2.10 Transgender: Transsexualität, Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie ▶ Sexuelle Funktionsstörungen. Ferner zeigt sich das Anderssein nicht-heterosexueller Paare in der Tatsache, dass es für diese Gruppe kaum spezifische Behandlungsansätze gibt, wenn sie sich wegen einer sexuellen Funktionsstörung vorstellen. Zwar haben Masters und Johnson bereits früh Erfahrungen mit nicht-heterosexuellen Männerpaaren mit einer sexuellen Funktionsstörung gesammelt [534], doch wurden sie durch ihre (biologistische) Fokussierung auf die „identische Funktionsweise des Körpers“ zwischen heterosexuellen und nicht-heterosexuellen Menschen zum Schluss verleitet, dass die Behandlung beider Gruppen sich nicht voneinander zu unterscheiden hätte. In Anbetracht der in diesem Text geschilderten Problemfelder muss diese Folgerung als Skotomisierung essenzieller psychosozialer Aspekte der Sexualität bezeichnet werden, welche im Verlauf der Zeit von anderen Autoren leider auch nicht gänzlich überwunden worden ist. Dieses Wissensdefizit setzt sich in der wissenschaftlichen Literatur fort, in der Untersuchungen zur Häufigkeit von sexuellen Funktionsstörungen bei nicht-heterosexuellen Personen spärlich sind. Erwähnenswert erscheint aber die Tatsache, dass sowohl nicht-heterosexuelle Frauen [141], nicht-heterosexuelle Männer [727] sowie solche, die unter einer HIV-Infektion leiden [490], häufig über funktionelle Schwierigkeiten berichten. Unter den nicht-heterosexuellen Gruppen scheinen jene Menschen, welche sich als bisexuell bezeichnen, signifikant häufiger von solchen Störungsbildern betroffen zu sein [486]. Diese Befunde relativieren aber auf jeden Fall das Bild der sexuell unbelasteten, nicht-heterosexuellen, geouteten Klientinnen und Klienten, weshalb es sich durchaus lohnen könnte, auch mit ihnen über diese Themen zu sprechen. M ● Zusammenfassung Spezifische Behandlungsaspekte bei nicht-heterosexuellen Menschen 2 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass von den vielen spezifischen Aspekten in der Therapie nicht-heterosexueller Menschen zwei besonders stark hervorstechen: Einerseits hat die Behandlung dieser Personen auf einer therapeutisch affirmativen Grundhaltung zu beruhen. Diese Voraussetzung ist sowohl aus wissenschaftlichen wie auch medizinethischen Gründen weder verhandel- noch relativierbar. Andererseits bedarf es bei der Behandlung nicht-heterosexueller Menschen stets der Mitberücksichtigung deren so genannten Minderheitsstatus. Das Leiden und die Fragen, welche diese Klientel in die psychotherapeutische Praxis bringen, können nicht unabhängig vom gesellschaftlich geltenden heteronormativen Druck beurteilt werden. Schließlich ergibt sich durch die Erfragung des Coming-out-Prozesses die Möglichkeit, verschiedene therapeutische Themenkreise aufzugreifen und einer therapeutischen Arbeit zugänglich zu machen. Einschränkend wirkt sich die Tatsache aus, dass das bisher akkumulierte Wissen auf manchen dieser Felder spärlich ist, sodass zurzeit kaum spezifisch theoriegeleitete klinische Interventionen empfohlen werden können. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. spielsweise scheinen innerhalb nicht-heterosexueller Partnerschaften egalitäre Prinzipien, was die Verteilung von Aufgaben (inner- und außerhalb des Hauses) angeht, einen größeren Stellenwert zu haben [483]. Unterschiede gibt es auch in der Gestaltung der Sexualität. In nicht-heterosexuellen Partnerschaften wird z. B. mehr nichtkoitale Sexualität gelebt und es werden mehr sexuelle Außenkontakte toleriert. 2.10 Transgender: Transsexualität, Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie T. O. Nieder, H. Richter-Appelt 2.10.1 Einleitung Dieses Kapitel führt in die Phänomene der Transsexualität, der Geschlechtsinkongruenz und der Geschlechtsdysphorie ein. Es werden die Diagnostik und differenzialdiagnostische Überlegungen beschrieben sowie Befunde zur Komorbidität zusammengefasst. Neben Angaben zur Epidemiologie wird ein kurzer Einblick in bisherige Erklärungsversuche gegeben. Vorschläge für die Erhebung der spezifischen Anamnese werden ebenso vorgestellt wie spezifische Aspekte der Behand- 203 Klinik und Therapie sexueller Störungen 2 2.10.2 Definitionen Transsexualität und Transidentität Mit dem Begriff Transsexualität werden häufig Personen beschrieben, die sich „im falschen Körper“ erleben. Gemeint sind die eindeutigen geschlechtsspezifischen Merkmale des Körpers, die nicht mit dem Erleben der eigenen Geschlechtszugehörigkeit in Einklang zu bringen sind (v. a. im Brust- und Genitalbereich, Körper- und Gesichtsbehaarung, Stimmhöhe). Der inhaltliche Bezug dieses Erlebens zur Sexualität, der im deutschen Sprach- und Kulturraum durch den Begriff der Transsexualität nahe gelegt wird, lehnen beteiligte Personen häufig ab und bevorzugen den Begriff der Transidentität. Mit diesem Begriff wird der Zusammenhang mit dem Identitätserleben verdeutlicht. Andere wiederum kritisieren auch diesen Begriff mit dem Argument, nicht das Identitätserleben weiche vom Körper ab, sondern der Körper vom Identitätserleben. Dieser Perspektive folgend präferieren sie den Begriff der Transgeschlechtlichkeit. Ein weiterer, nicht klinischer Terminus ist der Begriff Transgender, den ursprünglich jene Personen nutzten, die zwar in der Rolle des anderen Geschlechts (vorübergehend, phasenweise oder dauerhaft) leben wollten, auf eine dauerhafte Veränderung des Körpers jedoch verzichteten. Heutzutage wird der Begriff Transgender häufig als Überbegriff verwendet, der sämtliche „Abweichungen“ von der Norm eindeutiger Geschlechtlichkeit berücksichtigen kann. 204 Geschlechtsinkongruenz Stimmen die geschlechtsbezogenen Ausprägungen des Köpers nicht mit dem Erleben und/oder Verhalten überein, spricht man von Geschlechtsinkongruenz. In der Regel wird der Begriff im Zusammenhang mit Personen genutzt, bei denen die körperlichen Geschlechtsmerkmale eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen sind. I ● Fallbeispiel Geschlechtsinkongruenz und geschlechtsuntypisches Verhalten in der Kindheit Andy wird in den Kindergarten aufgenommen. Bis zu diesem Zeitpunkt hat die Frage des Geschlechts keine bedeutsame Rolle gespielt. Andy wurde als Mädchen geboren, hatte aber immer mit dem älteren Bruder und dessen Freunden Jungenspiele gespielt. Die Kindergärtnerin spricht die Mutter an, da das Kind sich weigere, mit anderen Mädchen zu spielen, v. a. wenn die Kinder aufgefordert werden, sich nach dem Geschlecht aufzuteilen. Auch gebe es Mädchen in der Gruppe, die nicht mit Andy spielen wollten, mit den Jungen hingegen gebe es keine Probleme. Bisher war auch nicht weiter aufgefallen, dass sie lieber die alten Kleider des Bruders auftrug als neue Mädchenkleidung. Röcke lehnte sie grundsätzlich ab. Erst die Forderung an das Kind, sich anders zu verhalten, führt dazu, dass das Kind zunächst versucht sich zu wehren. Schließlich passt Andy sich an, wird aber immer ruhiger und passiver. Die Inkongruenz zwischen Körper und Identitätserleben wird dem Kind in zunehmendem Maße bewusst, ohne dass es selbst oder die Erziehungspersonen erahnen, dass es sich hier um die Entwicklung einer Geschlechtsdysphorie handeln könnte. Geschlechtsdysphorie Der Leidensdruck, der aus der Geschlechtsinkongruenz resultieren kann, wird als Geschlechtsdysphorie (engl.: gender dysphoria) bezeichnet. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. lung. Hier wird auf psychotherapeutische und auf somatomedizinische Maßnahmen Bezug genommen. Die Rahmenbedingungen juristischer Möglichkeiten im Zusammenhang mit dem Wechsel des Vornamens und des Personenstands sowie die Praxis der hierfür (noch) notwendigen Begutachtung werden ergänzt. Der Beitrag schließt mit einer Darstellung der den veränderten Sichtweisen zugrunde liegenden Positionen: von der Transsexualität zur Geschlechtsdysphorie. 2.10 Transgender: Transsexualität, Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie Seit Beginn ihrer körperlichen Pubertätsentwicklung hat die 14-jährige Chris eine große Abneigung gegen ihre sekundären Geschlechtsmerkmale. Das Brustwachstum kann sie nicht verhindern. Sie besorgt sich in der Apotheke Bandagen, um die Brust abzubinden. Sie geht mit der Mutter zum Gynäkologen und klagt über Menstruationsbeschwerden und bittet um Hormone, die die Menstruation verhindern sollen. Noch weiß Chris nicht, was mit ihr los ist, sie weiß nur, dass sie keine Frau werden möchte, und schneidet sich ihre Haare kurz. Sie kleidet sich wie ein Junge und wird in der Öffentlichkeit wiederholt als Mann angesprochen, was sie freut. Sie sucht im Netz nach anderen Personen, die etwas Ähnliches erleben, und erhält sehr unterschiedliche Informationen. I ● Fallbeispiel Geschlechtsdysphorie im Verlauf der männlichen Pubertätsentwicklung Seit längerer Zeit erlebt sich der 12-jährige Michael, der sich lieber Micha nennen lässt, anders als die anderen Jungen. Er hasst Sport, v. a. Fußballspielen. Er hat sich vom Sportunterricht befreien lassen, da er nicht mit den anderen Jungen in die Dusche gehen möchte. Die Freizeit verbringt er in einer Clique von Freundinnen, die sein Geschlecht nicht hinterfragen. Nun tauchen in der Mädchengruppe jedoch Themen auf, bei denen er nicht mitreden kann. Es geht um das Brustwachstum und die erste Menstruation. Micha weiß, dass er diese körperlichen Veränderungen nicht erleben wird. Er bemerkt erste Veränderungen an seinem Genitale, erlebt die erste nächtliche Ejakulation, vor der er sich ekelt. Die Angst vor weiteren körperlichen Veränderungen wie dem Stimmbruch, dem Bartwuchs und v. a. dem Längenwachstum nimmt drastisch zu. Er zieht sich sozial zurück, kann weder mit den Eltern noch mit Freundinnen über seine Ängste sprechen. Erst über einen Bericht in einer Fernsehsendung meint er zu verstehen, was mit ihm los sein könnte. Transsexuelle Entwicklungen Individuelle Entwicklungen im Kontext der Transsexualität können sehr unterschiedlich verlaufen. Ausschlaggebend ist einerseits der Zeitpunkt, zu dem die Diskrepanz zwischen dem Identitätserleben und den Körpermerkmalen und/oder das Unbehagen mit dem Körper bewusst und zum Ausdruck gebracht werden. Andererseits tritt das Bedürfnis nach körperverändernden Maßnahmen in unterschiedlichen Altersklassen und zu unterschiedlichen Schlüsselphasen im Verlauf einer transsexuellen Entwicklung auf (z. B. nachdem sich die ersten körperlichen Veränderungen im Zuge der gegengeschlechtlichen Hormonbehandlung ergeben haben). Das Erleben von Geschlechtsdysphorie stellt dabei die jeweils notwendige Bedingung für die Indikation somatomedizinischer Maßnahmen dar, wobei nicht jede transsexuelle Person zu jeder Phase im Verlauf einer transsexuellen Entwicklung geschlechtsdysphorisch sein muss. Als transsexuelle Frau wird eine Frau beschrieben, deren körperlichen Geschlechtsmerkmale zunächst maskuline Ausprägungen aufweisen, als transsexueller Mann gilt ein Mann mit zunächst femininen körperlichen Geschlechtsmerkmalen. Fallbeispiel Transsexuelle Entwicklung 2 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. I ● Fallbeispiel Geschlechtsdysphorie im Verlauf der weiblichen Pubertätsentwicklung I ● Daniela ist eine 49-jährige transsexuelle Frau, die als Diplom-Ingenieurin bei einem internationalen Elektronikkonzern in der Entwicklung tätig ist. Sie ist seit über 25 Jahren verheiratet, lebt nun aber seit 3 Jahren alleine in einer Wohnung. Mit ihrer Frau ist sie freundschaftlich verbunden und pflegt einen regelmäßigen Kontakt zu ihren zwei erwachsenen Kindern. Die Anfänge der transsexuellen Entwicklung lassen sich bei Daniela (damals noch Daniel) bis in die Phase der Pubertät zurückverfolgen. Damals hat er u. a. wiederholt Wäsche seiner Mutter getragen und etwa im Alter von 13 Jahren in der Kleidung seiner Mutter den ersten Orgasmus erlebt. Mit Mitte zwanzig hat Daniel seine spätere Ehefrau kennengelernt. Während der gesamten Dauer der Ehe hat er mehrmals die Woche heimlich weibliche Kleidung getragen, jedoch mit der Ehefrau darüber nie gesprochen. Insbesondere in der 2. und 3. Lebensdekade war das Tragen weiblicher Kleidung von sexueller Erregung und Masturbation begleitet. 205 Klinik und Therapie sexueller Störungen 2 2.10.3 Sex und Gender In der deutschen Sprache wird von biologischen, psychologischen und sozialen Aspekten von Geschlecht gesprochen. Im Gegensatz dazu wird in der englischen Sprache zwischen den Begriffen Sex und Gender unterschieden. Der Begriff Sex soll dabei sämtliche geschlechtsbezogenen Merkmale des Körpers (Kap. 1.2, Kap. 1.8) berücksichtigen, während der Begriff Gender psychische und soziale Aspekte von Geschlecht umfasst. Körperliche Merkmale von Geschlecht Bezogen auf körperliche Geschlechtsmerkmale werden verschiedene Bereiche unterschieden: ● die genetische Veranlagung (Chromosomensatz), ● die Gonaden (Keimdrüsen), 206 ● ● ● ● das endokrine System (v. a. Sexualhormone), die innere Genitalstruktur (gonoduktale Organe), die äußere Genitalstruktur, die sekundären Geschlechtsmerkmale (Stimme, Behaarung, etc.), die Gehirnstrukturen und -funktionen sowie der Körperbau. Nach aktuellem Wissensstand und den gegenwärtig vorhandenen Messmethoden sind in der Regel diese Bereiche bei transsexuellen Menschen im Unterschied zu intersexuellen Menschen (Kap. 2.11) eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen. Geschlechtsrollenverhalten Im Gegensatz zu geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen, die sich auf Verhaltensweisen beziehen, die einer der beiden Geschlechtsformen vorbehalten sind (z. B. das Stillen eines Kindes), bezeichnet der Begriff der Geschlechtsrolle die Gesamtheit der kulturell typischerweise erwarteten, als angemessen betrachteten und zugeschriebenen Fähigkeiten, Interessen, Einstellungen und Verhaltensweisen des jeweiligen Geschlechts [591]. Sie unterliegen einem Wandel innerhalb der sowie zwischen den Kulturen. Definition Geschlechtsrollenverhalten L ● Unter Geschlechtsrollenverhalten versteht man die öffentliche Manifestation der Geschlechtsidentität einer bestimmten Person in einem bestimmten Rollenverhalten. Sie beinhaltet alles, was eine Person sagt oder tut, um anderen und/ oder sich selbst zu demonstrieren, in welchem Ausmaß sie sich einer Geschlechtsform zugehörig erlebt. Geschlechtsidentität und sexuelle Identität Geschlechtsidentität umfasst jene Aspekte der Identität, die mit dem Geschlecht verknüpft erlebt werden [588]. Geschlechtsidentität wird gemeinhin dann thematisiert, wenn entweder Unsicherheiten hinsichtlich der Geschlechtsidentität auftreten, z. B. bei Vorliegen von Unfruchtbarkeit („Bin Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. ● Wiederholt traten Schuld- und Schamgefühle auf, die dazu beitrugen, die Frauenkleidung zu entsorgen. Spätestens nach 2–3 Wochen kam das Bedürfnis, Frauenkleidung zu tragen, regelmäßig zurück. Insgesamt sind die Versuche, eine stabile Geschlechtsidentität als Mann zu finden, gescheitert. Mehrere depressive Episoden und ein fortgesetzter Alkoholmissbrauch waren die Folge. Erst 22 Jahre nach der Heirat wurde Daniel, der sich als Frau erlebte, beim Tragen von Frauenkleidung von der Ehefrau beobachtet. Nach dem Auszug aus dem gemeinsamen Haus hat Daniela begonnen, sich zunächst privat in ihrer eigenen Wohnung und im Anschluss schrittweise auch öffentlich weiblich zu kleiden und ihre Familie, die Freunde und zuletzt ihren Arbeitgeber über die transsexuelle Entwicklung zu informieren. Ihre sexuelle Orientierung auf Frauen hat sich infolge des Geschlechtsrollenwechsels und der Hormonbehandlung nicht verändert. Den Entschluss für den chirurgischen Aufbau eines weiblichen Genitalbereichs hat sie nach sorgfältiger Abwägung getroffen. Seitdem Daniela als Frau leben kann und sich akzeptiert fühlt, hat sie keine depressive Episode mehr erlebt und kann ihren Alkoholkonsum gut kontrollieren. Sie erlebt ihre Stimmung ausgeglichener als zuvor und kann aktiv am sozialen Leben teilnehmen. 2.10 Transgender: Transsexualität, Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie 2.10.4 Diagnosen in den Klassifikationssystemen Die ICD-10-Diagnose Transsexualismus (F64.0) soll jenen Personen Zugang zu den Versorgungsleistungen im Rahmen des Gesundheitssystems ermöglichen, deren Geschlechtsidentitätserleben nicht mit der körperlichen Geschlechtsentwicklung übereinstimmt. Die Krankenversicherungen achten bei der Kostenübernahme für somatomedizinische Maßnahmen zur Veränderung der geschlechtsspezifischen Erscheinung darauf, dass spezifische Voraussetzungen im Verlauf einer transsexuellen Entwicklung eingehalten werden (s. MDS 2009. Im Internet: http://www.mds-ev. org/media/pdf/RL_Transsex_2009.pdf; Stand: 05/ 2013) und die transsexuelle Entwicklung in einer vermeintlich eindeutigen Geschlechtsrolle (Mann oder Frau) mündet. ICD-10: Transsexualismus Die ICD-10 beschreibt den „Transsexualismus“ (F64.0) als eine von mehreren „Geschlechtsidentitätsstörungen“ (F64) und ordnet diese insgesamt den „Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen“ (F6) zu. Betrachtet man den Wortlaut der ICD-10Diagnose „Transsexualismus“ fällt die 3-Teilung in ein (1) Positivkriterium, ein (2) Negativkriterium und ein (3) Behandlungskriterium auf ([234], S. 241): 1. Wunsch, im anderen Geschlecht zu leben. 2. Gefühl des Unbehagens oder der Nichtzugehörigkeit zum eigenen Geschlecht. 3. Wunsch nach hormoneller und chirurgischer Behandlung. 2 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. ich eine richtige Frau, ein richtiger Mann?“), wenn Körper und Geschlechtserleben nicht übereinstimmen (Geschlechtsinkongruenz) oder wenn das Identitätserleben bei Vorliegen einer uneindeutigen bzw. nicht eindeutig männlichen oder weiblichen körperlichen Geschlechtsentwicklung (Intersexualität) zur Diskussion steht. Sexuelle Identität beschreibt das subjektive Erleben einer Person als hetero-, homo-, bi-, panoder asexuell (als pansexuell definieren sich u. a. Menschen, für die das Geschlecht ihrer Partner kaum eine Rolle spielt. Als asexuell definieren sich u. a. Menschen, die kein Interesse an sexuellen Kontakten verspüren). Die sexuelle Orientierung beschreibt die Präferenz für bzw. die Anziehung durch das Geschlecht des Sexualpartners (Kap. 1.8, 1.9). Da es bei transsexuellen Menschen mit den Begriffen hetero- und homosexuell zu Verwirrungen kommen kann, werden alternativ häufig die Begriffe gynäphil (auf Frauen bezogen) und androphil (auf Männer bezogen). Mithilfe dieser Begriffe haben bei einer Aussage über das begehrte Objekt auf eine Aussage über das begehrende Subjekt verzichtet werden. Meist stimmen die verschiedenen Facetten mit der sexuellen Identität überein. Sie können jedoch auch von der sexuellen Identität abweichen (vgl. Kap. 1.8). L ● Definition ICD-10: F64.0– Diagnostische Kriterien Transsexualismus ICD-10 (modifiziert nach Dilling et al. 2005, S. 241) Transsexualismus Wunsch, als Angehöriger des anderen Geschlechts zu leben und anerkannt zu werden, meist einhergehend mit Unbehagen oder dem Gefühl der Nichtzugehörigkeit zum eigenen anatomischen Geschlecht. Zusätzlich besteht der Wunsch nach chirurgischer und hormoneller Behandlung, um den eigenen Körper dem bevorzugten Geschlecht so weit wie möglich anzugleichen. Diagnostische Leitlinien Die transsexuelle Identität besteht durchgehend seit mindestens 2 Jahren. Die transsexuelle Identität darf nicht Symptom einer anderen psychischen Störung sein und darf ebensowenig mit intersexuellen, genetischen oder geschlechtschromosomalen Anomalien einhergehen Kritisch zu werten ist die Verschränkung von Diagnose, Behandlungswunsch und Behandlung. Der Wunsch nach somatomedizinischer Veränderung der geschlechtsspezifischen Erscheinung des Körpers wird im Rahmen der diagnostischen Kriterien des ICD-10 als obligat für die Diagnosestellung formuliert. Keine andere Diagnose im Bereich F (Psychische und Verhaltensstörungen) der ICD-10 impliziert in der Formulierung der diagnostischen Kriterien die Indikation für weiterführende Behandlungsmaßnahmen. Dass nur jene Menschen 207 Klinik und Therapie sexueller Störungen 2 H ● Merke Sonstige Störung der Geschlechtsidentität (ICD-10: F64.8) Um eine Behandlung anbieten zu können, kommt für jene, die klinisch relevant leiden, weil sie sich ● weder eindeutig als Mann noch als Frau bzw. sowohl männlich als auch weiblich erleben, ● außerhalb der etablierten Geschlechtsrollen von Mann und Frau verhalten [620], im Rahmen der ICD-10 am ehesten die Diagnose einer sonstigen Störung der Geschlechtsidentität (F64.8) infrage. Transvestitismus unter Beibehaltung beider Geschlechtsrollen (ICD-10: F64.1) Für Menschen, die klinisch relevant darunter leiden, dass sie nicht dauerhaft bzw. stabil in einer Geschlechtsrolle leben können [163], böte als Diagnose der Transvestitismus unter Beibehaltung beider Geschlechtsrollen (F64.1) die Möglichkeit einer Behandlung. 208 ICD-11 Bis zur 11. Version der ICD, deren Erscheinen gegenwärtig für 2015 geplant ist, wird auf die in Deutschland verbindliche ICD-10 [234] Bezug genommen. Mit den Risiken der Stigmatisierung durch Diagnosen im Zusammenhang mit geschlechtlichem und sexuellem Erleben und Verhalten setzt sich die Arbeitsgruppe zur Neuauflage der entsprechenden Diagnosen für die ICD-11 auseinander. Sie verfolgt das Ziel, die Psychopathologisierung transsexueller Menschen zu überwinden und ein Versorgungsparadigma für geschlechtsinkongruente Menschen zu etablieren, das 1. Best-Practice-Modelle reflektiert und damit bestmöglich evidenzbasiert ist, 2. sich eng an den Bedürfnissen und Erfahrungen dieser vulnerablen Gruppe orientiert und sich insgesamt der Einhaltung der Menschenrechte verpflichtet sowie 3. die Bereitstellung und den Zugang zu qualitativ hochwertiger Gesundheitsfürsorge gewährleistet [240]. Die bestehenden Kontroversen zur Notwendigkeit solcher Diagnosen können jedoch aus kapazitären Gründen hier nicht reflektiert werden (vertiefend z. B. [251]). DSM-5: Geschlechtsdysphorie Nach den diagnostischen Kriterien der neuen DSM-5-Diagnose Gender Dysphoria erfolgt die diagnostische Erfassung ausschließlich über das Vorhandensein einer Geschlechtsdysphorie für einen Mindestzeitraum von 6 Monaten. Im Gegensatz zu den Begriffen „Störung“ (Gender Identity Disorder; DSM-IV 302.85) und „Inkongruenz“ (Gender Incongruence, ursprünglicher Vorschlag zur DSM-5Revision; [572]) impliziert der Begriff Dysphorie nicht, was normativ ungestört bzw. kongruent sein soll. Somit wurden erstmals in der Geschichte der Diagnosen aus dem Spektrum Transsexualität geschlechtsinkongruente Erlebens- und Verhaltensweisen bzw. die (Trans-)Identität der Betreffenden nicht per se in einen Zusammenhang mit (psycho-) pathologischen Entwicklungen gestellt. Darüber hinaus wird im Zusammenhang mit den diagnostischen Kriterien erstmals explizit benannt, dass sich die Geschlechtsrolle außerhalb bzw. unabhängig von der Norm der Zweigeschlechtlichkeit verorten kann. Indem Geschlechtsdysphorie als krankheitswertiges Stö- Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. transsexuell seien, die „anhaltend und überzeugend „geschlechtsumwandelnde“ Operationen“ anstrebten, wurde wiederholt als tautologisch kritisiert [62]. Eine Person, die einerseits seit mindestens 2 Jahren durchgehend den Wunsch empfindet, in der Geschlechtsrolle des anderen Geschlechts zu leben und anerkannt zu werden, das Gefühl des Unbehagens oder der Nichtzugehörigkeit zum eigenen Geschlecht nachvollziehbar beschreibt, anderseits aber aufgrund einer integrativen Identitätsentwicklung und vor dem Hintergrund möglicher Risiken chirurgischer Maßnahmen den Wunsch nach chirurgischer Behandlung nicht verfolgt, kann mittels der ICD-10 nicht dem „Transsexualismus“ (F64.0) zugeordnet werden. Hier müsste entweder der „Transvestitismus unter Beibehaltung beider Geschlechtsrollen“ (F64.1) oder eine der beiden Restkategorien „sonstige…“ (F64.8) bzw. „nicht näher bezeichnete Störungen der Geschlechtsidentität“ (F64.9) verwendet werden. Die Wahrscheinlichkeit für die Kostenübernahme nichtchirurgischer Behandlungsmaßnahmen (z. B. Behandlung mit Sexualhormonen) durch die Krankenkassen wäre reduziert. 2.10 Transgender: Transsexualität, Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie Definition DSM-5 302.85: Gender Dysphoria (Jugendliche und Erwachsene; APA 2013, eigene Übersetzung) L ● Kriterium A Deutliche Inkongruenz zwischen dem Geschlechtsidentitätserleben/Geschlechtsrollenverhalten und dem zugewiesenen Geschlecht von mindestens 6 Monaten Dauer, manifestiert durch mindestens 2 der folgenden Kriterien: ● Deutliche Inkongruenz zwischen dem Geschlechtsidentitätserleben/Geschlechtsrollenverhalten und den primären und/oder sekundären Geschlechtscharakteristika (oder, bei Jungadoleszenten, die antizipierte Entwicklung der sekundären Geschlechtscharakteristika). ● Starker Wunsch, aufgrund der deutlichen Inkongruenz zu dem Geschlechtsidentitätserleben/ Geschlechtsrollenverhalten von den primären und/oder sekundären Geschlechtscharakteristika befreit zu sein (oder bei Jungadoleszenten der Wunsch, die antizipierte Entwicklung der sekundären Geschlechtscharakteristika zu verhindern). ● Starker Wunsch nach den primären und/oder sekundären Geschlechtscharakteristika des anderen Geschlechts. ● Starker Wunsch, das andere Geschlecht zu sein (oder eine alternative Geschlechtsform, die sich von dem zugewiesenen Geschlecht unterscheidet). ● Starker Wunsch, als das andere Geschlecht behandelt zu werden (oder als eine alternative Geschlechtsform, die sich von dem zugewiesenen Geschlecht unterscheidet). ● Starke Überzeugung, über die typischen Gefühle und Reaktionsweisen des anderen Geschlechts zu verfügen (oder einer alternativen Geschlechtsform, die sich von dem zugewiesenen Geschlecht unterscheidet). Kriterium B Der Zustand ist assoziiert mit klinisch relevantem Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen. ● Subtyp I: In Verbindung mit einer Störung der Geschlechtsentwicklung (z. B. eine adrenogenitale Störung wie die komplette Androgenresistenz). Die hier zutreffende Störung soll zusätzlich kodiert werden. ● Subtyp II: Post-Transition: Die betreffende Person lebt vollständig in der gewünschten Geschlechtsrolle (unabhängig davon, ob eine formale Personenstandsänderung stattgefunden hat). Mindestens 1 Maßnahme zur Veränderung der geschlechtsspezifischen Erscheinung des Körpers fand oder findet statt (z. B. Behandlung mit Sexualhormonen und deren Suppression, brust- und genitalchirurgische Maßnahmen). 2 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. rungsbild gefasst wird, sollen Versorgungsleistungen weiterhin durch das Gesundheitssystem gedeckt bleiben. 2.10.5 Komorbidität Bei Störungen, die im DSM-IV-TR der Achse 1 zugeordnet werden, stehen insgesamt affektive Störungen, Substanzmissbrauch und Angststörungen im Vordergrund. Hepp et al. [378] fanden in einer Stichprobe von N = 31 transsexuellen Patienten und Patientinnen (sowohl unbehandelt als auch mit Hormonen und/oder chirurgischen Eingriffen) insgesamt eine Lebenszeitprävalenz von 71 % bei Achse-1-Störungen (u. a. 45 % unipolare affektive Störungen, 23 % Angststörungen; 45 % Substanzmissbrauch; 7 % Psychosen). Zudem wurde bei 42 % der Teilnehmenden eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Einer Europäischen Multicenter-Studie zufolge haben bei einer Stichprobe von N = 305 mit einer Störung der Geschlechtsidentität nach DSM-IV-TR (302.85) diagnostizierte Personen vor der möglichen Indikationsstellung somatomedizinischer Maßnahmen eine Lebenszeitprävalenz von 57 % bei Störungen aus der Gruppe unipolarer affektiver Erkrankungen. Zudem erfüllen 28 % im Hinblick auf die Lebenszeitprävalenz die Kriterien einer Störung aus dem Angst-Spektrum. Teilnehmende mit einer psychotischen Störungen wurden von der Auswertung ausgeschlossen [381]. 209 Betrachtet man Untersuchungen zur Komorbidität in der Gesamtschau, lässt sich insgesamt bei etwa 60 % der Teilnehmenden von affektiven Störungen und Angststörungen, in etwa 30 % von Substanzmissbrauch und ebenfalls in etwa 30 % von einer parallelen Persönlichkeitsstörung ausgehen (u. a. [103], [186], [210]). 2 2.10.6 Epidemiologie Die Angaben zur Prävalenz zeichnen insgesamt ein unsicheres und in der Tendenz uneindeutiges Bild. In Deutschland liegt die Anzahl transsexueller Frauen bei 5,5 von 100 000 (erfasst über die Entscheidungen zur Vornamens- und Personenstandsänderung nach dem so genannten Transsexuellengesetz; [574]). In Belgien und den Niederlanden liegt die Prävalenz transsexueller Frauen bei 7,8 bzw. 8,4 von 100 000 (erfasst über genitalangleichende Operationen; [41], [211]). Bei transsexuellen Männern liegen die Zahlen zwischen 3 bzw. 3,3 von 100 000 in Belgien und den Niederlanden. Wilson et al. haben Hausärzte in Schottland nach der Häufigkeit der Geschlechtsdysphorie unter ihren Patientinnen und Patienten befragt [927]. Geschlechtsdysphorie haben sie dabei definiert als subjektive Erfahrung der Inkongruenz zwischen der Anatomie des Genitalbereichs und der Geschlechtsidentität. Nutzt man diese Zahlen als Grundlage der Schätzung, steigen die Angaben zur Prävalenz auf bis zu 13,5 von 100 000 bei Personen mit einer männlichen körperlichen Geschlechtsentwicklung. Während in einer Stichprobe aus der Allgemeinbevölkerung der Niederlande (N = 8 064; 4 052 Männer, 4 012 Frauen) 4,6 % der Männer und 3,2 % der Frauen angaben, sich in unterschiedlichem Ausmaß ambivalent gegenüber dem eigenen Geschlecht zu erleben, beschreiben 1,1 % der Männer und 0,8 % der Frauen ihr Geschlechtserleben inkongruent zur körperlichen Geschlechtsentwicklung [487]. 2.10.7 Erklärungsversuche Auf der Suche nach den Ursachen wurden wiederholt sowohl naturwissenschaftliche als auch psychodynamische und lerntheoretische Ursachenmodelle formuliert: von Variationen der chromosomalen Konstitution (vgl. die Hypothesen von Harry Benjamin (1885–1986, [69]) bis hin zu neuromorphologischen Strukturen des Identitäts- 210 geschlechts (u. a. [954]), um nur 2 biologische Ansätze exemplarisch zu nennen. Explizit abgegrenzt haben sich die naturwissenschaftlichen Annahmen von den psychodynamischen Theorien. Einflussreich war hier u. a. das Konzept zur Kerngeschlechtsidentität nach Robert Stoller ([861], Kap. 1.9, Kap. 2.11) und lerntheoretische Überlegungen zum Modelllernen und zur positiven Verstärkung geschlechtstypischer Verhaltensweisen nach Zucker (u. a. [957]). Die lerntheoretischen Annahmen beeinflussten insbesondere die Behandlung der Geschlechtsidentitätsstörung im Kindesalter, da in diesen Entwicklungsphasen eine höhere Veränderbarkeit der Geschlechtsidentität angenommen wird als im frühen Erwachsenenalter (vgl. [733]). Bis heute ist es keiner der Theorien gelungen, die komplexen Verschränkungen bio-psycho-sozialer Einflüsse auf die Entwicklung von Geschlecht, Identität und Sexualität annähernd erschöpfend zu integrieren. Vielmehr pendelte die Debatte zur Entstehung transsexueller Entwicklungen zwischen vorwiegend biologisch und vorwiegend psychologisch orientierten Theorien [625]. Die Suche nach einer monokausalen Grundlage unter Nichtbeachtung der Heterogenität transsexueller Menschen führte somit aus heutiger Sicht in eine Sackgasse: Sie konstituierte die Illusion einer die Gesamtheit umfassenden nosologischen Entität [838]. Allerdings liegen Hinweise darauf vor, dass die verschiedenen Aspekte des Körpers, des Erlebens und Verhaltens in einer fortlaufenden Wechselwirkung die Entwicklung der Geschlechts(in)kongruenz konstituieren. Merke H ● Angenommen wird, dass genetische, neuroendokrinologische sowie neurostrukturelle und neurofunktionelle Bedingungen (zur Übersicht [624]) ebenso in einem Zusammenhang mit den jeweiligen Körper- und Beziehungserfahrungen (exemplarisch [703]) stehen können wie umgekehrt die jeweiligen Umweltbedingungen (zum Einstieg [232]) wiederum als relevante Einflussfaktoren auf die erstgenannten Bereiche wirken. Des Weiteren ist die Ausprägung der Geschlechtsdysphorie, die sich infolge der Geschlechtsinkongruenz ergeben kann, von individuellen Faktoren Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Klinik und Therapie sexueller Störungen 2.10 Transgender: Transsexualität, Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie genetische, endokrinologische, neurostrukturelle und -funktionelle Bedingungen Körperund Beziehungserfahrungen Umweltbedingungen Abb. 2.11 Konzept transsexueller Entwicklungen. 2 Geschlechtskörper – Geschlechtsrolle – Geschlechtserleben Geschlechtsinkongruenz Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Geschlechtsdysphorie kulturelles und psychosoziales Bedingungsgefüge mögliche transsexuelle Entwicklung abhängig (z. B. familiäre, personenspezifische, etc.). Von Bedeutung scheint im Zusammenhang mit bisherigen Erklärungsversuchen, dass die Entscheidung für oder gegen somatomedizinische Behandlungsmaßnahmen im Verlauf einer transsexuellen Entwicklung dem soziokulturellen und psychosozialen Bedingungsgefüge der beteiligten Person zugeschrieben wird. ▶ Abb. 2.11 skizziert den möglichen Verlauf. ● 2.10.8 Therapie der Geschlechtsdysphorie Indikationen Personen, die sich geschlechtsinkongruent erleben und darunter leiden, können zu unterschiedlichen Zeitpunkten eine Therapie in Anspruch nehmen. Hier einige Beispiele: ● Eine Person lebt durchgehend in der nach der Geburt zugewiesenen Geschlechtsrolle, erlebt sich jedoch eher dem anderen Geschlecht als zugehörig. Das Umfeld ist bislang nicht über die Situation informiert, das Tragen gegengeschlechtlicher Kleidung findet ausschließlich privat und alleine statt, versteckt vor Familie, Angehörigen und Freunden. ● Eine Person lebt in der Öffentlichkeit v. a. im beruflichen Alltag in der zugewiesenen Geschlechtsrolle, erlebt sich aber dem anderen Geschlecht als zugehörig. Im privaten Umfeld lebt und kleidet sich die Person jener Geschlechtsrol- ● ● ● le entsprechend, die mit ihrem Geschlechtserleben übereinstimmt. Zuweilen verlässt sie abends oder in der Nacht ihre häusliche Umgebung. Die Person lebt öffentlich und privat in einer androgynen Rolle, ohne bisher über die Probleme auf Basis der Geschlechtsinkongruenz gesprochen zu haben. Innerhalb ihres Umfeldes wird von einigen vermutet, dass die Personen sich in ihrer Geschlechtsrolle bzw. mit ihrem Körper nicht bzw. nicht vollständig wohl fühlen. Manche Personen haben bereits einen geschlechtsneutralen Vornamen angenommen, ohne das juristische Verfahren nach dem so genannten Transsexuellengesetz (TSG) durchlaufen zu haben. Eine Person lebt in sämtlichen Bereichen in einer Geschlechtsrolle, die von der ursprünglich zugewiesenen abweicht. Sie hat sich ihrer Umgebung gegenüber offenbart und lässt sich mit einem Namen ansprechen, der mit ihrem Geschlechtserleben übereinstimmt. Eine Person hat begonnen, privat und ohne entsprechende Indikationsstellung die gewünschten Sexualhormone zu nehmen und sucht nun nachträglich die Bestätigung der Einnahme. Eine Person hat den Geschlechtswechsel in der Öffentlichkeit vollzogen und die entsprechenden Behandlungsmaßnahmen in Anspruch genommen. Dennoch hat sie weiterhin Probleme mit der Anpassung im Alltag, jedoch ohne den Geschlechtswechsel zu bereuen. 211 Klinik und Therapie sexueller Störungen 2 In äußerst seltenen Fällen sucht eine Person Beratung, die ihren Geschlechtswechsel bereut. Oft haben sie in der Vorgeschichte keine spezialisierte bzw. fachgerechte Betreuung erfahren. Aufgabe von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, von Psychiatern und Psychiaterinnen ist es somit, die Diagnose der Transsexualität bzw. Geschlechtsdysphorie zu stellen, die vorliegenden Probleme im Zusammenhang mit der Geschlechtsinkongruenz zu behandeln und bei Bedarf sowohl die Indikationen für somatomedizinische Maßnahmen zu stellen als auch die betreffende Person über den sozialen Geschlechtswechsel und die körperlichen Veränderungen hinaus zu begleiten. Unabhängig von der Behandlung erstellen psychologische und ärztliche Spezialisten Gutachten für die Auftrag gebenden Amtsgerichte zur Vornamens- und Personenstandsänderung nach dem TSG (Kap. 2.10.9). Diagnostisches Vorgehen und differenzialdiagnostische Überlegungen Zu Beginn und im Verlauf der probatorischen Sitzungen sind die Diagnostizierenden herausgefordert, die eigenen Auffassungen von Männlichkeit und Weiblichkeit kritisch zu reflektieren. ▶ Biografische Anamnese. Bei der Erhebung der biografischen Anamnese (s. u.) sollte die Sexualanamnese besondere Berücksichtigung erfahren. Das heißt die biografische Anamnese wird erhoben mit einer Schwerpunktsetzung auf die psychosexuelle Entwicklung, das Geschlechtsidentitätserleben, das Geschlechtsrollenverhalten und die sexuelle Orientierung sowie das Erleben und Verarbeiten körperlicher Veränderungen im Zuge der Pubertät. Ergänzend sind ggf. schwere kognitive Beeinträchtigungen sowie soziale und kulturelle Hintergründe zu berücksichtigen, die in Einzelfällen in einem relevanten Zusammenhang mit der Symptomatik stehen können. ▶ Psychopathologische Befunderhebung. Als weitere notwendige Grundlage der Diagnosestellung gilt die psychopathologische Befunderhebung. Hierbei müssen insbesondere psychotische und dissoziative Symptome differenziert befundet und differenzialdiagnostisch berücksichtigt werden. Sowohl die Diagnose des Transsexualismus (ICD-10) als auch die Diagnose der Geschlechtsdysphorie (DSM-5) können nicht bei akut psycho- 212 tischer und akut schwerwiegender dissoziativer Symptomatik gestellt werden. Merke H ● Bei Vorliegen einer entsprechenden Symptomatik wird empfohlen, eben jene zunächst einer spezifischen Behandlung zuzuführen, d. h. die psychotischen Symptome im Rahmen einer psychopharmakologischen Behandlung und schwerwiegende dissoziative Symptome im Rahmen einer psychotherapeutischen Behandlung. Wird in der Eingangsdiagnostik ein schwerwiegender Substanzmissbrauch offenbar, sollte zunächst eine spezifische Suchtbehandlung initiiert werden. Für den weiteren Verlauf der explorativen Diagnostik wird empfohlen, die häufig von den hilfesuchenden selbst gestellte Diagnose (ICD-10: Transsexualismus) näher zu betrachten und sich gemeinsam mit den Betreffenden im Rahmen eines psychotherapeutischen Settings der Beantwortung der Frage anzunähern, welche Bereiche des Körpers, des Erlebens und/oder Verhaltens am ehesten Bedingungen des Leidensdrucks darstellen und welche Behandlungsmaßnahmen aus den Bereichen Psychotherapie, Endokrinologie, Chirurgie und Dermatologie geeignet sein können, das individuelle Erleben von Geschlechtsdysphorie signifikant und nachhaltig zu reduzieren. Anamnese Die Anamneseerhebung bei Personen mit Problemen im Zusammenhang mit der Geschlechtsinkongruenz unterscheidet sich zunächst nicht grundsätzlich von derjenigen bei Personen mit anderen vorgebrachten Problemen. Allerdings werden bestimmte Schwerpunkte gesetzt, die sich auf spezifische Identitäts- und Geschlechtsrollenaspekte in der psychosexuellen Entwicklung beziehen. Angaben von Bezugspersonen sind dabei ebenso relevant wie spezifische Erinnerungen des Andersseins in der frühen Kindheit, im Grundschulalter und während der Zeit der Pubertät. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. ● 2.10 Transgender: Transsexualität, Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie Besonders wichtig sind hier: ● Individuelle Körpererfahrungen sowie der Umgang mit dem Körper innerhalb der Herkunftsfamilie, auch der Eltern untereinander ● Verhalten in der Kindheit, im Kindergarten und in der Schule, bevorzugte Spielkameraden und präferierte Rollen in Rollenspielen ● Lieblingsbücher und -filme, Idole, Helden und Schwärmereien ,v. a. stereotype Rollenzuschreibungen der zweigeschlechtlichen Ordnung ● Identifikation mit Personen des eigenen oder des anderen körperlichen Geschlechts ● Umgang mit den primären Geschlechtsmerkmalen, mit dem Urinieren (im Stehen oder im Sitzen?) sowie mit Gefühlen von Ekel und Abscheu gegenüber dem eigenen Genitale ● Vorstellung vom pubertätsbedingten Wachstum sekundärer Geschlechtsmerkmalen ● Belastende Lebensereignisse, die bezüglich der Geschlechtsentwicklung bedeutend sind Die Pubertät In diese Phase können folgende wichtige Punkte fallen: ● Erleben und des Verarbeiten der körperlichen Entwicklung, insbesondere der sekundären Geschlechtsmerkmale ● Wahrnehmung des Brustwachstums, der Menarche respektive der Veränderungen des Genitales, des Stimmbruchs und der Gesichtsbehaarung ● Umgang mit Erektionen und sexueller Erregung ● Erleben der Ejakulation und des Orgasmus ● erste Selbstbefriedigung, Häufigkeit der Selbstbefriedigung ● sexuelle Fantasien allgemein und im Zusammenhang mit sexueller Erfahrungen, auch mit Bezug zum eigenen Körper ● gegebenenfalls sexuelle Erregung bei der Vorstellung als Mann bzw. Frau (nackt/bekleidet) ● Situationen, in denen das Bedürfnis nach dem Tragen der Kleidung des Gegengeschlechts bewusst eingesetzt hat und wann damit begonnen wurde ● Reaktionen im sozialen Umfeld auf das Tragen der für die jeweilige Geschlechtsrolle untypischen Kleidung ● Entwicklung des Bedürfnisses sich gegengeschlechtlich zu kleiden ● ● interaktive romantische und/oder sexuelle Erfahrungen sexuelle Orientierung hinsichtlich Verhalten, Phantasie und Anziehung 2 Die weiteren Lebensdekaden In diesem Zeitraum sind folgende Faktoren/Verhaltensweisen wichtig/möglich: ● Verlauf des bisherigen Geschlechtsinkongruenzerlebens bzw. des Erlebens von Geschlechtsdysphorie ● Auswirkungen der Geschlechtsinkongruenz bzw. der Geschlechtsdysphorie ● Strategien der Unterdrückung bzw. Geheimhaltung der Geschlechtsinkongruenz ● forcierte Anpassungsversuche an das „körperliche Geschlecht“ bzw. „Selbstnormalisierungsversuche“ (z. B. Eheschließung in der zugewiesenen Geschlechtsrolle, Bundeswehrzeit, etc.) ● Umgang mit der Geschlechtsinkongruenz allgemein (z. B. anorektische Phasen, um den Körper möglichst geschlechtsneutral zu halten) ● Gedanken hinsichtlich der Lebbarkeit der gewünschten Geschlechtsrolle und die soziale Akzeptanz des eigenen Lebenskonzepts ● Ängste vor der Offenbarung in der Familie und/ oder im Freundeskreis, ggfs. im Beruf Bekanntgabe der Geschlechtsinkongruenz/-dysphorie ● Sorgen um die Zukunftsperspektive in Partnerschaft und Beruf ● Offenbarung der angestrebten transsexuellen Entwicklung im Familien- und Freundeskreis sowie im Rahmen der Arbeit ● gegebenenfalls öffentlicher Geschlechtsrollenwechsel, durchgängig oder teilweise: privat, öffentlich, am Arbeitsplatz ● Reaktionen auf die Mitteilung der Geschlechtsinkongruenz (Herkunfts- und Kernfamilie bzw. Partnerschaft, Freundeskreis, Arbeitsumfeld) ● Schuldgefühle im Hinblick auf den Familien- und Freundeskreis ● selbstverletzende Verhaltensweisen, evtl. auch bezogen auf die sekundären Geschlechtsmerkmale ● Hormoneinnahme und/oder andere Maßnahmen zur körperlichen Veränderung ohne Indikationsstellung ● formalgedanklichen Einengung auf assoziierte Problematiken ● unbewältigte Entwicklungsaufgaben Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Die 1. Lebensdekade 213 ● ● 2 ● ● ● ● ● Beeinträchtigung der Entwicklung des Selbstwerts Erleben von Scham im Zusammenhang mit der Unterdrückung des Geschlechtszugehörigkeitsempfindens Angst vor Entdeckung, Ausgrenzung und sozialer Ächtung durch Andere Sozialer Rückzug (real, Phantasien, Computer bzw. Internet) und dessen Folgen Selbstabwertungen im Hinblick auf vorhandene Körpermerkmale sexuelles Erleben und Verhalten im Verlauf der transsexuellen Entwicklung Praktiken der Sexualität, unter deren Anwendung der Kontakt zum eigenen Körper vermieden wird Psychotherapie Der psychotherapeutischen Arbeit kann im Verlauf transsexueller Entwicklungen eine wertvolle Rolle zukommen. Hierfür bedarf es jedoch auf Seiten der beteiligten Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten eines Hintergrundwissens über das Spektrum von Geschlechtsirritationen und ihrer psychologischen, soziologischen, historischen und neurobiologischen Aspekte. Im Hinblick auf die Psychotherapie wird gemeinhin unterschieden zwischen: ● Richtlinien- bzw. Antragspsychotherapie im niedergelassenen Bereich, ● Behandlungen im Rahmen psychiatrischer und psychosomatischer Institutsambulanzen, ● spezialisierten sexualtherapeutischen bzw. -medizinischen Angeboten sowie ● der (Notfall-)Versorgung psychiatrischer (Poli-) Kliniken. Die Möglichkeiten einer adäquaten Versorgung von transsexuellen Menschen mit tiefgreifenden strukturellen bzw. Traumafolgestörungen können für niedergelassene Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten begrenzt sein. Hier scheint die Behandlung in spezialisierten Institutsambulanzen zielführender. Verlaufsdiagnostik Die Verlaufsdiagnostik ist Bestandteil der verschiedenen psychotherapeutischen Behandlungsangebote. Häufig verläuft sie über mehrere Jahre und begleitet die verschiedenen Phasen im Verlauf einer transsexuellen Entwicklung. Zusätzlich müs- 214 sen Indikationen für die unterschiedlichen somatomedizinischen Behandlungsmaßnahmen erstellt werden. Im Rahmen der psychotherapeutischen Arbeit werden jene Dynamiken innerhalb der psychosozialen und psychosexuellen Entwicklung berücksichtigt, die spezifisch mit der körperlichen Geschlechtsentwicklung, dem Geschlechtsrollenverhalten, dem Geschlechtsidentitätserleben und der Identitätsentwicklung im Allgemeinen verknüpft sind. Das Leben vor, während und nach dem Rollenwechsel sollte ebenso thematisiert werden wie die einzelnen Bereiche des Körpers, an denen sich der Leidensdruck manifestiert und die damit einhergehenden Vorstellungen über die angestrebten Veränderungen des Körpers. Herausforderungen im Rahmen von Alltagserfahrungen Des Weiteren sind die Herausforderungen im Rahmen der Alltagserfahrungen in der angestrebten Geschlechtsrolle, die Konsequenzen einer Hormonbehandlung, die Vorbereitungen auf chirurgische Maßnahmen, das Leben mit veränderter körperlicher Erscheinung etc. Gegenstand der psychotherapeutischen Arbeit. Ein wiederkehrendes Merkmal der psychotherapeutischen Arbeit kann darin bestehen, die nachträgliche Bewältigung von zuvor infolge des Erlebens von Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie unbewältigten Entwicklungsaufgaben (auch im Bereich der psychosexuellen Entwicklung) zu fördern. Unter Umständen muss der Schwerpunkt auf die Arbeit an den Folgen von Entwicklungsverzögerungen und spezifischen Traumatisierungen gelegt werden, die im Leben vor dem öffentlichen Geschlechtsrollenwechsel bedeutsam waren. Für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten gilt die therapeutische Arbeit nicht zuletzt deshalb als herausfordernd und häufig irritierend, da im Hintergrund die Frage nach dem „eigentlichen Geschlecht“ präsent ist. Während die Klärung als wenig zielführend erachtet wird, scheint hingegen sinnvoll, die Betreffenden sowohl bei einer Entwicklung entlang ihrer eigenen Bedürfnisse als auch bei der Emanzipation von stereotypen Erwartungen an die alte oder neue Geschlechtsrolle zu unterstützen. In diesem Zusammenhang kann es bei Bedarf hilfreich sein, Wege zu ermöglichen, eigene Uneindeutigkeiten im Hinblick auf das Geschlechtszugehörigkeits-, Körper- und Identitäts- Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Klinik und Therapie sexueller Störungen 2.10 Transgender: Transsexualität, Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie Indikation somatomedizinischer Behandlungsmaßnahmen Gestaltung von geschlechtsbezogenen Erlebens- und Verhaltensweisen Zu den Maßnahmen der somatomedizinischen Behandlung gehören die Gabe von Sexualhormonen und deren Suppression sowie chirurgische Eingriffe (d. h. Veränderungen des Genitales und des Brustprofils, Feminisierung des Gesichts, Verkleinerung des Kehlkopfs und in manchen Fällen phonochirurgische Veränderung der Stimmhöhe). Bei transsexuellen Personen, die in der Geschlechtsrolle der Frau leben und als solche wahrgenommen werden möchten, wird im Zuge einer Epilationsbehandlung in der Regel die Gesichts- und Brustbehaarung entfernt. Des Weiteren erleichtern nichtinvasive, das Stimmbild verändernde Verfahren im Rahmen einer logopädischen Behandlung das Leben in der Geschlechtsrolle der Frau (▶ Tab. 2.14). Entscheidend sind die in der Verlaufsdiagnostik erarbeiteten individuellen Faktoren, die zur Entstehung der Geschlechtsdysphorie beitragen und auf deren Grundlage die jeweiligen Behandlungsmaßnahmen differentiell indiziert sind. So leiden manche Personen vorwiegend unter der fehlenden Anerkennung ihrer Identität und den häufig damit verknüpften Diskriminierungen durch die jeweilige Umwelt, während andere am ehesten von dem Ekel bzw. der Abscheu gegenüber den eigenen sekundären Geschlechtsmerkmalen belastet sind. Bei fortschreitender Entwicklung kann es zudem notwendig werden, geschlechtsbezogene Erlebens- und Verhaltensweisen flexibel und, wenn hilfreich, außerhalb der zweigeschlechtlichen Ordnung zu gestalten. Insbesondere vor dem Hintergrund der symptomatisch fundierten Uneindeutigkeit bzw. Fragilität individueller Identitätsbildungen werden in der psychotherapeutischen Arbeit mit Menschen, die sich geschlechtsdysphorisch erleben, kreative und unkonventionelle Entwicklungswege als möglicherweise sinnvoll und zielführend erachtet. Als hilfreich hat sich in diesem Zusammenhang erwiesen, die „selbstverständliche Funktion der Zweigeschlechtlichkeit als Krücke der Identität“ ([340], S. 244) im Rahmen der psychotherapeutischen Beziehung kritisch zu reflektieren. Auch wenn die Sexualität in Folge der Geschlechtsdysphorie zuweilen erheblich eingeschränkt ist, kann die individuelle Auseinandersetzung mit den sexuellen Erlebens- und Verhaltensweisen dazu beitragen, die jeweiligen sexuellen Attraktionen und Fantasien als Ressource zu nutzen [169]. Findet der öffentliche Geschlechtsrollenwechsel im Verlauf der Therapie statt, kann es darauf ankommen, den Betreffenden psychotherapeutische Unterstützung im Umgang mit den mutmaßlich irritierten und irritierenden Reaktionen ihrer Umwelt anzubieten. Dies kann zum einen notwendig werden, wenn Geschlechtsrollenverhaltensweisen non-binär bzw. pluralistisch gestaltet werden (z. B. indem einander uneindeutige Geschlechtsmarkierungen zeitgleich genutzt werden), zum anderen aber auch, wenn Betreffende die Geschlechtsrollenstereotype der zweigeschlechtlichen Ordnung rigide und übermäßig unflexibel interpretieren (z. B. wenn im Rahmen einer bestimmten Situation unverhältnismäßige geschlechtstypische Kleidung getragen wird). Im Sinne einer nachholenden Entwicklung bietet sich für den Verlauf der Psychotherapie an, jene zwischenmenschlichen Probleme, die sich infolge derartiger Verhaltensweisen entwickeln können, zu bearbeiten und zu bewältigen. 2 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. erleben anzunehmen und sie für die individuelle Lebenssituation positiv zu besetzen. Vorbereitung Zur Vorbereitung auf die Indikationsstellung somatomedizinischer Behandlungsmaßnahmen ist es von Bedeutung, Überlegungen anzustellen, welche körpercharakteristischen Veränderungen (z. B. Art der Körper- und Gesichtsbehaarung, Umverteilung von Körperfett und Muskelmasse, Aufbau und Gestaltung des Brustprofils, Ausstattung des Genitalbereichs, Stimmhöhe etc.) mit welcher Behandlungsmaßnahme (Gabe von Sexualhormonen und deren Suppression, Epilation, chirurgische Veränderungen des Brustprofils und des Genitales, chirurgische Verkleinerung des Kehlkopfs und logopädische sowie phonochirurgische Veränderungen von Stimmbild und -höhe) in der Lage sind, zu einer signifikanten und dauerhaften Reduktion der Geschlechtsdysphorie beizutragen. 215 Klinik und Therapie sexueller Störungen Endokrinologie Chirurgie Andere Von Mann zu Frau Androgensuppression (z. B. mit Cyproteronacetat) Östrogensubstitution Brustaufbau Entfernung der Hoden (Testektomie) Neubildung weiblicher Geschlechtsorgane (Penektomie, Scham-, Vulva- und Vaginalplastik) Reduktion des Adamsapfels (Chondrolaryngoplastik) Modifikation der Stimmhöhe (Phonochirurgie) Chirurgische Feminisierung des Gesichts (Modifikation der oberflächenformgebenden und konturgebenden Schädelknochen und -knorpel) Epilation der Gesichts- und Körperbehaarung (Laser-, Nadelepilation) Von Frau zu Mann Testosteronsubstitution Östrogensuppression (z. B. mit Leuprorelinacetat) Entfernung des weiblichen Brustdrüsengewebes (Mastektomie) sowie Aufbau eines männlichen Brustprofils Entfernung der Eileiter (Tuben) und der Eierstöcke (Ovarien; zusammen Adnektomie) und der Gebärmutter (Hysterektomie) Neubildung männlicher Geschlechtsorgane (Harnröhrenplastik, Schwellkörper- und Hodenprothesen, Phallusplastik) Alternative: Klitorispenoid (Metaidoioplastik) 2 Medizinische/therapeutische Stellungnahme und Gutachten Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten werden aufgefordert, Indikationen für somatomedizinische Maßnahmen in Form von Stellungnahmen zu stellen. Sie dienen der Beantwortung medizinischer Fragestellungen und sollten daher nicht mit den Gutachten zur Vornamens- und Personenstandsänderung nach dem TSG (Kap. 2.10.9; Beantwortung einer juristischen Fragestellung) verwechselt werden. Empfohlen wird, die Überschneidung der therapeutischen und gutachterlichen Funktion in Personalunion, d. h. von Indikationsstellungen und Gutachten, zu vermeiden. Die in letzter Zeit zu beobachtende Forderung der Krankenversicherungen, die Gutachten zur Vornamens- und Personenstandsänderung als Voraussetzung für die Übernahme der Kosten für chirurgische Maßnahmen vorzulegen, ist nicht gerechtfertigt. Vielmehr müssen jene, die einen Antrag auf Kostenübernahme bei ihrer Krankenversicherung stellen, auf Folgendes hingewiesen werden: Es kann zur Verletzung der Datenschutzrechte transsexueller Personen kommen, wenn die ausführlichen Berichte zur Indikationsstellung, die u. a. die Lebensgeschichte und die Hintergründe 216 der bisherigen transsexuellen Entwicklung beschreiben, direkt an die Sachbearbeiter bei den Krankenversicherungen geschickt werden und nicht in einem verschlossenen Umschlag an den Medizinischen Dienst der Krankenversicherungen (MDK). Rechtslage Bis zu einem relevanten Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) im Jahr 2011 forderte das TSG einen die „äußeren Geschlechtsmerkmale verändernden operativen Eingriff“ und den Nachweis andauernder Infertilität (Kap. 2.10.9). Infolge dieser Forderungen gerieten früher die Antragstellenden unter Druck, sich genitalchirurgisch behandeln zu lassen, um die Personenstandsänderung zu erreichen. Seit diese Forderung aufgehoben ist, lässt sich sowohl klinisch als auch anhand von Daten des Bundesjustizministeriums eine Verzögerung bzw. ein Rückgang genitalchirurgischer Maßnahmen beobachten. So ist der „Zusammenstellung der Geschäftsübersichten der Amtsgerichte für die Jahre 1995 bis 2011“ (www.bundesjustizamt.de) zu entnehmen, dass sich die Anträge auf Personenstandsänderung zwischen 1995 von deutschlandweit 400 Verfahren zur Personen- Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Tab. 2.14 Somatomedizinische Maßnahmen im Verlauf transsexueller Entwicklungen. 2.10 Transgender: Transsexualität, Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie Evidenzbasierung Die Kombination psychodiagnostisch indizierter, endokrinologischer und chirurgischer Maßnahmen gilt für die Behandlung der Geschlechtsdysphorie mittlerweile als evidenzbasiert [608]. Einschränkend muss jedoch benannt werden, dass die Daten im Zusammenhang mit den diagnostischen Kriterien der Transsexualität (und noch nicht mit der Geschlechtsdysphorie) erhoben wurden und in katamnestischen Untersuchungen der Behandlungserfolg in der Regel über die Zunahme an Lebensqualität operationalisiert wurde. Im Rahmen eines tragfähigen Gesamtbehandlungsplans soll unabhängig von der Richtung der individuellen Entwicklung bzw. der Interpretation der Geschlechtsrollen der Beteiligten, die Geschlechtsdysphorie dauerhaft reduziert und die Stärkung und Weiterentwicklung des individuellen Identitätserlebens ermöglicht werden. Behandlungsstandards und Leitlinien Einleitung International strukturieren seit über 30 Jahren Behandlungsrichtlinien die Diagnostik und die Therapie im Verlauf transsexueller Entwicklungen. Merke H ● Zentral geht es um die Fragen, für wen und zu welchem Zeitpunkt welche Behandlungsmaßnahmen indiziert sind bzw. welche somatomedizinischen Maßnahmen zur Veränderung der geschlechtsspezifischen Erscheinung geeignet sind, um das Leiden unter der mangelnden Übereinstimmung von Körper und Identitätserleben deutlich und nachhaltig zu reduzieren. Zur Anerkennung ihrer Leistungspflicht verlangen die Krankenversicherungen in Deutschland, dass Versicherte im Verlauf einer transsexuellen Entwicklung spezifische Voraussetzungen erfüllen, die sich auf die nationalen Behandlungsstandards [60] beziehen. Einerseits gelten die deutschen Behandlungsstandards mittlerweile als überholt, andererseits wurde die von den Autorinnen und Autoren der Standards empfohlene Flexibilität nicht übernommen. Vielmehr wurde im Rahmen der sozialmedizinischen Begutachtungsanleitung „Geschlechtsangleichende Maßnahmen bei Transsexualität“ des Medizinischen Diensts des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) der ursprünglich vorgesehene Empfehlungscharakter der Behandlungsstandards in eine für die Gutachterinnen und Gutachter der Medizinische Dienste der Krankenversicherungen (MDK) verbindliche sozialmedizinische Richtlinie transformiert (MDS 2009. Im Internet: http://www.mds-ev.org/ media/pdf/RL_Transsex_2009.pdf (Stand: 05/ 2013).) 2 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. standsänderung im Rahmen des TSG und 2011 auf 1657 mehr als vervierfacht haben. Vor dem Hintergrund, dass am 11. Januar 2011 der die „äußeren Geschlechtsmerkmale verändernde operative Eingriff“ und die „dauernde Fortpflanzungsunfähigkeit“ als Voraussetzungen für die Personenstandsänderung durch das BVerfG als verfassungswidrig eingestuft wurden, ist insbesondere die deutschlandweite Zunahme um mehr als 500 TSG-Verfahren zwischen 2010 (1118 Verfahren) und 2011 (1657) erwähnenswert. Internationale Standards of Care Sowohl die Originalversion der internationalen Standards of Care (SoC) aus dem Jahr 1979 als auch deren Folgeversionen (1980, 1981, 1990, 1998 und 2001) haben vorwiegend der Auswahl geeigneter Kandidatinnen und Kandidaten für die entsprechenden somatomedizinischen Maßnahmen und damit der Rückversicherung für die Behandelnden selbst gedient [575]. Die World Professional Association for Transgender Health (WPATH), die international federführende Fachgesellschaft, setzt sich im Anschluss an einen gesellschaftsinternen Konsensusprozess weltweit für die De-Psychopathologisierung geschlechtsinkongruenter Menschen ein [462]. Im Zuge dessen verfolgen auch die SoC in ihrer 2011 herausgegeben 7. Version nunmehr das Ziel, jenen Menschen, die sich persistierend geschlechtsdysphorisch erleben, den Zugang zum Gesundheitssystem zu erleichtern und die Versorgung der assoziierten Gesundheitsbedürfnisse professionell, differenziert und individualisiert zu gestalten: weg von der Systematik von Begutachtung und Auswahl geeigneter transsexueller Patientinnen und Patienten hin zur Etablierung einer Gesundheitsfürsorge für transsexuelle Menschen. Dies geschieht mit dem Anspruch, im Kontext individueller Geschlechtsdysphorie und (Trans)Identität nachhaltiges Wohlbefinden zu er- 217 möglichen. Die Etablierung einer optimalen Versorgung transsexueller Menschenwird als vorrangig aufgefasst, und zwar sowohl im Hinblick auf die einzelnen Maßnahmen zur Veränderung der geschlechtsspezifischen Erscheinung (d. h. Indikationsstellungen) als auch hinsichtlich anderer gesundheitlicher Probleme von transsexuellen Menschen (z. B. Behandlung der Aknebildung infolge der Hormonsubstitution mit Testosteron). Während in der 7. Version der SoC Geschlechtsinkongruenz als natürliche und gesellschaftlich zu akzeptierende Variation im Spektrum geschlechtlicher Erlebens- und Verhaltensweisen von Menschen aufgefasst wird, stehen die mit der Geschlechtsdysphorie assoziierten Forderungen an das Gesundheitssystem im Vordergrund der Ausführungen. Es handelt sich um eine klinische Leitlinie, die über hormonelle und chirurgische Maßnahmen hinausgeht. In den ersten 6 Versionen der SoC war folgender Behandlungsverlauf üblich: Zunächst Diagnostik, Psychotherapie und Alltagserfahrungen, dann die Hormonbehandlung und die Vornamensänderung („kleine Lösung“), erst später chirurgische Eingriffe und die Personenstandsänderung („große Lösung“). Es wird nun empfohlen, diesen eher linearen Behandlungsverlauf individuell entlang der jeweiligen Geschlechtsdysphorie zugrundeliegenden Faktoren zu modifizieren. Daher wird betont, dass Abweichungen von den geforderten Mindestvoraussetzungen für sämtliche Indikationsstellungen möglich sein sollten. Beispielsweise können in Situationen, in denen eine Behandlung mit Sexualhormonen aus endokrinologischer Sicht kontraindiziert ist (u. a. durch das Vorliegen einer hereditären Thrombophilie), nichthormonelle Maßnahmen (z. B. Genitalchirurgie) zur Veränderung der geschlechtsspezifischen Erscheinung unabhängig von der Hormonbehandlung indiziert werden. Zudem wird die Psychotherapie im Rahmen der SoC 7 nicht als absolute Voraussetzung für die Indikation somatomedizinischer Behandlungsmaßnahmen aufgefasst. Liegen im Einzelfall relative Kontraindikationen psychischer Art vor (s. o.), werden für individuelle Entwicklungen individualisierte und flexible Lösungswege gefordert. 2 Leitlinienentwicklung in Deutschland Knapp 20 Jahre, nachdem die Originalversion der SoC der WPATH veröffentlicht wurde, hatte eine von der Deutschen Gesellschaft für Sexualfor- 218 schung (DGfS) einberufene Expertenkommission die bislang einzige Version deutscher „Standards der Behandlung und Begutachtung von Transsexuellen“ erarbeitet [60]. Nach Kockott [464] sei die Anpassung der internationalen SoC an die Gegebenheiten in Deutschland damals notwendig geworden, um die nationalen Rahmenbedingungen angemessen berücksichtigen und den weniger spezialisierten Kolleginnen und Kollegen eine Hilfestellung im therapeutischen Umgang mit Phänomenen der Transsexualität und Indikationsstellungen im Verlauf transsexueller Entwicklungen zu geben. Voreilige und sich möglicherweise zum Nachteil der Betroffenen auswirkende Indikationsstellungen sollten vermieden werden. Formuliert wurden Vorgaben zur Diagnostik und Differenzialdiagnostik, zur Psychotherapie bzw. psychotherapeutischen Begleitung, zur Indikationsstellung für die einzelnen Bereiche im Rahmen der somatomedizinischen Behandlung sowie inhaltliche Aspekte zu den einzelnen Behandlungsbereichen. 16 Jahre später haben sich im Bereich der Diagnostik und Therapie weitreichende Änderungen ergeben (s. o.), denen die deutschen Standards von 1997 nicht mehr gerecht werden. Eine auf Initiative der DGfS einberufene Arbeitsgruppe versucht daher diesen Entwicklungen im Rahmen der Revision der Behandlungsstandards Rechnung zu tragen und eine methodisch hochwertige Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung der Geschlechtsdysphorie nach Kriterien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) zu entwickeln. Die Leitlinie soll zum einen auf den Methoden systematischer Evidenzbasierung beruhen und von den relevanten Fachgesellschaften im Rahmen eines formalen Prozesses konsentiert werden. Zum anderen soll die Leitlinie die Beteiligung weiterer relevanter Interessensgruppen (Selbsthilfegruppen und polit-aktivistische Gruppierungen zum Thema, Sozialwissenschaftler und Sozialwissenschaftlerinnen mit entsprechenden Forschungsbiografien, etc.) an dem Prozess der Leitlinienentwicklung auf unterschiedlichen Wegen und zu wiederkehrenden Zeitpunkten gewährleisten. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Klinik und Therapie sexueller Störungen 2.10 Transgender: Transsexualität, Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie Grundlagen Die deutsche Gesetzgebung hat durch den Erlass des Transsexuellengesetzes (TSG) am 10. September 1980 bestätigt, dass das Phänomen Transsexualität eine eigenständige rechtliche Bewertung rechtfertigt. Das TSG regelt Fragestellungen im Zusammenhang mit der Änderung der Vornamen und der Feststellung der (veränderten) Geschlechtszugehörigkeit. Auf dieser Basis können transsexuelle Menschen unabhängig von der medizinischen Behandlung sowohl ihren Vornamen als auch ihren Personenstand juristisch ändern lassen, wiederum vorausgesetzt sie halten spezifische Vorgaben des TSG ein [651]. Für die Änderung des Vornamens nach § 1 TSG ist erforderlich, dass Sachverständige der Antrag stellenden Person zuschreiben, dass sie sich „auf Grund ihrer transsexuellen Prägung nicht mehr dem in ihrem Geburtseintrag angegebenen, sondern dem anderen Geschlecht als zugehörig empfindet und seit mindestens 3 Jahren unter dem Zwang steht, ihren Vorstellungen entsprechend zu leben“ (§ 1 Abs.1 Nr. 1 TSG). Darüber hinaus muss anhand der individuellen Entwicklung der Antrag stellenden Person dargelegt werden, dass „mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass sich ihr Zugehörigkeitsempfinden zum anderen Geschlecht nicht mehr ändern wird“ (§ 1 Abs.1 Nr. 2 TSG). Der 2. zentrale Bereich, die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit nach § 8 TSG, hat sich infolge relevanter Urteile des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in den letzten 3 Jahren erheblich verändert. In Bezug auf den § 8 Abs.1 Nr.2 TSG (Voraussetzung zur Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit ist, dass die zu begutachtende Person nicht verheiratet ist) hat das BVerfG 2008 entschieden, dass die geforderte Ehelosigkeit als Voraussetzung für die rechtliche Anerkennung des durch eine chirurgische Maßnahme geänderten Geschlechts (§ 8 Abs.1 Nr.2 TSG) einer verheirateten transsexuellen Person verfassungswidrig und damit nicht mehr anwendbar ist. In der Konsequenz eines weiteren Urteils des BVerfG (1 BvR 3 295/07) sind die Nummern 3 und 4 des § 8 Abs.1 TSG, im Einzelnen sowohl die dauerhafte Fortpflanzungsunfähigkeit (Nr. 3) als auch die genital- und ggf. brustchirurgische Angleichung an das Identitätsgeschlecht (Nr. 4), nicht mehr anwendbar. Daher reduziert sich der § 8 Abs.1 TSG auf die Nummer 1, die die Voraussetzungen für die Vornamensänderung regelt (s. o.). Merke Änderung des Personenstands 2 H ● Der Personenstand kann daher mittlerweile unabhängig vom Nachweis der Infertilität oder genitalchirurgischer Maßnahmen geändert werden. Der geschlechtsspezifische Status des Personenstands wurde von dem geschlechtsspezifischen Status des Genitalbereichs entkoppelt. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 2.10.9 Transsexuellengesetz: Änderung des Vornamens und der Geschlechtszugehörigkeit Aus der Sicht verschiedener Disziplinen wurde das TSG und dessen Auswirkungen wiederholt kritisiert: Aus juristischer Perspektive in nationalen [4] und Europäischen Zusammenhängen ([923], [924]), aus psychotherapeutischer (u. a. [654]) und sozialwissenschaftlicher Perspektive (u. a. [212]). 2011 fand sich ein bundesweiter Arbeitskreis zusammen, an dem sich über 30 Gruppen und Einzelpersonen beteiligten, die sich im Kontext der Transsexualität engagieren (Selbsthilfe, politischer Aktivismus, etc.). Der Reformvorschlag ist nachzulesen unter www.tsgreform.de (Stand: 05/ 2013). Die Sinnhaftigkeit und der Nutzen des Begutachtungsprozesses im Zusammenhang mit der Vornamens- und Personenstandsänderung können natürlich kritisch hinterfragt werden und es sollte erwogen werden, das Verfahren in den Verantwortungsbereich der Standesämter und in die Hände der Antragstellenden zu legen. Dennoch wird vor dem Hintergrund der (noch) bestehenden Praxis im Folgenden eine mögliche Herangehensweise bei der Erstellung von Gutachten im Rahmen des TSG beschrieben. Gutachten Mögliche praktische Herangehensweisen An deutschen Amtsgerichten beschließen Richterinnen und Richter die Anträge zur Änderung des Vornamens und/oder Personenstandes auf Basis zweier Gutachten, die von 2 Sachverständigen voneinander unabhängig erstellt werden. Als Vo- 219 Klinik und Therapie sexueller Störungen 2 Im Gegensatz zu Begutachtungen im strafrechtlichen Kontext (Kap. 3) handelt es sich bei den Fragestellungen im Rahmen des TSG um Aufgaben der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Da die Gutachten von den Antragstellenden eigenständig finanziert werden (so sie keine Prozesskostenhilfe bekommen), sind die Sachverständigen angehalten, die Gutachten verhältnismäßig zur Fragestellung kurz und damit möglichst kostengünstig zu halten. Wenngleich die Beantwortung der Fragestellungen des TSG deutlich weniger Aufwand bedürfen als die Beantwortung von Fragestellungen aus dem strafrechtlichen Kontext, lassen sich ungeachtet dessen die Mindeststandards zur Erstellung von Gutachten zum Teil auch auf TSG-Gutachten übertragen [651]. Letztlich geht es darum, die Ernsthaftigkeit und Nachhaltigkeit der von den Antragstellen gewünschten Änderung des Vornamens und des Personenstands zu erfassen und diese anhand des bisherigen Lebensverlaufs nachzuzeichnen. Als notwendig wird daher aufgefasst, im Verlauf der Exploration sowie mithilfe einer 220 psychopathologischen Befunderhebung die informierte Zustimmung im Sinne einer Geschäftsfähigkeit zu erfassen bzw. zu prüfen. Für die Exploration lassen sich größtenteils Fragen aus der spezifischen Anamnese zur Geschlechtsdysphorie übernehmen (s. o. Anamnese). Sowohl die Fragen der Sachverständigen als auch die Antworten der Probandinnen und Probanden sollten sich direkt an der jeweiligen Fragestellung aus dem Beschluss des Auftrag gebenden Amtsgerichts orientieren. Merke H ● Wenn Probanden das Bedürfnis äußern, über ein bestimmtes Thema (z. B. Sexualität) im Rahmen der Begutachtungssituation nicht sprechen zu wollen, sollte dem entsprochen werden. Schriftliches Gutachten Für die Erstellung des schriftlichen Gutachtens sollten Information aus den Vorbefunden sowie Angaben der Probandinnen und Probanden als solche gekennzeichnet und von dem Befund und der Beurteilung des oder der Sachverständigen getrennt ausgeführt werden. Vor dem Hintergrund der Gesamtschau werden die Fragestellungen abschließend beantwortet. Als eine mögliche Gliederung lässt sich daher vorschlagen, nach dem einleitenden Text und der Wahl der Pronomina (z. B. „In Anlehnung an das Selbsterleben der Probandin werden im vorliegenden Text weibliche Pronomina verwendet, ohne der Entscheidung des Gerichts damit vorgreifen zu wollen“) zu Beginn den familiären Hintergrund zu skizzieren. Im Anschluss kann entweder die Entwicklung der allgemeinen Lebensgeschichte, der Partnerschaften und der Geschlechtsdysphorie zusammenfassend dargestellt oder die 3 Bereiche eigenständig skizziert werden. Des Weiteren kann das schriftliche Gutachten eine Sexualanamnese beinhalten, die erfahrungsgemäß neben der Sexualität Aspekte des Erlebens von Geschlechtsinkongruenz bzw. Geschlechtsdysphorie wieder aufgreift. Die spezifische Anamnese sollte bei Vorliegen entsprechender Hinweise auch differenzialdiagnostische Erwägungen prüfen (s. o. Anamnese). Zuletzt erfasst die Anamnese die aktuelle Situation und Zukunftsperspektive. Hier sollte die Ver- Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. raussetzung für die Qualifikation der Sachverständigen formuliert das TSG, dass sie „auf Grund ihrer Ausbildung und ihrer beruflichen Erfahrung mit den besonderen Problemen des Transsexualismus ausreichend vertraut sein“ sollen (§ 4 Abs. 3 TSG). Infolge der o. g. Grundsatzentscheide hat sich bei der Mehrheit der deutschen Amtsgerichte eine Praxis etabliert, nach der die Voraussetzungen für die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit gem. § 8 Abs. 1 TSG mit dem Vorliegen der Voraussetzungen für eine Vornamensänderung gem. § 1 Abs. 1 Nr. 1–2 TSG erfüllt sind (das TSG kann in seiner geltenden Fassung unter www.gesetze-iminternet.de/tsg/index.html abgerufen werden). Die Grundsatzentscheide haben unmittelbare Auswirkungen auf die Praxis der Begutachtung. Folgende Fragen sollen in der Regel in Anlehnung an den Wortlaut des TSG beantwortet werden: ● Besteht bei dem oder der Antragstellenden Transsexualität von Frau zu Mann bzw. von Mann zu Frau? ● Steht der oder die Antragstellende unter dem Zwang, die männliche bzw. weibliche Rolle entsprechend zu leben, ggf. seit wann? ● Ist mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass sich das Zugehörigkeitsempfinden der oder des Antragstellenden zum weiblichen bzw. männlichen Geschlecht nicht mehr ändern wird? 2.10 Transgender: Transsexualität, Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie 2.10.10 Veränderungen der medizinischen und juristischen Betrachtung der Transsexualität: Ein Paradigmenwechsel Wie in den bisherigen Abschnitten bereits angedeutet, hat im Zusammenhang mit der medizinischen und juristischen Betrachtung der Transsexualität eine Entwicklung stattgefunden, die den klinischen Umgang mit transsexuellen Menschen entscheidend verändert. Beispielsweise haben die Behandlungsstandards und das TSG gleichermaßen gefordert, dass ein früher so genannter „Alltagstest“stattgefunden haben muss. Damit war gefordert, dass jene Personen, die entweder somatomedizinische Behandlungsmaßnahmen in Anspruch nehmen oder den Vornamen bzw. den Personenstand ändern möchten, nachweisen mussten, sowohl beruflich als auch privat bereits in der angestrebten Geschlechtsrolle gelebt zu haben. ▶ Alltagstest. Dieser Begriff ist allerdings missverständlich, da es sich bei einem Alltagstest nicht um einen Test im eigentlichen Sinne gehandelt hat. Vielmehr war mit der Forderung nach einem Alltagstest die Idee verknüpft, dass die Person in der gewünschten Geschlechtsrolle Erfahrungen sammelt, bevor somatomedizinische und juristische Maßnahmen zur Anwendung kommen. Diese Voraussetzung wird heute von Personen, die eine Spezialsprechstunde im Zusammenhang mit Geschlechtsdysphorie aufsuchen, bereits häufig er- füllt, da viele bereits seit dem Kindergartenalter (early onset) oder seit der Pubertät (late onset; vgl. [623]) in der gewünschten Rolle leben. Dennoch wirken einer Expertise im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zufolge weiterhin (un)mittelbare Diskriminierungen, insbesondere in den Institutionen des Arbeitsmarkts, zum systematischen Nachteil transsexueller Menschen [276]. Abschließend soll die folgende Tabelle einen Überblick über den sich unserer Einschätzung nach im Prozess befindlichen Paradigmenwechsel bieten (▶ Tab. 2.15). Auf der linken Seite befinden sich Positionen, die bis (mindestens) zum Ende des 20. Jahrhundert die Perspektive auf das Phänomen Transsexualität maßgeblich geprägt haben und denen eine binär-kategoriale Vorstellung von Geschlecht zugrunde liegt. Im Zusammenhang mit dem Phänomen Transsexualität galt es daher herauszufinden, welchem der beiden Geschlechterformen eine Person „wirklich“ angehört. Auf der rechten Seite werden Positionen denen auf der linken Seite gegenübergestellt, die aus unserer Sicht heutzutage eine sinnvolle Perspektive auf die Phänomene Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und transsexuelle Entwicklungen bieten und damit insgesamt den Paradigmenwechsel reflektieren (▶ Tab. 2.15). Zusammenfassung 2 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. sorgungssituation des Probanden oder der Probandin im Zusammenhang mit der jeweiligen transsexuellen Entwicklung berücksichtigt werden. Im Anschluss beginnt die Befundung, die sowohl einen psychischen Befunds als auch eine deskriptive Verhaltensbeobachtung beinhalten sollte. Am Ende des Abschnitts wird in Beantwortung der entsprechenden Fragestellung eine Diagnose gestellt, so eine vorliegt. Im Rahmen der Beurteilung kann versucht werden, ein Bild zu entwerfen, welches die erfasste Situation bzw. die transsexuelle Entwicklung lebensgeschichtlich verstehbar werden lässt. Dies ist jedoch nicht für alle Entwicklungen sowie vor dem Hintergrund der begrenzten Zeit einer Begutachtung nicht immer möglich und letzten Endes auch nicht zwangsläufig notwendig. Das Gutachten schließt in der Regel mit der Beantwortung der durch das Gericht gestellten Fragen. M ● Personen, deren Geschlechtserleben nicht mit den geschlechtsbezogenen Merkmalen ihrer Körper übereinstimmen, benötigen auf dem Weg des Geschlechtswechsels die Unterstützung durch psychotherapeutische und medizinische Expertise. Unabhängig von möglichen psychopathologischen Symptombereichen scheint eine psychotherapeutische Begleitung im Zusammenhang mit dem Geschlechtswechsel sinnvoll. Zudem sind spezialisierte psychologische und ärztliche Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, klinische Psychologen und Psychologinnen oder Psychiaterinnen und Psychiater im Rahmen der Versorgungen aufgefordert, Indikationsstellungen für somatomedizinische Maßnahmen zu verfassen sowie Gutachten für die Vornamensund Personenstandsänderung zu erstellen. Es erscheint daher wichtig, dass das Wissen über die spezifischen Versorgungsbedürfnisse dieser Personengruppe zunimmt. 221 Klinik und Therapie sexueller Störungen 2 222 Positionen zur Transsexualität im 20. Jahrhundert Positionen zur Transsexualität zu Beginn des 21. Jahrhundert Transsexualität ist eine psychiatrische Erkrankung. Transsexuelle Erlebens- und Verhaltensweisen werden im DSM-5 nicht mehr als psychische Erkrankung angesehen. Gemäß DSM-5 gilt die Transidentität selbst damit weder als krankheitswertig noch als behandlungsbedürftig. Hingegen wird das Leiden unter der mangelnden bzw. fehlenden Übereinstimmung zwischen Körper und Psyche als krankheitswertige Störung im Sinne der Geschlechtsdysphorie aufgefasst. Ein Mensch ist entweder transsexuell oder nicht. Transsexualität ist ebenso wenig ein distinktes Merkmal wie Geschlechtlichkeit. Es wird die Existenz von mehr als 2 eindeutigen männlichen oder weiblichen körperlichen Erscheinungsformen akzeptiert. Es werden mehr als 2 Geschlechtserleben angenommen. Nicht alle Menschen erleben sich entweder als Mann oder Frau. Eine Person mit der körperlichen Geschlechtsentwicklung eines Mannes ist ein Mann mit einer Geschlechtsidentitätsstörung bzw. ein transsexueller Mann. Eine Person mit der körperlichen Geschlechtsentwicklung einer Frau ist eine Frau mit Geschlechtsidentitätsstörung bzw. eine transsexuelle Frau. Eine Person mit einer weiblichen Geschlechtsidentität und der körperlichen Geschlechtsentwicklung eines Mannes ist eine (transsexuelle) Frau. Eine Person mit einer männlichen Geschlechtsidentität und der körperlichen Geschlechtsentwicklung einer Frau ist ein (transsexueller) Mann. „Echte Transsexuelle“ sind homosexuell orientiert (in Bezug auf ihr so genanntes körperliches Geschlecht). Die sexuelle Orientierung stellt kein differenzialdiagnostisches Kriterium dar. Echte Transsexuelle“ wollen sowohl eine Behandlung mit Sexualhormonen als auch genital- und brustchirurgische Maßnahmen. Aus den je nach Ausgangssituation indizierbaren somatomedizinischen Maßnahmen zur Veränderung der geschlechtsspezifischen Erscheinung werden ausschließlich jene indiziert, die von den Betreffenden angestrebt werden und deren Anwendung die nachhaltige Reduktion des Erlebens von Geschlechtsdysphorie erwarten lässt. Die Art und das Ausmaß der gewünschten Behandlungsmaßnahmen lassen keinen Rückschluss auf das Vorliegen einer Geschlechtsinkongruenz oder Geschlechtsdysphorie zu. Die Psychotherapeutin bzw. der Psychotherapeut muss feststellen, ob „wirklich“ eine Transsexualität vorliegt. Die Psychotherapeutin bzw. der Psychotherapeut sollte jene Faktoren erfassen, aus denen sich das Erleben der Geschlechtsdysphorie, d. h. das Leiden unter der Geschlechtsinkongruenz, speist. Weder ist es Aufgabe der Diagnostik, zu prüfen ob es sich um eine früher so genannte wahre Transsexualität handelt noch ob die oder der Betreffende wirklich das andere Geschlecht hat bzw. schon immer hatte. Die Aufgabe der Psychotherapie ist es, zu versuchen, die Hilfesuchenden möglichst von ihrer Transsexualität zu heilen, d. h. den Wunsch nach somatomedizinischen Behandlungsmaßnahmen zu beseitigen. Die Aufgabe der multidisziplinären Therapie ist es, die Geschlechtsdysphorie, d. h. das Leiden unter der Geschlechtsinkongruenz, signifikant und nachhaltig zu reduzieren. Nur wenn die Psychotherapie dieses Ziel nicht erreicht, dürfen somatomedizinische Behandlungsmaßnahmen im Sinne einer Ultima Ratio genehmigt werden. Das Ziel der multidisziplinären Therapie liegt in dem Erreichen einer bestmöglichen Lebensqualität, unabhängig von der gelebten Geschlechtsform. Es wird empfohlen, die somatomedizinischen Behandlungsmaßnahmen im Verlauf einer transsexuellen Entwicklung und bei Bedarf auch darüber hinaus psychotherapeutisch zu begleiten. Verheirate Personen, müssen sich scheiden lassen, bevor ein juristischer Geschlechtswechsel vollzogen werden kann. Eine bestehende Ehe stellt kein Hindernis für eine Personenstandsänderung dar. Behandlungsmaßnahmen zur Veränderung des Genitalbereichs und zur Etablierung von Infertilität sind Voraussetzungen für die Personenstandsänderung. Weder chirurgische Veränderungen des Brust- und Genitalbereichs noch die Etablierung von Infertilität sind Voraussetzungen für die Personenstandsänderung. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Tab. 2.15 Positionen des Paradigmenwechsels.