Adventistische Pädagogik und religiöse Identität Wie kann religiöse Identität an einer Konfessionsschulevermittelt werden? Rolf J. Pöhler Theologische Hochschule Friedensau "Die wirkliche Treue, die wir unseren Überzeugungen schulden, besteht darin, jeden Morgen zu überprüfen, ob ihre Wahrheiten andauern." (Walter Kaspar) Sieht man das Ziel der Erziehung darin, junge Menschen zu befähigen, selbständig denkende und verantwortlich handelnde Glieder der Gesellschaft zu werden, dann ergibt sich daraus die vorrangige pädagogische Aufgabe, Individualität und Eigenverantwortung, aber auch Gemeinsinn und Solidarität zu wecken bzw. zu fördern. An einer christlichen Konfessionsschule - wie beispielsweise dem Schulzentrum Marienhöhe in Darmstadt, an dem Winfried Noack viele Jahre lang tätig war - werden diese Erziehungsziele im Kontext des biblischen Welt- und Menschenbilds verstanden und in die pädagogische Praxis umgesetzt. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob und inwieweit eine christliche Schule die religiöse Identitätsfindung Jugendlicher beeinflussen kann und sollte. Die Chance der Konfessionsschule Heranwachsende suchen auch heute noch konkrete Orientierung und glaubwürdige Vorbilder. In einer pluralistischen, von radikalem Wertewandel und offenem Traditionsabbruch gekennzeichneten Gesellschaft greifen jedoch Unsicherheit und Orientierungslosigkeit immer weiter um sich. Schulen und andere meinungsbildende Kräfte und Institutionen der Gesellschaft - wie Medien, kulturelle und staatliche Einrichtungen und auch die Kirchen sind davon unmittelbar und nachhaltig betroffen. Die Verpflichtung staatlicher Bildungseinrichtungen zur weltanschaulichen Neutralität trägt ein übriges dazu bei, die Vermittlung trag- und konsensfähiger Grundsätze und Wertmaßstäbe zu erschweren. Schließlich beruhen ethische Wertvorstellungen auf weltanschaulichen und/oder religiösen Prämissen, die im individualistischen und relativistischen Kulturklima der postmodernen Gesellschaft keine Allgemeingültigkeit und Verbindlichkeit mehr beanspruchen können. In dieser Situation bietet sich der christlichen Konfessionsschule die Gelegenheit, einen eigenen und unverwechselbaren Beitrag zur Vermittlung ethischer Grundwerte an die heranwachsende Generation zu leisten. Ausgehend von einem christlichen Welt- und Menschenbild will sie die Aktualität und Relevanz biblischer Prinzipien für das persönliche und gesellschaftliche Leben in der Gegenwart aufzeigen. Dazu gehören ethische Fundamentalwerte wie Liebe und Treue, Gerechtigkeit und Solidarität, Freiheit und Verantwortlichkeit (Mündigkeit) u.a.m. Allerdings genügt es nicht, diese Leitbegriffe plakativ in den gesellschaftlichen Raum zu stellen oder von Personen und Institutionen des öffentlichen Lebens nachdrücklich einzufordern. Sie könnten sonst zu inhaltsleeren Parolen oder (Schein-)Argumenten entarten, hinter denen sich handfeste Eigeninteressen verbergen. (Die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts stellt ein beredtes Zeugnis für die Gefahr einer solchen Instrumentalisierung dar.) Vielmehr gilt es, diese Prinzipien von ihrer abstrakten Begrifflichkeit zu befreien und sie in konkrete - individuelle wie gesellschaftliche - Lebensformen und Handlungsnormen zu übersetzen. Davon sind grundsätzlich alle denkbaren Lebenswelten unmittelbar betroffen. Einer Ausgrenzung bestimmter Lebensbereiche - wie Privatleben, Politik oder Religion - muß nachdrücklich widersprochen werden, nicht zuletzt deshalb, weil dies dem ganzheitlichen Ansatz des biblisch-christlichen Menschenbilds zuwiderlaufen würde. Eine solche unverzichtbare Konkretisierung ethischer Grundwerte kann durch den Rückgriff auf kulturtranszendierende biblische Lebensordnungen (Dekalog) und deren Anwendung bzw. Vertiefung (Propheten, Bergpredigt) ebenso gefördert werden wie durch die Rückbesinnung auf die altorientalische Weisheitsliteratur (Prediger und Sprüche) sowie auf die pädagogisch wertvollen Lebenserfahrungen vieler biblischer Persönlichkeiten. Gelingt es der christlichen Konfessionsschule dabei, ethische Handlungsnormen und Verhaltensregeln ("Gebote") auf die ihnen zugrunde liegenden sittlichen Prinzipien und Werte ("Grundsätze") zurückzuführen, die ihrerseits auf dem Gottes-, Welt- und Menschenbild der Bibel beruhen, so hat sie damit einen wichtigen Beitrag zur religiösen Selbstfindung Heranwachsender geleistet. Dabei besitzen die nachgeordneten (sekundären) Fragen des persönlichen Lebensstils paradoxerweise vielfach eine entscheidende (primäre) Rolle bei der Bildung und Festigung religiöser Identität. Denn im Lebensstil konkretisiert sich die jeweilige Weltanschauung. Dies setzt jedoch voraus, daß das Verhältnis zwischen Weltanschauung (Glaube an einen persönlichen, liebenden Gott), Ethik (universales Liebesgebot) und konkretem Lebensstil (Gewaltverzicht, Solidarität mit den Schwachen, Rücksichtnahme, partnerschaftliche Treue usw.) für die Lebenswelt(en) der heutigen Jugendlichen einsichtig gemacht und somit nachvollziehbar wird. Die Herausforderung für Lehrer und Erzieher Es läßt sich unschwer erkennen, daß die pädagogische Umsetzung des bisher Gesagten Lehrer und Erzieher vor eine besondere Herausforderung stellt. Liegt es doch nicht zuletzt an ihnen, ob und inwieweit die Verknüpfung von christlicher Identität und konkretem Verhalten glaubwürdig und nachahmenswert erscheint. Mit anderen Worten, Lehrer und Erzieher besitzen eine wichtige Vorbildfunktion, die sie weder abstreifen können noch sollen. Durch ihr Reden (Unterricht, Heimerziehung) und ihr Verhalten (Berufsalltag, eigene Lebenspraxis) regen sie zur Nachahmung an, fordern Auseinandersetzung und Zustimmung, gegebenenfalls aber auch Ablehnung heraus. Dabei sollten Lehrer wie Erzieher damit rechnen, daß ihre religiösen Überzeugungen, ethischen Grundwerte und praktischen Verhaltensmuster von den Heranwachsenden ständig und schonungslos überprüft und hinterfragt werden. Die damit verbundene kritische, zuweilen auch schroff ablehnende Haltung vonseiten Jugendlicher stellt eine zwar nicht immer angenehme, aber durchaus notwendige Herausforderung dar. Schließlich erweist sich die Glaubwürdigkeit eines Lebensentwurfes nicht zuletzt darin, wie er sich gegenüber Kritik und Kritikern verhält. In diesem Sinn sollten sich Lehrer und Erzieher die kritisch-prüfende Haltung der Heranwachsenden buchstäblich "gefallen" lassen. In diesem Zusammenhang gewinnt das eingangs zitierte Wort von Walter Kaspar besondere Bedeutung: "Die wirkliche Treue, die wir unseren Überzeugungen schulden, besteht darin, jeden Morgen zu überprüfen, ob ihre Wahrheiten andauern." Mit anderen Worten, das ständige Überprüfen - ebenso wie das Überprüfen-Lassen - der eigenen Auffassungen und Überzeugungen stellt keinen Verrat an der ewigen und gültigen Wahrheit dar. Im Gegenteil, es ist vielmehr ein Akt der Treue gegenüber einer Wahrheit, die stets größer ist als unsere eigene Erkenntnis und Erkenntnisfähigkeit. Eine pädagogisch wie theologisch verantwortete Förderung der religiösen Identitätsbildung Heranwachsender kann also paradoxerweise nur dort geschehen, wo sich Lehrer und Pädagogen von ihren Schülern in Frage stellen lassen. Glaubwürdige christliche Pädagogik wird sich deshalb nicht scheuen, die sie bestimmenden weltanschaulichen Denkvoraussetzungen, ethischen Leitlinien und konkreten Normen immer wieder überprüfen zu lassen, ja sie selbst ständig zu hinterfragen, zu begründen und ggf. zu verändern. Argumente, die ernstgenommen werden wollen, werden sich nicht vor einem Dialog scheuen, dessen Ergebnis nicht von vornherein unabänderlich feststeht. Die Tragfähigkeit einer winterlichen Eisdecke erweist sich ja ebenfalls nur unter entsprechender Belastung. Oder, wie ein chinesisches Sprichwort treffend sagt: "Wenn die Wurzel tief in den Boden reicht, braucht man den Wind nicht zu fürchten." Die "Hausaufgabe" für Schülerinnen und Schüler Wohl zu allen Zeiten und in allen Kulturen waren es Schülerinnen und Schüler gewohnt, von ihren Lehrern (Haus-)Aufgaben zu bekommen und diese mehr oder weniger gewissenhaft zu erledigen. Häufig erscheinen letztere als lästige Pflicht, die in erster Linie um der erstrebten Zensur willen erfüllt wird. Allzu leicht kann dabei die uralte Einsicht in Vergessenheit geraten, derzufolge wir ja eigentlich non scholae, sed vitae discimus, d.h., nicht für die Schule lernen, sondern um das Leben mit seinen vielfältigen Anforderungen und Möglichkeiten erfolgreich zu bewältigen. So gesehen gewinnt die religiöse Identitätsfindung junger Menschen einen hohen Stellenwert in der christlichen Pädagogik. Erziehung kann in diesem Sinn nur dann als erfolgreich bezeichnet werden, wenn es Lehrern und Pädagogen gelingt, den Heranwachsenden tragfähige Lebensgrundlagen und realisierbare Lebensentwürfe zu vermitteln, die zu deren Persönlichkeitsreifung und Identitätsfindung beitragen. Christliche Erziehung zeichnet sich darüber hinaus dadurch aus, daß sie ein praktisches Lebensmodell anbietet, das auf der Grundlage biblisch-christlicher (Glaubens)Überzeugungen beruht. Damit Jugendliche aber eine eigene religiöse Identität mit den dazugehörenden Überzeugungen und Werten sowie den sich daraus ergebenden praktischen Verhaltensweisen gewinnen können, benötigen sie außer sachlichen Informationen auch überzeugende Argumente und glaubwürdige Vorbilder. M.a.W., neben das faktische Grundwissen müssen nachvollziehbare Begründungen, aber auch beeindruckende Beispiele treten. Nur so können junge Menschen eigene, d.h. selbst verantwortete Entscheidungen zu fundamentalen Lebensfragen treffen, die den christlichen Glauben als Lebensgrundlage ernst nehmen. Die wichtigste "Hausaufgabe", die Schülerinnen und Schüler zu erledigen haben, ist also im Gunde genommen ein "Lebensaufgabe". Sie verlangt Ausdauer und Zielstrebigkeit, innere Beteiligung und Engagement, Mut zum Handeln sowie die Bereitschaft, Weichen für das eigene Leben zu stellen und Verantwortung für den eigenen Lebensentwurf zu übernehmen. Die Schule - gerade auch die christliche Konfessionsschule - möchte junge Menschen bewußt dazu ermutigen und gezielt darauf vorbereiten. Wie tief dieses Ideal in der adventistischen Pädagogik verwurzelt ist, zeigt das folgende Zitat aus der Feder von Ellen G. White, der einflußreichsten Persönlichkeit adventistischer Geschichte, ohne die das adventistische Bildungs- und Erziehungswerk kaum denkbar gewesen wäre. Im Jahr 1898 schrieb sie: "Niemand ist berechtigt, eines anderen Denken zu beherrschen, für ihn zu entscheiden oder ihm seine Pflichten vorzuschreiben. Gott verleiht jedem Menschen die Freiheit, selbst zu denken und seiner Überzeugung zu folgen." (Ellen G. White, Das Leben Jesu, S. 245) Zahllose adventistische Lehrer und Erzieher, Professoren und Pädagogen haben sich - und sind bis heute - bemüht, diese tiefe Einsicht in ihrer beruflichen Arbeit mit Leben zu erfüllen. Prof. Dr. Winfried Noack ist nur einer von ihnen, - aber auch nicht irgendeiner. Für viele seiner Schülerinnen/Schüler und Studentinnen/Studenten ist er zu einem glaubwürdigen Vorbild und nachahmenswerten Beispiel geworden, das ihre religiöse Identität spürbar geprägt hat. Durch sein jahrzehntelanges berufliches Wirken hat er eindrucksvoll gezeigt, wie religiöse Identität an einer Konfessionsschule konkret und wirksam vermittelt werden kann. Auf diese Weise hat er einen eindrucksvollen und bleibenden Beitrag zur adventistischen Pädagogik geleistet, der weit über den Rahmen der Schulen, an denen er wirkte, hinausreicht.