Menschenwürde als Humanum in medizinischen Berufen (Kurzfassung) Dr. Heike Baranzke Menschenwürde (MW) ist ein mehr als 2000 Jahre alter Grundbegriff der abendländischen Ethik. Seit rund zwei Jahrzehnten ist er allerdings höchst umstritten, nicht zuletzt aufgrund von neuen Problemlagen, die durch die bio- und medizintechnologische Entwicklung erzeugt wurden. Diese Entwicklungen haben Formen menschlicher Existenz hervorgebracht (z.B. Embryonen in vitro, Wachkomapatienten, hirntote Menschen etc.), anlässlich derer sich neuartige Fragen des menschlichen Umgangs stellen. Schon allein die Vielzahl der Publikationen zu diesem Begriff bezeugt das Ringen um die Klärung der Bedeutung des Begriffs MW angesichts dieser und noch anderer neuen Fragestellungen. Sofern dieser Begriff von Moral- und Rechtsphilosophen nicht rundweg abgelehnt wird (z.B. weil er vieldeutig oder sogar widersprüchlich in Anspruch genommen wird; weil seine Bedeutung vom Begriff der Menschenrechte übernommen worden sei; weil er unerwünschte Wirkungen im Recht haben könnte u.a.m.), nimmt seine Diskussion heute ganz selbstverständlich ihren Ausgang von seiner völkerrechtlichen Verbindung mit der Idee der Menschenrechte in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen (AEMR 1948) bzw. von seiner Bedeutung für innerstaatlich garantierte subjektive Grundrechte, wie sie erstmals 1949 im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland durch die MW in Art. 1 GG begründet wurden. Tatsächlich hat die MW hier im Völker- wie im Verfassungsrecht eine wichtige begründungstheoretische Funktion bekommen (MW als Grund der Menschen-/Grundrechte: Weil alle Menschen eine unveräußerliche Würde haben, deshalb haben sie auch unveräußerliche Menschen-/Grundrechte, deren Anerkennung sogar allen Staaten vorgegeben sind und nicht etwas erst durch die Staaten erzeugt werden; vgl. vorpositives Recht). Deshalb gilt MW verfassungsrechtlich als oberster Wert der Verfassung, als Konstitutionsprinzip der Grundrechte. Das ist der objektivrechtliche Bedeutungsgehalt der MW im Recht, dass er die subjektiven Grundrechte moralisch begründet. (Daneben wird in neuerer Zeit auch diskutiert, ob die MW auch selbst ein subjektives Grundrecht im GG darstellt, ob also MW auch einen subjektivrechtlichen Gehalt hat, den individuelle Einwohner auch einklagen können.) vgl. Folie 1 (Art. 1 GG) Diese grundlegende Einsicht in die begründungstheoretische Funktion der MW für Menschen- und Grundrechte ist eine sehr neue moralphilosophische Entwicklung im Bedeutungsgehalt des zwei Jahrtausende alten Begriffs MW. Es ist signifikant, dass die nordamerikanischen und die französischen Menschenrechtserklärungen im 18. Jahrhundert sich nicht auf die MW bezogen haben, diese Verbindung begründungstheoretisch also erst nach den schlimmen Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges als Selbstverpflichtung der Staaten hergestellt wurde. Die begründungstheoretische Funktion der MW in der AEMR und im GG der BRD knüpft somit gewissermaßen an die Grundbedeutung der MW-Idee als eines Verpflichtungsbegriffs an, den der Begriff in seiner ursprünglichen Prägung durch den antiken Philosophen Cicero bekommen hat. MW ist für Cicero der moralische Anspruch an alle Menschen, sich ihrer Vernunftnatur gemäß zu verhalten. Wegen dieses grundlegenden Selbstverpflichtungscharakters war MW für liberale Menschenrechtstheoretiker im 18. Jahrhundert genauso unattraktiv wie für heutige Rechtstheoretiker. Viel beliebter ist es daher heute, die MW im Sinne der Menschenrechte als ein subjektives Anspruchsrecht umzuformulieren. Das kommt auch einer grundlegenden Veränderung in der Geschichte der abendländischen Moralphilosophie entgegen, die sich in dem Übergang von einem Primat der Pflicht in Antike und Mittelalter zu einem Primat des Rechts in der Moderne manifestiert. In der vormodernen Ethik wurde die moralische Güte/Qualität der Handlung von der moralischen Qualität des Handlungssubjektes her bestimmt. Man glaubte, dass nur gute, tugendhafte Menschen zu wahrhaft guten Handlungen in der Lage seien. Deshalb nennt man die vormoderne Ethik auch „akteurzentriert“. In der modernen Ethik wird dagegen die moralische Qualität der Handlung von den Bedürfnissen bzw. Ansprüchen des betroffenen Adressaten einer Handlung her definiert. Deshalb könnte man die moderne Ethik als „adressatenzentriert“ nennen. Fragt man nun, wodurch sich eine „menschenwürdige Handlung“ auszeichnet, dann lautet die moderne Antwort: Eine menschenwürdige Handlung ist eine Handlung, die einem MW-Träger gerecht wird. Diese neue Antwort hat zwei wichtige Vorteile, aber auch zwei grundlegende Nachteile: Vgl. Folie 2 (Paradigmenwechsel in der abendländischen Ethik) Die Vorteile liegen unbestreitbar darin, dass zum einen nun auch die fundamentalen Bedürfnisse Betroffener bei der ethischen Urteilsbildung Aufmerksamkeit erfahren und zum anderen diese grundlegenden Bedürfnisse auch mit einem starken Rechtsanspruch, z.B. in Form von Menschen- und Grundrechten versehen werden und nicht mehr von der Gnade eines zufällig tugendhaften Menschen abhängig sind. Die Nachteile einer alleinigen Definierung von MW von Seiten der Adressateninteressen sind zum einen, dass die Adressaten erst einmal durch empirische Eigenschaften, Fähigkeiten und Bedürfnisse nachweisen müssen, dass sie denn tatsächlich Träger von MW-Ansprüchen sind; d.h. das ethische Bemühen darum zu bestimmen, wer Träger von MW ist oder wer aufgrund welcher Eigenschaften einen „moralischen Status“ besitzt und daher einen moralischen oder rechtlichen Anspruch auf die Erfüllung seiner Bedürfnisse oder Achtung seiner Interessen besitzt, ist insofern zweischneidig, weil damit ja auch solche Wesen heraussortiert werden, die diese Anspruchsprofile nicht erfüllen. Die Gefahr eines antihumanistischen Umschlagens liegt auch in dem Problem der Frage, wer denn überhaupt bestimmen soll, wie hoch die Meßlatte gelegt wird, anhand der sich bestimmt, wer einen Anspruch auf menschenwürdige Behandlung hat und wer nicht. Der zweite Nachteil liegt darin begründet, dass mit der Formulierung MW-gerechter Handlungsnormen in Moral und Recht ja erst die halbe Miete eingefahren ist. Ob dem Buchstaben MW-gerechter Gesetze auch der Geist MW-gerechter Ausübung folgt, hängt ja ganz wesentlich von den diese Normen ausübenden Akteuren ab. Aufgrund dessen ist es m.E. notwendig, die Adressatenlastigkeit der aktuellen Auseinandersetzung über die MW dadurch zu überwinden, dass Momente der vormodernen Akteurzentriertheit der MW wiedergewonnen werden. – Dies wurde im Vortrag an einigen Beispielen aus dem medizinischen oder pflegerischen Alltag erläutert. Wer diese Gedanken noch einmal ausführlicher nachlesen möchte, sei auf meine folgenden Darstellungen verwiesen: Menschenwürde & Menschenrechte. Vom Anspruch der Freiheit in Recht, Ethik und Theologie. In: Heike Baranzke, Christof Breitsameter, Ulrich Feeser-Lichterfeld, Martin Heyer, Beate Kowalski: Handeln verantworten. Grundlagen – Kriterien – Kompetenzen. Reihe: Theologische Module Bd. 11, hg. v. Michael Böhnke, Thomas Söding. Herder. Freiburg im Br. 2010, 45–93. (didaktisch aufbereitete Form zur Einführung für Studierende) Menschenwürde in der Pflegebeziehung. Sondierungen auf der Grenze zwischen Ausschluss und Vereinnahmung. In: Jan C. Joerden, Eric Hilgendorf, Natalia Petrillo, Felix Thiele (Hg.): Menschenwürde in der Medizin. Quo vadis?. Nomos. Baden-Baden 2012, 95–113. Ethisch von Würde reden in Grenzsituationen. Avishai Margalits Menschenwürdekonzept geprüft an einem pflegeethischen Hygienebeispiel. In: Hans Werner Ingensiep; Theda Rehbock (Hg.): „Die rechten Worte finden …“ Sprache und Sinn in Grenzsituationen. Königshausen & Neumann. Würzburg 2009, 58–78. Heike Baranzke, Gunnar Duttge (Hg.): Menschenwürde und Autonomie als Leitprinzipien in Bioethik und Medizinrecht. Königshausen & Neumann. Würzburg 2012 (in Vorbereitung)