Wissenschaft MEDIZIN „Aus vielen Richtungen angreifen“ Strahlentherapeut Michael Molls über die Angst der Patienten vor der Bestrahlung, die Überschätzung der Chemotherapie und neue Strategien gegen den Krebs WOLFGANG M. WEBER Michael Molls Wochen der Bau einer „Schwerionen-Therapieanlage“, Baukosten rund 75 Millionen Euro. Was versprechen sich Deutschlands Strahlentherapeuten von so einer Riesenmaschine? Molls: Eine ganz neuartige Bestrahlung, die vielen Krebskranken neue Chancen eröffnen wird. Wir können damit präziser und effizienter auf die bösartigen Zellen zielen; das gesunde Gewebe der Umgebung – zum Beispiel im Gehirn – wird geschont. SPIEGEL: Das würde dem Ruf Ihres Fachs sicher gut tun. Viele Krebskranke empfinden die Strahlentherapie als besonders furchterregend. Molls: Ja, das stimmt. In der öffentlichen Wahrnehmung kommt die Chirurgie deutlich besser weg, Strahlen- und Chemotherapie hingegen nicht so gut. Ich glaube, dass ein Grund für das korrekturbedürftige Image der Strahlentherapie darin liegt, dass es immer noch Leute gibt, die Atomkraft, Tschernobyl und Strahlentherapie in einem Atemzug nennen. Das ist völliger Unsinn, bleibt aber nicht ohne Wirkung. SPIEGEL: Nun stehen Krebstherapeuten auch aus anderen Gründen in der Kritik. Der berühmte Biochemiker Erwin Chargaff, ein großer alter Mann der Wissenschaft, hat eine deprimierende Bilanz gezogen. Er sagt: „Bei der Krebsbekämpfung ist viel herausgekommen, dicke Arbeiten, schöne Preise und Medaillen. Nur, wo die Kranken sterben, ist fast nichts herausgekommen.“ Kann es sein, dass die ganze 174 Richtung der Krebstherapie und der Krebsforschung nicht stimmt? Molls: So weit würde ich nicht gehen. Mir gefiele es besser, wenn Sie sagten: Wir setzen die falschen Akzente. Ich denke, wir sollten uns von der falschen Hoffnung verabschieden, irgendwann werde es das eine Medikament geben, welches das Krebsproblem löst. Der Fortschritt findet nur in kleinen Schritten statt. Es wird leider keinen Einstein der Medizin geben, dem – wie RONALD FROMMANN / LAIF SPIEGEL: In Heidelberg beginnt in diesen ist Direktor der Klinik für Strahlentherapie der Technischen Universität München und leitet das Tumorzentrum München. Diese „interdisziplinäre Poliklinik“ gilt deutschlandweit als Vorbild einer fachübergreifenden Krebsbehandlung. Gemeinsam entscheiden Chirurgen, Strahlentherapeuten und internistische Krebsexperten (Onkologen) in jedem Einzelfall darüber, welches Vorgehen den größten Erfolg verspricht. Chemotherapie-Patienten bei der Infusion „Wir setzen die falschen Akzente“ seinerzeit bei den keimtötenden Antibiotika – auf einmal der große Wurf gelingt. SPIEGEL: Die kleinen Schritte, mit denen es vorangehen soll, können Sie die benennen? Molls: Wir müssen aus vielen Richtungen angreifen. Zuerst kommt die Früherkennung: Je früher wir einen Tumor erkennen, desto bessere Chancen haben wir, ihn auch wirklich dauerhaft zu heilen. d e r s p i e g e l 2 6 / 2 0 0 2 SPIEGEL: Der Früherkennung, so hoffnungsfroh sich das Wort auch anhört, sind im wirklichen Leben ziemlich enge Grenzen gezogen … Molls: … das ist leider wahr. Um wirklich heilen zu können, müssen wir den Tumor möglichst erkennen, ehe sich Metastasen bilden. Aber wir können leider diese Tochtergeschwülste nicht diagnostizieren, solange sie noch mikroskopisch klein sind. Wir brauchten ein Mikroskop, das uns den Einblick in das Körperinnere gewährt und selbst winzige Tumor-Absiedelungen sichtbar macht. Ein solches Instrument steht jedoch auf absehbare Zeit nicht zur Verfügung. SPIEGEL: Wie groß muss eine Metastase denn sein, damit sie sich auf herkömmliche Weise diagnostizieren lässt? Molls: Ungefähr wie eine kleine Erbse. Sie besteht zu diesem Zeitpunkt schon aus rund zehn Millionen Zellen … SPIEGEL: … und jede einzelne kann die bösartige Krankheit weitertragen. Molls: Ja, das ist die Crux. Ich habe hier eine Grafik (siehe Seite 176), da ist die Grenze zwischen mikroskopischen, also unsichtbaren, und makroskopischen, mit bloßem Auge erkennbaren, Metastasen eingezeichnet. SPIEGEL: Man sieht, dass jede Anti-KrebsStrategie den Krebs erst mal unter die Sichtbarkeitsschwelle zu drücken vermag. Trotzdem erliegen aber am Ende zwei von drei Patienten ihrer Krebskrankheit. Molls: Die drei Anti-Krebs-Strategien sind nicht gleichermaßen wirksam. Man muss sie intelligent miteinander kombinieren. Der Chirurg entfernt den primären Tumor an seinem Ursprungsort, gegebenenfalls auch benachbarte, befallene Lymphknoten. Auch die Strahlentherapie ist eine lokale Behandlungsmaßnahme – bei einer Reihe von Tumoren, vor allem in früheren Stadien, kann auch sie allein heilen. SPIEGEL: Bei welchen denn? Molls: Zum Beispiel bei Haut-, Gebärmutterhals- oder Prostatakrebs. Außerdem vernichtet die Strahlentherapie Tumorzellen, die trotz Operation im Gewebe verblieben sind. Somit verbessert sich die Chance einer lokalen Heilung deutlich, etwa bei Brustkrebs. Es ist wahr: Unsere Patienten haben oft zu Beginn der Behandlung Angst vor den Strahlen. Ist aber die Therapie beendet, meist nach sechs Wochen, fällt das Urteil deutlich positiver aus. Viele Patien- Wissenschaft ten sagen, die Chemotherapie sei viel schwerer zu ertragen. SPIEGEL: Wenn man noch einen Blick auf Ihre Grafik wirft, so kommt die Chemotherapie offenbar nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv schlecht weg. Gibt es dabei keine Heilung, keine Verminderung der Tumorzellen auf null? Molls: Die Chemotherapie setzt anders an als Chirurgie und Strahlentherapie. Denn die Medikamente werden ja in der Regel in den Kreislauf injiziert und erreichen auf dem Blutweg sämtliche Körperregionen, ausgenommen das Gehirn. SPIEGEL: Theoretisch wäre sie also als einzige Therapieform geeignet, sowohl mikroskopische als auch makroskopische Metastasen erfolgreich zu beseitigen. Molls: Theoretisch schon. Bei „flüssigen Tumoren“ – damit meine ich bösartige Wucherungen im Blut bildenden und lymphatischen System, also Leukämien und Lymphome – hat die Chemotherapie große Erfolge. Aber bei den soliden Tumoren – dazu zählen vor allem die weit verbreiteten Killer-Krebse der Brust, der Prostata, der Lunge und des Verdauungstraktes – ist die Effizienz der Chemotherapie nicht gut. SPIEGEL: Woran liegt das? Molls: Vor allem in biologisch „kritischen“ Arealen des Tumors lässt sich in den kranken Zellen keine ausreichend hohe Konzentration und Effizienz des Wirkstoffs er- reichen. Dies ist unter anderem die Folge einer nicht ausreichenden Durchblutung sowie übergroßer Transportstrecken. SPIEGEL: Und wenn die Chemotherapie nicht alle krebskranken Zellen erreicht ... Molls: ...wenn sie nur in einer einzigen kleinen Ecke ein paar Tumorzellen am Leben lässt, dann ist das Rezidiv fast unausweichlich. Viele Patientinnen mit Brustkrebs, die im Rahmen der Erstbehandlung eine Chemotherapie, zum Teil sogar eine sehr aggressive Hochdosis-Chemotherapie zur Vernichtung mikroskopischer Metastasen erhalten, entwickeln einen Rückfall. SPIEGEL: Wie viele Patientinnen profitieren denn von dieser Behandlung? Molls: Man geht davon aus, dass allenfalls zehn Prozent der Brustkrebs-Patientinnen mit Mikrometastasen von der Chemotherapie profitieren und geheilt werden können. Dieser Prozentsatz gilt in etwa auch für die anderen soliden Tumoren. SPIEGEL: Deprimierende Zahlen. Molls: Ja. Wir Ärzte, die Krebskranke behandeln, müssen grundsätzlich akzeptieren, dass wir einen Teil unserer Patienten nicht heilen können, nämlich die Patienten, die Metastasen entwickeln. Dann geht es nur darum, das Leben zu verlängern, bei möglichst guter Lebensqualität. SPIEGEL: Wenn die Chemotherapie von den drei Behandlungsarten bei Krebs letztlich die enttäuschendsten Ergebnisse bringt, Drei Waffen gegen den Krebs he bösartig wuchernde Krebszellen die ersten Krankheitszeichen auslösen und als Tumor sichtbar werden, haben sie sich, meist über mehrere Jahre unerkannt, bereits in Millionen von Zellen geteilt. Das Ziel jeder Behandlung ist die restlose Beseitigung aller Krebszellen, doch sind die herkömmlich angewendeten Standardmethoden – Operation, Strahlentherapie, Chemotherapie – unterschiedlich Erfolg versprechend. Unterzieht sich ein Krebspatient der Chemotherapie, so sind nach mehreren Behandlungen oft keine Tumoren mehr erkennbar, doch der Erfolg ist nur vorübergehend, denn eine Vielzahl mikroskopisch kleiner Metastasen überlebt die Wirkstoff-Attacke. Quelle: Tannock/Molls wie erklären Sie sich dann den unverdrossenen Optimismus, mit dem diese Therapierichtung weiterverfolgt wird? Molls: Das ist auch für mich nicht in allen Details nachvollziehbar. Das eigentliche Ziel der Tumortherapie besteht ja in der Vernichtung aller Tumorzellen. Beachtet man diesen Maßstab, so muss man sagen, dass die Effizienz der zytostatischen Medikamente wenig erfolgreich ist. SPIEGEL: Trotzdem konzentriert sich die Krebsforschung vor allem auf die molekularen Strukturen der Zelle. Molls: Alle neuen Verfahren, inklusive der gentherapeutischen, der immunologischen Abnahme der vorhandenen Tumorzellen bei ... ... Chemotherapie 1. 2. 3. 4. 5. 6. Behandlung 100 Millionen SPIEGEL: Aber dieser weit verbreitete Glaube, wie Sie es nennen, setzt in der Wissenschaft gegenwärtig die Akzente. 10 Millionen Sichtbarkeitsgrenze Molls: Leider. Es muss die Frage erlaubt sein, ob eine For1 Million schungsförderung, die den Tu100 000 mor so gut wie ausschließlich mikroals molekulare, medikamentös 10 000 skopisch ... Strahlentherapie zu beeinflussende Struktur bekleine 1000 greift, überhaupt eine Chance Tumoren hat, in den kommenden Jah100 ... Operation ren auf breiterer Front Erfolge 10 zu erreichen. 0 SPIEGEL: Was schlagen Sie statt0 1 2 3 4 5 6 7 Monate der dessen vor? Behandlung Molls: Jeder dritte Krebspatient stirbt nicht an Metastasen, sonund der gegen die Neubildung von Blut- dern daran, dass der Tumor örtlich umgefäßen im Tumor gerichteten, halten einer grenzt weiterwächst, zerstörend und das kritischen Betrachtung nicht Stand. Die ge- gesunde Gewebe verdrängend. Wenn wir weckten Erwartungen waren groß, die Er- diesen Kranken in Zukunft besser helfen gebnisse eher klein. Es gab und gibt da könnten ... eine Menge wissenschaftlicher Träume … SPIEGEL: Durch Stahl und Strahl? SPIEGEL: … die sich von den Fakten in den Molls: … ja, dann wäre schon viel erreicht. Krankenstationen und der Realität der Dazu bedarf es aber weiterer Forschung. Therapie weit entfernt haben? Wir Strahlentherapeuten haben in den letzMolls: Leider ist selbst unter Experten der ten Jahren durch die Anwendung genauer naive Glaube verbreitet, das alleinige Ver- Diagnoseverfahren, durch Informatik und ständnis bestimmter molekularer Schlüs- Physik die Zielgenauigkeit der Behandlung selfunktionen, beispielsweise der Gene, lie- erhöht und die Nebenwirkungen deutlich fere den direkten Zugang zur Lösung des vermindert. Aber wir sind nicht am Ende unseres Weges. Krebsproblems. So ist es nicht. größere Tumoren SPIEGEL: In welche Richtung würden Sie denn gern gehen? Molls: Wir wollen Strahlen- und Gentherapie kombinieren, um über Modulierung an den Genen die kranken Zellen gegenüber Strahlen empfindlicher zu machen. Und wir wollen mit den Strahlen millimetergenau zielen können, um das gesunde Gewebe der Umgebung zu schonen. Gute Ansätze sind da: die hochpräzise geführte Strahlenbehandlung am Linearbeschleuniger, etwa für kleinere Tumoren im Bereich des Gehirns, der Leber und der Lunge. Diese Ansätze müssen gefördert werden. SPIEGEL: Dazu bedarf es spezialisierter Tumor-Zentren wie hier in München. Aber manch einer Ihrer Kollegen wird nicht mitziehen, weil er die Fahne „Therapiefreiheit“ hochhält. Kaum ein Klinikchef will seine Patienten an ein Therapiezentrum weiterreichen, schon der eigenen Betten wegen, die dann vielleicht leer ständen. Könnten die Ergebnisse der Anti-Krebsbehandlung besser sein, wenn die Ärzte sich auf verbindliche Therapierichtlinien einigen würden? Molls: Ganz ohne Zweifel. Wir dürfen nicht nur von der Interdisziplinarität, der Zusammenarbeit der verschiedenen Fachgebiete, reden, wir müssen sie tagtäglich praktizieren. Und das bedeutet, wir müssen in Deutschland entsprechende Strukturen schaffen. Interview: Johann Grolle, Hans Halter