Herausforderungen an die Behindertenhilfe durch „Junge Wilde“ Joachim Kutscher 1. Problematik Fähigkeitszielen reduziert, weil es hier eben nicht um eine wie auch immer angemessene Didaktik oder Methodik geht, sondern, wie ich noch genauer ausführen werde, um das emotionale Erleben der Betreffenden - und das ist eben nicht planbar. Offensichtlich braucht die angesprochene Klientel weniger Unterstützung auf dem Weg des Lernens als vielmehr das Erleben von Zuversicht und Vertrauen. Deshalb wird es für das Betreuungspersonal in Zukunft unvermeidbar werden, sich mit der Entwicklungsgeschichte der jungen Wilden zu beschäftigen, um deren emotionale Defizite nachzuvollziehen und daraus Wert erlebende Umgangsformen zu gewinnen. Der neue Umgang mit ihnen wird den Verzicht auf langfristig angelegte Fähigkeitsvermittlung erzwingen und stattdessen die unmittelbare Einstellung auf die Tagesaktualitäten erfordern. Und die bekannten Konditionierungspraktiken der Belohnung und Bestrafung zur Übernahme von Regeln werden sich als schädlich erweisen. Für meinen Vortrag wurde mir das Stichwort „Junge Wilde" gegeben. Dahinter scheint sich eine Art Invasion zu verbergen. In allen Einrichtungen für geistig behinderte Menschen, in denen ich beratend tätig bin, werden mir zunehmend jüngere mit herausfordernden Verhaltensweisen irritierender Art vorgestellt. Ich wage zu behaupten, dass sich dieser Trend künftig durch die wachsende gesellschaftliche Polarisierung in verwertbare und nicht verwertbare Arbeitskraft verstärken wird. Allerdings bezieht sich dieser Verlust der Verwertbarkeit weniger auf den intellektuellen Bereich, die sachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten von Menschen, sondern stärker auf Probleme wie Motivation, Belastbarkeit, Ausdauer, Leistungswille und Leistungskraft usw., Dimensionen der Persönlichkeit, die auch die sog jungen Wilden charakterisieren und die das Betreuungs- und Ausbildungspersonal entsprechend belasten, bisweilen demotivieren und ihnen enorme Leistungskraft abverlangen - von aggressiven Durchbrüchen, Arbeitsverweigerung, aktiven Widerständen bis hin zu depressiven Phasen ganz zu schweigen. Wenn nach neuen Perspektiven für den Umgang mit dieser Problematik gefragt wird, kommt man im Unterschied zur konventionellen Pädagogik um die Analyse des Entstehungshintergrundes der Verhaltensauffälligkeiten nicht herum. Hier nützt auch keine Hilfebedarfsplanug, die sich auf die Formulierung von Um die angesprochene Problematik der Störung der sozial-emotionalen Beziehung bzw. der Störung der Persönlichkeit zu klären, gebe ich zuerst einen kurzen Einblick in die außerordentliche Wichtigkeit des Sozial-emotionalen in der allgemeinen Entwicklung. Sodann komm ich auf die Folgen der Beeinträchtigung zu sprechen. Dies will ich dann auch exemplarisch aufzeigen. Was brauchen Kinder, Jugendliche, um psychisch gesund zu leben – wodurch werden sie psychisch gestört? 1 unterscheiden wollen – die Ebene, die wir als geistige beschreiben können im Unterschied zur emotionalen Ebene. Die Frage, die sich dann aber sofort stellt, ist die nach der Unterscheidung von Geistigem und Emotionalem und erst dann nach der Störung der beiden Pole. M. a. W.: Die Untersuchung und Klärung der Störung einer psychischen Funktion erfordert als notwendig vorausgehenden Schritt die Untersuchung und Klärung der allgemeinen Entwicklung dieser Funktion. Anders formuliert: Aussagen über das Besondere sind erst dann sinnvoll, wenn wir das Allgemeine begriffen haben1. Deshalb müssen wir zunächst das Wesen des geistigen Handelns und emotionalen Erlebens klären. 2. Was ist das Psychische? Im alltäglichen Sprachgebrauch und auch in der fachlichen Diskussion finden wir oft eine Gegenüberstellung von geistigen und psychischen Prozessen. Das drückt sich u. a. in der Unterscheidung von geistiger Behinderung und psychischer Störung aus. Diese Unterscheidung führt in eine irreführende Betrachtung der Arbeitsweise der lebendigen Informationsverarbeitung bzw. der Arbeitsweise des Gehirns. Deshalb ist es in einem ersten Schritt nötig, bevor wir über Beeinträchtigungen der menschlichen Psyche sprechen, sich darüber klar zu werden, wovon wir überhaupt reden, wenn das Wort „Psyche“ gebraucht wird. Und hier wäre erst einmal festzustellen: Jeder geistige Akt ist immer auch psychische Aktivität in dem Sinne, dass er die tätige Beziehung des Individuums zur äußeren Wirklichkeit orientiert. Allerdings werden unsere Zugangsweisen auf die Welt im verändernden Zugriff auf sie und in der Wahrnehmung nicht nur „geistig“ organisiert bzw. zu organisieren versucht, sondern auch immer – wenngleich in durchaus unterschiedlicher Intensität - emotional erlebt. Folglich sollten wir das Psychische als Einheit von geistigem Handeln und emotionalem Erleben begreifen. Das heißt sehr konkret: Jeder geistige Akt wird emotional bewertet und jede Emotion tendiert zu einer geistigen Systematik. So neigen wir zum Beispiel immer dazu, eine freudige Erregung nachvollziehbar zu vermitteln wie wir auch ständig versuchen, uns über negative Gefühle Klarheit zu verschaffen. Entsprechend umgekehrt bewerten wir jeden systematischen Akt irgendwie immer emotional, wenngleich die Intensität des Erlebens von der Trivialität oder Außergewöhnlichkeit abhängt. Ersteres erzeugt kaum Emotionen, letzteres relativ intensive. So lässt uns die Aussage: „3 mal 4 = 12“ letztlich (fast) kalt, nicht aber die Zahl 5 Millionen, wenn sie den Gewinn in der Klassenlotterie bedeutet. 3. Unser Verhältnis zur äußeren Welt Wenn wir uns mit der äußeren Wirklichkeit psychisch auseinandersetzen, dann geschieht dies als Einheit von zwei unterscheidbaren Prozessen. Wir tun das auf zwei Ebenen: als gegenständlich sachlich systematische Tätigkeit und als Kommunikation. In der gegenständlichen Tätigkeit nehmen wir nicht lebendige Gegebenheiten wahr und beeinflussen sie, in der Kommunikation richten wir uns – auch in der Vorwegnahme - an die lebendige Wirklichkeit (wobei ich mich aus Gründen der Einfachheit mit lebendiger Wirklichkeit auf Menschen beschränke). Beispiele für ersteres können sein Autofahren, Kochen, Basteln, Graben, Sich-auf-den-Stuhl setzen usw., bei letzterem haben wir die Absicht, einen Teil unseres Innenlebens einem anderen Menschen mitzuteilen wie etwa über sachliche Ereignisse oder emotionale Erlebnisse zu sprechen, zu zeigen oder zu gestalten bzw. Emotionalität unmittelbar über Gebärden, Gestik, Mimik oder sprachliche Intonation direkt zu äußern. Beeinträchtigt, gestört oder behindert werden kann also nicht das Psychische im Unterschied zum Geistigen, sondern – wenn wir schon unterschiedliche Qualitäten der Behinderung 1 Die zeigt sich besondern bei dem Begriff ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom mit Hyperaktivität), wo selbstverständlich über Aufmerksamkeitsstörung diskutiert wird, ohne den Entstehungszusammenhang der Funktion „Aufmerksamkeit“ geklärt zu haben. 2 Eine Folge dieses Unterschiedes zwischen Auseinandersetzung mit Sachlichkeit bzw. Lebendigkeit besteht u. a. darin, dass wir im ersten Fall keine lebendige Rückmeldung erhalten, im zweiten Fall aber erhalten können. Dies bedeutet weiterhin in Bezug auf das Erleben von Emotionalität einen entscheidenden Unterschied. Lebendigkeit kann in uns Emotionalität erzeugen und vor allem geben, gegenständliche Rückmeldung letztlich nicht oder kaum. In der Kommunikation werden wir in der Regel immer irgendwie emotional berührt, wiewohl es auch immer wieder Situationen gibt, wo man sich langweilt. Auf der anderen Seite gibt es nur wenig gegenständliche Bewegungen, die dem Schein nach wie Lebendigkeit erlebt werden, wie z. B. die Flamme einer brennenden Kerze oder ein Vulkanausbruch, so dass wir dabei Emotionen erleben. Außerdem gibt es eine Fülle von gegenständlichen Veränderungen in der äußeren Wirklichkeit, die, weil sie unerwartet und unvorhersehbar auftreten, in uns Emotionen auslösen (z.B. eine Entdeckung), ganz zu schweigen von Gegenständen, die von Menschen als bewegt konstruiert wurden (z.B. sprechende Puppen). Was aber ist dann das Entscheidende am Unterschied zwischen gegenständlicher Tätigkeit und Kommunikation im Sinne des Austausches von Informationen unter Lebewesen? Nun: bei letzterem können beide Seiten Lebendigkeit bzw. Emotionen anbieten. Sie geben sich gegenseitig Lebendigkeit, was im Fall von positiven Emotionen eine sog. Bindungsebene begründen kann, im Fall von negativen Emotionen Distanz, Ablehnung, Abwehr o. ä. Mit anderen Worten: Für die Zukunft kann sich positiv Zuneigung, Vertrauen, Liebe, Begeisterung, Verantwortung usw. entwickeln, negativ Enttäuschung, Misstrauen, Rückzug oder destruktive Aktionen usw. Die strukturellen Aspekte der Beziehung des Subjekts (Lebewesen) zu äußeren Wirklichkeit sind in folgender Veranschaulichung zusammengefasst (in Fortbildungsveranstaltungen veranschauliche ich diese Zusammenhänge durch das Beispiel eines mit meinem besten Freund verbrachten Abends bei gemeinsamen Kochen, Unterhaltung und Wein). Vermittlung von Subjekt und Objekt durch (materielle) Tätigkeit S T O T Emotionale Wertung Beobachtung Emotionale Wertung Aneignung Aneignung Vergegenständlichung Subjekt Vergegenständlichung Objekt Subjekt Vergegenständlichung Aneignung S Vergegenständlichung Aneignung Verhalten Emotionale Wertung Emotionale Wertung Tätigkeit Einheit von Vergegenständlichung und Aneignung Tätigkeit Einheit von Vergegenständlichung und Aneignung 3 In der Erläuterung unterstelle ich die Existenz von kooperativen Beziehungen, d. h. unter anderem eine von wechselseitigem Interesse und positiver Zuwendungsabsicht getragene Beziehung mit dem Ziel gegenseitiger Anleitung ohne Anweisung. Die Graphik stellt repräsentativ die Beziehungen zwischen zwei Subjekten vermittelt über die tätige Auseinandersetzung mit einem Objekt der äußeren Wirklichkeit dar, welches konkret als komplexer Gegenstandsbereich gedacht werden muss (auf den Fall, wo die Beziehungen zwischen Subjekten nicht objektvermittelt sind, komme ich später zu sprechen). Die tätige Auseinandersetzung verläuft auf zwei Ebenen, der Verhaltensebene und der Wahrnehmungsebene, wobei letztere auch für sich ohne Verhaltensebene betreten werden kann, nicht aber umgekehrt. Dies wird unmittelbar deutlich, wenn wir den Unterschied zwischen beiden Ebenen klären. Auf der Verhaltensebene nimmt das Subjekt realen oder ideellen Einfluss auf die äußere Wirklichkeit bzw. es verändert sie materiell oder antizipiert diese Veränderung. Das Ziel ist die Veränderung der äußeren Wirklichkeit (z.B. die Herstellung eines Produkts oder die Überredung eines anderen Menschen). Dabei bewegt es sich selbstverständlich auch auf der Wahrnehmungsebene, jedoch muss Wahrnehmungstätigkeit nicht immer Begleitung oder Folge von Verhaltenstätigkeit sein. Auf der Wahrnehmungsebene verläuft der Veränderungsprozess gleichsam in der umgekehrten Richtung: Veränderungen in der äußeren Wirklichkeit werden vom Subjekt widergespiegelt, d.h. mit verfügbaren Möglichkeiten der Informationsverarbeitung (der Organismus rekonstruiert die äußeren Vorgänge, indem er sie aktiv zu konstruieren versucht), so dass er Selbstveränderungen durchlaufen kann aber nicht muss (letzteres, wenn die Vorgänge nicht neu sind). Dies kann auch ohne verändernde Einflussnahme bzw. deren Antizipation geschehen. Ziel ist die Erfassung der äußeren Wirklichkeit in der aktuellen Existenzform bzw. Existenzdynamik (z.B. das Bestaunen eines Kunstwerkes oder die Feststellung des erwarteten Ergebnisses bzw. das angesteckt Werden durch das Temperament eines anderen Menschen). Beide Ebenen, die Verhaltensebene und die Wahrnehmungsebene, sind durch zwei Kategorien von inneren Tätigkeiten dimensioniert. In der Vergegenständlichung dimensioniert das entwickelte Tätigkeitsniveau die Erfassung und Beeinflussung bzw. antizipierte Beeinflussung der äußeren Wirklichkeit, in der Aneignung wird dieses Tätigkeitsniveau bereichert und erneuert. Man könnte auch sagen: in der Vergegenständlichung versucht der Organismus konservativ zu bleiben, in der Aneignung begibt er sich in die (reformative, die neue oder sogar revolutionäre) Entwicklung. Anders ausgedrückt: Indem sich der Organismus vergegenständlicht, erfährt er sich in der Aneignung selbst, was u. a. bedeutet, dass er sich nicht erneuert, wenn die Vergegenständlichung keinem Widerstand begegnet. Bevor aus dem Gesagten weitere Schlussfolgerungen gezogen werden, möchte ich die Zusammenhänge veranschaulichen. Im Augenblick schreibe ich diesen Text am Computer und bewege mich auf der Verhaltens- wie Wahrnehmungsebene: ich verändere das Aussehen des Monitors materiell und nehme dies schrittweise vorweg (Verhaltensebene), wobei ich in den Veränderungen (Schrift) meine geistigen Handlungen vergegenständliche, und ich nehme das Resultat meiner Bemühungen wahr (Wahrnehmungsebene), wobei ich mir die Bedeutungen der Buchstabenkombinationen aneigne. Ich verwirkliche also den geistigen Gegenstand „Struktur der Entwicklung von Subjekten unter Bedingungen von Kooperation“ (siehe Abbildung) äußerlich (Vergegenständlichung), und mache dies dann wiederum zum geistigen Gegenstand in mir (Aneignung). Dabei wird als nicht unterschreitbar deutlich, dass Tätigkeit durch zwei Pole determiniert wird, durch das Subjekt mit seinen möglichen Regulationsstrukturen und Beweggründen und durch die äußere Wirklichkeit mit verschiedenen Objekten und Subjekten (für letztere sind selbstverständlich die gleichen Vorgänge bestimmend). Tätigkeit vermittelt also zwischen beiden Polen und muss sich deshalb ständig erneuern, es sei denn, die äußere Wirklichkeit würde mechanisch konstant gehalten werden (z.B. unter Isolationsbedingungen). Sehen wir uns diese Vorgänge in einem anderen Lebensbereich und auf einem anderen Entwicklungsniveau an. Ein Kind im Vorschulalter ist vorherrschend durch Rollen- übernahme zu motivieren. Spielt man z.B. mit dem Kind Autofahren mit zwei Küchenstühlen, so verändert das Kind seine unmittelbare Umgebung zu diesem Zweck, etwa durch die Benutzung eines Tellers als Lenkrad (Verhaltensebene). Dabei vergegenständlicht es eine Fülle von phantastischen Vorstellungen, wie und wohin es fährt und wem es dabei begegnet. Gleichzeitig übernimmt es vom Mitspieler eingebrachte Ideen über die Wahrnehmung seiner Aktivitäten und eignet sich einen Teil als Bereicherung seiner selbst an. Die Verflochtenheit von Wahrnehmungs- und Verhaltensebene sowie von Vergegenständlichung und Aneignung ist aber noch wesentlich komplexer. Es handelt sich natürlich keinesfalls um eine nur oberflächliche Ergänzung oder Vervollständigung, wenn sowohl innerhalb der Verhaltensebene wie der Wahrnehmungsebene Vergegenständlichung und Aneignung unterschieden werden. Beide Prozesse haben in den jeweiligen Ebenen unterschiedliche Qualitäten, die ich aber an dieser Stelle lediglich exemplarisch andeuten kann. Bei der gezielten Beeinflussung der äußeren Wirklichkeit (z.B. Umräumen, Basteln, Kochen, Schreiben usw.) erlebt man das werdende Resultat nicht nur in der Wahrnehmung (die integrierte Verarbeitung der sensorischen Information), sondern auch körperintern als Bewegung bewusst oder nicht bewusst. Diese Arbeit übernehmen zahlreiche körperinterne Rezeptoren, die in ihrer Gesamtheit den sog. inneren Rückmeldekreis bilden, im Unterschied zum äußeren Rückmeldekreis auf der Wahrnehmungsebene der auf die äußere Welt gerichteten Sinnesorgane wie Auge, Ohr, Haut usw. Ein Teil dieser die Körperbewegtheit meldenden Rezeptoren wird auch dann aktiviert, wenn der Körper nur von außen bewegt wird, wir also nur in diesem Teilbereich wahrnehmen (z.B. jemand versucht, mich durch die Gegend zu schieben, oder redet penetrant auf mich ein). Dieser Qualität des Psychischen trägt die Aneignung auf der Verhaltensebene Rechnung, die selbstverständlich auch die Bewegtheit in der Wahrnehmungsaktivität zurückmeldet, so dass wir je nach subjektiven Aneignungsmöglichkeiten positiv oder negativ reagieren. Dies ist ohne weiteres an dem Paradoxon nachzuvollziehen, dass bestimmte Menschen sofort mit Panik reagieren, wenn sie sich 5 eingeengt fühlen, aber wesentlich gelassener bleiben können, wenn sie die gleiche Situation bei einem anderen Menschen beobachten aber eben auch einen Hauch der Einengung spüren. Unter solchen Bedingungen haben wir oft nur noch die Möglichkeit, uns anzupassen; der Aneignungsprozess hat dann die Vergegenständlichungstätigkeit erheblich verloren und degeneriert deshalb zum Anpassungsprozeß. In der positiven Richtung finden wir die relative Beschränkung auf die Wahrnehmungstätigkeit (ohne Verhaltenstätigkeit) z.B. im Genießen von Ästhetik, in der Vergegenständlichungstätigkeiten auf hohem Organisationsniveau ablaufen. Man kann selbstverständlich Musik oder ein Bild wundervoll finden, ohne selbst zu musizieren oder zu malen. In diesem Genießen realisiert sich aber gleichzeitig ein Prozess der Vergegenständlichung, als wir eben die Melodie, Harmonie und Rhythmik selbständig nachvollziehen ebenso wie die Gestaltung des Bildes. Wo wir keine Verarbeitungsmuster für die Vergegenständlichung besitzen, finden wir an der Musik oder dem Bild keinen Gefallen (letzteres kann aber auch eintreten, wenn verfügbare Verarbeitungsmuster von uns als negativ gespeichert sind, so dass die Vergegenständlichung abgebrochen wird). Damit komme ich zur emotionalen Dimension unserer Beziehung zur äußeren Welt, die in der graphischen Darstellung durch die rot gepunkteten Linien markiert wird. Wie schon oben gesagt, wird jede geistige Handlung emotional erlebt und jede Emotion zu verdeutlichen versucht, sei es mit sprachlichen Mitteln oder spezifischen Ausdrucksformen. Durch die Qualität der emotionalen Wertung der Vergegenständlichung und Aneignung wird festgelegt, ob wir uns auf die jeweiligen Situationen wieder zu bewegen wollen oder nicht. Erleben von Freude, Begeisterung, Stolz oder Genugtuung machen die Situation attraktiv, Angst, Aggression, Schmerz oder Enttäuschung aktivieren den künftigen Rückzug. Hier wird nun die ungeheure Bedeutung von Emotionen für die Zukunft deutlich, indem diese die Entwicklung von Motiven bestimmen. Im ersten Fall entsteht ein Beweggrund in Richtung Zugang auf die Wirk- lichkeit, andernfalls das Gegenteil. Auf dieser Basis entwickeln wir Interessen, Hobbies, Ehrgeiz, Willenskraft usw. Im zweiten Fall wenden wir uns ab, beurteilen die Erlebnisse als unerfreulich und meiden sie in Zukunft. Vergleichbare Konsequenzen ergeben sich in Bezug auf die Auseinandersetzung mit anderen Menschen. Sympathie begünstigt die erneute Widerbegegnung, das Interesse an seiner Person und Neugier auf seine Aktivitäten, bei Antipathie eben das Gegenteil und damit Verzicht auf mögliche Erneuerung von Erlebnissen und Erkenntnissen. Aber: Sympathie oder Antipathie, Liebe oder Hass, Mögen oder nicht Mögen sind Erlebnisformen, die jenseits der gegenständlichen Aspekte unserer Aktivitäten ablaufen und entstehen. Sie unterliegen nicht der Bewertung der Nützlichkeit und Brauchbarkeit des jeweils anderen, sondern werden in der konkreten Lebendigkeit des anderen unmittelbar erfahren (die äußeren rot gepunkteten Linien in der graphischen Darstellung). Deswegen glauben wir ja – wie es im Alltag heißt – „auf den ersten Blick“ auf andere Menschen positiv oder negativ eingestellt zu werden. Wir scheinen also auch und wahrscheinlich vor allem durch Gefühle Entscheidungen zu treffen – und nicht nur, wie traditionell geglaubt wird, auf der Basis von reiner Verstandestätigkeit. Zur Bedeutung von Emotionen für Entscheidungsprozesse gibt es in jüngster Zeit sogar neurologische Befunde, in denen u. a. aufgezeigt wurde, dass Schädigungen im Gehirn in Gebieten, die für die emotionale Bewertung von Ereignissen notwendig sind, die betreffenden Menschen nahezu entscheidungsunfähig machen2. 4. Störbarkeit des Psychischen Wenn wir das Psychische, wie oben diskutiert, als Einheit von Prozessen des geistigen Handelns und emotionalen Wertungen begreifen müssen, dann muss das Entscheidende der Störung des Psychischen in der Zerstörung dieser Einheit zu suchen sein. A. N. Leontjew, einer der bedeutsamsten Vertreter der sog. Tätigkeitstheorie, spricht in diesem Zusammenhang vom Auseinanderfallen von Sinn (das Insgesamt aller Emotionen im Vollzug einer bestimmten Tätig2 Vgl.: Paetsch, M.: Warum Gefühle so wichtig sind. In: GEO-Wissen, Nr. 45, 2010, S. 26-34. 6 keit) und Bedeutung (das Ingesamt aller Erlebnisse als Ergebnis das systematischen Handelns in dieser Tätigkeit), was den Kern aller pathologischen Prozesse ausmache3. Das würde bedeuten, dass sich beide Ebenen der Orientierung eines Menschen an der äußeren Welt in irgendeiner Weise verselbständigt haben müssen. Es könnte also im Extremfall sein, dass geistige Prozesse nahezu ohne emotionale Wertung für die äußere Wirklichkeit und andererseits emotionale Prozesse kaum mehr unter realitätsbezogener geistiger Kontrolle ablaufen. Eine derartige teilweise und zeitlich beschränkte Entkopplung von „Verstand“ und „Gefühl“ muss noch nicht notwendigerweise pathologisch sein. Ja, sie charakterisiert große Bereiche unseres Alltags. So kennt wahrscheinlich jeder von uns Phasen, in denen man extrem konzentriert mit einem Problem, einer Aufgabe oder einem Spiel beschäftigt ist und dabei der Welt kaum oder nicht emotional zugewandt ist (ein komplizierter Arbeitsauftrag oder die zu lösenden Prüfungsaufgaben). Umgekehrt erleben wir uns emotional hoch dynamisch, wenn wir mit Überraschungseffekten konfrontiert werden und dabei scheinbar den Verstand verlieren (himmelhoch jauchzende Begeisterung mit Freudentränen oder panische Angst). Alarmierend hingegen präsentiert sich die Verselbständigung von einer der beiden Ebenen, wenn der äußere Beobachter keine Rückkehr zur Einheit feststellen kann. Und, Rückkehr zur Einheit bedeutet letztlich Weiterbewegung, Entwicklung, Lernen, Erneuerung usw., also keine Stagnation, keine Stereotypie, keine gleich bleibende Wiederholung4. Dies wäre etwa der Fall bei „geistiger Behinderung“, wo ein Fortschreiten in der Komplexität in der sachlichen Auseinandersetzung mit der Welt nicht erlebt wird (z. B. Regeln werden nicht erkannt bzw. nicht eingehalten). Auf der emotionalen Ebene kann 3 A. N. Leontjew: Tätigkeit, Bewusstsein, Persönlichkeit. 1982. 4 Unter Bedingungen der Einheit verlangt die Arbeitsweise des Gehirns eine tätige Beziehung des Organismus zur äußeren Welt, in der es ständig organische Bereicherung erfährt, d. h. ein ständiger Aufbau neuronaler Vernetzung. sich das darin zeigen, das die Betreffenden Umgangsregeln zwar erkennen, aber nicht achten, d.h. für den äußeren Beobachter a-sozial auffallen (z. B. bei Menschen mit einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung). Die Bedingungen für die Zerstörung der Einheit können unterschiedlicher „Natur“ sein. Wir sprechen von Schädigung als Bedingung, wenn eine organische Beeinträchtigung als Ausgangsursache vorliegt, und von Behinderung, wenn das gesellschaftliche Milieu dem Menschen unüberwindbare Barrieren stellt. So hat zum Beispiel das Syndrom Trisomie 21 (DownSyndrom) als Ausgangsentstehungsbedingung eine organische Schädigung zur Grundlage, die dem Syndrom seinen Namen gegeben hat, nämlich eine Verdreifachung bestimmter Anteile des Chromosomensatzes an der Stelle 21. Diese bewirkt in der Folge eine Kaskade von organischen Fehlfunktionen, die sich letztlich in einer Störung der Entwicklung des systematisch geistigen Handelns manifestieren. Aber nicht nur darin: denn, in dem Maße, wie Heranwachsende mit Trisomie 21 durch die Beeinträchtigung ihres geistigen Handelns den Anschluss an die allgemeine Entwicklung ihrer Umgebung verpassen, beginnen sie unter dem schrittweisen Verlust der sozialen Ebene zu leiden und zunehmend deprimiert zu werden. Es entsteht also ein emotionales Problem. Auf der emotionalen Ebene äußert sich eine andere hirnorganische Beeinträchtigung, die aber in den letzten Ausgangsbedingungen noch nicht geklärt ist, in dramatischer Weise, nämlich als Autismus. Hier wäre die Entwicklung des geistigen Handelns organisch eigentlich nicht gestört, ist jedoch durch den Rückzug vor emotionalen Äußerungen anderer Menschen in zweifacher Weise beeinträchtigt: Menschen mit autistischer Informationsverarbeitung vermeiden den lebendigen Kontakt, entwickeln deshalb keine Empathie und in der Folge davon keine sozialen Umgangsformen. Dies hat selbstverständlich auch Folgen für den Erwerb von alltäglichen Fähigkeit und Fertigkeiten. Denn: wer der Bewegung anderer Menschen mit seinen Sinnesorganen nicht oder kaum folgen kann, dem bleibt ein großer Teil von Kultur verschlossen. Es entsteht also ein Problem im geistigen Handeln. 7 Noch eindrücklicher zeigt sich die Dramatik der Zerstörung der Einheit menschlicher Tätigkeit an Beispielen, in denen sog. Milieuschäden den Ausgang der Störungsentwicklung bilden. Ich habe zur Klärung die Diagnose „antisoziale Persönlichkeit“ und „Borderline-Syndrom“ gewählt, also keine geistige Behinderung im konventionellen Sinne, obwohl in diesem Bereich viele vergleichbare Verhaltensbilder zu finden sind und offensichtlich auch zunehmen (vgl. die Zunahme der sog. Doppeldiagnose). Zunächst zum Bild der „antisozialen Persönlichkeit“: Eine Lehrerin in einer Förderschule bat mich um ein Fördergutachten über einen höchst problematischen Schüler, der kurz vor dem Schulverweis stand. Seine Störungsaktivität stellt sich wie folgt dar: Manipulation und Provokation der Integrität anderer Personen Mit 12 Jahren erhält Karl eine Ermahnung wegen einer Sachbeschädigung eines Fahrrades. Zur Rede gestellt, zeigt er keine Verantwortungsbereitschaft und wehrt sich stattdessen mit „frechen“ Redensarten. Karl zeigt auch keinen Ansatz zu einer Wiedergutmachung. Als Verstoß gegen die Schulordnung wird Karls Verhalten ein halbes Jahr später gerügt, als er sich während einer Busfahrt seiner Schuhe und Socken entledigte, seine Füße befummelte und sein Geschlechtsteil demonstrativ zeigte. Aggressionen gegen Personen Bereits mit knapp 8 Jahren, so die Aussagen im Beratungsgutachten fällt Karl durch Schlagen anderer Kinder auf. Der Gutachter führt aber keine nähere Beschreibung oder gar Begründung solcher Vorfälle auf, weshalb zunächst nur die Tatsache dieser Auffälligkeit im Raum steht. Mit über 12 Jahren beginnt nach den mir vorliegenden Akten nach einer Phase relativer Besserung seiner Verhaltensauffälligkeiten eine Phase zunehmender Verhaltensschwierigkeiten. Nachdem Karl einer Schülerin ins Gesicht geboxt hat, erhalten seine Eltern die Mitteilung über einen Verstoß gegen die Schulordnung. Zum Ausschluss vom Schülertransport kommt es zwei Jahre später, weil Karl im Bus andere Schüler mit einer Fahrradkette verunsicherte, die eingreifende Lehrerin „auf übelste Weise“ beschimpfte und ihr ins Gesicht spukte. Experimentell destruktiver Umgang mit kooperativen Prozessen anderer Menschen Im Verlauf einer späteren Sportveranstaltung stört er mit anderen Jugendlichen die Veranstaltung derart massiv, dass die Polizei gerufen wird. Jugendliche Teilnehmer wurden von den Störern mit Steinen beworfen und durch Heftzwecken am Wettkampf behindert. Von mir über die Gründe dieser Aktivitäten befragt, antwortet Karl: „Ich wollte sehen, was dann passiert“. In der Begründung zum Antrag auf Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs wird u.a. festgestellt, Karl kenne kaum gängige Kinderspiele und hätte Schwierigkeiten, mit anderen Kindern altersgemäß zu spielen. Er mache lieber kaputt, was andere bauten. Ersichtlich muss Karl mit diesem Verhalten bereits mit 8 Jahren auf Ablehnung stoßen. Er erzeugt damit Situationen, wenn sie denn öfters vorkommen, die zum einen seine soziale Isolation verschärfen und auf die zum anderen Schule nur bedingt angemessen zu reagieren die Kompetenz besitzen kann. Diese Verhaltensmuster haben natürlich ihre Geschichte. Dazu ein Auszug: Bis zu seinem dritten Lebensjahr lebte er in einer Familie, wo der Vater seine Frau und die Kinder schlug und misshandelte (insbesondere Karls wesentlich älteren Stiefbruder). Der Vater drohte, die Familie im Falle einer Scheidung umzubringen. In der Folgezeit von vier Jahren nach der Trennung lebt die Familie in sehr beengten Wohnverhältnissen, was unter den vorgegangenen Bedingungen von Unkultiviertheit sicherlich nicht zum Gegenteil führen konnte. Seit der zweiten Ehe haben sich die Wohnverhältnisse verbessert, dennoch würde Karl nach wie vor unter Gewaltbedingungen leiden. Er wird zurzeit von seinen Eltern und älteren Bruder geschlagen. Der Bruder sei auch gegenüber der Lehrerin verbal-aggressiv und bedrohlich aufgetreten. Wegen wachsender Gewalttätigkeit von Karl (er greift zum Messer, wenn sein Bruder auftaucht) wird er durch Stubenarrest zu diszipli8 nieren versucht, d.h. mit einer Maßnahme, die in Ermangelung von Kultivierungsangeboten und -vorbildern Gewalttätigkeit sogar noch modelliert. Versucht man die genannten Vorgänge als Erscheinungsformen eines zugrunde liegenden Bedingungsmusters zu begreifen, so erweist sich Karl als ein Mensch, der zum einen Gefühlen und Empfindlichkeiten anderer Menschen scheinbar unbeeindruckt, gleichgültig bis rücksichtslos gegenübersteht, sie aber durch Manipulation unter seiner Kontrolle zu provozieren versucht; zum anderen und im scheinbaren Gegensatz dazu benötigt er andere Menschen zum Erleben von persönlicher Geltung, allerdings in Form von Machtverhältnissen, in denen er ebenfalls die Kontrolle über die anderen zu behalten versucht. M. a. W.: Karl verhindert mit allen möglichen Mitteln das Erkennenlassen von eigenen Emotionen und scheint sich seiner für andere nicht erkennbaren Emotionalität durch deren Manipulation rückzuversichern. Karl würde auf diese Weise unter panischer Angst in der Gefahr leiden, daß seine Gefühle offenkundig werden könnten. Unter dieser Voraussetzung kann sich kein Selbstwertgefühl entfalten, so dass er vor der unangenehmen Lebensaufgabe steht, ihn emotional berührende Aktivitäten kaschiert, d.h. heimlich auszuführen. Karl trägt also in sich die Biographie der Nichtachtung von menschlicher Umgangskultur, weshalb er für sich kein Gefühl des Gebrauchtwerdens im Bereich gegenständlicher Aktivität entwickeln kann. Gleichzeitig verhindert aber die erlebte rücksichtslose Gewalt im Umgang mit seinem Körper das Werden eines körperlichen Selbstwertgefühles, weshalb er keinerlei Empathie empfinden kann. Es wäre an der Zeit, dass ihm die verarbeitbare Möglichkeit geboten würde, in kultivierte menschliche Verhältnisse hineinzuwachsen. Karl benötigte eine Beschäftigungsumgebung, in der er konkret durch ihn lebendig führende Menschen zu Aktivität herausgefordert wird und darüber Wahrnehmung seiner Person und Anerkennung erfährt. Das entscheidende ist also der sichere, eindeutige und zuverlässige zwischenmenschliche Bezug, den Karl braucht und den er auch konstruktiv erleben möchte, wie einige Hinweise in den Unterlagen darlegen. Auch das Engagement der erwähnten Lehrerin hat erwiesen, dass Karl Vertrauen in andere Menschen zu entwickeln in der Lage ist. Allerdings benötigt er dazu die Sicherheit, Zuverlässigkeit und Geborgenheit individueller Orientierung und Interesses an seiner Person. Diese Aufgabe kann von einer einzelnen Person nicht geleistet werden. Ob eine Schule für Lernhilfe zu dieser Entwicklung beitragen kann, muss jeder Lehrende vor dem Hintergrund seiner empfundenen emotionalen Stabilität und „Kondition“ selbst bewerten5. Kommen wir nun zum zweiten Beispiel, der Problematik des Borderline-Syndroms. In der Aufnahmestation einer Psychiatrie wurde mir eine Frau im Alter von 32 Jahren beschrieben, die das ärztliche und pflegerische Personal vor unlösbare Rätsel stellte. Nach drei Wochen verschiedener Therapieangebote (Gesprächstherapie, Ergo- und Kunsttherapie) stellte sich der Eindruck einer unklaren Resistenz gegenüber allen Versuchen ein, sie zu einer zuverlässigen Gestaltung ihres Tagesablaufes anzuleiten. Die Frau unterlag auffallend wechselhaften Stimmungsschwankungen, die im scheinbaren Widerspruch zu ihren gedanklich sehr klaren Phasen im direkten Gespräch standen. Sie schien sich auf Vereinbarungen einzulassen, hielt sich aber letztlich nicht daran. Sie konnte auch keine nachvollziehbaren Gründe für ihre Unzuverlässigkeit anführen. Besondere Irritationen löste ihre Kompetenz aus, ihr dramatisches Leben in vielen den Zuhörer erschütternden Details zu schildern, diese aber fast unbeeindruckt 5 Dass in der Konfrontation mit derartigen Verhaltensproblemen die konkrete Persönlichkeit des Lehrenden viel bedeutsamer ist als irgendeine pädagogische Kompetenz, zeigt sich noch deutlicher in der Frage des Umgangs mit sexuell missbrauchten Kindern und Jugendlichen. Exemplarisch habe ich die Dramatik dieser psychischen Störung und ihrer Beeinflussbarkeit bei einem Jungen im Kindergartenalter zu klären versucht; vgl. Kutscher, J.: Zum kultivierten Umgang mit Aggression. In: Feuser, G./Berger, E. (Hrsg.): Erkennen und Handeln. Verlag Pro BUISINESS: Berlin, 2002, S. 278-293. 9 in Form einer Berichterstattung vorzutragen. Letzteres veranlasste dann auch den gesprächstherapeutisch arbeitenden Arzt, sich nach außen um Hilfe zu wenden, zumal er sich von der Frau in gewisser Weise erpresst fühlte. Schließlich vermittelte sie den Eindruck, sie mache in der Aufarbeitung ihrer Geschichte, soweit sie diese selbständig schilderte, beeindruckende Fortschritte, ließ aber in ihrer emotionalen und lebenspraktischen Stabilisierung jeden Fortschritt vermissen und versuchte ständig, verschiedene einzelne Personen an sich zu binden. Letztlich glaubte man sich sogar von ihr irgendwie manipuliert und resignierte in der Erkenntnis, der therapeutische Einfluss würde stagnieren. Sie selbst schilderte Symptome, die den Verdacht aufkommen ließen, dass sie große Schwierigkeiten mit ihrem körperlichen Selbstbild haben müsste. Sie berichtet im Aufnahmegespräch, dass sie unter Angstzuständen leide, nachts nicht schlafen könne. Dies bewirke bei ihr Minderwertigkeitsgefühle. Sie habe Angst, ihre Aufgaben nicht zu schaffen, insbesondere ihrer Mutterrolle nicht nachzukommen. Sie habe 2 Söhne im Alter von 3 und 6 Jahren. In diesem Zusammenhang träten dann immer wieder Suizidgedanken auf. Sie habe bereits mehrere Suizidversuche hinter sich, habe sich die Pulsadern aufgeschnitten, sich versucht zu strangulieren, Kleiderbügel in die Steckdose gesteckt. Auch diese Problematik hat natürlich ebenso seine Geschichte, wie die antisoziale Persönlichkeit, aber eben eine andere, eine Geschichte, die die subjektiv empfundene Wertlosigkeit des eigenen Körpers nachvollziehbar macht. Ich möchte davon nur einen Auszug wiedergeben: Sie wurde direkt nach ihrer Geburt in ein Kinderheim gegeben. Ihre leiblichen Eltern kennt sie nicht. Mit 3 Jahren wurde sie als Pflegekind in die Familie eines Pastors aufgenommen, wo bereits der 1-jährige leibliche Sohn lebte, ein Jahr später wurde noch eine Tochter geboren, ein weiteres Jahr später eine zweite Tochter. Sie habe sich von ihren Geschwistern immer ausgeschlossen gefühlt, diese seien auch von den Eltern immer bevorzugt worden. Als die Patientin 15 Jahre alt war, zog die Familie von A nach B um, wobei ihr der Wechsel der Umgebung sehr zu schaf- fen gemacht habe. Etwa zu dieser Zeit habe sich ihre Regel eingestellt, worüber sie sehr erschrocken gewesen sei, da die Eltern sie nie aufgeklärt hätten. Zu dieser Zeit wurde sie von den Eltern adoptiert, die gleichzeitig ihren Vornamen von Sylvia auf Elisabeth umänderten. Das habe sie von allem am schwersten getroffen. Sie habe gedacht, dass die Eltern sie als Sylvia nicht haben wollten. Daraufhin hätten die Eltern sie in die Jugendpsychiatrie gebracht. Der Grund hierfür sei ihr nie richtig einsichtig gewesen. Von dort aus sei sie in eine Jugend-WG in C gekommen. In dieser Zeit sei sie von einem Unbekannten in der Stadt vergewaltigt worden. Seitdem habe sie immer wieder Suizidhandlungen begangen. Vom 6. bis zum 8. Lebensjahr sei sie regelmäßig von einem Bekannten der Eltern sexuell missbraucht morden, zum Geschlechtsverkehr sei es jedoch nie gekommen. Dieser Bekannte hatte gedroht, sie umzubringen, falls sie etwas von dem Verhältnis erzähle. Vom 12. bis zum 14. Lebensjahr sei sie während des regelmäßigen Alpenurlaubes mit den Eltern von einem Erwachsenen missbraucht morden. Vom 18. bis zum 19. Lebensjahr sei sie zum 1. Mal verheiratet gewesen, aus dieser Ehe stamme ihr erster Sohn. Dieser Mann habe sie häufig vergewaltigt und geschlagen, in der Schwangerschaft auf den Bauch getreten und mehrmals versucht, sie und ihren Sohn umzubringen. Zum Schluss sei sie vor ihm ins Frauenhaus geflohen und habe sich scheiden lassen. Im selben Jahr entging sie einem Vergewaltigungsversuch auf der Straße, in der Nervenklinik W sei sie in der Fixierung von einem Pfleger sexuell missbraucht worden. Seit 7 Jahren ist Frau H. nun mit ihrem jetzigen Ehemann zusammen, den sie vor 4 Jahren geheiratet hat. Beide sind dann zusammen aus C nach E gezogen. 1987 wurde die gemeinsame Tochter, 1989 der Sohn geboren. Im selben Jahr ließ sich die Patientin wegen ihrer Erkrankung sterilisieren. Die Ehe schilderte die Patientin als von aggressiven Auseinandersetzungen geprägt. Ihr Mann lehne sie körperlich ab, weil sie ihm zu dünn sei, und sie fühle sich ihm gegenüber nicht als Frau; sie habe ohnehin schon Probleme mit der Frauenrolle und wolle eigentlich auch nicht erwachsen werden. Sie verfalle häufig in die kindliche Rolle, wodurch er sie wieder bevormunde. Sie habe die 10 Scheidung eingereicht, er wolle aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen. Seit 2 Jähren wird die Familie von der Familienfürsorge betreut. Die Kinder sind in einer Pflegefamilie usw. usw. Wenn wir alle genannten und nicht genannten Details als Ergebnis einer charakteristischen Entwicklungslinie betrachten, muss man feststellen, dass die Frau fast keine emotionale Beziehung zu ihrem Körper hat. Sie behandelt ihren Körper wie ein Objekt. Dies reicht von der kompetenten Selbstdarstellung der eigenen Geschichte ohne erwartete emotionale Reaktion in der Therapie, über den Anspruch, eine perfekte Mutter sein zu wollen, der Mutterrolle jedoch nicht gerecht zu werden, bis zum beginnenden gewaltsamen Umgang mit dem eigenen Körper in Form von Essstörungen bzw. erschreckenden Suizidversuchen. Wir finden bei ihr quälende Selbstvorwürfe und Minderwertigkeitsgefühle wegen Angstzuständen und Schlaflosigkeit. Sie geht also mit ihrem Körper in erster Linie systemhaft und kaum dialogisch kultiviert um, letztlich fast manipulativ. Auf dieser Ebene erfährt sie die Wahrnehmung ihrer Person, allerdings um den hohen Preis wiederkehrenden Beziehungsverlustes. Gelegentliche Aggressionen verbleiben im Bereich hoch affektiver Erregung, werden selbst nicht systematisch und drücken dadurch die starke Bedürftigkeit nach Erhalt der Beziehung aus. Zudem wäre hier schon zu berücksichtigen, dass Menschen, deren Körperselbst nicht kultiviert wurde, selbstverständlich große Schwierigkeiten im Konfliktfall auf der Beziehungsebene haben müssen – sie kennen ja kaum den Körper achtende Umgangsformen. Auch die zunehmenden depressiven Phasen manifestieren eine hohe subjektive Bedeutungsarmut des eigenen Körpers als dialogisch erlebter. Wir können also schlussfolgern: Frau Hiller ist durch ein stark entwertetes Körperselbstbild gezeichnet und damit durch ein Syndrom, das in seinem Entstehungszusammenhang durch bestimmte Bedingungen gravierender Isolation bestimmt ist. M. a. W.: Das zentral wirksame Syndrom, welches wir bei Frau Hiller neben anderen Störungsbedingungen zu untersuchen haben, ist die Entwertung ihres Körperselbstbildes bzw. ihres Körperselbsterlebens. Allerdings hat diese emotionale Beziehungslosigkeit wiederum Folgen für die Bewältigung von sachlichen (Alltags-) Aufgaben, die mit der Zeit immer schwerer fallen, so dass auch die Entwicklung im gegenständlichen Bereich zunehmend zurück genommen wird. Mit diesen beiden Beispielen deutet sich eine wichtige Problematik an. Die Beeinträchtigung dessen, was wir als systematisch geistiges Handeln bezeichnen können, verbleibt nicht in diesem Bereich. Sie hat entscheidende Auswirkungen auf die emotionale Ebene und damit auf die erlebte Beziehung zu anderen Menschen. Umgekehrt: die Beeinträchtigung der emotionalen Ebene bremst den Zugang auf eine Vielfalt kompetenten Umgangsweisen mit der Welt und bewirkt auf diese Weise eine geistige Beeinträchtigung. Personen mit dieser Problematik, der empfundenen Wertlosigkeit des eigenen Körpers, brauchen deshalb der Erleben der Kultivierung ihres Körpers, in der sie erfahren können, dass ihr Körper ästhetisch ist und darüber Bindung entstehen kann. Eine Unterscheidung von geistiger Behinderung und emotionaler Störung muss somit von Anfang an aus der Perspektive der Wechselwirkung von biologischer und Umweltbeeinträchtigung gesehen werden. Sicherlich ist darin eine Schwerpunktwirkung des einen oder anderen Pols festzuhalten und entsprechend hervorzuheben. Für die Praxis des Umgangs mit den betreffenden Menschen ist aber die Kenntnis der genannten Wechselwirkung von entscheidender Bedeutung. Wie wir also mit einem Jugendlichen mit Trisomie 21 konstruktiv und fördernd umzugehen haben, hängt nur zu einem geringen Teil von der Verdreifachung an der Stelle 21 in der chromosomalen Ausstattung ab. Viel wichtiger ist die Prägung durch seine Biographie, in der die Entfaltungsbedingungen für seine Entwicklung enthalten sind. Gleiches gilt es für den Menschen mit autistischer Informationsverarbeitung anzumelden. Er ist zwar auf der emotionalen Ebene der Möglichkeit nach schwer gestört aber wie massiv real, ist aus der Kenntnis seiner Biographie zu beurteilen und in einer Diagnose zu berücksichtigen. Desgleichen bleibt es bei der antisozialen Persönlichkeit nicht bei einer Dekultivierung in Bezug auf Umgangfor11 men im gesellschaftlichen Alltag, sondern weitet sich in Richtung Empathieverlust aus. Umgekehrt bewirkt die emotionale Schwerverletzung in der Borderline-Biographie die Beeinträchtigung kompetenten Alltagshandelns. Man kann an den Beispielen in aller Deutlichkeit erkennen, dass der Umgang mit Menschen, die auf der sozial-emotionalen Ebene beeinträchtigt sind, äußerst komplex ist und eine Qualifikation erfordert, die über das, was in der Regel als Förderung bezeichnet wird, weit hinausreicht. Die konventionellen Klassifikationsschemata DMS und ICD reduzieren die Diagnosen „geistige Behinderung“ und „psychische Störung„ sowie „antisoziale Persönlichkeit“ und „Borderline-Syndrom“ auf die äußere Symptomatik. Deshalb kann man die Komplexe relativ gut auf der Beschreibungsebene unterscheiden. In Bezug auf die Konsequenzen für den fördernden oder therapeutischen Umgang mit den betreffenden Menschen geben sie aber keine Auskunft. Dennoch ist aber das Unterscheidungsangebot ernst zu nehmen, weil damit der Beginn einer genaueren Betrachtung eröffnet wird. Diese Betrachtung richtet den Blick auf die Art und Weise, wie im Alltag mit Menschen unterschiedlicher Ausgangsbeeinträchtigungen umgegangen wurde und welche Folgeprobleme sich damit eingestellt haben. Denn, wir wissen heute neurologisch beweisbar, dass sich restriktiver bzw. reglementierender oder gewaltsamer Umgang mit Menschen organisch und hirnorganisch schädigend auswirkt und deshalb mit traditionellen „erzieherischen“ Mitteln kaum zu beeinflussen ist. Das heißt auch: Milieuschäden sind immer auch organische Schäden6. Aus dieser Sicht ist die Störung des Psychischen, wenn damit die sozial-emotionale Ebene gemeint wird, sicherlich kein Nebenef- 6 Vgl. Kegel, B.: Epigenetik. Wie Erfahrungen vererbt werden. Köln, 2009. Von Hoffgarten, Anna: Seelische Abwehrkraft. In: Gehirn & Geist, 3,2012, 28-34. Schubert, Ch.(Hg): Psychoneuroimmunologie und Psychotherapie. Stuttgart,2011. fekt, nicht nur ein Hauptproblem sondern eine Katastrophe. 5. Veränderungen in der Behindertenhilfe Die folgenden Perspektiven werden in der Betreuung der jungen Wilden Berücksichtigung finden müssen: 1. Die Betreuenden -werden sich differenziert mit der Entwicklungsgeschichte ihrer Klientel auseinandersetzen müssen, damit Ansatzpunkte für die Motivbildung gefun den werden können. 2. Das Betreungspersonal muss intensiver in Bezug auf die Arbeitsweise des Psychischen ausgebildet werden und umfassende Kenntnisse zu verschiedenen Behinderungsbildern erwerben. 3. Die Arbeitsweise im Alltag wird sich wesentlich stärken individuell gestalten. Gruppenaktivitäten werden in den Hintergrund treten. 4. Selbstverständlich bedeutet dies eine Verstärkung des Personals, das nicht mehr auf der Grundlage der praktizierten HMB-Verfahren bestimmt werden kann. Die Neukonzeption eines Beurteilungsverfahrens erfordert eine relativ lange Erprobungszeit. 5. Sicherlich bedeutet dies auch eine Verkleinerung der Gruppengröße. 12