschritts“ (ebd.) ist, insbesondere der Globalisierung: Eine Masse von Menschen, für die keine Arbeit mehr vorhanden ist, die ihren gesellschaftlichen Nutzen verlieren und die aus Anerkennungszusammenhängen herausfallen. Überflüssig zu sein bedeutet Bauman zu Folge „überzählig und nutzlos zu sein, nicht gebraucht zu werden (...). Die Anderen brauchen dich nicht, sie kommen ohne dich genau so gut zurecht, ja, sogar besser. Es gibt keinen einleuchtenden Grund für deine Anwesenheit und keine nahe liegende Rechtfertigung für deinen Anspruch hier bleiben zu dürfen“ (S. 21). In der Folge kommt es zum Ausschluss aus immer mehr gesellschaftlichen Funktionsbereichen. Besonders hart betroffen hiervon sind die Menschen, die z.B. auf Grund körperlicher, kognitiver und psychischer Beeinträchtigungen nicht in der Lage sind, den Anforderungen nach zu kommen, die heute an eigenverantwortliche Aktivsubjekte, etwa an ständig mit der Selbstoptimierung beschäftigte Ich-AGs, gestellt werden. Wenn die solidarischen Sicherungssysteme herunter gefahren werden oder wegbrechen, geraten insbesondere diese Menschen in eine hochgradig prekäre Situation. Das diese Entwicklung in vollem Gange ist, steht für die meisten Sozialwissenschaftler außer Frage. c) Ökonomisierung und Abbau des Wohlfahrtsstaates Abbau des Wohlfahrtstaates, der Prozess der Globalisierung, die Ökonomisierung des Sozialen, der Neoliberale Rückzug des Staates aus seiner Verantwortung gegenüber schwachen oder hilfsbedürftigen Mitbürgern und Individualisierung sind große Themen unserer Zeit. Grundlegende Paradigmen der Behindertenhilfe wie Teilhabe und Selbstbestimmung gewinnen im Lichte dieser Entwicklung eine neuartige Bedeutung. In jüngerer Zeit wird häufig von einem Wandel vom fürsorgenden hin zum aktivierenden Wohlfahrtsstaat gesprochen. Im Zuge der Verknappung des für den sozialen Sektor zur Verfügung stehenden Geldes und der Ökonomisierung des Sozialen taucht eine neue Rhetorik auf, die der Einsicht geschuldet ist, dass neoliberale Minimalabsicherungen nicht ausreichend sind, um insbesondere diejenigen Menschen angemessen zu unterstützen, denen mittel- bis langfristig ein Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt verschlossen bleibt. Hier wird nun seit einiger Zeit von Arbeitsmarktaktivierung, Förderung des lebenslangen Lernens, der Bildung von Netzwerken, von Selbsthilfe, Kultivierung von Sozialkapital, bürgerschaftlichen Engagement und ähnlichem gesprochen. Der Rückzug des Staates soll durch neue sozialpolitische Ziele, durch Aktivierung der Bürger und deren Befähigung im Namen der Eigenverantwortung aufgefangen werden. Wo sich der Staat zurückzieht und die notwendigen Ressourcen zur eigenständigen Lebensbewältigung nicht zur Verfügung gestellt werden, seien sie materieller, personeller oder geistiger bzw. psychischer Natur, enthüllen sich die Schattenseiten und Gefahren des Prinzips der Selbstbestimmung und Eigenverantwortung. Der Mensch – mit und ohne Behinderung – bleibt sich selbst überlassen. Er hat die Verantwortung für sein Leben zu übernehmen, und zwar für dessen Gelingen und für dessen Scheitern. Die Brisanz bzw. Prekarität der Individualisierung liegt in dem mit ihr untrennbar verbundenen Zwang „zur Herstellung, Selbstgestaltung, 4 Selbstinszenierung nicht nur der eigenen Biographie, sondern auch ihrer Einbindungen in Netzwerke und dies im Wechsel der Präferenzen und Lebensphasen und unter dauernder Abstimmung mit anderen und den Vorgaben von Arbeitsmarkt, Bildungssystem, Wohlfahrtsstaat usw.“ (Beck/Beck-Gernsheim 1994, 14). Wenn die durch das Individuum nicht verschuldete Ungleichheit der Verteilung und Verfügbarkeit von Ressourcen nicht mehr ausreichend kompensiert werden, ist das Prinzip der Eigenverantwortung kaum mehr als ein blanker Hohn. So zeigt sich, dass benachteiligende Lebensbedingungen und fehlende Ressourcen zu einer Verringerung des Selbsthilfepotentials der Betroffenen führen. Das Gleiche gilt für den Umgang mit Gesundheitsrisiken und die Fähigkeit, Erkrankungen und Schädigungen vorzubeugen. Gerade bei sozialschwachen, chronisch Kranken und behinderten Menschen kann von einer nur sehr eingeschränkten Möglichkeit der Kontrolle über die eigenen Lebensumstände ausgegangen werden. Ebenso trifft zu, dass dieser Personenkreis überdurchschnittlich häufig geringe Einkommen und einen niedrigen Bildungsstand aufweist. d) Zunehmende Fremdenfeindlichkeit Die Übernahme von Eigenverantwortung ist an die Verfügbarkeit von Ressourcen gebunden, sonst ist sie zum Scheitern verurteilt. Wie steht es in unserem Gemeinwesen in Zeiten leerer Kassen mit der Bereitschaft, solche materiellen und nicht materiellen Ressourcen für Bürger am Rande der Gesellschaft aufzubringen? Ökonomische und (sozial-)politische Veränderungsprozesse bleiben nicht ohne Auswirkungen auf das Wahrnehmen, Denken und Fühlen der Menschen, auf ihre Mentalität und Einstellungsmuster. So scheint es mit Blick auf die Gesellschaft insgesamt fragwürdig, ob sich parallel zum Prozess des Umdenkens in Fachkreisen auch ein Einstellungswandel nichtbehinderter Menschen gegenüber ihren behinderten Mitbürgern vollzogen hat und ob das gesellschaftliche Klima insgesamt heterogenitäts- und integrationsfreundlicher geworden ist. Die wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen könnten gerade umgekehrte Effekte erzeugen und negative Auswirkungen auf das Verhältnis der Gesellschaft zu ihren behinderten Mitbürgern nach sich ziehen. Wie Heitmeyer (2005) in seiner neuen empirischen Untersuchung zu den „Deutschen Verhältnissen“ feststellt, wirkt sich die wirtschaftliche und soziale Destabilisierung und Verunsicherung nicht mehr nur auf den Rand der Gesellschaft aus, sondern ist in ihrer Mitte angelangt. Heitmeyers Befund: „Wenn die Desintegrationsgefahren bei der Mehrheit und in der Mitte zunehmen (…), reduziert sich die Anerkennung schwacher Gruppen. Die Bereitschaft, für sie Integrationsgelegenheiten offen zu halten, könnte zurückgehen“ (Heitmeyer 2005, 24). Diese Dynamik fördert das, was Heitmeyer „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ nennt: „Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Islamophobie, Abwertung von Obdachlosen, Homosexuellen und Aversionen gegen weitere Gruppen“ (ebd.). Hieraus wird geschlussfolgert, die ‚Mitte’ der Gesellschaft sei „ähnlich feindselig geworden wie Personen, die ihre Position rechts verorten. Man kann sagen: Die Mitte wird ‚normal feindselig’“ (ebd.). Pointiert gesagt: Die 5 Destabilisierungs- und Erosionsprozesse im Inneren der Gesellschaft lassen individuelle und gruppenbezogene Exklusionsrisiken ansteigen. Wie weiter oben gesagt wurde, erfordern Konzepte wie gemeindenahe Integration oder Community Care Solidarität, bürgerschaftliches Engagement und den Aufbau tragfähige Netzwerke. Hier stellt sich die Frage, ob wir in einer Zeit leben, in der die Voraussetzungen gegeben sind bzw. erfüllt werden können? Zygmunt Bauman sagt: In der modernen Gesellschaft, vor allem in größeren Städten, ist mein Nächster mein Fernster. 3. Behinderte als Kunden? Autonomie, Abhängigkeit und Gefährdung von Integrität Im Kontext dieser Diskussion scheint auch die seit einigen Jahren kursierender Begriff des Kunden in seiner ganzen Zwielichtigkeit. Natürlich ist der Begriff des Kunden für die Adressaten sozialer Dienste verheißungsvoll, taucht er doch immer mit den Formeln von Selbstbestimmung, Empowerment, neuen Wahlmöglichkeiten und Einfluss nach der Nachfrage auf. Vor dem Hintergrund dieser Formeln erscheint das Unternehmertum in eigener Sache tatsächlich als große Verlockung, allerdings verdeckt diese einseitige Sicht der Dinge, dass Menschen Krankheiten, Behinderungen und psychosoziale Beeinträchtigungen nicht frei gewählt haben, so wie man sich im Supermarkt für ein bestimmtes Produkt entscheidet. Krankheiten und Behinderungen sind Widerfahrnisse und nicht Optionen, für die wir uns frei entscheiden. Der kranke Mensch ist „kein Konsument, Nutzer, Verbraucher, Kunde oder Klient, er ist vielmehr ein Not befindlicher Mensch, eben Patient in der Regel voller Angst in einer Ausnahmesituation, also vertragsfähig als vertrauens- und verantwortungsbedürftig“ (Dörner 2003, 50). Hier wird das Thema Abhängigkeit, Verletzbarkeit, Angewiesenheit usw. wichtig. Um es noch einmal zu betonen, Integration, Selbstbestimmung und der möglichst weitgehende Abbau von Angewiesenheit auf fremde Hilfe sind als hohe Güter anzusehen. Jedoch darf nicht verleugnet werden, dass die menschliche Situation durch ein gewisses Maß an Abhängigkeit und Angewiesenheit gekennzeichnet ist. Diese Abhängigkeit ist anthropologischer Art, das heißt kein Mensch kann sich ganz von ihr frei machen. Noch mehr aber gilt, gerade für Menschen mit schweren Behinderungen, dass ihre Situation durch ein mehr an sozialer Abhängigkeit charakterisiert ist. Ein Mehr an Abhängigkeit impliziert einen höheren Bedarf an Unterstützung und Ressourcen, aber auch eine höhere Gefährdetheit durch fehlende unzureichende oder unangemessene Unterstützung. Ein erhöhtes Maß an Abhängigkeit erhöht für Menschen die Gefahr in ihrer Integrität auf körperliche und psychischer oder sozialer Ebene verletzt zu werden. Gerade hierdurch besteht aber auch ein erhöhtes Maß an Verantwortung. Die Asymmetrie von helfenden Beziehungen ist von je her ein großes Problem. Zugleich aber lässt sich aber die Asymmetrie von Beziehungen bei einem erhöhten Maß an Abhängigkeit kaum in einer totalen Symmetrie auflösen. 6 Asymmetrie, Abhängigkeit, das Angewiesensein auf Hilfe, auf Solidarität, auf materielle und nicht materielle Unterstützung kennzeichnen die existenzielle Situation insbesondere von Menschen mit schweren Behinderungen. 4. Schlussüberlegungen Damit wir uns nicht missverstehen: Wir brauchen Ideen und Ziele, um Veränderungen anzustoßen. Verbesserung der Lebensbedingungen behinderter Menschen setzt neben klaren Zielen auch Veränderungsbereitschaft voraus. Veränderungen anzustoßen heißt auch, vertrautes Denken aufzugeben und neue Wege zu gehen, als vertrautes Gelände zu verlassen, sich dem Unbekannten zu öffnen und damit auch ein gewisses Wagnis einzugehen. Jeder Veränderungsprozess ist mit einer Entsicherung, mit Schritten ins Offene verbunden. Jedoch müssen Veränderungen trotz ihres prinzipiell nicht sicher bestimmbaren Ausgangs kalkuliert und verantwortet werden. Zugleich muss die Kritik an neuen Konzepten sich davor hüten, nicht konservative Reflexe zu bedienen und Beharrungs-, vielleicht sogar Erstarrungstendenzen in der Behindertenhilfe zu unterstützen. Die vorgebrachten Aspekte der Kritik sind ideologiekritisch, wo es etwa um die Ökonomisierung, den Neoliberalismus und die Individualisierung geht. Jedoch muss sich die Ideologiekritik hüten, selbst zu einer Instanz zu werden, die sinnvolle und ethisch gebotene Veränderungen verhindert. Die gegenwärtige ökonomische Entwicklung, die Zunahme an Fremdenfeindlichkeit (Heterophobie), die Prozesse der Entsolidarisierung in unserer Gesellschaft lassen insbesondere dort, wo sich mit dem Prinzip der Individualisierung und mit der Zurückgabe der Verantwortung für das eigene Leben an die Individuen verbindet, nicht erwarten, dass das Community-Care-Konzept erfolgreich sein kann. Ohne ein offenes heterogenitätsfreundliches Umfeld, ohne soziales Engagement und ohne die Sicherstellung von sozialen, materiellen und personellen Ressourcen besteht die Gefahr, dass Prozesse der Deinstitutionalisierung tatsächlich in Isolierung, Vereinsamung, neue Formen der Vernachlässigung und Atomisierung in unserer Gesellschaft führen. Literatur Klaus Dörner: Gegen die Schutzhaft der Nächstenliebe - Umgang mit Kranken und Behinderten. In: Publik-Forum; Zeitung kritischer Christen, Nr. 15/1999 Klaus Dörner: Die Gesundheitsfalle. Dörner, Klaus: Die Gesundheitsfalle. Woran unsere Medizin krankt. Zwölf Thesen zu ihrer Heilung. München 2003 Bauman, Z.: Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne, Hamburg 2005. Beck, U. / Beck-Gernsheim, E.: Individualisierung in modernen Gesellschaften, Perspektiven und Kontroversen einer subjekt-orientierten Soziologie, in: Dies. (Hg.): Riskante Freiheiten. Frankfurt 1994. 7 Fuchs, P.: Behinderung und soziale Systeme, Anmerkungen zu einem schier unlösbaren Problem, in: Das gepfefferte Ferkel 2002. http://www.ibsnetworld.de/altesferkel/fuchs-behinderungen.shtml (10.8.2005). Heitmeyer, W.: Die verstörte Gesellschaft, in: Die Zeit Nr. 51, 15. Dezember 2005. Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. Markus Dederich Universität Dortmund Theorie der Rehabilitation und Pädagogik bei Behinderung Emil-Figge-Str. 50 44221 Dortmund 8