Herausforderungen an die Behindertenhilfe durch „Junge Wilde

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Herausforderungen an die Behindertenhilfe durch
„Junge Wilde“
Joachim Kutscher
1. Problematik
Fähigkeitszielen reduziert, weil es hier eben
nicht um eine wie auch immer angemessene
Didaktik oder Methodik geht, sondern, wie
ich noch genauer ausführen werde, um das
emotionale Erleben der Betreffenden - und
das ist eben nicht planbar. Offensichtlich
braucht die angesprochene Klientel weniger
Unterstützung auf dem Weg des Lernens als
vielmehr das Erleben von Zuversicht und
Vertrauen. Deshalb wird es für das Betreuungspersonal in Zukunft unvermeidbar
werden,
sich
mit
der
Entwicklungsgeschichte der jungen Wilden zu beschäftigen, um deren emotionale Defizite
nachzuvollziehen und daraus Wert erlebende Umgangsformen zu gewinnen. Der neue
Umgang mit ihnen wird den Verzicht auf
langfristig angelegte Fähigkeitsvermittlung
erzwingen und stattdessen die unmittelbare
Einstellung auf die Tagesaktualitäten erfordern. Und die bekannten Konditionierungspraktiken der Belohnung und Bestrafung
zur Übernahme von Regeln werden sich als
schädlich erweisen.
Für meinen Vortrag wurde mir das Stichwort „Junge Wilde" gegeben. Dahinter
scheint sich eine Art Invasion zu verbergen. In allen Einrichtungen für geistig behinderte Menschen, in denen ich beratend
tätig bin, werden mir zunehmend jüngere
mit herausfordernden Verhaltensweisen
irritierender Art vorgestellt. Ich wage zu behaupten, dass sich dieser Trend künftig
durch die wachsende gesellschaftliche Polarisierung in verwertbare und nicht verwertbare Arbeitskraft verstärken wird. Allerdings bezieht sich dieser Verlust der Verwertbarkeit weniger auf den intellektuellen
Bereich, die sachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten von Menschen, sondern stärker
auf Probleme wie Motivation, Belastbarkeit,
Ausdauer, Leistungswille und Leistungskraft
usw., Dimensionen der Persönlichkeit, die
auch die sog jungen Wilden charakterisieren
und die das Betreuungs- und Ausbildungspersonal entsprechend belasten, bisweilen
demotivieren und ihnen enorme Leistungskraft abverlangen - von aggressiven Durchbrüchen, Arbeitsverweigerung, aktiven Widerständen bis hin zu depressiven Phasen
ganz zu schweigen. Wenn nach neuen
Perspektiven für den Umgang mit dieser
Problematik gefragt wird, kommt man im
Unterschied zur konventionellen Pädagogik
um die Analyse des Entstehungshintergrundes der Verhaltensauffälligkeiten nicht
herum. Hier nützt auch keine Hilfebedarfsplanug, die sich auf die Formulierung von
Um die angesprochene Problematik der
Störung der sozial-emotionalen Beziehung
bzw. der Störung der Persönlichkeit zu klären, gebe ich zuerst einen kurzen Einblick
in die außerordentliche Wichtigkeit des Sozial-emotionalen in der allgemeinen Entwicklung. Sodann komm ich auf die Folgen der Beeinträchtigung zu sprechen. Dies
will ich dann auch exemplarisch aufzeigen.
Was brauchen Kinder, Jugendliche, um psychisch gesund zu
leben – wodurch werden sie psychisch gestört?
1
unterscheiden wollen – die Ebene, die wir als
geistige beschreiben können im Unterschied
zur emotionalen Ebene. Die Frage, die sich
dann aber sofort stellt, ist die nach der Unterscheidung von Geistigem und Emotionalem
und erst dann nach der Störung der beiden
Pole. M. a. W.: Die Untersuchung und Klärung der Störung einer psychischen Funktion
erfordert als notwendig vorausgehenden
Schritt die Untersuchung und Klärung der allgemeinen Entwicklung dieser Funktion. Anders formuliert: Aussagen über das Besondere
sind erst dann sinnvoll, wenn wir das Allgemeine begriffen haben1. Deshalb müssen wir
zunächst das Wesen des geistigen Handelns
und emotionalen Erlebens klären.
2. Was ist das Psychische?
Im alltäglichen Sprachgebrauch und auch in
der fachlichen Diskussion finden wir oft eine
Gegenüberstellung von geistigen und psychischen Prozessen. Das drückt sich u. a. in der
Unterscheidung von geistiger Behinderung
und psychischer Störung aus. Diese Unterscheidung führt in eine irreführende Betrachtung der Arbeitsweise der lebendigen Informationsverarbeitung bzw. der Arbeitsweise des
Gehirns. Deshalb ist es in einem ersten Schritt
nötig, bevor wir über Beeinträchtigungen der
menschlichen Psyche sprechen, sich darüber
klar zu werden, wovon wir überhaupt reden,
wenn das Wort „Psyche“ gebraucht wird. Und
hier wäre erst einmal festzustellen:
Jeder geistige Akt ist immer auch psychische
Aktivität in dem Sinne, dass er die tätige Beziehung des Individuums zur äußeren Wirklichkeit orientiert. Allerdings werden unsere
Zugangsweisen auf die Welt im verändernden
Zugriff auf sie und in der Wahrnehmung nicht
nur „geistig“ organisiert bzw. zu organisieren
versucht, sondern auch immer – wenngleich in
durchaus unterschiedlicher Intensität - emotional erlebt. Folglich sollten wir das Psychische als Einheit von geistigem Handeln und
emotionalem Erleben begreifen. Das heißt sehr
konkret: Jeder geistige Akt wird emotional
bewertet und jede Emotion tendiert zu einer
geistigen Systematik. So neigen wir zum Beispiel immer dazu, eine freudige Erregung
nachvollziehbar zu vermitteln wie wir auch
ständig versuchen, uns über negative Gefühle
Klarheit zu verschaffen. Entsprechend umgekehrt bewerten wir jeden systematischen Akt
irgendwie immer emotional, wenngleich die
Intensität des Erlebens von der Trivialität oder
Außergewöhnlichkeit abhängt. Ersteres erzeugt kaum Emotionen, letzteres relativ intensive. So lässt uns die Aussage: „3 mal 4 = 12“
letztlich (fast) kalt, nicht aber die Zahl 5 Millionen, wenn sie den Gewinn in der Klassenlotterie bedeutet.
3. Unser Verhältnis zur äußeren
Welt
Wenn wir uns mit der äußeren Wirklichkeit
psychisch auseinandersetzen, dann geschieht
dies als Einheit von zwei unterscheidbaren
Prozessen. Wir tun das auf zwei Ebenen: als
gegenständlich sachlich systematische Tätigkeit und als Kommunikation. In der gegenständlichen Tätigkeit nehmen wir nicht lebendige Gegebenheiten wahr und beeinflussen sie,
in der Kommunikation richten wir uns – auch
in der Vorwegnahme - an die lebendige Wirklichkeit (wobei ich mich aus Gründen der Einfachheit mit lebendiger Wirklichkeit auf Menschen beschränke). Beispiele für ersteres können sein Autofahren, Kochen, Basteln, Graben, Sich-auf-den-Stuhl setzen usw., bei letzterem haben wir die Absicht, einen Teil unseres
Innenlebens einem anderen Menschen mitzuteilen wie etwa über sachliche Ereignisse oder
emotionale Erlebnisse zu sprechen, zu zeigen
oder zu gestalten bzw. Emotionalität unmittelbar über Gebärden, Gestik, Mimik oder
sprachliche Intonation direkt zu äußern.
Beeinträchtigt, gestört oder behindert werden
kann also nicht das Psychische im Unterschied
zum Geistigen, sondern – wenn wir schon unterschiedliche Qualitäten der Behinderung
1
Die zeigt sich besondern bei dem Begriff ADHS
(Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom mit Hyperaktivität), wo selbstverständlich über Aufmerksamkeitsstörung diskutiert wird, ohne den Entstehungszusammenhang der Funktion „Aufmerksamkeit“ geklärt zu haben.
2
Eine Folge dieses Unterschiedes zwischen
Auseinandersetzung mit Sachlichkeit bzw.
Lebendigkeit besteht u. a. darin, dass wir im
ersten Fall keine lebendige Rückmeldung erhalten, im zweiten Fall aber erhalten können.
Dies bedeutet weiterhin in Bezug auf das Erleben von Emotionalität einen entscheidenden
Unterschied. Lebendigkeit kann in uns Emotionalität erzeugen und vor allem geben, gegenständliche Rückmeldung letztlich nicht
oder kaum. In der Kommunikation werden wir
in der Regel immer irgendwie emotional berührt, wiewohl es auch immer wieder Situationen gibt, wo man sich langweilt. Auf der anderen Seite gibt es nur wenig gegenständliche
Bewegungen, die dem Schein nach wie Lebendigkeit erlebt werden, wie z. B. die Flamme einer brennenden Kerze oder ein Vulkanausbruch, so dass wir dabei Emotionen erleben. Außerdem gibt es eine Fülle von gegenständlichen Veränderungen in der äußeren
Wirklichkeit, die, weil sie unerwartet und unvorhersehbar auftreten, in uns Emotionen auslösen (z.B. eine Entdeckung), ganz zu schweigen von Gegenständen, die von Menschen als
bewegt konstruiert wurden (z.B. sprechende
Puppen).
Was aber ist dann das Entscheidende am Unterschied zwischen gegenständlicher Tätigkeit
und Kommunikation im Sinne des Austausches von Informationen unter Lebewesen?
Nun: bei letzterem können beide Seiten Lebendigkeit bzw. Emotionen anbieten. Sie geben sich gegenseitig Lebendigkeit, was im Fall
von positiven Emotionen eine sog. Bindungsebene begründen kann, im Fall von negativen
Emotionen Distanz, Ablehnung, Abwehr o. ä.
Mit anderen Worten: Für die Zukunft kann
sich positiv Zuneigung, Vertrauen, Liebe, Begeisterung, Verantwortung usw. entwickeln,
negativ Enttäuschung, Misstrauen, Rückzug
oder destruktive Aktionen usw.
Die strukturellen Aspekte der Beziehung des
Subjekts (Lebewesen) zu äußeren Wirklichkeit
sind in folgender Veranschaulichung zusammengefasst (in Fortbildungsveranstaltungen
veranschauliche ich diese Zusammenhänge
durch das Beispiel eines mit meinem besten
Freund verbrachten Abends bei gemeinsamen
Kochen, Unterhaltung und Wein).
Vermittlung von Subjekt und Objekt durch (materielle) Tätigkeit
S
T
O
T
Emotionale Wertung
Beobachtung
Emotionale Wertung
Aneignung
Aneignung
Vergegenständlichung
Subjekt
Vergegenständlichung
Objekt
Subjekt
Vergegenständlichung
Aneignung
S
Vergegenständlichung
Aneignung
Verhalten
Emotionale Wertung
Emotionale Wertung
Tätigkeit
Einheit von
Vergegenständlichung und
Aneignung
Tätigkeit
Einheit von
Vergegenständlichung und
Aneignung
3
In der Erläuterung unterstelle ich die Existenz von kooperativen Beziehungen, d. h.
unter anderem eine von wechselseitigem
Interesse und positiver Zuwendungsabsicht
getragene Beziehung mit dem Ziel gegenseitiger Anleitung ohne Anweisung.
Die Graphik stellt repräsentativ die Beziehungen
zwischen zwei Subjekten vermittelt über die
tätige Auseinandersetzung mit einem Objekt der
äußeren Wirklichkeit dar, welches konkret als
komplexer Gegenstandsbereich gedacht werden
muss (auf den Fall, wo die Beziehungen zwischen Subjekten nicht objektvermittelt sind,
komme ich später zu sprechen). Die tätige Auseinandersetzung verläuft auf zwei Ebenen, der
Verhaltensebene und der Wahrnehmungsebene,
wobei letztere auch für sich ohne Verhaltensebene betreten werden kann, nicht aber umgekehrt. Dies wird unmittelbar deutlich, wenn wir
den Unterschied zwischen beiden Ebenen klären. Auf der Verhaltensebene nimmt das Subjekt
realen oder ideellen Einfluss auf die äußere
Wirklichkeit bzw. es verändert sie materiell oder
antizipiert diese Veränderung. Das Ziel ist die
Veränderung der äußeren Wirklichkeit (z.B.
die Herstellung eines Produkts oder die Überredung eines anderen Menschen). Dabei bewegt es
sich selbstverständlich auch auf der Wahrnehmungsebene, jedoch muss Wahrnehmungstätigkeit nicht immer Begleitung oder Folge von
Verhaltenstätigkeit sein. Auf der Wahrnehmungsebene verläuft der Veränderungsprozess
gleichsam in der umgekehrten Richtung: Veränderungen in der äußeren Wirklichkeit werden
vom Subjekt widergespiegelt, d.h. mit verfügbaren Möglichkeiten der Informationsverarbeitung
(der Organismus rekonstruiert die äußeren Vorgänge, indem er sie aktiv zu konstruieren versucht), so dass er Selbstveränderungen durchlaufen kann aber nicht muss (letzteres, wenn die
Vorgänge nicht neu sind).
Dies kann auch ohne verändernde Einflussnahme bzw. deren Antizipation geschehen. Ziel ist
die Erfassung der äußeren Wirklichkeit in
der aktuellen Existenzform bzw. Existenzdynamik (z.B. das Bestaunen eines Kunstwerkes oder die Feststellung des erwarteten Ergebnisses bzw. das angesteckt Werden durch das
Temperament eines anderen Menschen). Beide
Ebenen, die Verhaltensebene und die Wahrnehmungsebene, sind durch zwei Kategorien
von inneren Tätigkeiten dimensioniert. In der
Vergegenständlichung dimensioniert das
entwickelte Tätigkeitsniveau die Erfassung
und Beeinflussung bzw. antizipierte Beeinflussung der äußeren Wirklichkeit, in der Aneignung wird dieses Tätigkeitsniveau bereichert und erneuert. Man könnte auch sagen:
in der Vergegenständlichung versucht der
Organismus konservativ zu bleiben, in der
Aneignung begibt er sich in die (reformative,
die neue oder sogar revolutionäre) Entwicklung. Anders ausgedrückt: Indem sich der
Organismus vergegenständlicht, erfährt er
sich in der Aneignung selbst, was u. a. bedeutet, dass er sich nicht erneuert, wenn die
Vergegenständlichung keinem Widerstand
begegnet. Bevor aus dem Gesagten weitere
Schlussfolgerungen gezogen werden, möchte
ich die Zusammenhänge veranschaulichen.
Im Augenblick schreibe ich diesen Text am
Computer und bewege mich auf der Verhaltens- wie Wahrnehmungsebene: ich verändere
das Aussehen des Monitors materiell und
nehme dies schrittweise vorweg (Verhaltensebene), wobei ich in den Veränderungen
(Schrift) meine geistigen Handlungen vergegenständliche, und ich nehme das Resultat
meiner Bemühungen wahr (Wahrnehmungsebene), wobei ich mir die Bedeutungen der
Buchstabenkombinationen aneigne. Ich verwirkliche also den geistigen Gegenstand
„Struktur der Entwicklung von Subjekten unter
Bedingungen von Kooperation“ (siehe Abbildung)
äußerlich (Vergegenständlichung), und mache
dies dann wiederum zum geistigen Gegenstand in mir (Aneignung). Dabei wird als
nicht unterschreitbar deutlich, dass Tätigkeit
durch zwei Pole determiniert wird, durch das
Subjekt mit seinen möglichen Regulationsstrukturen und Beweggründen und durch die
äußere Wirklichkeit mit verschiedenen Objekten und Subjekten (für letztere sind selbstverständlich die gleichen Vorgänge bestimmend).
Tätigkeit vermittelt also zwischen beiden Polen und muss sich deshalb ständig erneuern,
es sei denn, die äußere Wirklichkeit würde
mechanisch konstant gehalten werden (z.B.
unter Isolationsbedingungen).
Sehen wir uns diese Vorgänge in einem anderen Lebensbereich und auf einem anderen
Entwicklungsniveau an. Ein Kind im Vorschulalter ist vorherrschend durch Rollen-
übernahme zu motivieren. Spielt man z.B. mit
dem Kind Autofahren mit zwei Küchenstühlen,
so verändert das Kind seine unmittelbare Umgebung zu diesem Zweck, etwa durch die Benutzung eines Tellers als Lenkrad (Verhaltensebene). Dabei vergegenständlicht es eine Fülle
von phantastischen Vorstellungen, wie und wohin es fährt und wem es dabei begegnet. Gleichzeitig übernimmt es vom Mitspieler eingebrachte Ideen über die Wahrnehmung seiner Aktivitäten und eignet sich einen Teil als Bereicherung
seiner selbst an.
Die Verflochtenheit von Wahrnehmungs- und
Verhaltensebene sowie von Vergegenständlichung und Aneignung ist aber noch wesentlich
komplexer. Es handelt sich natürlich keinesfalls
um eine nur oberflächliche Ergänzung oder
Vervollständigung, wenn sowohl innerhalb der
Verhaltensebene wie der Wahrnehmungsebene
Vergegenständlichung und Aneignung unterschieden werden. Beide Prozesse haben in den
jeweiligen Ebenen unterschiedliche Qualitäten,
die ich aber an dieser Stelle lediglich exemplarisch andeuten kann.
Bei der gezielten Beeinflussung der äußeren
Wirklichkeit (z.B. Umräumen, Basteln, Kochen,
Schreiben usw.) erlebt man das werdende Resultat nicht nur in der Wahrnehmung (die integrierte Verarbeitung der sensorischen Information),
sondern auch körperintern als Bewegung bewusst oder nicht bewusst. Diese Arbeit übernehmen zahlreiche körperinterne Rezeptoren,
die in ihrer Gesamtheit den sog. inneren Rückmeldekreis bilden, im Unterschied zum äußeren
Rückmeldekreis auf der Wahrnehmungsebene
der auf die äußere Welt gerichteten Sinnesorgane wie Auge, Ohr, Haut usw. Ein Teil dieser die
Körperbewegtheit meldenden Rezeptoren wird
auch dann aktiviert, wenn der Körper nur von
außen bewegt wird, wir also nur in diesem Teilbereich wahrnehmen (z.B. jemand versucht,
mich durch die Gegend zu schieben, oder redet
penetrant auf mich ein). Dieser Qualität des
Psychischen trägt die Aneignung auf der Verhaltensebene Rechnung, die selbstverständlich auch
die Bewegtheit in der Wahrnehmungsaktivität
zurückmeldet, so dass wir je nach subjektiven
Aneignungsmöglichkeiten positiv oder negativ
reagieren. Dies ist ohne weiteres an dem Paradoxon nachzuvollziehen, dass bestimmte Menschen sofort mit Panik reagieren, wenn sie sich
5
eingeengt fühlen, aber wesentlich gelassener
bleiben können, wenn sie die gleiche Situation
bei einem anderen Menschen beobachten aber eben auch einen Hauch der Einengung
spüren. Unter solchen Bedingungen haben
wir oft nur noch die Möglichkeit, uns anzupassen; der Aneignungsprozess hat dann die
Vergegenständlichungstätigkeit
erheblich
verloren und degeneriert deshalb zum Anpassungsprozeß.
In der positiven Richtung finden wir die relative Beschränkung auf die Wahrnehmungstätigkeit (ohne Verhaltenstätigkeit) z.B. im Genießen von Ästhetik, in der Vergegenständlichungstätigkeiten auf hohem Organisationsniveau ablaufen. Man kann selbstverständlich
Musik oder ein Bild wundervoll finden, ohne
selbst zu musizieren oder zu malen. In diesem
Genießen realisiert sich aber gleichzeitig ein
Prozess der Vergegenständlichung, als wir
eben die Melodie, Harmonie und Rhythmik
selbständig nachvollziehen ebenso wie die
Gestaltung des Bildes. Wo wir keine Verarbeitungsmuster für die Vergegenständlichung
besitzen, finden wir an der Musik oder dem
Bild keinen Gefallen (letzteres kann aber auch
eintreten, wenn verfügbare Verarbeitungsmuster von uns als negativ gespeichert sind,
so dass die Vergegenständlichung abgebrochen wird).
Damit komme ich zur emotionalen Dimension unserer Beziehung zur äußeren Welt, die
in der graphischen Darstellung durch die rot
gepunkteten Linien markiert wird. Wie schon
oben gesagt, wird jede geistige Handlung
emotional erlebt und jede Emotion zu verdeutlichen versucht, sei es mit sprachlichen
Mitteln oder spezifischen Ausdrucksformen.
Durch die Qualität der emotionalen Wertung
der Vergegenständlichung und Aneignung
wird festgelegt, ob wir uns auf die jeweiligen
Situationen wieder zu bewegen wollen oder
nicht. Erleben von Freude, Begeisterung,
Stolz oder Genugtuung machen die Situation
attraktiv, Angst, Aggression, Schmerz oder
Enttäuschung aktivieren den künftigen Rückzug. Hier wird nun die ungeheure Bedeutung
von Emotionen für die Zukunft deutlich,
indem diese die Entwicklung von Motiven
bestimmen. Im ersten Fall entsteht ein Beweggrund in Richtung Zugang auf die Wirk-
lichkeit, andernfalls das Gegenteil. Auf dieser
Basis entwickeln wir Interessen, Hobbies, Ehrgeiz, Willenskraft usw. Im zweiten Fall wenden
wir uns ab, beurteilen die Erlebnisse als unerfreulich und meiden sie in Zukunft. Vergleichbare Konsequenzen ergeben sich in Bezug auf
die Auseinandersetzung mit anderen Menschen.
Sympathie begünstigt die erneute Widerbegegnung, das Interesse an seiner Person und Neugier auf seine Aktivitäten, bei Antipathie eben
das Gegenteil und damit Verzicht auf mögliche
Erneuerung von Erlebnissen und Erkenntnissen. Aber: Sympathie oder Antipathie, Liebe
oder Hass, Mögen oder nicht Mögen sind Erlebnisformen, die jenseits der gegenständlichen
Aspekte unserer Aktivitäten ablaufen und entstehen. Sie unterliegen nicht der Bewertung der
Nützlichkeit und Brauchbarkeit des jeweils anderen, sondern werden in der konkreten Lebendigkeit des anderen unmittelbar erfahren (die
äußeren rot gepunkteten Linien in der graphischen Darstellung). Deswegen glauben wir ja –
wie es im Alltag heißt – „auf den ersten Blick“
auf andere Menschen positiv oder negativ eingestellt zu werden. Wir scheinen also auch und
wahrscheinlich vor allem durch Gefühle Entscheidungen zu treffen – und nicht nur, wie
traditionell geglaubt wird, auf der Basis von reiner Verstandestätigkeit. Zur Bedeutung von
Emotionen für Entscheidungsprozesse gibt es in
jüngster Zeit sogar neurologische Befunde, in
denen u. a. aufgezeigt wurde, dass Schädigungen
im Gehirn in Gebieten, die für die emotionale
Bewertung von Ereignissen notwendig sind, die
betreffenden Menschen nahezu entscheidungsunfähig machen2.
4. Störbarkeit des Psychischen
Wenn wir das Psychische, wie oben diskutiert,
als Einheit von Prozessen des geistigen Handelns und emotionalen Wertungen begreifen
müssen, dann muss das Entscheidende der Störung des Psychischen in der Zerstörung dieser
Einheit zu suchen sein. A. N. Leontjew, einer
der bedeutsamsten Vertreter der sog. Tätigkeitstheorie, spricht in diesem Zusammenhang vom
Auseinanderfallen von Sinn (das Insgesamt aller
Emotionen im Vollzug einer bestimmten Tätig2
Vgl.: Paetsch, M.: Warum Gefühle so wichtig sind. In:
GEO-Wissen, Nr. 45, 2010, S. 26-34.
6
keit) und Bedeutung (das Ingesamt aller Erlebnisse als Ergebnis das systematischen
Handelns in dieser Tätigkeit), was den Kern
aller pathologischen Prozesse ausmache3.
Das würde bedeuten, dass sich beide Ebenen
der Orientierung eines Menschen an der äußeren Welt in irgendeiner Weise verselbständigt haben müssen. Es könnte also im Extremfall sein, dass geistige Prozesse nahezu
ohne emotionale Wertung für die äußere
Wirklichkeit und andererseits emotionale
Prozesse kaum mehr unter realitätsbezogener geistiger Kontrolle ablaufen.
Eine derartige teilweise und zeitlich beschränkte Entkopplung von „Verstand“ und
„Gefühl“ muss noch nicht notwendigerweise
pathologisch sein. Ja, sie charakterisiert große
Bereiche unseres Alltags. So kennt wahrscheinlich jeder von uns Phasen, in denen
man extrem konzentriert mit einem Problem,
einer Aufgabe oder einem Spiel beschäftigt ist
und dabei der Welt kaum oder nicht emotional zugewandt ist (ein komplizierter Arbeitsauftrag oder die zu lösenden Prüfungsaufgaben). Umgekehrt erleben wir uns emotional
hoch dynamisch, wenn wir mit Überraschungseffekten konfrontiert werden und
dabei scheinbar den Verstand verlieren
(himmelhoch jauchzende Begeisterung mit
Freudentränen oder panische Angst).
Alarmierend hingegen präsentiert sich die
Verselbständigung von einer der beiden Ebenen, wenn der äußere Beobachter keine
Rückkehr zur Einheit feststellen kann. Und,
Rückkehr zur Einheit bedeutet letztlich Weiterbewegung, Entwicklung, Lernen, Erneuerung usw., also keine Stagnation, keine Stereotypie, keine gleich bleibende Wiederholung4. Dies wäre etwa der Fall bei „geistiger
Behinderung“, wo ein Fortschreiten in der
Komplexität in der sachlichen Auseinandersetzung mit der Welt nicht erlebt wird (z. B.
Regeln werden nicht erkannt bzw. nicht eingehalten). Auf der emotionalen Ebene kann
3
A. N. Leontjew: Tätigkeit, Bewusstsein, Persönlichkeit. 1982.
4
Unter Bedingungen der Einheit verlangt die Arbeitsweise des Gehirns eine tätige Beziehung des
Organismus zur äußeren Welt, in der es ständig organische Bereicherung erfährt, d. h. ein ständiger
Aufbau neuronaler Vernetzung.
sich das darin zeigen, das die Betreffenden Umgangsregeln zwar erkennen, aber nicht achten,
d.h. für den äußeren Beobachter a-sozial auffallen (z. B. bei Menschen mit einer dissoziativen
Persönlichkeitsstörung).
Die Bedingungen für die Zerstörung der Einheit
können unterschiedlicher „Natur“ sein. Wir
sprechen von Schädigung als Bedingung, wenn
eine organische Beeinträchtigung als Ausgangsursache vorliegt, und von Behinderung, wenn
das gesellschaftliche Milieu dem Menschen unüberwindbare Barrieren stellt. So hat zum Beispiel das Syndrom Trisomie 21 (DownSyndrom) als Ausgangsentstehungsbedingung
eine organische Schädigung zur Grundlage, die
dem Syndrom seinen Namen gegeben hat, nämlich eine Verdreifachung bestimmter Anteile des
Chromosomensatzes an der Stelle 21. Diese
bewirkt in der Folge eine Kaskade von organischen Fehlfunktionen, die sich letztlich in einer
Störung der Entwicklung des systematisch geistigen Handelns manifestieren. Aber nicht nur
darin: denn, in dem Maße, wie Heranwachsende
mit Trisomie 21 durch die Beeinträchtigung
ihres geistigen Handelns den Anschluss an die
allgemeine Entwicklung ihrer Umgebung verpassen, beginnen sie unter dem schrittweisen
Verlust der sozialen Ebene zu leiden und zunehmend deprimiert zu werden. Es entsteht also
ein emotionales Problem.
Auf der emotionalen Ebene äußert sich eine
andere hirnorganische Beeinträchtigung, die
aber in den letzten Ausgangsbedingungen noch
nicht geklärt ist, in dramatischer Weise, nämlich
als Autismus. Hier wäre die Entwicklung des
geistigen Handelns organisch eigentlich nicht
gestört, ist jedoch durch den Rückzug vor emotionalen Äußerungen anderer Menschen in zweifacher Weise beeinträchtigt: Menschen mit autistischer Informationsverarbeitung vermeiden den
lebendigen Kontakt, entwickeln deshalb keine
Empathie und in der Folge davon keine sozialen
Umgangsformen. Dies hat selbstverständlich
auch Folgen für den Erwerb von alltäglichen
Fähigkeit und Fertigkeiten. Denn: wer der Bewegung anderer Menschen mit seinen Sinnesorganen nicht oder kaum folgen kann, dem bleibt
ein großer Teil von Kultur verschlossen. Es
entsteht also ein Problem im geistigen Handeln.
7
Noch eindrücklicher zeigt sich die Dramatik
der Zerstörung der Einheit menschlicher
Tätigkeit an Beispielen, in denen sog. Milieuschäden den Ausgang der Störungsentwicklung bilden. Ich habe zur Klärung die Diagnose „antisoziale Persönlichkeit“ und
„Borderline-Syndrom“ gewählt, also keine
geistige Behinderung im konventionellen Sinne, obwohl in diesem Bereich viele vergleichbare Verhaltensbilder zu finden sind und offensichtlich auch zunehmen (vgl. die Zunahme der sog. Doppeldiagnose).
Zunächst zum Bild der „antisozialen Persönlichkeit“: Eine Lehrerin in einer Förderschule
bat mich um ein Fördergutachten über einen
höchst problematischen Schüler, der kurz vor
dem Schulverweis stand. Seine Störungsaktivität stellt sich wie folgt dar:
 Manipulation und Provokation
der Integrität anderer Personen
Mit 12 Jahren erhält Karl eine Ermahnung
wegen einer Sachbeschädigung eines Fahrrades. Zur Rede gestellt, zeigt er keine Verantwortungsbereitschaft und wehrt sich
stattdessen mit „frechen“ Redensarten. Karl
zeigt auch keinen Ansatz zu einer Wiedergutmachung.
Als Verstoß gegen die Schulordnung wird
Karls Verhalten ein halbes Jahr später gerügt, als er sich während einer Busfahrt seiner Schuhe und Socken entledigte, seine
Füße befummelte und sein Geschlechtsteil
demonstrativ zeigte.
 Aggressionen gegen Personen
Bereits mit knapp 8 Jahren, so die Aussagen
im Beratungsgutachten fällt Karl durch
Schlagen anderer Kinder auf. Der Gutachter
führt aber keine nähere Beschreibung oder
gar Begründung solcher Vorfälle auf, weshalb zunächst nur die Tatsache dieser Auffälligkeit im Raum steht.
Mit über 12 Jahren beginnt nach den mir
vorliegenden Akten nach einer Phase relativer Besserung seiner Verhaltensauffälligkeiten eine Phase zunehmender Verhaltensschwierigkeiten. Nachdem Karl einer Schülerin ins Gesicht geboxt hat, erhalten seine
Eltern die Mitteilung über einen Verstoß
gegen die Schulordnung.
Zum Ausschluss vom Schülertransport
kommt es zwei Jahre später, weil Karl im
Bus andere Schüler mit einer Fahrradkette
verunsicherte, die eingreifende Lehrerin „auf
übelste Weise“ beschimpfte und ihr ins Gesicht spukte.
 Experimentell destruktiver Umgang mit
kooperativen Prozessen anderer Menschen
Im Verlauf einer späteren Sportveranstaltung
stört er mit anderen Jugendlichen die Veranstaltung derart massiv, dass die Polizei gerufen
wird. Jugendliche Teilnehmer wurden von den
Störern mit Steinen beworfen und durch Heftzwecken am Wettkampf behindert. Von mir
über die Gründe dieser Aktivitäten befragt,
antwortet Karl: „Ich wollte sehen, was dann
passiert“.
In der Begründung zum Antrag auf Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs
wird u.a. festgestellt, Karl kenne kaum gängige Kinderspiele und hätte Schwierigkeiten, mit
anderen Kindern altersgemäß zu spielen. Er
mache lieber kaputt, was andere bauten.
Ersichtlich muss Karl mit diesem Verhalten
bereits mit 8 Jahren auf Ablehnung stoßen. Er
erzeugt damit Situationen, wenn sie denn öfters vorkommen, die zum einen seine soziale
Isolation verschärfen und auf die zum anderen
Schule nur bedingt angemessen zu reagieren
die Kompetenz besitzen kann.
Diese Verhaltensmuster haben natürlich ihre
Geschichte. Dazu ein Auszug:
Bis zu seinem dritten Lebensjahr lebte er in
einer Familie, wo der Vater seine Frau und die
Kinder schlug und misshandelte (insbesondere
Karls wesentlich älteren Stiefbruder). Der Vater drohte, die Familie im Falle einer Scheidung
umzubringen.
In der Folgezeit von vier Jahren nach der
Trennung lebt die Familie in sehr beengten
Wohnverhältnissen, was unter den vorgegangenen Bedingungen von Unkultiviertheit sicherlich nicht zum Gegenteil führen konnte.
Seit der zweiten Ehe haben sich die Wohnverhältnisse verbessert, dennoch würde Karl nach
wie vor unter Gewaltbedingungen leiden. Er
wird zurzeit von seinen Eltern und älteren
Bruder geschlagen. Der Bruder sei auch gegenüber der Lehrerin verbal-aggressiv und bedrohlich aufgetreten.
Wegen wachsender Gewalttätigkeit von Karl
(er greift zum Messer, wenn sein Bruder auftaucht) wird er durch Stubenarrest zu diszipli8
nieren versucht, d.h. mit einer Maßnahme,
die in Ermangelung von Kultivierungsangeboten und -vorbildern Gewalttätigkeit sogar
noch modelliert.
Versucht man die genannten Vorgänge als
Erscheinungsformen eines zugrunde liegenden Bedingungsmusters zu begreifen, so
erweist sich Karl als ein Mensch, der zum
einen Gefühlen und Empfindlichkeiten anderer Menschen scheinbar unbeeindruckt,
gleichgültig bis rücksichtslos gegenübersteht,
sie aber durch Manipulation unter seiner
Kontrolle zu provozieren versucht; zum
anderen und im scheinbaren Gegensatz dazu benötigt er andere Menschen zum Erleben von persönlicher Geltung, allerdings in
Form von Machtverhältnissen, in denen er
ebenfalls die Kontrolle über die anderen zu
behalten versucht. M. a. W.: Karl verhindert
mit allen möglichen Mitteln das Erkennenlassen von eigenen Emotionen und scheint
sich seiner für andere nicht erkennbaren
Emotionalität durch deren Manipulation
rückzuversichern. Karl würde auf diese Weise unter panischer Angst in der Gefahr leiden, daß seine Gefühle offenkundig werden
könnten. Unter dieser Voraussetzung
kann sich kein Selbstwertgefühl entfalten, so dass er vor der unangenehmen
Lebensaufgabe steht, ihn emotional berührende Aktivitäten kaschiert, d.h.
heimlich auszuführen.
Karl trägt also in sich die Biographie der
Nichtachtung von menschlicher Umgangskultur, weshalb er für sich kein Gefühl des
Gebrauchtwerdens im Bereich gegenständlicher Aktivität entwickeln kann. Gleichzeitig
verhindert aber die erlebte rücksichtslose
Gewalt im Umgang mit seinem Körper das
Werden eines körperlichen Selbstwertgefühles, weshalb er keinerlei Empathie empfinden kann.
Es wäre an der Zeit, dass ihm die verarbeitbare Möglichkeit geboten würde, in kultivierte menschliche Verhältnisse hineinzuwachsen.
Karl benötigte eine Beschäftigungsumgebung, in der er konkret durch ihn lebendig
führende Menschen zu Aktivität herausgefordert wird und darüber Wahrnehmung
seiner Person und Anerkennung erfährt.
Das entscheidende ist also der sichere, eindeutige und zuverlässige zwischenmenschliche
Bezug, den Karl braucht und den er auch konstruktiv erleben möchte, wie einige Hinweise in
den Unterlagen darlegen. Auch das Engagement der erwähnten Lehrerin hat erwiesen,
dass Karl Vertrauen in andere Menschen zu
entwickeln in der Lage ist. Allerdings benötigt
er dazu die Sicherheit, Zuverlässigkeit und Geborgenheit individueller Orientierung und Interesses an seiner Person. Diese Aufgabe kann
von einer einzelnen Person nicht geleistet werden. Ob eine Schule für Lernhilfe zu dieser
Entwicklung beitragen kann, muss jeder Lehrende vor dem Hintergrund seiner empfundenen emotionalen Stabilität und „Kondition“
selbst bewerten5.
Kommen wir nun zum zweiten Beispiel, der
Problematik des Borderline-Syndroms.
In der Aufnahmestation einer Psychiatrie
wurde mir eine Frau im Alter von 32 Jahren
beschrieben, die das ärztliche und pflegerische
Personal vor unlösbare Rätsel stellte. Nach drei
Wochen verschiedener Therapieangebote (Gesprächstherapie, Ergo- und Kunsttherapie) stellte sich der Eindruck einer unklaren Resistenz
gegenüber allen Versuchen ein, sie zu einer zuverlässigen Gestaltung ihres Tagesablaufes anzuleiten. Die Frau unterlag auffallend wechselhaften Stimmungsschwankungen, die im scheinbaren Widerspruch zu ihren gedanklich sehr klaren
Phasen im direkten Gespräch standen. Sie
schien sich auf Vereinbarungen einzulassen, hielt
sich aber letztlich nicht daran. Sie konnte auch
keine nachvollziehbaren Gründe für ihre Unzuverlässigkeit anführen. Besondere Irritationen
löste ihre Kompetenz aus, ihr dramatisches Leben in vielen den Zuhörer erschütternden Details zu schildern, diese aber fast unbeeindruckt
5
Dass in der Konfrontation mit derartigen Verhaltensproblemen die konkrete Persönlichkeit des Lehrenden viel bedeutsamer ist als irgendeine pädagogische Kompetenz, zeigt sich noch deutlicher in der
Frage des Umgangs mit sexuell missbrauchten Kindern und Jugendlichen. Exemplarisch habe ich die
Dramatik dieser psychischen Störung und ihrer Beeinflussbarkeit bei einem Jungen im Kindergartenalter zu klären versucht; vgl. Kutscher, J.: Zum kultivierten Umgang mit Aggression. In: Feuser,
G./Berger, E. (Hrsg.): Erkennen und Handeln. Verlag Pro BUISINESS: Berlin, 2002, S. 278-293.
9
in Form einer Berichterstattung vorzutragen.
Letzteres veranlasste dann auch den gesprächstherapeutisch arbeitenden Arzt, sich
nach außen um Hilfe zu wenden, zumal er
sich von der Frau in gewisser Weise erpresst
fühlte. Schließlich vermittelte sie den Eindruck, sie mache in der Aufarbeitung ihrer
Geschichte, soweit sie diese selbständig schilderte, beeindruckende Fortschritte, ließ aber
in ihrer emotionalen und lebenspraktischen
Stabilisierung jeden Fortschritt vermissen und
versuchte ständig, verschiedene einzelne Personen an sich zu binden. Letztlich glaubte
man sich sogar von ihr irgendwie manipuliert
und resignierte in der Erkenntnis, der therapeutische Einfluss würde stagnieren.
Sie selbst schilderte Symptome, die den Verdacht aufkommen ließen, dass sie große
Schwierigkeiten mit ihrem körperlichen
Selbstbild haben müsste. Sie berichtet im
Aufnahmegespräch, dass sie unter Angstzuständen leide, nachts nicht schlafen könne.
Dies bewirke bei ihr Minderwertigkeitsgefühle. Sie habe Angst, ihre Aufgaben nicht zu
schaffen, insbesondere ihrer Mutterrolle nicht
nachzukommen. Sie habe 2 Söhne im Alter
von 3 und 6 Jahren. In diesem Zusammenhang träten dann immer wieder Suizidgedanken auf. Sie habe bereits mehrere Suizidversuche hinter sich, habe sich die Pulsadern
aufgeschnitten, sich versucht zu strangulieren,
Kleiderbügel in die Steckdose gesteckt.
Auch diese Problematik hat natürlich ebenso
seine Geschichte, wie die antisoziale Persönlichkeit, aber eben eine andere, eine Geschichte, die die subjektiv empfundene Wertlosigkeit des eigenen Körpers nachvollziehbar
macht. Ich möchte davon nur einen Auszug
wiedergeben:
Sie wurde direkt nach ihrer Geburt in ein
Kinderheim gegeben. Ihre leiblichen Eltern
kennt sie nicht. Mit 3 Jahren wurde sie als
Pflegekind in die Familie eines Pastors aufgenommen, wo bereits der 1-jährige leibliche
Sohn lebte, ein Jahr später wurde noch eine
Tochter geboren, ein weiteres Jahr später eine
zweite Tochter. Sie habe sich von ihren Geschwistern immer ausgeschlossen gefühlt,
diese seien auch von den Eltern immer bevorzugt worden. Als die Patientin 15 Jahre alt
war, zog die Familie von A nach B um, wobei
ihr der Wechsel der Umgebung sehr zu schaf-
fen gemacht habe. Etwa zu dieser Zeit habe sich
ihre Regel eingestellt, worüber sie sehr erschrocken gewesen sei, da die Eltern sie nie aufgeklärt hätten. Zu dieser Zeit wurde sie von den
Eltern adoptiert, die gleichzeitig ihren Vornamen von Sylvia auf Elisabeth umänderten. Das
habe sie von allem am schwersten getroffen. Sie
habe gedacht, dass die Eltern sie als Sylvia nicht
haben wollten. Daraufhin hätten die Eltern sie in
die Jugendpsychiatrie gebracht. Der Grund hierfür sei ihr nie richtig einsichtig gewesen. Von
dort aus sei sie in eine Jugend-WG in C gekommen. In dieser Zeit sei sie von einem Unbekannten in der Stadt vergewaltigt worden. Seitdem
habe sie immer wieder Suizidhandlungen begangen.
Vom 6. bis zum 8. Lebensjahr sei sie regelmäßig von einem Bekannten der Eltern sexuell
missbraucht morden, zum Geschlechtsverkehr
sei es jedoch nie gekommen. Dieser Bekannte
hatte gedroht, sie umzubringen, falls sie etwas
von dem Verhältnis erzähle. Vom 12. bis zum
14. Lebensjahr sei sie während des regelmäßigen
Alpenurlaubes mit den Eltern von einem Erwachsenen missbraucht morden.
Vom 18. bis zum 19. Lebensjahr sei sie zum
1. Mal verheiratet gewesen, aus dieser Ehe
stamme ihr erster Sohn. Dieser Mann habe sie
häufig vergewaltigt und geschlagen, in der
Schwangerschaft auf den Bauch getreten und
mehrmals versucht, sie und ihren Sohn umzubringen. Zum Schluss sei sie vor ihm ins Frauenhaus geflohen und habe sich scheiden lassen.
Im selben Jahr entging sie einem Vergewaltigungsversuch auf der Straße, in der Nervenklinik
W sei sie in der Fixierung von einem Pfleger
sexuell missbraucht worden.
Seit 7 Jahren ist Frau H. nun mit ihrem jetzigen Ehemann zusammen, den sie vor 4 Jahren
geheiratet hat. Beide sind dann zusammen aus C
nach E gezogen. 1987 wurde die gemeinsame
Tochter, 1989 der Sohn geboren.
Im selben Jahr ließ sich die Patientin wegen
ihrer Erkrankung sterilisieren. Die Ehe schilderte die Patientin als von aggressiven Auseinandersetzungen geprägt. Ihr Mann lehne sie körperlich ab, weil sie ihm zu dünn sei, und sie fühle
sich ihm gegenüber nicht als Frau; sie habe ohnehin schon Probleme mit der Frauenrolle und
wolle eigentlich auch nicht erwachsen werden.
Sie verfalle häufig in die kindliche Rolle,
wodurch er sie wieder bevormunde. Sie habe die
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Scheidung eingereicht, er wolle aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen.
Seit 2 Jähren wird die Familie von der Familienfürsorge betreut. Die Kinder sind in
einer Pflegefamilie usw. usw.
Wenn wir alle genannten und nicht genannten
Details als Ergebnis einer charakteristischen
Entwicklungslinie betrachten, muss man feststellen, dass die Frau fast keine emotionale
Beziehung zu ihrem Körper hat. Sie behandelt ihren Körper wie ein Objekt. Dies reicht
von der kompetenten Selbstdarstellung der
eigenen Geschichte ohne erwartete emotionale Reaktion in der Therapie, über den Anspruch, eine perfekte Mutter sein zu wollen,
der Mutterrolle jedoch nicht gerecht zu werden, bis zum beginnenden gewaltsamen Umgang mit dem eigenen Körper in Form von
Essstörungen bzw. erschreckenden Suizidversuchen. Wir finden bei ihr quälende Selbstvorwürfe und Minderwertigkeitsgefühle wegen Angstzuständen und Schlaflosigkeit. Sie
geht also mit ihrem Körper in erster Linie
systemhaft und kaum dialogisch kultiviert um,
letztlich fast manipulativ. Auf dieser Ebene
erfährt sie die Wahrnehmung ihrer Person,
allerdings um den hohen Preis wiederkehrenden Beziehungsverlustes. Gelegentliche Aggressionen verbleiben im Bereich hoch affektiver Erregung, werden selbst nicht systematisch und drücken dadurch die starke Bedürftigkeit nach Erhalt der Beziehung aus. Zudem
wäre hier schon zu berücksichtigen, dass
Menschen, deren Körperselbst nicht kultiviert
wurde, selbstverständlich große Schwierigkeiten im Konfliktfall auf der Beziehungsebene
haben müssen – sie kennen ja kaum den
Körper achtende Umgangsformen. Auch die
zunehmenden depressiven Phasen manifestieren eine hohe subjektive Bedeutungsarmut
des eigenen Körpers als dialogisch erlebter.
Wir können also schlussfolgern: Frau Hiller
ist durch ein stark entwertetes Körperselbstbild gezeichnet und damit durch ein
Syndrom, das in seinem Entstehungszusammenhang durch bestimmte Bedingungen gravierender Isolation bestimmt ist. M. a. W.:
Das zentral wirksame Syndrom, welches wir
bei Frau Hiller neben anderen Störungsbedingungen zu untersuchen haben, ist die
Entwertung ihres Körperselbstbildes bzw.
ihres Körperselbsterlebens.
Allerdings hat diese emotionale Beziehungslosigkeit wiederum Folgen für die Bewältigung
von sachlichen (Alltags-) Aufgaben, die mit der
Zeit immer schwerer fallen, so dass auch die
Entwicklung im gegenständlichen Bereich zunehmend zurück genommen wird.
Mit diesen beiden Beispielen deutet sich eine
wichtige Problematik an. Die Beeinträchtigung
dessen, was wir als systematisch geistiges Handeln bezeichnen können, verbleibt nicht in diesem Bereich. Sie hat entscheidende Auswirkungen auf die emotionale Ebene und damit auf die
erlebte Beziehung zu anderen Menschen. Umgekehrt: die Beeinträchtigung der emotionalen
Ebene bremst den Zugang auf eine Vielfalt
kompetenten Umgangsweisen mit der Welt und
bewirkt auf diese Weise eine geistige Beeinträchtigung.
Personen mit dieser Problematik, der empfundenen Wertlosigkeit des eigenen Körpers, brauchen deshalb der Erleben der Kultivierung ihres
Körpers, in der sie erfahren können, dass ihr
Körper ästhetisch ist und darüber Bindung entstehen kann.
Eine Unterscheidung von geistiger Behinderung
und emotionaler Störung muss somit von Anfang an aus der Perspektive der Wechselwirkung
von biologischer und Umweltbeeinträchtigung
gesehen werden. Sicherlich ist darin eine
Schwerpunktwirkung des einen oder anderen
Pols festzuhalten und entsprechend hervorzuheben. Für die Praxis des Umgangs mit den betreffenden Menschen ist aber die Kenntnis der
genannten Wechselwirkung von entscheidender
Bedeutung. Wie wir also mit einem Jugendlichen
mit Trisomie 21 konstruktiv und fördernd umzugehen haben, hängt nur zu einem geringen
Teil von der Verdreifachung an der Stelle 21 in
der chromosomalen Ausstattung ab. Viel wichtiger ist die Prägung durch seine Biographie, in
der die Entfaltungsbedingungen für seine Entwicklung enthalten sind. Gleiches gilt es für den
Menschen mit autistischer Informationsverarbeitung anzumelden. Er ist zwar auf der emotionalen Ebene der Möglichkeit nach schwer gestört aber wie massiv real, ist aus der Kenntnis
seiner Biographie zu beurteilen und in einer
Diagnose zu berücksichtigen. Desgleichen bleibt
es bei der antisozialen Persönlichkeit nicht bei
einer Dekultivierung in Bezug auf Umgangfor11
men im gesellschaftlichen Alltag, sondern
weitet sich in Richtung Empathieverlust aus.
Umgekehrt bewirkt die emotionale Schwerverletzung in der Borderline-Biographie die
Beeinträchtigung kompetenten Alltagshandelns.
Man kann an den Beispielen in aller Deutlichkeit erkennen, dass der Umgang mit
Menschen, die auf der sozial-emotionalen
Ebene beeinträchtigt sind, äußerst komplex
ist und eine Qualifikation erfordert, die über
das, was in der Regel als Förderung bezeichnet wird, weit hinausreicht.
Die konventionellen Klassifikationsschemata
DMS und ICD reduzieren die Diagnosen
„geistige Behinderung“ und „psychische Störung„ sowie „antisoziale Persönlichkeit“ und
„Borderline-Syndrom“ auf die äußere Symptomatik. Deshalb kann man die Komplexe
relativ gut auf der Beschreibungsebene unterscheiden. In Bezug auf die Konsequenzen für
den fördernden oder therapeutischen Umgang mit den betreffenden Menschen geben
sie aber keine Auskunft. Dennoch ist aber das
Unterscheidungsangebot ernst zu nehmen,
weil damit der Beginn einer genaueren Betrachtung eröffnet wird. Diese Betrachtung
richtet den Blick auf die Art und Weise, wie
im Alltag mit Menschen unterschiedlicher
Ausgangsbeeinträchtigungen
umgegangen
wurde und welche Folgeprobleme sich damit
eingestellt haben. Denn, wir wissen heute
neurologisch beweisbar, dass sich restriktiver
bzw. reglementierender oder gewaltsamer
Umgang mit Menschen organisch und hirnorganisch schädigend auswirkt und deshalb
mit traditionellen „erzieherischen“ Mitteln
kaum zu beeinflussen ist. Das heißt auch:
Milieuschäden sind immer auch organische
Schäden6.
Aus dieser Sicht ist die Störung des Psychischen, wenn damit die sozial-emotionale
Ebene gemeint wird, sicherlich kein Nebenef-
6
Vgl. Kegel, B.: Epigenetik. Wie Erfahrungen vererbt werden. Köln, 2009.
Von Hoffgarten, Anna: Seelische Abwehrkraft. In:
Gehirn & Geist, 3,2012, 28-34.
Schubert, Ch.(Hg): Psychoneuroimmunologie und
Psychotherapie. Stuttgart,2011.
fekt, nicht nur ein Hauptproblem sondern eine
Katastrophe.
5. Veränderungen in der Behindertenhilfe
Die folgenden Perspektiven werden in der
Betreuung der jungen Wilden Berücksichtigung finden müssen:
1. Die Betreuenden -werden sich differenziert mit der Entwicklungsgeschichte ihrer Klientel auseinandersetzen müssen,
damit Ansatzpunkte für die Motivbildung
gefun
den werden können.
2. Das Betreungspersonal muss intensiver in
Bezug auf die Arbeitsweise des Psychischen ausgebildet werden und umfassende Kenntnisse zu verschiedenen Behinderungsbildern erwerben.
3. Die Arbeitsweise im Alltag wird sich wesentlich stärken individuell gestalten.
Gruppenaktivitäten werden in den Hintergrund treten.
4. Selbstverständlich bedeutet dies eine
Verstärkung des Personals, das nicht
mehr auf der Grundlage der praktizierten
HMB-Verfahren bestimmt werden kann.
Die Neukonzeption eines Beurteilungsverfahrens erfordert eine relativ lange
Erprobungszeit.
5. Sicherlich bedeutet dies auch eine Verkleinerung der Gruppengröße.
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