Damit Gemeinschaft möglich ist Die Basis des Zusammenlebens Menschliches Zusammenleben ist vielschichtig, komplex – und oft schwierig. Gegensätzliche Annahmen darüber, wie es funktionieren kann oder soll, ob eine Gesellschaft als Ganzes oder ob eher die Individuen, aus denen sie zusammengesetzt ist, im Vordergrund stehen sollen, haben in der Geschichte zu theoretischen Auseinandersetzungen, aber auch zu Mord und Totschlag geführt. → Integrität: mit sich selbst im Reinen sein; so sein, wie man meint, sein zu sollen Um dem zu begegnen, wurden Deklarationen, Verträge und Abkommen ersonnen, auf deren Einhaltung wir hoffen. Diese kann letztlich jedoch nicht erzwungen werden. Auf welcher Basis also kann Gemeinschaft auf Dauer bestehen, können Sicherheit und Wohlbefinden für alle mit größerer Wahrscheinlichkeit hergestellt werden? Die Frage danach, was man tun soll, welches Handeln richtig oder falsch ist, liegt der Ethik zugrunde. Sie ist Teil der Philosophie, wird auch als Moralphilosophie bezeichnet und ist die Lehre vom sittlichen Wollen und Handeln des Menschen. Die Normen und Regeln, die aus ethischen Reflexionen hervorgehen, ergeben das, was als Moral bezeichnet wird. Sie ist zu unterscheiden von Legalität, die lediglich Gesetzeskonformität beschreibt. Was der Mensch tun oder nicht tun soll, ist nicht dasselbe wie die Frage, was er tun oder nicht tun darf. Dass etwas legal ist, bedeutet nicht auch, dass es ethisch erlaubt ist. So war zum Beispiel die Sklaverei lange Zeit hindurch legal – sie wurde unter anderem deshalb abgeschafft, weil sie als ethisch nicht vertretbar erkannt wurde. Andererseits kann es ethisch erforderlich sein, etwas Illegales zu tun – wenn Gesetze 6 unethisch sind oder ihre Übertretung Menschenleben retten kann. Die Rassengesetze des Dritten Reiches sind ein Beispiel dafür oder die Geschwindigkeitsübertretung und das Überfahren roter Ampeln, um im Notfall rechtzeitig ein Krankenhaus zu erreichen. Ethik ist die übergeordnete Instanz, mit deren Hilfe moralische Anforderungen und gesetzliche Gebote und Verbote bewertet werden können. Deshalb liegt ethisches/moralisches Handeln sowohl im Interesse jedes Einzelnen als auch im Interesse jeder Gemeinschaft. Für das Individuum erzeugt es → Integrität, für die Gesellschaft Vertrauen und Sicherheit. So ermöglicht es den Zusammenhalt der Gesellschaft, wird zur unverzichtbaren Basis des Zusammenlebens. Aber warum sollen ethische Aussagen überhaupt gelten? Welchen Anspruch haben sie, für richtig oder falsch gehalten zu werden? Verschiedene Denkmuster gehen dazu von ganz unterschiedlichen Annahmen aus. Verbreitet sind Subjektivismus, Universalismus und Kulturrelativismus. Subjektivisten halten Ethik für Ansichtssache und ethische Aussagen für Meinungen. Jeder hat eben seine eigene Meinung – und ein Recht darauf. Über Ethik lässt sich aus dieser Perspektive nichts Allgemeingültiges sagen. Was für mich richtig ist, muss es nicht für dich sein. Das klingt vielleicht zunächst verlockend – ist aber hochproblematisch: Was, wenn es jemand für sich als richtig erachtet, zum eigenen Vorteil einen anderen Das Buch der Werte Was der Mensch tun oder nicht tun soll, ist nicht dasselbe wie die Frage, was er tun oder nicht tun darf Kulturrelativismus ist eine ziemlich populäre Denkweise. Nach den historischen Erfahrungen mit Kolonialisierung und der damit einhergehenden Überzeugung von der Überlegenheit der eigenen Kultur sowie den Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts scheint sie vielen als ein Bollwerk gegen die Gefahren des Ethnozentrismus. Die Warnung davor, anzunehmen, dass ethische Prinzipien anderer Kulturen falsch oder gar schlecht seien, bloß weil sie fremd sind, ist ein sinnvoller und wichtiger Aspekt dieser Sichtweise. zu schädigen? Wenn die Bewertung, was richtig oder falsch ist, der subjektiven Meinung unterliegt, wird Gemeinschaft unmöglich – dann gilt bald das Recht des Stärkeren, der seine Meinung durchsetzen kann. Universalisten nehmen an, dass Rechte und Pflichten sowie die Bewertung von richtigem und falschem Handeln für alle Menschen auf gleiche Prinzipien zurückzuführen sind. Es gebe demnach für alle Menschen überall und zu jeder Zeit geltende ethische Prinzipien. Die Moralphilosophie Immanuel Kants erhebt einen solchen universalen Anspruch, der im kategorischen Imperativ auf den Punkt gebracht wird: „Handle nur nach derjenigen → Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Kulturrelativisten gehen davon aus, dass es dem Einzelnen übergeordnete ethische Standards gibt – und dass diese von der Kultur abhängen, in der man lebt. Ethisch richtiges Handeln hieße demnach, die Vorgaben der eigenen Kultur zu befolgen, falsch wäre es, ihnen zuwiderzuhandeln. Durchzuhalten ist diese Theorie dennoch kaum – dazu ist der Kulturbegriff viel zu vielschichtig und kulturelle Grenzen sind kaum durchgängig zu definieren. Überdies gehört jeder Mensch mehreren Kulturen und Subkulturen an – Ethnie, Geschlecht, Herkunft, Beruf, sexuelle Orientierung und Religion sind nur ein paar Beispiele für solche Zuordnungen. Auch die erhoffte Toleranz bringt der Kulturrelativismus nicht zwangsläufig: Die Zugehörigkeit zu einer Kultur, der die Intoleranz immanent ist, die andere ausschließt, gering schätzt oder gar verachtet, würde demnach sogar zur Intoleranz verpflichten. Ein aktuelles Problem unserer Zeit, dessen alltägliche Auswirkungen den Medien zu entnehmen sind. Das Bestreben, ein gutes Leben mit gelingenden Beziehungen zu anderen Menschen zu führen, dabei mit sich im Einklang und letztlich glücklich und zufrieden zu sein, ist Richtlinie ethischer Überlegungen. Darin sind grundsätzlich alle Menschen eingeschlossen – was auf die Grundannahme verweist, dass jeder Mensch ethisch handeln kann, sich dafür aber auf Basis von Werten entscheiden muss. Jeder Mensch kann ethisch handeln, muss sich aber dafür entscheiden. Die Basis dafür sind die Werte. → Maxime: Leitsatz; Prinzip 7 Menschenwürde Im Artikel 1 der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ heißt es: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ Der Artikel 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland beginnt so: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Auch in anderen Staaten ist Menschenwürde als oberstes Prinzip in der Verfassung festgeschrieben. In der österreichischen Bundesverfassung findet sich der Begriff in dieser expliziten Form nicht. Der Schutz der Menschenwürde wird hier durch eine Reihe von Gesetzen garantiert. Österreich hat sowohl die Europäischee Menschenrechtskonvention als auch die Grundrechtecharta der Europäischen Union unterzeichnet – beide verpflichten zur Einhaltung der Menschenrechte, die es ohne die Idee von der Würde des Menschen nicht gäbe. Die Formulierung des Anspruchs auf Menschenwürde in Grundgesetzen/Verfassungen ist historisch relativ neu. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges gab es das nirgendwo. Es lässt sich nachvollziehen, dass es gerade die schrecklichen Ereignisse der beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert waren, die – als Reaktion auf offensichtliche Verletzungen und Missachtungen von etwas, was als dem Menschen eigen empfunden wurde – derartige Statements als notwendig erscheinen ließen. In der Präambel der Charta der Vereinten Nationen wurde daher formuliert: Die Formulierung des Anspruchs auf Menschenwürde in Verfassungen ist historisch relativ neu. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges gab es das nirgendwo 8 „Wir, die Völker der Vereinten Nationen, fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen ...“ Von der Würde war in ethischen Zusammenhängen natürlich auch lange davor (schon bei Cicero) die Rede – allerdings mit unterschiedlichen Begriffsinhalten. Eine lange Tradition hat die christliche Herleitung der Würde des Menschen aus der Ebenbildlichkeit zu Gott. Aus dieser Sicht ist Menschenwürde von einem Schöpfer verliehen – ihre Achtung ist mithin eher die Achtung vor diesem Schöpfer als vor dem Menschen um seiner selbst willen, der aus sich heraus diese Würde nicht hätte – ja ihrer zunächst sogar als unwürdig gilt, denn ihre Verleihung durch Gott beruht auf Gnade. Kant benutzte den Begriff Menschenwürde zwar nicht, er spricht von Würde – aber seine Formulierung des Kategorischen Imperativs in der sogenannten Selbstzweckformel (Kant hat neben der bekannten Grundformel mehrere weitere Formulierungen entwickelt) zielt auf ein immer noch verbreitetes Verständnis davon ab: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel Das Buch der Werte Was unter Menschenwürde zu verstehen ist, wird immer dann besonders deutlich, wenn ihre Verletzungen betrachtet werden brauchst.“ Kein Mensch darf demnach als Mittel zum Zweck missbraucht, er darf nicht instrumentalisiert werden – immer ist er nicht nur als Objekt, sondern als Subjekt zu sehen und zu behandeln. Dazu stellt → Ralf Stoecker (2010) fest, dass wir allerdings im Alltag durchaus häufig nur an der Funktion von Menschen interessiert sind, mit denen wir es zu tun haben (der Gesprächspartner/die Gesprächspartnerin an der Hotline wird z. B. zur Lösung eines technischen Problems gebraucht). ihr Schutz das Handeln in der Gemeinschaft bestimmen müssen – wo das nicht garantiert ist, sind die Bedingungen des Zusammenlebens tatsächlich un-menschlich, nämlich nicht menschlich. Niemand kann dann sicher sein, dass seine Rechte geachtet werden und dass er sein Leben in Freiheit gestalten kann. Der Soziologe → Niklas Luhmann hat darüber hinaus darauf hingewiesen, dass die Annahme von Menschenwürde nicht bloß dem Schutz von Individuen dient, sondern notwendig für das Funktionieren staatlicher Systeme ist, in denen der Einzelne mehrere Rollen spielen muss, hinter denen er aber eine bleibende Identität braucht – das, was oft „Persönlichkeit“ genannt wird. Um diese Identität geht es: Was unter Menschenwürde zu verstehen ist, wird immer dann besonders deutlich, wenn ihre Verletzun- „Das Gebot, die Würde des Menschen zu achten, ist das gen betrachtet werden. Um darüber zu sprechen, be- Gebot, seine prinzipielle Würdigkeit, also das Haben dienen wir uns der Begriffe Selbstachtung, Achtung, von Würde zu achten. Menschenwürdeverletzungen Demütigung, Beleidigung, Ehre (vgl. Stoecker 2010). sind Handlungen, die es einem Menschen sehr schwer Es sind teilweise Begriffe, die für sich genommen oder sogar unmöglich machen, an einer für ihn akzepnichts über Moralität aussagen – auch ein sogenann- tablen Identität festzuhalten, weil sie jede Darstellung ter „Ehren“mord ist ein Verbrechen. dieser Identität konterkarieren“ (Stoecker 2010). → Niklas Luhmann (1927–1998), deutscher Soziologe und Gesellschaftstheoretiker → Ralf Stoecker (*1956), deutscher Philosoph; seit 2013 Professor für Praktische Philosophie, Universität Bielefeld Dass die Forderung nach Schutz und Achtung der Würde des Menschen so stark betont wird, zeigt deutlich: Sie ist verletzlich. Täglich sind wir mit Situationen und Fragen konfrontiert, die diese Verletzlichkeit offensichtlich machen. Fragen in den Bereichen von Recht, Medizin, Bildung, Arbeit, Konsum, Migration So verstandene Menschenwürde resultiert aus der – sie alle berühren immer wieder auch die MenschenEinzigartigkeit, die sowohl der gesamten Menschheit würde. Wie sehr das in der Erziehung ein Thema ist, hat die deutsche Lyrikerin und Liedermacherin Bettials auch jedem einzelnen Menschen eigen ist. Sie kann niemandem genommen werden – weil jeder im- na Wegner 1976 in einem bekannt gewordenen Lied thematisiert. Obwohl der Begriff Würde kein einziges mer einzigartig ist und bleibt. Aus dieser durch seine bloße Existenz jedem Menschen zukommenden Mal darin vorkommt, handelt doch der ganze Text Würde ergibt sich zwingend, dass ihre Achtung und davon: Im Alltag allerdings erfahren wir Kränkung, Beleidigung oder abfällige Behandlung als gegen die eigene Selbstachtung gerichtet – und deshalb als schmerzhaft. Was hier über die Missachtung spürbar wird, ist Würde, die verletzt wird. Menschenwürde bedeutet nicht nur den Schutz des Individuums, sondern auch die Identität des Einzelnen in staatlichen Systemen. 9 Sind so kleine Hände, winz’ge Finger dran. Darf man nie drauf schlagen, die zerbrechen dann. Sind so kleine Füße, mit so kleinen Zeh’n. Darf man nie drauf treten, könn’n sie sonst nicht geh’n. Sind so kleine Ohren, scharf und ihr erlaubt. Darf man nie zerbrüllen, werden davon taub. Sind so schöne Münder, sprechen alles aus. Darf man nie verbieten, kommt sonst nichts mehr raus. Sind so klare Augen, die noch alles seh’n. Darf man nie verbinden, könn’ sie nichts mehr seh’n. Sind so kleine Seelen, offen und ganz frei. Darf man niemals quälen, geh’n kaputt dabei. Ist so’n kleines Rückgrat, sieht man fast noch nicht. Darf man niemals beugen, weil es sonst zerbricht. Grade klare Menschen, wär’n ein schönes Ziel. Leute ohne Rückgrat, hab’n wir schon zuviel. Bettina Wegner 10 Die Verletzung ihrer Würde beschädigt Menschen nachhaltig – nicht nur, aber besonders junge Menschen. Sie haben noch keine Strategien, um ihre Integrität zu schützen, sind sich ihrer selbst noch gar nicht bewusst. Die Folgen der Missachtung der Menschenwürde werden im Umgang mit sich selbst und in der Interaktion mit anderen spürbar: Missachtung führt leicht zu Verachtung – seiner selbst und anderer. Der Kampf um vermeintlich oder tatsächlich vorenthaltene oder missachtete Würde prägt die Geschichte. Gerade darin wird aber auch deutlich, dass es noch einen anderen Aspekt der Menschenwürde gibt: den Anspruch an den Einzelnen, sich seiner ihm zukommenden Würde gemäß, sich ihrer würdig zu verhalten. Insofern ist Menschenwürde nicht nur ein Recht, sondern in gleichem Maße auch eine Verpflichtung. Das Rote Kreuz stellt sich dieser Verpflichtung in besonderer Weise: Der Grundsatz der Menschlichkeit leitet sich aus der Anerkennung der Menschenwürde ab und zielt darauf, sie zu schützen und ihr Achtung zu verschaffen. Menschenrechte -pflichten Menschenwürde und Menschenrechte hängen eng zusammen: Von beiden wird vorausgesetzt, dass sie dem Menschen um seiner selbst willen zukommen. Auch Menschenpflichten gehören unabdingbar in diesen Zusammenhang – wenn jemand ein Recht hat, muss es zwangsläufig jemanden geben, der dieses Recht beachten beziehungsweise für seine Gewährleistung sorgen muss. Geht es um Rechte, die alle Menschen haben, so müssen auch diese Pflichten gegenseitig wahrgenommen werden – und zwar wieder von allen Menschen. (Menschen)Rechte haben verschiedene Ausprägungen. Es gibt solche, die darauf abzielen, Menschen zu schützen, Schaden und Leid fernzuhalten. Solche Missachtung führt leicht zu Verachtung – seiner selbst und der anderen. Das Buch der Werte Die Verletzung ihrer Würde beschädigt Menschen nachhaltig – nicht nur, aber ganz besonders junge Menschen senkonflikten, weil zu ihrer Gewährleistung eventuell Freiheiten eingeschränkt werden müssen: Das Zahlen-Müssen von Steuern und Abgaben zum Zweck der Finanzierung dieser Rechte ist eine solche Einschränkung der alleinigen Verfügung über das Eigentum. Das Verhältnis von Menschenrechten und Menschenpflichten wurde betont durch die „Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten“, die im Jahr 1997 „den Vereinten Nationen und der Weltöffentlichkeit“ als Diskussionsgrundlage vorgelegt wurde. Sie ist bewusst als Gegenstück zur „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ formuliert und hebt so die Abhängigkeit beider voneinander hervor. Formuliert wurde die Erklärung vom → InterAction Council, einer Verbindung ehemaliger Staats- und Regierungschefs, darunter Helmut Schmidt, Jimmy Carter, Valéry Giscard d’Estaing, Pierre Elliott Trudeau und Franz Vranitzky. Im Artikel 1 heißt es da: Rechte heißen negative Rechte; sie bedeuten, dass andere (z. B. der Staat oder Institutionen) sich in etwas nicht einmischen, etwas nicht verhindern dürfen. Die Bezeichnung „negativ“ ist keine Bewertung, sondern bezieht sich darauf, dass niemand etwas zu tun braucht, um diese Rechte zu schützen – im Gegenteil, es soll nichts gegen ihre Wahrnehmung getan werden. Bürgerliche Rechte, Freiheiten, etwas zu tun, sind solche negativen Rechte: Niemand soll gehindert werden, seine Meinung zu vertreten (Redefreiheit), seine Religion auszuüben (Religionsfreiheit), sich mit an- „Jede Person, gleich welchen Geschlechts, welcher ethderen zusammenzutun (Versammlungsfreiheit) oder nischen Herkunft, welchen sozialen Status, welcher sein Eigentum zu nutzen. Auch das Recht auf Leben politischer Überzeugung, welcher Sprache, welchen und Unversehrtheit gehört dazu: Niemand soll je- Alters, welcher Nationalität oder Religion, hat die manden verletzen oder etwas tun, das die Unver- Pflicht, alle Menschen menschlich zu behandeln.“ sehrtheit oder das Leben eines anderen Menschen bedroht. Negative Rechte schützen also die individu- Ebenso wie die Menschenrechte sollen auch die Pflichten den Grundsätzen der Universalität, der Egaelle Freiheit, Autonomie und Privatsphäre. lität und der Unteilbarkeit unterliegen. Etwas anderes sind die sogenannten positiven Rechte; das sind Rechte auf etwas. Um sie zu gewährleisten, Universalität bedeutet Allgemeingültigkeit. Für die muss jemand (der Staat, Institutionen, die Gesell- Menschenrechte wird überall und für alle Menschen schaft) aktiv werden. Solche Rechte sind zum Beispiel Geltung beansprucht, niemand soll irgendwo davon soziale und ökonomische Rechte. Sie haben zum Ziel, ausgenommen sein. Dieser Universalitätsanspruch ist Lebensumstände für alle zu schaffen, in denen Min- der Grund für immer wieder auftretende Verstimdestbedürfnisse erfüllt sind. Das Recht auf Arbeit, auf mungen und Meinungsverschiedenheiten zwischen medizinische Versorgung und auf Bildung sind sol- Staaten – denn er wird nicht von allen anerkannt. Die che positiven Rechte. Sie bilden den sozialen Gestal- Idee hat sich, historisch betrachtet, in der westlichen tungsbereich des Staates und führen leicht zu Interes- Welt entwickelt. Das hier gültige Menschenbild stellt Weniger bekannt als die „Erklärung der Menschenrechte“ – aber ebenso bedeutend – ist die „Erklärung der Menschenpflichten“. → Das InterAction Council (kurz IAC) ist eine 1983 gegründete, lose Verbindung früherer Staats- und Regierungschefs mit dem Ziel, ihre Erfahrungen und Empfehlungen an heutige Entscheidungsträger weiterzugeben. 11 das Individuum in den Vordergrund. In anderen – zum Beispiel asiatischen – Kulturen existieren traditionell andere Konzepte. Autorität und gesellschaftliche Harmonie werden dort teilweise höher bewertet als der einzelne Mensch – was eine Erklärung für die Schwierigkeiten in der einschlägigen Kommunikation, keineswegs aber ein Freibrief für die Missachtung der Menschenrechte ist. Deren Allgemeingültigkeit beruht nicht darauf, dass sie lückenlos beweisbar wäre, sondern auf Argumentation und Übereinkunft. Deshalb muss weiter darum gerungen werden, dass immer mehr Länder sich dieser Übereinkunft anschließen – und sich dann auch daran halten. Hier sei kurz darauf hingewiesen, dass die Konkurrenz zweier unterschiedlicher Vorstellungen von der Relation des Individuums zur gesamten Gesellschaft immer schon die Geschichte durchzieht und auch aktuelle Auseinandersetzungen begründet: Individualistisch geprägte Gesellschaften orientieren sich in erster Linie am Individuum. → Viele Individuen bilden die Gesellschaft, diese ist das Ergebnis des Zusammenschlusses sie gestaltender Personen. Kollektivistisch geprägte Gesellschaften ordnen das Individuum dem Ganzen unter. → Die Gesellschaft bietet den Individuen Zugehörigkeit, der Wert des Individuums resultiert aus seiner Bedeutung/seinem Nutzen für die Gesellschaft. Egalität weist darauf hin, dass im Anspruch auf die Menschenrechte alle gleich sind – es kann hier keine Differenzierungen oder Diskriminierungen geben. Sämtliche Diskussionen um die Gleichberechtigung und Maßnahmen der Gleichstellung der Geschlechter beziehen sich auf dieses Prinzip. den – man kann nicht das eine oder andere herausnehmen oder weglassen. Auch ist nicht eines wichtiger als das andere. Zwar sind sie differenziert formuliert, in der Bedeutung aber aus einem Guss – ähnlich wie ein Puzzle aus einzelnen Teilen zusammengesetzt ist, die aber nur gemeinsam ein Bild ergeben. Die Beachtung oder Nichtbeachtung der Menschenrechte bestimmt die Gestaltung von Gesellschaften. Die Organisation des Zusammenlebens in Staaten geht einher mit der Verteilung von Macht, die immer in Gefahr ist, zum Nachteil der Schwächeren missbraucht zu werden. Deshalb werden in Rechtsstaaten Kontroll- und Schutzmechanismen eingesetzt, die ein Leben in Würde für alle sichern helfen sollen. Sie garantieren, dass staatliche Macht nur auf Basis der Verfassung und der auf ihr beruhenden Gesetze ausgeübt werden darf. Die wichtigsten dieser Maßnahmen sind die Gewährleistung der Menschenrechte, die staatliche Gewaltentrennung (auch: Gewaltenteilung), der Vorrang des Gesetzes für alles staatliche Handeln und das Vorhandensein unabhängiger Gerichte. Durch Gewaltentrennung wird die Macht des Staates in die Bereiche Gesetzgebung (Legislative), Verwaltung (Exekutive) und Rechtsprechung (Judikative) geteilt, mit dem Ziel, Freiheit und Gleichheit seiner Bürger sicherzustellen. Der Vorrang des Gesetzes legt fest, dass keine der drei Staatsgewalten gegen ein Gesetz verstoßen darf. We- Der Staat als Ganzes steht nicht über dem Gesetz, sondern ist daran gebunden wie jeder einzelne Bürger Unteilbarkeit schließlich verlangt, dass die Menschenrechte als Ganzes verstanden und beachtet wer- 12 Die allgemeine Gültigkeit der Menschenrechte beruht nicht auf Beweisbarkeit, sondern auf Übereinkunft. Das Buch der Werte Werte erkennt man am klarsten, wo sie fehlen oder wo man sie verfehlt der darf etwas Gesetzwidriges verordnet werden noch dürfen staatliche Organe – z. B. die Polizei – Gesetze übertreten. Der Staat als Ganzes steht damit nicht über dem Gesetz, sondern ist daran gebunden wie jeder einzelne Bürger. um ethisches Verstehen aufzubauen: „Werte erkennt man am klarsten, wo sie fehlen oder man sie verfehlt. Die Geschichten mit der am stärksten moralischen Wirkung sind die, die uns um das Gute bangen lassen.“ (Hentig 1998, S. 267 f) Allerdings genügen Geschichten nicht. Sie können helfen zu klären, was Werte sind, können beim Einüben wertorientierter Entscheidungen helfen – aber: Die Unabhängigkeit der Gerichte ist ein wichtiger „Gegen die ‚Verhältnisse‘, die öffentlichen Mißstände Maßstab für die Rechtsstaatlichkeit. Nur wenn Rich- und Torheiten, muß ich als Bürger angehen, und wenn ter nicht von Vorgesetzten, Politikern oder sonstigen ich das tue, werden meine Kinder daran lernen [...]: Einflüssen abhängig sind, können wirklich alle „vor wie man nach seinen Überzeugungen lebt. Das ist dem Gesetz gleich“ sein. Deshalb sind die Freiheiten Ethos.“ (ebd. S. 271) von Richtern in der Rechtsprechung sehr groß – genau wie ihre Verantwortung. Sie sind ausschließlich Dieser Vorbildwirkung sind sich Pädagoginnen und an die Gesetze gebunden – die sie auslegen und inter- Pädagogen bewusst. Das Rote Kreuz weiß darum und pretieren. Zwar gibt es an verschiedenen Gerichten unterstützt sie mit Geschichten, die das „Bangen um sogenannte Laienrichter (Schöffen, Geschworene), das Gute“ spürbar machen – in Dilemmas, die alltägdas sind Bürger, die die Urteilsfindung unterstützen, liche Entscheidungen erfordern und doch nicht einaber das letzte Wort hat immer der Richter. deutig lösbar sind. Die Unruhe, die dabei bleibt (hätte man das doch anders lösen können/sollen?), ist nachEine gewisse Kontrolle der Gerichtsbarkeit besteht im haltig wirksam – weil sie immer wieder in verschiedeInstanzenweg: Fühlt sich jemand durch ein Gericht nen Zusammenhängen aufflammt und an die unverungerecht beurteilt, kann er in den meisten Fällen ein zichtbare Orientierung für Handlungsentscheidungen weiteres Gericht anrufen. Auch dort urteilt selbstver- erinnert: die allen zukommende Menschenwürde. • ständlich wieder ein unabhängiger Richter. Erst ein Urteil des Obersten Gerichtes ist endgültig.HerstelZum Weiterlesen: lung und Aufrechterhaltung solcher Rahmenbedin- Bieri, Peter (2015): Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschligungen für ein menschenwürdiges Leben sind Aufga- cher Würde. Frankfurt a. M. be jedes Einzelnen – und daher nur in dem Maß Hentig, Hartmut von (1985): Die Menschen stärken. Die Sachen klären. Ein Plädoyer für die Wiederherstellung der Aufklärung. gesichert, als sich jeder als dafür zuständig erkennt. Stuttgart. Alles Formulieren von Menschenrechten und -pflichten, von Menschenwürde und ethischen Anforderungen bleibt wirkungslos, wenn Menschen sich nicht aus Überzeugung daran halten – der Grund für Werteerziehung. Hartmut von Hentig, einflussreicher Erziehungswissenschaftler des 20. Jahrhunderts, weist darauf hin, wie hilfreich Geschichten sein können, Zum kostenlosen Download speziell für Lehrkräfte entwickelt: polis aktuell 2014/11: Kinderrechte sind Menschenrechte (aktual. 2015) politik-lernen.at/site/gratisshop/shop.item/106326.html Zum Bearbeiten des Themas Menschenrechte mit Kindern und Jugendlichen eignet sich besonders gut: www.compasito-zmrb.ch/startseite/ www.kompass.humanrights.ch/cms/front_content.php Die Geschichten mit der stärksten moralischen Wirkung sind die, die uns um das Gute bangen lassen. 13