4 1/2004 Kinder psychisch kranker Eltern Entwicklungsprobleme und präventive Ansätze von Christiane Deneke Die Not von Kindern psychisch kranker Eltern wird meistens erst erkannt, wenn sie aufgrund von Entwicklungsproblemen in der Kinderpsychiatrie vorstellig werden. Ein Fallbeispiel zeigt, wie sich eine gestörte und isolierte Mutter-Kind-Beziehung auf die geistige und seelische Entwicklung des Kindes auswirkt. Empirische Studien belegen, dass psychische Erkrankungen durch das soziale Umfeld beeinflussbar sind. Je früher Hilfen erfolgen, umso mehr vermindert sich das Risiko der Kinder, selbst psychisch zu erkranken. Zur Einführung eine Fallgeschichte aus unserer Tagesklinik: Der neunjährige Alexander war zum Zeitpunkt der Aufnahme bei uns schon mehr als ein halbes Jahr von seiner Mutter getrennt, er lebte ohne Kontakt zu ihr (was ihn einerseits erleichterte, andererseits aber auch mit Schuldgefühlen und Sorge um sie erfüllte) in einem Kinderheim. Seine Geschichte verdeutlicht viele Aspekte der Problematik von Kindern psychisch kranker Eltern. Alexanders Mutter, eine nach Aussagen ihrer Eltern „immer schon schwierige und eigenbrötlerische Person“, war aus einem Urlaub beabsichtigt schwanger zurückgekommen. Diese einsamen Schwangerschaften sehen wir häufig bei Frauen mit psychischen Problemen, die eine Partnerschaft nicht eingehen und längere Zeit ertragen könnten, die aber trotzdem den Wunsch nach einem Kind haben. Das Kind soll der Mutter selbst und den Menschen um sie herum beweisen, dass sie gesund ist und fähig dazu, Mutter zu sein. Kinder in dieser Konstellation sind also schon vor ihrer Geburt funktionalisiert. Einfühlung in die Lage des Kindes ist der werdenden Mutter kaum möglich. Daneben sehen wir aber auch bei psychisch kranken Frauen, am stärksten bei schizophrenen, gehäuft unwillkommene Schwangerschaften, die durch mangelnde Vorsorge, oft auch verbunden mit Gewalt, zustande gekommen sind. Weiter in der Vorgeschichte von Alexander: Nach einer komplizierten Geburt sei er ein schwieriger Säugling gewesen, der wegen vielen Schreiens und Nahrungsverweigerung mehrfach stationär behandelt werden musste. Dies ist charakteristisch für Mütter mit chronischen psychischen Belastungen: Da sie schlechter für sich sorgen können, vielleicht auch aus Angst nicht zum Arzt gehen, ist ihre Vorsorge für das werdende Kind schlechter als bei psychisch gesunden Frauen. Auch haben sie häufiger schwierige Säuglinge, die durch das nicht auf ihre Bedürfnisse abgestimmte Verhalten der Mutter irritiert sind und viel schreien. Die Regulationsstörungen 1/2004 5 der Säuglinge, also Schrei-, Schlaf- und Fütterstörungen, weisen auf eine Störung der Eltern-Kind- Beziehung hin, die in ca. der Hälfte der Fälle mit einer psychischen Störung oder psychiatrischen Erkrankung der Mutter einhergeht. Eine psychische Erkrankung des Vaters kann von einer gesunden Mutter kompensiert werden, ist aber die Mutter, wenn sie die HauptBezugsperson ist, besonders die alleinerziehende, psychisch erkrankt, so wirkt sich dies auf die Beziehung zum Kind und auf seine psychische Entwicklung aus. Noch verhältnismäßig günstig ist es, wenn die Kinder, wie Alexander, auffällig und auch bei Ärzten vorgestellt werden. Schlimmer ist das stille Elend eines vernachlässigten Säuglings, der in Passivität und immer größeren Entwicklungsrückstand versinkt und niemandem auffällt, auch nicht seiner Mutter, die innerlich darauf angewiesen ist, dass das Kind ruhig ist und keine Beziehungswünsche an sie hat, denen sie nicht gewachsen wäre. Kindern gesunder Eltern. Wie immer bei solchen komplexen Bedingungsgefügen ist nicht zu definieren, wie groß der jeweilige Anteil - Anlage vs. Umwelt - ist, insbesondere, da diese Bedingungen sich gegenseitig verstärken. Wieder zu Alexander. Wegen Auffälligkeiten seiner Entwicklung (allgemeine Retardierung, Koordinationsstörung, verzögerte Sprachentwicklung, Überempfindlichkeit auf taktile und akustische Reize) sei er regelmäßig kinderneurologisch untersucht und krankengymnastisch behandelt worden. Mit 7 Jahren sei er als 60% behindert eingestuft und in eine Schule für Körperbehinderte eingeschult worden. Störungen in der Mutter-Kind-Beziehung Auch dies ist nicht untypisch: Einer psychischen Erkrankung der Mutter und damit einer mehr oder weniger seinen eigenen Bedürfnissen unangemessenen, nicht ausreichenden oder übermäßigen Stimulation in der Interaktion ausgesetzt, kann ein Säugling nicht, wie es sonst für ihn normal wäre, seine volle Aufmerksamkeit der Umwelt zuwenden, allen neuen Erfahrungsstoff begierig aufnehmen und in funktionierende Hirnstrukturen umwandeln. Inadäquate elterliche Antworten auf Signale des Babys erzeugen Verwirrung und - wie geschildert im günstigeren Fall eine Regulationsstörung, die auffällt, im ungünstigeren Fall aber mit der Zeit eine Abstumpfung und Retardierung des Kindes. Bei Alexander hat es sich um den günstigeren Fall gehandelt. Die Verwirrung des Kindes zeigt sich im frühen Lebensalter nicht nur kognitiv, sondern in einer ganzheitlichen Weise, die ihre Spuren in der Entwicklung der Intelligenz - verdeutlicht an der Sprache -, der Sinneswahrnehmung - verdeutlicht an der beschriebenen akustischen und taktilen Überempfindlichkeit -, sowie der motorischen Fähigkeiten - verdeutlicht an der Koordinationsstörung - hinterlässt. Auch die frühe sozial-emotionale Entwicklung ist betroffen, darüber wissen wir im Fall des kleinen Alexander nichts, aber es ist anzunehmen, dass sie nicht reibungslos verlaufen ist. Zum Zeitpunkt der Aufnahme bei uns jedenfalls bestanden erhebliche Probleme auch im sozial-emotionalen Bereich. Neben den eben beschriebenen Einflüssen der unmittelbaren sozialen Umwelt spielt die Veranlagung bei der Ausprägung der Entwicklungsstörung eine Rolle: Bei ca. 40% der Verwandten 1. Grades schizophrener Menschen liegen Anzeichen für eine Vulnerabilität des Zentralnervensystems in Form von neurointegrativen Defiziten vor. Bei den Kindern affektiv Erkrankter(1) liegt die Zahl dieser Auffälligkeiten bei 22% gegenüber 15% bei Aber gehen wir in Alexanders Geschichte weiter: Was war mit seiner Mutter? Wir haben sie nie kennengelernt. Wie wir von den Eltern der Mutter erfuhren, habe sie seit Alexanders Geburt eine zunehmende Wesensveränderung durchgemacht und viele Ängste entwickelt: Ängste, aus dem Haus zu gehen, andere Menschen in die Wohnung zu lassen, beobachtet zu werden usw. Krankheitseinsicht habe nicht bestanden, Kontakte zu anderen Menschen habe sie nicht gehabt. In Zeiten der Überforderung habe sie Alexander manchmal zu ihren Eltern gebracht, denen sie im Übrigen misstraute. Dort habe er ein geordnetes Leben führen können, während das Zusammenleben mit seiner Mutter offenbar immer chaotischer und von Vernachlässigung geprägt war. Entbindung als Auslöser für psychische Krisen Auch diese Schilderung ist nicht untypisch: Nach der Geburt eines Kindes wandeln sich bis dahin latent vorhandene Probleme gehäuft zu definierten Erkrankungen oder schon vorhandene Krankheiten verschärfen sich. Das Risiko einer Frau, psychotisch zu werden, ist in den ersten 30 Tagen nach der Geburt eines Kindes 20-30 mal so hoch wie sonst in ihrem Leben, die Hospitalisierungshäufigkeit in der Psychiatrie 35-fach erhöht. Postpartale(2) Depressionen treten nach ca. 10% aller Geburten auf. So hat offenbar auch Alexanders Geburt seine Mutter aus einem mühsam aufrechterhaltenen psychischen Gleichgewicht gebracht und die schizophrene Erkrankung ausbrechen lassen, die unerkannt und unbehandelt immer schlimmer wurde. Und wie so oft in solchen Fällen hat die Mutter trotz fehlender Krankheitseinsicht gespürt, dass sie in ihren schwereren Krankheitszuständen nicht gut für das Kind da sein konnte und hat es dann zeitweilig zu ihren Eltern gegeben. Diese Selbstreflexion ist auch in schweren Krankheitsfällen erstaunlicherweise oft noch vorhanden, allerdings nicht regelhaft: Auch Misshandlungen und Tötungen der Kinder kommen bei psychischen Krisen nach der Geburt vor, die letzteren meist als erweiterte Suizidversuche. So ist es Alexanders Mutter offenbar schlechter gegangen. Als sie das Kind zunehmend vernachlässigte und auch noch unübersehbar misshandelte, habe das Jugendamt schließlich Alexander in Obhut genommen und in das Kinderheim gebracht. Zu dieser Zeit habe Alexander von Stimmen gesprochen, die er höre, von Händen, die aus der Wand kämen, von Blut, das überall zu sehen sei. Er habe sich in das alte Ägypten phantasiert, sich merkwürdig bewegt, von anderen Kindern verlangt, dass sie ihn schlagen sollten, er habe Alpträume und Schlafstörungen gehabt. Deshalb kam er zu uns in die Tagesklinik. Neben einer individuellen Beschulung bestand unsere Aufgabe darin, herauszufinden, wie seine komplexe Problematik zu verstehen und zu behandeln sein könnte. Ansteckung mit der Psychose (folie à deux) Die Auffälligkeiten von Alexander zeigen, wie sehr er selbst in die irreale Erlebniswelt seiner Mutter hineingeraten war. Diese 6 1/2004 So viel von Alexanders Geschichte, die vieles von den Problemen zeigt, denen Kinder seelisch kranker Eltern ausgesetzt sein können. Zum Glück verlaufen nicht alle Lebensgeschichten dieser Kinder so dramatisch. Die fehlende Krankheitseinsicht der Mutter einerseits, ihre offensichtliche Intelligenz andererseits, die ihr ein Abdecken der häuslichen Probleme lange möglich machte, verhinderten, dass Außenstehende, die den Jungen ja regelmäßig zu Gesicht bekamen, eine Handhabe zum Eingreifen fanden. So fehlten Alexander Menschen, die (neben den selbst recht hilflosen Großeltern) ihm Verständnis, Sicherheit, altersangemessene Lebenserfahrung und die Möglichkeit der Realitätsprüfung hätten vermitteln können, was den krankmachenden Einfluss der Mutter hätte relativieren können. Wissenschaftliche Studien Was sagt die Wissenschaft zu den Problemen der Kinder psychisch kranker Eltern? „folie à deux“, quasi eine Ansteckung mit der Psychose, tritt dann auf, wenn ein seelisch und intellektuell abhängiger Mensch mit einem psychotischen Menschen eng zusammenlebt und keine Möglichkeit der Realitätsprüfung durch die Anwesenheit einer gesunden Person gegeben ist. Selbstverständlich gilt auch: Je jünger oder unreifer der abhängige Mensch, desto größer ist die Gefahr für ihn, Vorstellungen des oder der Kranken zu übernehmen. Die Alpträume und Schlafstörungen lassen auf starke Ängste des Kindes schließen, der Wunsch, geschlagen zu werden, auf Gewalterfahrungen. Während die psychotische Symptomatik rasch zurückging (der folie à deux war durch die Trennung die Basis entzogen), traten die Entwicklungsdefizite und ihre situativ sehr unterschiedliche Ausprägung in den Vordergrund. Im Verlauf besserten sich durch intensive Ergotherapie Koordination und sensorische Integration, bei Unsicherheit und Anspannung verschlechterten sich sein Bewegungsbild und die sensorischen Funktionen wieder. In der Schule fing Alexander an zu lernen, z.B. lernte er lesen. Die allgemeine Intelligenz blieb aber im Bereich der Lernbehinderung. Hohe Anfälligkeit für psychische Erkrankungen Dies entspricht Ergebnissen der Forschung: Bei Kindern schwer psychisch kranker Eltern, die ohne kompensierende Beziehungsund damit Lernerfahrungen aufwuchsen, sind häufiger Intelligenzdefizite als bei Kindern gesunder Eltern festzustellen. (Übersicht bei Remschmidt und Mattejat, 1994) Im sozialen Leben der Tagesklinik und in der Psychotherapie konnte das Kind anfangen, andere Beziehungserfahrungen als die gewohnten zu machen und zu verinnerlichen, Beziehungen, in denen er als eigene Person gegenwärtig war. In schwierigen Zeiten aber entfloh er immer wieder einmal nach „Ägypten“, in seine eigene Vorstellungswelt am Rande der Psychose. Trotz aller Veränderungen ist er nach wie vor ein vulnerables Kind, das durch die nicht mehr ausgleichbaren Defizite in seiner Entwicklung in erhöhter Gefahr steht, später selbst psychotisch zu werden. Die sogenannten Risikostudien, die seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts durchgeführt worden sind, belegen, dass Kinder psychisch kranker Eltern einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind, selbst wiederum psychische Krankheiten bzw. unspezifische Störungen zu entwickeln. Einen Überblick gibt Abbildung 1. Abb.1 Erkrankungsrisiko 1. bei Schizophrenie eines Elternteils - Schizophrenierisiko von 1% auf 13% erhöht. - Unspezifische Auffälligkeiten der psychischen Entwicklung in 40-60%. Kleinkinder: motorische und sensorische Dysfunktionen, Hyperirritabilität, verringerte kommunikative Kompetenz. Vorschulkinder: häufiger depressiv, zurückgezogen, ängstlich, zerstreut. Schulkinder: Defizite in Aufmerksamkeit, affektiver Kontrolle, sozialer Kompetenz. Adoleszenz: Neigung zu kognitiven Störungen. 2. Affektive Erkrankungen Risiko für Depression dreifach, für Alkoholabhängigkeit und Angststörung fünffach erhöht Unspezifische behandlungsbedürftige Störungen in 4060%. 3. Persönlichkeitsstörungen, Sucht Ungünstigste Entwicklungsbedingungen, da Gewalt und Vernachlässigung gehäuft. 4. Angststörungen Siebenfach erhöhtes Risiko für Angststörung Während die Risikostudien Annahmen über die Erblichkeit und über die Zuverlässigkeit biologischer Marker als Zeichen zur 7 1/2004 Früherkennung einer spezifischen Krankheitsdisposition relativierten, hat sich gerade durch sie herausgestellt, wie wichtig die Umgebungsfaktoren sind. Sameroff (1987) fasste die Ergebnisse der Studien so zusammen: Sozialstatus sowie Schwere und Chronizität der mütterlichen Erkrankung haben den weitaus größeren Einfluss auf die psychische Entwicklung der Kinder als die jeweilige Diagnose. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die finnische Adoptivkinderstudie. Dies zeigte, dass adoptierte Kinder von schizophrenen Müttern erwartungsgemäß doppelt so häufig schwere psychische Störungen entwickelten wie adoptierte Kinder von nicht schizophrenen Müttern. Aber: setzte man dies in Beziehung zum Beziehungsklima in den betreffenden Adoptivfamilien, so zeigte sich, dass von den in nicht bis wenig gestörten Familien untergebrachten Kindern keines später eine Psychose oder Borderline - Persönlichkeitsstörung aufwies, während dies bei 37% der von stark gestörten Familien adoptierten Kinder der Fall war. Abb.2 Risikofaktoren für die kindliche Entwicklung 1. Elterliche Erkrankung Schwere und Chronizität, unabhängig von der Diagnose Beginn vor oder bald nach der Geburt Einbezug des Kindes in ein elterliches Wahn-, Angst-, Zwangssystem 2. Kindliche Faktoren Biologische Vulnerabilität durch Frühgeburt, Krankheit usw. Schwieriges Temperament Geringe intellektuelle und soziale Kompetenz 3. Allgemeine psychosoziale Risikofaktoren Schwierige Eltern–Kind–Beziehung Abwesenheit bzw. mangelnde emotionale Verfügbarkeit des anderen Elternteils Fehlen emotional verfügbarer Außenstehender Mangelnder Familienzusammenhalt Niedriger sozialer Status der Familie Soziale Isolation der Familie Instabilität der Lebensbedingungen Andere Untersucher haben die Kinder psychisch kranker Eltern nicht nur auf mögliche Schäden der psychischen Entwicklung hin untersucht, sondern sind auch auf besonders resiliente Kinder gestoßen. Die Gruppe um den amerikanischen Forscher Anthony prägte den Begriff der „unverletzbaren Kinder“. Aus der Vielzahl von Untersuchungen lassen sich für die psychische Entwicklung von Kindern psychisch kranker Eltern folgende Risikofaktoren ableiten (siehe Abb. 2): Festzuhalten ist, dass eine Reihe intervenierender Variablen von Fall zu Fall in unterschiedlicher Zusammensetzung und Stärke wirksam sind, so dass jeder Fall für sich genau angesehen werden muss, will man die hier jeweils passenden Interventionsund Unterstützungsmöglichkeiten identifizieren. Ansatzpunkte für Prävention Die Faktoren, die Entwicklungsrisiken verstärken oder abschwächen, können als mögliche Ansatzpunkte für Präventionsprojekte verstanden und genutzt werden, wie sie z.B. in Boston durchgeführt wurden. Hier wurden Familien mit affektiv erkrankten Eltern langfristig in Abständen gesehen und die psychische Entwicklung der Kinder in Relation zu unterschiedlichen präventiven Interventionsmethoden eingeschätzt (Beardslee, Salt 1993). Schon eine einfache Information der Kinder über die Natur der elterlichen Erkrankung hatte einen nachhaltig günstigen Einfluss. Eine längerfristige Beratung der ganzen Familie 8 1/2004 aber erschien als das Mittel der Wahl, um den verschiedenen Bedürfnissen gerecht zu werden und die Entwicklung der selbstreflektiven Fähigkeit der Kinder so zu unterstützen, dass sie in der Beziehung zum kranken Elternteil eine gute Balance zwischen Nähe und Distanz finden konnten. Auf die Bedürfnisse der Kinder achten Hinweise auf Befinden und Bedürfnisse betroffener Kinder finden sich auch in einer Studie über Kinder zum Zeitpunkt der psychiatrischen Krankenhausaufnahme eines Elternteils. Abb. 3 Probleme bei Krankenhausaufnahme eines Elternteils 1. Alleingelassensein Nur selten rasch verfügbare Ersatz – Bezugspersonen Ungenügende Information und Gesprächsmöglichkeit Nur selten werden Kinder in die Gespräche im Krankenhaus einbezogen So früh wie möglich die Eltern-Kind-Beziehung fördern Weitere wichtige Gesichtspunkte kommen aus der Säuglingsforschung, der Beobachtung der Eltern-Kind-Interaktion bei gesunden und bei kranken Eltern. Hier zeigt sich: Je jünger ein Kind ist, desto umfassender ist es dem Einfluss einer krankheitsbedingten Störung der Beziehung bzw. der Kommunikation ausgesetzt, wenn Mutter oder Vater seelisch krank ist - wobei natürlich die Erkrankung der Hauptbezugsperson, i.d.R. der Mutter, den stärkeren Einfluss auf das Baby hat. Auch in der Geschichte von Alexander fanden wir ja Hinweise auf eine frühe Regulations- und Beziehungsstörung. Lynn Murray, eine der renommiertesten Forscherinnen auf dem Gebiet der postpartalen Depression, stellt fest (Murray, 1992), dass eine mütterliche Depression die kindliche psychische Entwicklung in den ersten Lebensmonaten stärker beeinflusst als in jeder späteren Entwicklungsperiode. Abb. 5 Ansatzpunkte für Prävention 2. Reaktive Symptome Schlafstörungen, Weinen, Appetitlosigkeit, sozialer Rückzug, Abfall der Schulleistungen 3. Zugrunde liegende seelische Befindlichkeit: Angst durch Trennung, unheimliche krankhafte Veränderung des Elternteils Zukunftsängste Schuld, Loyalität, Scham 1. Eltern–Kind–Beziehung (Unterstützung, Beratung, Behandlung) 2. Selbstreflektive Funktion der Eltern (Beratung, Behandlung) 3. Verfügbarkeit gesunder Bezugspersonen (Aufbau des sozialen Netzes, Sozialpädagogische Familienhilfen, Patenfamilien usw.) 4. Günstige Zeitpunkte für Interventionen: Zeitraum um die Geburt eines Kindes, Beginn einer Behandlung Signale wahrnehmen Auch die Berichte inzwischen erwachsener Kinder psychisch kranker Eltern sind aufschlussreich (Dunn, 1993). Die Probleme, die sie regelhaft erwähnen, sind: Abb. 4 Problembereiche im Zusammenleben (Berichte inzwischen erwachsener Kinder, Dunn, 1993) 1. Vernachlässigung, Misshandlung 2. Isolation 3. Schuld und Loyalität 4. Mangelnde soziale Unterstützung 5. Negative Erfahrungen mit den Behandelnden, die sich in die Lage der Kinder nicht hineinversetzen konnten So ist es besonders notwendig, in Fällen mütterlicher postpartaler Erkrankungen die frühe Beziehungsentwicklung im Auge zu haben. Diese Erkenntnis wird hierzulande erst langsam in die Praxis umgesetzt. Beispiele sind Mutter-Baby-Einheiten an psychiatrischen Kliniken (wobei darauf zu achten ist, dass die Babys bei gemeinsamen Aufnahmen nicht nur als Co-Therapeuten für die Mütter, sondern auch mit ihren eigenen, durch Anpassung an pathologische Interaktionsweisen entstandenen, Entwicklungsproblemen gesehen und angemessen behandelt werden). Die Kinder in ihrer Wahrnehmung stärken Ein weiterer geeigneter Ansatzpunkt ist der Beginn der elterlichen Krankheit bei Klinikaufnahme oder Konsultation des Psychiaters in der Praxis. Wir hören immer wieder, wie bitter die Kinder eine angemessene Information über die Krankheit vermisst haben, wenn sie - oft in guter Absicht - mit Lügen oder Halbwahrheiten abgespeist worden sind. Kinder sind die besten Beobachter. Sie müssen in ihrer Wahrnehmung ernst genommen und damit in ihrer Realitätsprüfung bestärkt werden, gerade, wenn es sich um ein teilweise „verrücktes“ häusliches Milieu handelt. 9 1/2004 Gruppenprojekte für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene Neben der Beratung der ganzen Familien hat es sich auch als sinnvoll erwiesen, den Kindern getrennt von ihren Eltern die Möglichkeit zu geben, sich im Kontakt mit anderen Betroffenen, über ihre Belastungen auszusprechen. Dieses Angebot ist für die durch Loyalität und Schuldgefühle stark in sich zurückgezogenen Familien ziemlich hochschwellig. Es erfordert eine vertrauensvolle Beziehung der Familien zu den Anbietern, ausgedehnte Vorarbeiten und begleitende Elternarbeit. Wenn die Familie es aber zulässt, dass das Kind solch eine Gruppe besucht, nutzen die Kinder dies sehr intensiv für sich. In Hamburg wie in einigen anderen Städten gibt es solche präventiven Gruppenprojekte, die „Auryn“ - Gruppen (s. Beitrag in diesem Heft). Auch Gruppen für die adoleszenten oder inzwischen erwachsenen Kinder sind sinnvoll, denn die aus diesen schwierigen primären Beziehungen stammenden Konflikte und zwiespältigen Gefühle lassen sich nicht leicht bewältigen. Das trifft auch für die ca. 40% der Kinder psychisch kranker Eltern zu, die ihre Situation gut bewältigt haben und daran gewachsen sind. In dem Maße, in dem das Thema enttabuisiert wird, wächst auch der Wunsch der betroffenen Eltern nach Austausch und Beratung in Elterngruppen. Offenheit, Interesse und Gesprächsangebote Festzuhalten ist am Ende, dass nicht nur spezialisierte Angebote den Familien helfen, ihre schwierige Lage so zu bewältigen, dass die Kinder gesund aufwachsen können. Dinge, die alle tun können, sie aber angesichts des bestehenden Tabus leicht unterlassen, können sehr hilfreich und entlastend wirken: Die Frage: „Und wie geht es dir dabei?“ und die Bereitschaft, die Antwort auch zu hören, einfache, altersangemessene Information über die Krankheit, ein Angebot an die Familie, einmal gemeinsam über alles zu sprechen u.Ä.. Solche Angebote zeigen den Kindern und ihren Familien, dass jemand ihre Lage erkennt. Solche scheinbar kleinen Dinge können Reflexion anregen, Türen öffnen, die aus der Enge der krankhaften Beziehung herausführen, indem ein hilfreiches außenstehendes, d.h. drit- tes Prinzip wirksam werden darf. Allerdings muss die immer vorhandene Angst der Familien vor Außenstehenden, die auf den Gedanken kommen könnten, sie auseinander zu reißen, dabei berücksichtigt werden, die Angst der Eltern, als schlechte Eltern angesehen zu werden, die Loyalität der Kinder zu ihren Eltern, die sie schweigen lässt. Es muss Vertrauen gewachsen sein, bevor die Familien sich öffnen können. Literatur: Dunn, B. (1993): Growing up with a psychotic mother: A retrospective study. Am. J. Orthopsychiat., 63(2),177-189. Murray, L.& Cooper, P.(Hrsg.) (1997): Postpartum depression and child development. New York, London: The Guilford Press. Remschmidt, H.& Mattejat, F. (1994): Kinder psychotischer Eltern. Göttingen: Hogrefe. Sameroff, A. et al. (1987): Early indicators of developmental risk: Rochester Longitudinal Study. Schiz. Bull. 134(3), 383-394. Beardslee, W.R., Salt, P. et.al. (1993): Comparison of preventive interventions for families with parental affective disorders. J. Am. Acad. Child Adolesc. Psychiatry, 32, 254-263. Anmerkungen Affektive Erkrankungen sind diejenigen psychischen Erkrankungen, die vorwiegend die Emotionen und die Stimmung betreffen, also Depressionen, Manien und manisch-depressive Erkrankungen. (2) postpartal: nach der Entbindung von einem Kind (1)