Titel Interventionen für Kinder psychisch kranker Eltern Abstract In

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Titel
Interventionen für Kinder psychisch kranker
Eltern
Abstract
In dem Beitrag werden aktuelle therapeutische
Ansätze für Kinder psychisch kranker Eltern
zielgruppen-
(Kinder,
Eltern,
Familien)
und
interventionsspezifisch (Ansatz an Risiko- und
Schutzfaktoren) und je nach Präventionsart
(individuumszentrierte
Ansätze)
dargestellt.
vs.
umweltorienterte
Die
wissenschaftlichen
Befunde zu evaluierten Interventionen werden
zusammengefasst und es werden Praxisprojekte
vorgestellt,
wobei
Herausforderungen
ein
und
Fokus
auf
Möglichkeiten
den
der
Kooperation von Wissenschaft und Praxis liegt.
Kurzbiographie
500-1000 Zeichen
Dr. rer. nat. habil Hanna Christiansen ist
approbierte
Kinder-
und
Jugendlichenpsychotherapeutin und vertritt seit
Oktober 2012 die Professur für Klinische Kinderund
Jugendpsychologie
an
der
Philipps-
Universität Marburg. Ihre klinische Ausbildung
erfolgte
an
der
Jugendpsychiatrie
Klinik
und
für
Kinder-
und
Psychotherapie
der
Universität Duisburg-Essen sowie an dem Institut
für Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin
der
Philipps-Universität
Marburg.
Forschungsschwerpunkte:
Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörungen,
Therapieforschung,
Diagnostik
und
im
Kindes-
Jugendalter,
Prävention, Kinder psychisch kranker Eltern,
Neuropsychologie.
Dipl. Psych. Jana Anding, geboren 1984, ist
wissenschaftliche Mitarbeiterin der Arbeitsgruppe
Klinische Kinder- und Jugendpsychologie am
Fachbereich Psychologie der Philipps-Universität
Marburg, seit 2013 Ausbildung zur Kinder- und
Jugendlichentherapeutin am Institut für
Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin der
Philipps-Universität Marburg.
Forschungsschwerpunkte: Postpartale
psychische Belastungen von Müttern und Vätern,
Kinder psychisch kranker Eltern.
Dipl.
Psych.
Luisa
Donath
absolvierte
ihr
Psychologiestudium an der Philipps-Universität
Marburg mit den Schwerpunkten Pädagogische
und Kinder- und Jugendpsychologie. Seit 2013
befindet sie sich in der Ausbildung zur Kinderund Jugendpsychotherapeutin am Institut für
Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin in
Marburg
und
forscht
unter
Prof.
Hanna
Christiansen in Marburg zu ADHS im Kindesalter.
Hanna Christiansen, Jana Anding, Luisa Donath
Interventionen für Kinder psychisch kranker Eltern
Einleitung
Nach internationalen Studien versorgen zwischen 23 bis 32 % der erwachsenen
psychiatrisch stationären Patienten Kinder unter 18 Jahren (Fraser, 2006; Maybery et al.,
2009; Östman & Hansson, 2002; Pretis & Dimova, 2008). Für Deutschland schwanken die
Zahlen z. T. sehr stark (9 – 61 %; Lenz, 2007; Mattejat & Remschmidt, 2008; siehe auch
Lenz in diesem Band). Legt man die Zahl der Familien und Raten psychisch Erkrankter
zusammen, so kann von 3.8 Millionen betroffener Kinder und Jugendlicher ausgegangen
werden (Statistisches Bundesamt, 2006; Röhrle & Christiansen, 2009; Wittchen, 2000). Eine
eigene Auswertung von Basisdokumentationsdaten (BADO) dreier großer Fachkliniken (die
Vogelsbergklinik im hohen Vogelsberg, die Schön-Kliniken in Bad Arolsen und die ElbeKliniken in Stade) von 15904 Patienten und Patientinnen ergab, dass insgesamt 65 % der
stationären Patienten Kinder haben und zwischen 50 - 94 % der Kinder bei ihren Eltern leben
(Christiansen, 2012a). Die häufigsten psychischen Erkrankungen der Eltern stellen dabei
depressive und affektive Erkrankungen dar. Ein Vergleich mit der Normalbevölkerung
(Beziehungs- und Familienpanel pairfam; http://www.pairfam.de/) zeigt allerdings, dass
Eltern mit psychischen Erkrankungen signifikant weniger Kinder haben (Bauer & Pierchalla,
2013): Von den 25-27-Jährigen der Normalbevölkerung haben im Durchschnitt 27.8 % und
von den 35-37-Jährigen 75.2 % Kinder; von den 25-27-jährigen Patienten haben hingegen je
nach Klinik nur zwischen 6 und18.9 % und von den 35-37-Jährigen nur zwischen 40.9 und
69.2 % Kinder (Bauer & Pierchalla, 2013). Obschon Patienten mit psychischen Störungen
demnach weniger häufig Kinder haben, gehen diese elterlichen Erkrankungen mit einer
Vielzahl von Entwicklungsrisiken für die Kinder einher. So zeigten in unserer Studien 15 38.4 % der Kinder psychisch kranker Eltern bereits selbst wieder psychische Auffälligkeiten
(Christiansen, 2012a). Nach internationalen Studien entwickeln zwischen 41-77 % der Kinder
psychisch kranker Eltern schwere psychische Störungen im Verlauf ihres Lebens (review
Hosman et al., 2009; Wille et al., 2008; Greif Green et al., 2010; Kersten-Alvarez et al., 2011;
Kessler et al., 2010). Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung ist das Risiko, psychisch zu
erkranken für diese Kinder je nach Störung der Eltern bis zu achtfach erhöht (review:
Hosman et al., 2009). Dies zeigt sich bereits im Kindes- und Jugendalter: 48.3 % der
Patienten in kinder- und jugendpsychiatrischer Behandlung haben ein Elternteil mit einer
schweren psychischen Störung (Mattejat & Remschmidt, 2008). Weitere Risikofaktoren
dieser
Kinder
sind
eine
erhöhte
Kindersterblichkeit,
unsichere
Bindungsmuster,
Entwicklungsverzögerungen und –störungen und eine insgesamt schlechtere schulische
Leistung und Anpassung.
Transgenerationale Transmission psychischer Störungen
Wie kommt es zu diesen erhöhten Raten psychischer Erkrankungen bei den Kindern
psychisch kranker Eltern? Welche Risikofaktoren wirken sich wie auf die kindliche
Entwicklung aus, so dass es zu Störungen kommen kann? Aufbauend auf dem Modell von
Goodman & Gotlib (1999) haben Hosman et al. (2009) dazu ein Modell der
transgenerationalen Transmission psychischer Störungen aufgestellt. Danach werden
zunächst vier großen Bereiche, 1) die elterliche Ebene, 2) die familiäre Ebene, 3) die
Kindebene und 4) die Ebene des sozialen Umfeldes unterschieden, die mit ihren jeweiligen
Systemen miteinander interagieren. Weiter werden fünf Transmissionsmechanismen
unterschieden und zwar 1) genetische, 2) pränatale, 3) die Eltern-Kind-Interaktion, 4)
familiäre und 5) soziale Einflüsse außerhalb der Familie. Die kindlichen Entwicklungsphasen
werden berücksichtigt und es wird angenommen, dass mit jeder Entwicklungsphase
spezifische Prozesse und Aufgaben verbunden sind, die spezifisch mit den vier Ebenen und
fünf Transmissionsmechanismen interagieren. Schließlich werden die Konzepte der Äquiund Multifinalität in dem Modell berücksichtigt. Damit ist gemeint, dass eine spezifische
Störung das Resultat verschiedener Ursachen sein kann (Äquifinalität) bzw. ein spezifischer
Risikofaktor sich auf unterschiedlichste Weise manifestieren kann (Multifinalität).
Im Folgenden werden die unterschiedlichen Komponenten des Modells sowie Befunde aus
der Forschung dazu dargestellt.
Abbildung 1: Transgenerationale Transmission psychischer Störungen. Aus Hosman et al.
(2009), S. 253
Risikofaktoren
Elterliche Faktoren
Verschiedene Studien konnten zeigen, dass Kinder von Eltern mit rezidivierenden oder
chronischen Störungen ein erhöhtes Risiko haben, selber zu erkranken, im Vergleich zu
Kindern, deren Eltern nur eine isolierte Episode durchlaufen haben (Ashman et al., 2002;
2008; Beardslee et al., 1987; Foster et al., 2008; Horwitz et al., 2007; Halligan et al., 2007).
Weiter haben Kinder von Eltern, die an mehreren Störungen erkrankt sind, also hohe
Komorbiditäten aufweisen, ebenfalls ein größeres Erkrankungsrisiko im Vergleich zu Eltern,
die an einer isolierten Störung leiden (Goodman, 2007; Kim-Cohen et al., 2006). In
verschiedenen Studien konnte ferner gezeigt werden, dass Kinder ebenfalls einem erhöhten
Risiko ausgesetzt sind, wenn beide Eltern psychisch erkrankt sind (Bijl et al., 2002; Birmaher
et al., 2009; Clark et al., 2004; Stelzig-Schöler et al., 2011). Dabei sind neben klassischen
psychologischen Faktoren wie bspw. dem Modelllernen auch genetische Faktoren relevant
und Faktoren wie die assortative Paarung, d. h. die Bevorzugung von Partnern, die einem
selber sehr ähnlich sind, so dass dann u. U. genetische Risikofaktoren von beiden Eltern
zum Tragen kommen können (Mattejat & Remschmidt, 2008).
Beginnt die elterlichen Erkrankung vor dem 30. Lebensjahr, erhöht sich das
Erkrankungsrisiko für die Kinder drastisch und auch hier wird angenommen, dass zum einen
genetische Faktoren zum Tragen kommen und sich zum anderen aversive psychosoziale
Lebensumstände, wie sie z. B. mit Teenagerschwangerschaften in Zusammenhang gebracht
werden, negativ auswirken (Kluth et al, 2010; Wickramaratne & Weissman, 1998).
Stress und Verlust in der Schwangerschaft wirken sich insbesondere im ersten
Trimenon ungünstig aus und wurden in einigen Studien mit späteren psychotischen
Erkrankungen der Kinder in Zusammenhang gebracht (Goodman, 2007; Khashan et al.,
2008; Kim-Cohen et al., 2006; Malaspina et al., 2008).
Familiäre Faktoren
Ein vielfach replizierter Befund zeigt, dass elterliche psychische Störungen oftmals mit
reduzierten elterlichen Fähigkeiten insbesondere geringerer Feinfühligkeit und reduzierten
Erziehungskompetenzen zusammenhängen und dies wiederum Bindungsstörungen sowie
Störungen der Emotionsregulation und langfristig internalisierende und externalisierende
Störungen der Kinder begünstigt (Bifulco et al., 2002; Duggal et al., 2001; Elgar et al., 2007;
Harnish et al., 1995; Hippwell et al., 2000; Leinonen et al., 2003; Lovejoy et al., 2000;
Maughan et al, 2007; Murray et al., 2003; Rogosch et al., 2004). Pathologisches elterliches
Modell- und Bewältigungsverhalten kann dazu führen, dass dieses von den Kindern
übernommen wird und Kinder dann z. B. selber Substanzen zur Emotionsregulation nutzen
(Sidebotham & Heron, 2006; Chronis et al., 2007). Und schließlich konnte in verschiedenen
Studien gezeigt werden, dass familiäre Disharmonie, häusliche Gewalt, finanzielle
Schwierigkeiten und kritische Lebensereignisse wie z. B. der Verlust eines Elternteils die
Auswirkungen der elterlichen psychischen Erkrankung auf die Kinder weiter verstärken und
zu ungünstigeren Entwicklungsausgängen der Kinder beitragen können (Ashman et al.,
2002; 2008; Beardslee et al., 1987; Foster et al., 2008; Horwitz et al., 2007; Halligan et al.,
2007; Wille et al., 2008).
Faktoren auf der Kindebene
Vulnerable Kinder zeichnen sich gegenüber resilienten Kindern durch eine Reihe von
Faktoren aus, die ihr Erkrankungsrisiko erhöhen. Z. B. wurde Delinquenz mit den
Temperamentsfaktoren einer hohen Verhaltensaktivierung, geringen Hemmung und sozialen
Ansprechbarkeit in Verbindung gebracht. Störungen in der emotionalen Entwicklung/geringe
Emotionsregulationsfertigkeiten, erhöhte Stressreaktivität, unsichere Bindung, negativer
Selbstwert, geringe kognitive und soziale Fertigkeiten sowie ein geringes Wissen über die
elterliche psychische Erkrankung sind weitere Faktoren, die mit einem erhöhten
Entwicklungsrisiko für Verhaltensauffälligkeiten der Kinder einhergehen (reviews: Beardslee
& Podorefsky, 1998; Goodman & Gotlib, 1999; Gopfert et al., 2004; Hosman et al., 2009;
Ijzendoorn
et
al.,
1992).
Im
13.
Kinder-
und
Jugendbericht
(http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/13-kinderjugendbericht,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf) wird festgestellt, dass
betroffene Kinder oft nicht über die elterliche Erkrankung aufgeklärt werden und dies u. a. zu
Schuldgefühlen und Ängsten führen kann. Die vertrauten, bekannten Eltern zeigen für die
Kinder
fremde,
nur
schwer
verständliche
Verhaltensweisen
und
werden
für
sie
„unverstehbar“. Insbesondere Symptome der Eltern, wie z. B. die erhöhte Reizbarkeit und
gedrückte
Stimmung
Substanzabhängigkeiten,
bei
Depression
oder
Persönlichkeitsstörungen
impulsive
oder
Durchbrüche
bei
Aufmerksamkeitsdefizit-
/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) des Erwachsenenalters, werden von den Kindern oftmals
als Reaktionen auf ihr eigenes Verhalten interpretiert. Die Kinder nehmen an, dass sie etwas
falsch gemacht haben und die Mutter/der Vater deshalb wütend, ärgerlich, reizbar oder
zurückgezogen und traurig ist (Christiansen, 2012b).
Auf Kindebene kommen ferner genetische Faktoren zum Tragen. Zum einen spielt
Vererbung eine Rolle (s. o. elterliche Risikofaktoren), zum anderen kommen epigenetische
Prozesse zum Tragen, die beispielhaft an zwei Studien veranschaulicht werden. In einer
Studie von Caspi et al. (2003) konnte gezeigt werden, dass Kinder, die zweimal das kurze
Allel
des
Serotonin-Transportergens
aufwiesen
sowie
in
der
Kindheit
Misshandlungserfahrungen gemacht hatten, ein deutlich erhöhtes Risiko für eine depressive
Episode im Erwachsenenalter aufwiesen verglichen mit Kindern, die mit zwei langen Allelen
des Gens ausgestattet waren (siehe Abbildung 2).
Abbildung 2: Zusammenhang zwischen Misshandlung in der Kindheit, dem SerotoninTransportergen und der Wahrscheinlichkeit, an einer depressiven Episode zu erkranken. Aus
Caspi et al. (2003), S. 388
In einer nachfolgenden Studie von Uher et al. (2011) konnte darüber hinaus gezeigt
werden, dass dies v. a. auf rezidivierende/chronische depressive Störungen zutrifft und nicht
bedeutsam mit einzelnen depressiven Episoden zusammenhängt, der Effekt also differenziell
für spezifische Subtypen ist (siehe Abbildung 3).
Abbildung 3: Zusammenhang zwischen Misshandlung in der Kindheit, SerotoninTransportergen und einer persistierenden depressiven Störung vs. einer einzelnen
depressiven Episode. Aus Uher et al. (2011), S. 59
Umwelt-/Kontextfaktoren
Armut/prekäre Lebensbedingungen sind mit höheren Raten psychischer Störungen der
Kinder assoziiert, wie auch z. B. das Aufwachsen in einem schlecht situierten Stadtteil, eine
geringe Schulqualität, fehlende soziale Unterstützung und Stigmatisierung (Überblick in:
Goodman & Gotlib, 1999; Hosman et al., 2009; Lenz & Schulz, 2008; O‘Connell, 2008;
Rutter, 1999; 2009; Rutter & Quinton, 1977). Costello et al. (2003) konnten zeigen, dass
Verbesserungen im Einkommen im vier Jahres Verlauf längsschnittlich mit einer Reduktion
psychischer Störungen der Kinder einhergingen.
In der Bella-Studie, dem Modul zur psychischen Gesundheit des Kinder- und
Jugendsurveys zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (Wille et al.,
2008) sowie in einer großen epidemiologischen Studie von Kessler et al. (2010) konnte
nachgewiesen werden, dass die identifizierten Risikofaktoren (s. o.) kumulieren, d. h. je mehr
vorliegen, desto höher ist die Rate psychischer Störungen und Auffälligkeiten bei den
Kindern und Jugendlichen (siehe Abbildung 4).
Abbildung 4: Zusammenhang zwischen der Anzahl Risikofaktoren und psychischen
Störungen/Auffälligkeiten der Kinder und Jugendlichen. Aus Wille et al. (2008), S. 139.
Schutzfaktoren
Ebenfalls auf den vier Ebenen (Eltern, Kind, Familie, Umwelt) des transgenerationalen
Transmissionsmodell von Hosman et al. (2009) werden analog zu den Risikofaktoren
Schutzfaktoren verortet. Als Schutzfaktoren konnten eine Reihe von Faktoren identifiziert
werden, die oftmals das Gegenteil der Risikofaktoren sind, wie z. B. positive
Temperamentsmerkmale
(robust,
aktiv,
offen,
kontaktfreudig)
oder
gute
Emotionsregulationsfertigkeiten auf der Ebene des Kindes. Insbesondere die altersadäquate
Aufklärung der Kinder über die elterliche Störung hat sich dabei als bedeutsamer
Schutzfaktor erwiesen. Auf der elterlichen Ebene ist die angemessene Behandlung der
elterlichen
Störung
zentral,
auf
familiärer
Ebene
die
gemeinsame
familiäre
Krankheitsbewältigung und Kommunikation und hinsichtlich des sozialen Umfelds hat sich
vor allem die soziale Unterstützung als ein zentraler Schutzfaktor erwiesen (Gladstone et al.,
2006; Lenz, 2007; Pretis & Dimova, 2008; Röhrle & Christiansen, 2009). Tabelle 1 gibt einen
Überblick über die identifizierten Schutzfaktoren getrennt für die verschiedenen Ebenen.
Tabelle 1: Schutzfaktoren, die auf den vier Ebenen Kind, Eltern, Familie, Umfeld zum Tragen
kommen
Ebene
Kind
Schutzfaktoren
•
robustes, aktives, kontaktfreudiges Temperament
•
emotionale Einfühlungs- und Ausdrucksfähigkeit
•
gute soziale Problemlösefähigkeiten
•
mindestens durchschnittliche Intelligenz
•
Selbstvertrauen, positives Selbstwertgefühl
•
hohe Selbstwirksamkeitserwartungen
•
ausreichende alters- und entwicklungsadäquate Aufklärung
über die Erkrankung der Eltern
•
stabile Bindung an mindestens eine primäre Bezugsperson
Eltern
Familie
•
angemessene Behandlung des erkrankten Elternteils
•
angemessene Krankheitsbewältigung
•
adäquater elterlicher Umgang mit der Erkrankung
•
gute Paarbeziehung
•
gute familiäre Krankheitsbewältigung
•
gute familiäre Kommunikation
•
Offenheit in der Familie im Umgang mit der Erkrankung
•
emotional positives, zugewandtes, akzeptierendes und zugleich
angemessen forderndes, kontrollierendes und stabiles Erziehungs- und
Familienklima
Umfeld
•
Rituale
•
keine prekären Lebensumstände und -bedingungen
•
stabiles soziales Netz/soziales Unterstützungssystem
•
stabile Beziehungen außerhalb der Familie
•
Schule, Arbeit
•
Gemeindeaktivitäten, soziale Teilhabe
Anschließend an die Studie von Caspi et al. (2003) konnten Kaufman et al. (2004)
zeigen, dass bei zwei kurzen Allelen des Serotonin-Transportergens (s. o. Risikofaktoren)
und Misshandlungserfahrungen in der Kindheit das Risiko für die Entwicklung einer
depressiven Störungen durch soziale Unterstützung signifikant gemildert werden kann (siehe
Abbildung 5), d. h. Schutzfaktoren können sich mildernd auf Risikofaktoren auswirken.
Abbildung
5:
Zusammenhang
zwischen
dem
Serotonin-Transportergen,
sozialer
Unterstützung und Depressionswerten bei Probanden mit Misshandlungserfahrungen in der
Kindheit. Aus Kaufman et al. (2004), S. 17319
Ähnlich wie bei den Risikofaktoren zeigt sich auch bei den Schutzfaktoren ein
Kumulationseffekt, d. h. je mehr Schutzfaktoren vorliegen, desto geringer ist die Rate an
psychischen Störungen und Auffälligkeiten bei den Kindern und Jugendlichen (Wille et al.,
2008, siehe Abbildung 6).
Abbildung 6: Zusammenhang zwischen der Anzahl Schutzfaktoren und psychischen
Störungen/Auffälligkeiten der Kinder und Jugendlichen. Aus Wille et al. (2008), S. 141.
Betrachtet man den Zusammenhang von Risiko- und Schutzfaktoren, so zeigt sich,
dass der Effekt dann am günstigsten ist, wenn viele Schutzfaktoren und nicht mehr als zwei
bis drei Risikofaktoren vorliegen (siehe Abbildung 7).
Abbildung
7:
Interaktion
von
Risiko-
und
Schutzfaktoren
und
Rate
psychischer
Störungen/Auffälligkeiten der Kinder und Jugendlichen. Aus: Wille et al. (2008), S. 142.
Präventionsprogramme
Die bestehenden Interventionen für Kinder psychisch kranker Eltern lassen sich analog zu
dem Modell der transgenerationalen Transmission (Hosman et al., 2009) hinsichtlich der vier
Ebenen Eltern/Familie, Kind und Umfeld differenzieren. Auf der Eltern-/Familien-/Kindebene
dominieren individuumszentrierte selektive, d. h. an Risikopopulationen bzw. indizierte, d. h.
an Populationen mit bereits bestehenden Auffälligkeiten gerichtete Programme. Auf der
Umweltebene gibt es umweltorientierte Programme, die zum einen zwischen Interventionen
für
Fachkräfte,
z.
B.
Ärzte,
Psychologen/Psychotherapeuten
und
zum
anderen
Netzwerkinterventionen z. B. auf Gemeindeebene unterscheiden. Im Folgenden werden
Befunde zu diesen Ebenen dargestellt.
Gemeinsame Komponenten von Eltern-/Familien-/Kindprogrammen
Fast alle Programme beinhalten Screenings, um das Risiko und die Versorgungssituation
der Kinder einzuschätzen sowie Psychoedukation über Ursachen und Erscheinungsbilder
der jeweiligen elterlichen Erkrankung, aber auch über die Risiken für die Kinder und
entsprechende Hilfsmöglichkeiten, um Gefühle der Hilflosigkeit abzubauen. Innerfamiliäre
Entlastungen können beispielsweise durch Trainings in Stressbewältigung, durch Erhöhung
der Erziehungskompetenzen, durch Verbesserung der innerfamiliären Kommunikation oder
auch durch den Aufbau eines familienexternen Betreuungssystems erfolgen, z. B. in
Kooperation mit der Kinder- und Jugendhilfe. Emotionsregulationstrainings können beim
Ausleben und dem Abbau von Ängsten und Schuldgefühlen helfen, aber auch beim Aufbau
positiven Selbstwerterlebens. Die Aktivierung familienexterner Kontakte trägt zu einer
familiären Dezentrierung und damit einhergehenden größeren Autonomie der Kinder bei.
Strukturelle Maßnahmen können die Herausnahme des Kindes aus der Familie sein.
Therapie, Frühinterventionen und Rückfallprophylaxe bei den Eltern wirken entlastend auf
die Kinder. Unterstützende Maßnahmen für die Eltern helfen beispielsweise, die Eltern in
einem ambulanten Setting zu halten, stationäre Aufenthalte zu reduzieren und so die
Interaktion mit den Kindern besser aufrechterhalten zu können. Häufig nimmt bei den
Interventionen
auch
die
Inanspruchnahme
von
psychosozialen
Diensten
ab,
die
Erziehungssituation für die Kinder verbessert sich und es zeigen sich langfristig
Entwicklungsvorteile für die Kinder, wenngleich Maßnahmen dieser Art selten in
randomisierten kontrollierten Studien untersucht wurden (Röhrle & Christiansen, 2009).
Eine aktuelle Meta-Analyse (Siegenthaler et al., 2012) zu präventiven Interventionen
für Kinder psychisch kranker Eltern identifizierte zunächst eine hohe Anzahl an Studien zu
dem Thema (K = 4095), aber an qualitativ hochwertigen Studien mit belastbaren
Ergebnissen, die quantitativ meta-analytisch ausgewertet werden können, verblieben nur 13
randomisiert kontrollierte Studien. Die Mehrzahl dieser Studien richtete sich an Eltern und es
wurden vor allem Erziehungsfertigkeiten der Eltern trainiert. Vier der Studien basierten auf
dem von Beardslee et al. (2009) entwickelten Programm „Hoffnung, Sinn und Kontinuität“,
ein Familienprogramm, das Psychoedukation und die innerfamiliäre Kommunikation in den
Vordergrund stellt und sich sowohl an die Eltern, die Kinder und die gesamte Familie richtet.
Nur
in
zwei
der
in
die
Meta-Analyse
eingegangenen
Studien
wurden
kognitiv
verhaltenstherapeutische Gruppenangebote für Jugendliche durchgeführt. Die Ergebnisse
der Meta-Analyse zeigen, dass Interventionen für Kinder psychisch kranker Eltern insgesamt
mit einer 40 % Risikoreduktion einhergehen und dies ein homogener Effekt ist.
In einer eigenen Meta-Analyse zu dem Thema (Christiansen et al., in Vorbereitung;
siehe auch Christiansen et al., 2010) konnten wir ebenfalls kleine bis mittlere, allerdings
heterogene Effekte nachweisen. Interventionen für Kinder und Jugendliche resultierten in
einer Reduktion der Verhaltensauffälligkeiten mit insgesamt robusten, aber kleinen Effekten
(g = .346), die allerdings im Langzeit-Follow-up erhalten blieben (g = .338). Interventionen für
Mütter und Säuglinge resultierten in heterogenen kleinen Effekten (g = .337), die sich im
Verlauf der Zeit weiter verringerten. Prä-Post-Studien zeigten insgesamt mittlere und
heterogenen Effekte (g = .691). Spezifische Interventionen für Kinder psychisch kranker
Eltern im Vergleich zu keiner Intervention resultierten in einem kleinen aber homogenen
Effekt (g = .240), wohingegen der Vergleich mit Treatment as Usual (TAU) moderate,
allerdings heterogene Effekte (g = .542) produzierte. Studien, die eine intensive Intervention
mit einer Minimalintervention verglichen, resultierten in kleinen homogenen Effekten (g =
.192). Moderatoranalysen zeigten, dass eine hohe Studienqualität und Interventionen im
Gruppensetting die Effekte reduzierten, wohingegen Effekte größer waren, wenn die Kinder
noch keine Auffälligkeiten aufwiesen und klinisches Fachpersonal die Intervention
durchführte. Insgesamt richtete sich die große Mehrzahl der Studien an Kinder von Eltern mit
Depression und Substanzmissbrauch, wohingegen andere Störungsbilder vernachlässigt
wurden. Insbesondere vor dem Hintergrund der hohen Rate von Eltern mit affektiven
Erkrankungen (s. o.), aber auch hoher Prävalenzen anderer Störungsbildern wie z. B. ADHS
mit 5 % und zudem ausgesprochen hoher Heritabilität, sind dringend weitere Studien
notwendig. Diese sollten breiter angelegt sein, die Zielgruppen genauer spezifizieren (ob
Mutter-Säugling-Programme,
Familienprogramme,
Jugendlichenprogramme)
und
Wirkfaktoren theoretisch ableiten und überprüfen. Da zudem Komorbidität eher die Regel als
die Ausnahme darstellt gilt es auch, allgemeine Störungspfade zu identifizieren, die einer
Mehrzahl psychischer Störungen zugrunde liegen können (Multifinalität, s. o.), wie
beispielsweise Emotionsregulationsdefizite (Berking, 2008). Interventionen, die solche
allgemeinen Defizite in den Vordergrund stellen, könnten sich als wirkungsvoll erweisen,
insbesondere auch hinsichtlich der Reduktion von Komorbiditäten und Risikofaktoren, da
diese häufig in Clustern auftreten und präventive Programme, denen ein breites Wirkmodell
zugrunde liegt, langfristig sehr viel effektiver sein können (The National Academies, 2009).
Zukünftige Studien sollten demnach theoriebasiert sein, die Ergebnismaße genau
spezifizieren, über ausreichende Teststärke zur Prüfung der Effekte verfügen, und mögliche
Mediatoren wie z. B. die Akzeptanz der Intervention aber auch Moderatoren (z. B.
sozioökonomischer Status, aktuelle elterliche Krankheitsepisode, isolierte vs. chronische
etc., s. o.) berücksichtigen. Schließlich sind Implementations- und Disseminationsstrategien
zu prüfen sowie die
Effizienzstudien.
Umweltebene
Durchführung
von über
Effektivitätsstudien
hinausgehenden
Auf der Umweltebene können Interventionen unterschieden werden, die sich an Fachkräfte
richten (Ärzte, Psychologen/Psychotherapeuten, Mitarbeiter der Kinder- und Jugendhilfe etc.)
und solche, die sich an das soziale Netz richten.
Ebene der Fachkräfte
Auf Fachkräfteebene gibt es z. B. Projekte, wie das Projekt „Auryn“ in Leipzig, die
regelmäßig in die Einrichtungen der Erwachsenenversorgung gehen und dort Vorträge und
Workshops zu dem Thema Kinder psychisch kranker Eltern halten. Die Notwendigkeit,
dieses Thema in die Einrichtungen der Erwachsenenversorgung zu tragen zeigt sich in einer
Studie von Franz et al. (2012). An der Studie nahmen 186 Psychiater aus sieben
Fachkliniken teil. Die Mehrzahl der befragten Ärzte wusste zwar, ob ihre Patienten Kinder
haben, aber nur 34.5 % konnten angeben, wer die Kinder aktuell versorgt und nur 4.6 %
konnten Angaben dazu machen, ob die Kinder ihre Eltern in der Klinik besuchten. Da in
Studien nachgewiesen wurde, dass Kinder dann erhöhten Erkrankungsrisiken ausgesetzt
sind, wenn sie wenig über die Erkrankung der Eltern wissen (s. o.). besteht hier die
Möglichkeit, Angehörigeninformationen altersgerecht auch an Kinder zu vermitteln und diese
so zu entlasten.
Das Bewusstsein für die Kinder kann allerdings auch schon früher, beispielsweise in
den ausbildenden Fächern geweckt werden. Allerdings zeigt eine Übersichtsarbeit von
Herpertz-Dahlmann & Herpertz (2010), dass die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen
erwachsenenpsychiatrischen und kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtungen gering
oder nicht vorhanden ist. Dies ist schon für das Medizinstudium festzustellen: kinder- und
jugendpsychiatrische Lehrveranstaltungen haben entweder einen sehr geringen Umfang
oder sind z. T. sogar an einigen Fakultäten von der curricularen Lehre ausgeschlossen
(Herpertz-Dahlmann & Herpertz, 2010). Die Dringlichkeit einer guten und vernetzen
Zusammenarbeit zeigt sich dabei nicht nur in der Studie von Franz et al. (2012), sondern
auch in der Studie von Mattejat & Remschmidt (2008), wonach knapp 50 % der kinder- und
jugendpsychiatrischen Patienten ein psychisch krankes Elternteil haben (s. o.).
Die Radboud Universität in Holland hat im Jahr 2009 eine über vier Jahre angelegte
randomisierte kontrollierte Studie begonnen, das Basic Care Management (BCM). In diesem
Programm werden Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen/des Jugendamtes
trainiert, in belasteten Familien Unterstützung anzubieten und elterliche Kompetenzen zu
stärken. Erste Pilotstudienergebnisse zeigen positive Effekte hinsichtlich einer Verbesserung
des Elternverhaltens und einer Reduktion der Risikofaktoren der Kinder (van Doesum &
Hosman, 2009). Ein solch niedrigschwelliges, aufsuchendes Angebot mit trainierten
Fachkräften ist ein gutes Beispiel für eine gelungene präventive Intervention auf
Fachkräfteebene.
Netzwerkebene
Auf dieser Interventionsebene existieren Programme zur Reduktion von Vorurteilen. Auf
schulischer Ebene gibt es beispielsweise das Projekt „Verrückt – na und?! Seelisch fit in der
Schule“, in dem ein Experte in eigener Sache und ein trainierter Mediator gemeinsam in
Schulen gehen und dort über psychische Störungen aufklären (Richter-Werling, 2013;
www.verrueckt-na-und.de). Dieses Projekt ist mittlerweile bundesweit verbreitet und stellt
auch
Materialien
zur
Verfügung
(http://cms.irrsinnig-
menschlich.de/unterseiten/materialien.html). Allerdings liegen hinsichtlich der möglichen
positiven Auswirkungen dieses Anti-Stigma-Projektes auf die Kinder psychisch kranker
Eltern noch keine Ergebnisse vor.
Studien zu Selbsthilfegruppen konnten zeigen, dass angeleitete Selbsthilfegruppen z.
B. der Krankenkassen oder von Verbänden wie z. B. der Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder
psychisch kranker Eltern oder auch entsprechende Angebote über das Internet effektiv sind
und sich positiv auf die psychische Gesundheit auswirken, im Vergleich zu einer reinen
Wartekontrollgruppe (Kling et al., 2010; O’Brien & Daley, 2011). Allerdings liegen auch hier
noch keine spezifischen Befunde zu Kindern psychisch kranker Eltern vor.
Beispielhaft
haben
Finnland
und
Schweden
auf
nationaler
Ebene
das
Familieninterventionsprogramm von Beardslee et al. (2009; s. o.) implementiert. Kinder
psychisch kranker Eltern in diesen Ländern haben das Recht, dass ihre Bedürfnisse
hinsichtlich Aufklärung über die elterliche Erkrankung und nach Unterstützung angemessen
befriedigt werden (Pihkala et al., 2011). Dieses Recht ist auch Grundlage eines Gesetzes
aus dem Jahr 2010 in Norwegen, wonach in Einrichtungen der Erwachsenenversorgung die
Kinder angemessen mitversorgt werden müssen (Pihkala et al., 2011). Eine solche
gesetzliche Grundlage verpflichtet zum einen die Einrichtungen der Erwachsenenversorgung
nach den Kindern zu fragen und entsprechende Angebote vorzuhalten, zum anderen schärft
sich auf diese Weise der Blick für die betroffenen Kinder und mögliche Bedürfnisse können
so frühzeitig erkannt und befriedigt werden und so zu einer guten Entwicklung der Kinder
beitragen.
Zur Situation in Deutschland
Auch in der Bundesrepublik sind mittlerweile eine Vielzahl von präventiven Angeboten,
Initiativen und Projekten für Kinder psychisch kranker Eltern entstanden. So finden sich allein
auf der Internetseite der Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder psychisch erkrankter Eltern
(www.bag-kipe.de) aktuell über hundert Projekte, Initiativen oder Einrichtungen aus dem
gesamten Bundesgebiet, die sich in der Bundesarbeitsgemeinschaft vernetzt haben. Ein
umfassender Überblick über die bestehenden präventiven Hilfen für die Zielgruppe in
Deutschland gestaltet sich dabei schwierig, da es sich bei den Angeboten häufig um zeitlich
befristete lokale Projekte und Initiativen handelt und die wenigsten Angebote fest in den
Versorgungsstrukturen verstetigt sind. Reinisch, Heitmann und Griepenstroh (2011)
berichten
in
einem
Übersichtsbeitrag
über
die
Ergebnisse
einer
systematischen
Literaturrecherche zu Studien, Initiativen und Angeboten zur Prävention psychischer
Störungen bei Kindern mit psychisch kranken Eltern in Deutschland. Die identifizierten
präventiven Angebote in Deutschland sind dabei analog zu den beschriebenen
Präventionsebenen
zu
verorten:
So
unterscheiden
die
Autoren
zwischen
eher
individuumszentrierten (fallbezogenen; siehe oben Eltern-/Kindebene) und strukturellen
(fallübergreifenden; siehe oben Netzwerkebene/Fachkräfteebene) Angeboten. Im folgenden
Abschnitt sollen exemplarisch einige Präventionsmaßnahmen für Kinder und Jugendliche
erläutert werden, wobei hierzu jeweils beispielhaft praxisbezogene Projekte und Programme
in Deutschland aufgeführt werden. Eine Auflistung deutschlandweiter Angebote für Kinder
psychisch kranker Eltern findet sich auf der Internetseite der Bundesarbeitsgemeinschaft
Kinder psychisch erkrankter Eltern (www.bag-kipe.de).
Mutter-Kind-Behandlung in der Psychiatrie
Das Angebot einer gemeinsamen stationären Aufnahme von Eltern mit psychischen
Erkrankungen und ihren Kinder in der Erwachsenenpsychiatrie konzentriert sich meist auf
die Behandlung von psychisch kranken Müttern mit Säuglingen (Lenz, 2005). Ein Beispiel
guter Praxis ist die Mutter-Kind-Behandlung im Psychiatrischen Zentrum Nordbaden (Leitung
Dr. Christiane Hornstein). Mütter mit postpartalen psychischen Störungen und ihre
Säuglinge/Kleinkinder im Alter von Null bis 24 Monaten werden dort in einer speziellen
Mutter-Kind-Einheit
gemeinsam
aufgenommen
und
behandelt.
Das
interaktionale
Therapieprogramm der Mutter-Kind-Behandlung setzt sich aus fünf Modulen zusammen, die
neben der psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung der Mutter auch therapeutische
Müttergruppen, die videogestützte Einzelpsychotherapie der Eltern-Kind-Beziehung sowie
die Unterstützung der Eltern-Kind-Beziehung im Alltag und die Arbeit mit Vätern und
Angehörigen umfasst. (www.mutter-kind-behandlung.de). Zunehmend werden auch in
anderen Kliniken in Deutschland gemeinsame Behandlungsansätze für Mütter/Väter und ihre
Säuglinge/Kleinkinder zu entwickelt und umgesetzt; solche Beispiele guter Praxis können
wegweisend für eine zukünftige Versorgung sein.
Patenschaften für Kinder psychisch kranker Eltern
Neben einer Häufung von Belastungen und Konflikten innerhalb der Familie geht die
psychische Erkrankung eines Elternteils nicht selten auch mit einer sozialen Isolation der
Familie
einher
(Gurny,
Cessée,
Gavez,
Los,
&
Albermann,
2007).
Betroffene
Familienverfügen demnach häufig nicht über ein stabiles und tragfähiges außerfamiliäres
soziales Netzwerk. Patenschaftsprojekte dienen somit der Netzwerkförderung mit dem Ziel,
betroffenen Kindern eine dauerhafte und verlässliche Unterstützung durch einen gesunden
erwachsenen Ansprechpartner außerhalb der Familie zur Verfügung zu stellen (Reinisch,
Heitmann & Griepenstroh, 2011). In der Regel werden Patenschaften deshalb nicht in akuten
Krisensituationen, sondern in stabilen Phasen in den Familien installiert. Den Kindern wird
somit eine kontinuierliche Bezugs- und Vertrauensperson zur Seite gestellt und die
Möglichkeit geboten, in Belastungssituationen auszuweichen, ohne in Loyalitätskonflikte zu
geraten. In akuten Krisensituationen können die Kinder bei ihren Paten untergebracht und
versorgt werden. Die Paten schützen und unterstützen somit nicht nur die Kinder, sondern
stehen auch den Eltern als Ansprechpartner zur Seite und bieten konkrete Entlastung im
Alltag, indem sie etwa in regelmäßigen Abständen auch in stabilen Phasen zu vereinbarten
Zeiten die Kinderbetreuung übernehmen (Szylowicki, 2001). . In ganz Deutschland gibt es
mittlerweile eine Reihe von Vereinen und Institutionen, die Patenschaften vermitteln. Zu
diesen zählen unter anderem PFIFF (Pflegekinder und ihre Familien Förderverein) in
Hamburg, wo bereits seit mehr als 10 Jahren Patenschaften für Kinder psychisch kranker
Eltern vermittelt werden, AMSOC (Ambulante Sozialpädagogik Charlottenburg e.V.) in Berlin,
der Kinderschutzbund in mehreren Städten (z. B. Marburg, Günzburg), die AWO
(Arbeiterwohlfahrt) in Göttingen. Auch diese Projekte haben dazu beigetragen, das
Bewusstsein dafür zu stärken, dass solche stabilen und langfristigen Angebote förderlich für
die Entwicklung der Kinder und zugleich auch kostensenkend sein können, so dass in
einigen Städten/Kommunen (z.B. in Hamburg, Bremen, Marburg) feste Budgets für diesen
Bereich aufgebaut werden konnten.
Vorwiegende Einzelberatung von Kindern und Eltern
Im ambulanten Bereich gibt es eine Vielzahl von Beratungsangeboten, die sich vor allem auf
die kindgerechte Aufklärung, Persönlichkeitsentwicklung und Unterstützung der betroffenen
Kinder, aber auch auf die Unterstützung der elterlichen Erziehungskompetenzen und die
Erarbeitung von Lösungsstrategien spezialisiert haben. Neben den Einzelberatungen finden
auch Familienberatungen statt, um das alltägliche Familienleben positiv zu fördern und
alltägliche Hürden konstruktiv zu bewältigen. Beispiele für entsprechende Angebote in
Deutschland sind unter anderem KIPKEL (Kinder psychisch kranker Eltern) im Kreisgebiet
Mettmann
(www.kipkel.de),
desweiteren
die
Projekte
Pampilio
in
Lübeck
(http://www.diebruecke-luebeck.de/behandlung-reha/kinder-jugendliche/das-kinderprojektpampilio) und kim - Kinder im Mittelpunkt in Kiel (http://www.kim-sh.de).
Gruppenangebote für Kinder und Jugendliche
Neben Einzelberatungen für Kinder und Jugendliche bieten viele Vereine und Institutionen
Gruppenprogramme sowohl zur Psychoedukation als auch zur gezielten Stärkung von
Ressourcen und Schutzfaktoren der Kinder und Jugendlichen an. In diesen Gruppen geht es
u. a. um die Enttabuisierung der psychischen Erkrankung der Eltern, die altersangemessene
Informationsvermittlung,
die
Förderung
der
emotionalen
Wahrnehmung
und
des
Selbstwertgefühls und die Entlastung von Schuldgefühlen. Den Kindern wird die Möglichkeit
geboten, sich gegenseitig auszutauschen und somit ein Gefühl der Solidarität und
Zugehörigkeit herzustellen. Von Vorteil ist es, wenn begleitend Elterntreffen stattfinden. Ein
solches Angebot bieten die z. B. Auryn-Gruppen, die in mehreren Städten deutschlandweit
vertreten sind, z.B. in Frankfurt, Trier und Leipzig (Dierks, 2001; Lenz, 2007). Weitere
Projekte sind z. B. die Seelensteine in Halle/Saale (http://www.seelensteine.org ), Sunny
Side
Up
in
Berlin
(http://www.sunnysideup-berlin.de),
(http://www.kinderschutzbund-frankenthal.de/content/ch.html),
Chillies
Skipsy
in
in
Frankenthal
Konstanz
(http://www.awo-konstanz.de/skipsy.html), Ich bin wichtig! in Kaufbeuren (http://www.kjfaugsburg.de/web/ejv.nsf/id/pa_ichbinwichtig.html),
Windlicht
(http://www.margaretenhort.de/sozialpsybetr/windlicht.htm)
und
in
Hamburg
Sonnenkinder
in
Bonn/Rhein-Sieg (http://www.hfpk.de/angebote.html).
Präventive Ansätze auf der Familienebene
Angebote auf der Familienebene setzen sich in der Regel aus Eltern-, Paargesprächen,
Einzelgesprächen mit den Kindern und aus Familiengesprächen zusammen. Dabei geht es
um die Aufklärung der Eltern und Kinder über die psychische Erkrankung des betroffenen
Elternteils. Es soll ein familiäres Verständnis der Erkrankung sowie eine Paar- und
Familiendynamik aus einer mehrgenerationalen Perspektive erreicht werden. Darüber hinaus
sollen die innerfamiliäre Kommunikation, Ressourcen und Bewältigungsmöglichkeiten im
Umgang mit der Erkrankung gestärkt werden. Die Eltern werden außerdem über Risiken und
Schutzfaktoren der kindlichen Entwicklung aufgeklärt. Ein Beispiel für ein familienorientiertes
Interventionsprogramm ist das CHIMPs-Projekt (Children of mentally ill parents), das in
Hamburg
am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf angeboten und wissenschaftlich
evaluiert wird (Wiegand-Grefe, Werkmeister, Bullinger, Plass & Petermann, 2012; WiegandGrefe, Cronemeyer, Plass, Schulte-Markwort & Petermann, 2013). CHIMPS basiert auf dem
familienorientierten Präventionsprogramm „Hoffnung, Sinn und Kontinuität“ von William
Beardslee (2009), das ebenfalls vom Diakonischen Werk Baden verwendet wird. In dessen
Projekt „Vergessene Kinder im Fokus“ soll die Familienintervention in einem großen
Praxisprojekt evaluiert werden mit dem Ziel, Hilfen für Kinder psychisch kranker Eltern zu
verstetigen. Mit der Projektevaluation sollen gesundheits-, familien- und sozialpolitische
Verantwortungsträger sowie Krankenkassen in Baden-Württemberg für die Beteiligung an
einer
Regelfinanzierung
gewonnen
werden
(http://www.ekiba.de/html/content/projekt_vergessene_kinder.html?t=6759ae9132daed1f301
d795fa9db44cf).
Kombinierte Präventionsprogramme
Bundesweit existieren auch einzelne Projekte und Initiativen, in denen sowohl fallbezogene,
als auch fallübergreifende Elemente der Prävention bei Kindern psychisch kranker Eltern
kombiniert werden. Diese sehen zum einen die Unterstützung der betroffenen Familien vor
(z.
B.
mit
Gruppen-
oder
Einzelangeboten),
zum
anderen
fallübergreifende
Öffentlichkeitsarbeit z. B. in Form von Informationsveranstaltungen, Publikationen,
Vernetzung von Multiplikatoren und die Pflege der Internetpräsenz. Weitere Bausteine sind
die Qualifizierung von Fachkräften und Multiplikatoren durch Schulungen und die Schaffung
und Weiterentwicklung von Kooperationsbeziehungen zwischen den Einrichtungen der
Psychiatrien,
niedergelassenen
Jugendhilfen
und
den
Psychiatern
Gesundheitsämtern.
und
Psychotherapeuten,
Beispiele
für
solche
Kinder-
und
kombinierten
Präventionsprogramme sind das Würzburger Präventions- und Qualifikationsprojekt des
evangelischen Beratungszentrums Würzburg (http://www.wuerzburger-projekt.de/) und das
bereits erwähnte Modellprojekt „Vergessene Kinder im Fokus“ der badischen Landeskirche,
das sich explizit die Vernetzung und Öffentlichkeitsarbeit zur Aufgabe gemacht hat
(http://www.ekiba.de/html/content/projekt_vergessene_kinder.html?t=6759ae9132daed1f301
d795fa9db44cf).
Fazit
Vor dem Hintergrund des transgenerationalen Transmissionsmodells psychischer Störungen
(Hosman et al., 2009) kann angenommen werden, dass die elterliche psychische Erkrankung
ein allgemeiner Faktor ist, der sich im Sinne der Multifinalität auf unterschiedliche Weise
manifestieren kann und durch weitere Risiko- aber auch Schutzfaktoren beeinflussbar ist. In
einer Wachstumsstudie (launch & growth) (Garber & Cole, 2010) konnte nachgewiesen
werden, dass die elterliche psychische Störung der Auslöser für einen Kaskadenprozess ist,
der unter anderem erhöhten familiären Stress, familiäre Dysfunktionen und niedrigen
Selbstwert bei den Kindern auslöst und darüber das Erkrankungsrisiko der Kinder erhöht.
Weiter konnte in der Studie nachgewiesen werden, dass eine Reduktion der elterlichen
Störung (launch-Faktor) zu einer verbesserten Entwicklung der Kinder beiträgt (growthFaktor). Folglich sollte die elterliche psychische Störung immer adäquat und zügig behandelt
werden, und vor dem Hintergrund der dysfunktionalen Kognitionen und Schuldvorwürfe der
Kinder sollten diese in die Behandlung einbezogen werden, indem sie altersadäquat über die
elterliche
Erkrankung
aufgeklärt
werden.
Vorbildlich
sind
in
dieser
Hinsicht
die
skandinavischen Länder, die diese Bedürfnisse der Kinder erkannt haben und ihnen sogar
gesetzlich verankert Unterstützung diesbezüglich zusichern.
Ferner haben sich nach einem ausführlichen Review von Allen (2011), das dieser im
Auftrag der englischen Regierung erstellt hat, insbesondere die frühen Hilfen (vor dem 3.
Lebensjahr) als wirksam bei der Prävention von psychischen Störungen bei Kindern und
Jugendlichen erwiesen. Allen (2011) stellt fest, dass es evidenzbasierte Programme zu
frühen Hilfen gibt, die nachweislich langfristig die Entwicklung von Kindern positiv
beeinflussen, aber bislang nur sporadisch Anwendung finden. Dies führt dazu, dass es
immer noch sehr viel mehr und häufig auch eher favorisierte Programme zu späten
Interventionen gibt, die dann ansetzten, wenn Probleme und Störungen bereits bestehen und
bekanntermaßen teuer und weniger effektiv sind. Folglich sollte bei der Prävention für Kinder
psychisch kranker Eltern auch immer bedacht werden, dass frühe Hilfen, wie beispielsweise
das Family Nurse Partnership Programm von Olds et al. (1993; 1999; 2004; 2006; 2007;
2009), das Triple-P-Programm (Bayer et al., 2009; Sanders, 2011; Wilson et al., 2012) oder
auch das Incredible Year Programm (Bayer et al., 2009; Webster-Stratton et al., 2011) dazu
beitragen können, Familien mit psychisch kranken Eltern frühzeitig zu entlasten, ihre
Erziehungskompetenzen
zu
fördern,
Entwicklungsrisiken
der
Kinder
zu
erkennen,
Schutzfaktoren zu fördern und so zu einer langfristig guten Entwicklung von Familien und
Kindern beitragen können.
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