und Wertkonflikten

Werbung
Wertkonflikte als Herausforderung
der Demokratie
Ulrich Willems
Wertkonflikte als Herausforderung der Demokratie
Ulrich Willems
Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Deutschland
ISBN 978-3-658-10300-2
ISBN 978-3-658-10301-9 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-658-10301-9
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Springer VS
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich
vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und
Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt
auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichenund Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem
Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder
die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler
oder Äußerungen.
Lektorat: Frank Schindler, Katharina Gonsior
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Springer Fachmedien Wiesbaden ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media
(www.springer.com)
Inhaltsverzeichnis
Vorwort ......................................................................................................................
Einleitung ...................................................................................................................
VII
1
Die Logik und Dynamik von WertkonÁikten
1 Die Unterscheidung von Interessen- und WertkonÁikten ...................................
11
2 WertkonÁikte als Statuspolitik oder als ‚Politik der Lebensführung‘ ................ 25
3 WertkonÁikte als Ausdruck und Folge eines distinkten Policytypus ................. 45
3.1 WertkonÁikte als Ausdruck und Folge sozialregulativer Politik ............... 46
3.2 Lowis Rekonstruktion sozialregulativer Politik
als radikale Variante regulativer Politik ....................................................
55
3.3 Wertpolitik als Ausdruck und Folge redistributiver Politik ....................... 58
3.4 WertkonÁikte als Moralpolitik .................................................................. 63
3.5 WertkonÁikte als Gewissensfragen in parlamentarischen Systemen ........
71
3.6 WertkonÁikte als Ausdruck und Folge eines distinkten Policytypus –
ein Resümee ...............................................................................................
75
4 WertkonÁikte als kulturelle KonÁikte ................................................................ 87
4.1 WertkonÁikte als Elemente einer zentralen kulturellen KonÁiktlinie ....... 88
4.1.1 WertkonÁikte als Elemente eines kulturellen KonÁikts über
die moralische Ordnung von Gesellschaften in der Folge
von Modernisierungsprozessen ...................................................... 88
4.1.2 WertkonÁikte als Bestandteil eines ‚Kulturkampfes‘ zwischen
orthodoxen und progressiven moralischen Epistemologien ...........
91
4.1.3 WertkonÁikte als KonÁikte zweier konträrer Weltsichten
und Moraltheorien .......................................................................... 100
4.1.4 WertkonÁikte als kulturelle KonÁikte in der Folge
von Prozessen des Wertwandels ..................................................... 103
4.1.5 WertkonÁikte als Elemente einer zentralen kulturellen
KonÁiktlinie – ein Resümee ........................................................... 113
4.2 WertkonÁikte als Ausdruck und Folge moralischer
und kultureller Pluralität ............................................................................ 127
VI
Inhaltsverzeichnis
5
4.2.1 WertkonÁikte in der ‚Theorie der Kultur‘ ...................................... 129
4.2.2 Die ‚Theorie der Kultur‘– eine Skizze ............................................ 130
4.2.3 ‚Kulturen im Kriegszustand‘– Zur Verknüpfung von
Statuspolitik und Theorie der Kultur bei Smith und Tatalovich ...... 137
4.2.4 Kahan und Bramans Konzept der Befriedung von WertkonÁikten – die Idee der „expressiven Überdetermination“ ........... 142
4.2.5 WertkonÁikte in der ‚Theorie der Kultur‘ – ein Resümee .............. 149
Charakteristika und Dynamiken von WertkonÁikten ......................................... 161
Strategien der Zivilisierung und Lösung von WertkonÁikten
6 Neue Verfahren und Institutionen des Umgangs mit WertkonÁikten ................. 189
6.1 Die Befreiung der Abgeordneten von der Fraktionsdisziplin
in parlamentarischen Systemen .................................................................. 192
6.2 Expertenorientierte Politikberatung ........................................................... 194
6.3 Alternative Verfahren der KonÁiktregelung .............................................. 199
7 Der Kompromiss als Instrument der Zivilisierung von WertkonÁikten ............. 245
Die politische Ordnung der moralisch pluralen Gesellschaft
8 Modelle des Umgangs mit moralischer Pluralität ...............................................
271
Resümee .....................................................................................................................
Literatur .....................................................................................................................
301
313
Vorwort
Die vorliegende Arbeit ist eine erweiterte und aktualisierte Fassung meiner Habilitationsschrift, die ich dem Department Sozialwissenschaften der Fakultät für Wirtschafts- und
Sozialwissenschaften der Universität Hamburg vorgelegt habe.
Dieses Buch ist nicht nur das Ergebnis individueller Arbeit, sondern auch eines intendierten wie nichtintendierten kollektiven Prozesses, dessen Ergebnis der Autor gleichwohl am Ende allein verantworten muss. Für die vielfältigen, im Nachhinein nicht immer
individuell zurechenbaren Formen der Unterstützung und Anregung gilt es daher Dank
abzustatten.
Michael Th. Greven, mein akademischer Lehrer, hat diese Arbeit zunächst dadurch
ermöglicht, dass er mich mit der Verwaltung einer Assistentenstelle am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Hamburg betraute. Über lange Jahre habe ich ungemein
von seiner freundschaftlichen Unterstützung und seinen Anregungen proÀtiert – wie sehr,
ist mir nach seinem überraschenden Tod im Juli 2012 noch einmal schmerzlich bewusst
geworden. Viele der in die Überarbeitung eingegangenen neuen Ideen dieses Buches sind
in Gesprächen und Diskussionen mit meinen Kolleginnen und Kollegen am Exzellenzcluster ‚Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne‘, in der
DFG-Kollegforschergruppe ‚Theoretische Grundfragen der Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik‘ sowie am Institut für Politikwissenschaft an der Universität
Münster entstanden, erprobt und gehärtet worden. Auch die Debatten mit meinen Doktorandinnen und Doktoranden waren eine beständige Herausforderung und Inspiration.
Ludwig Fiebig, Sonja Hillerich, Achim Richter, Nicolas Rose, Ulrike Spohn, Fabian Wenner und Manon Westphal nahmen die Mühen des Korrekturlesens auf sich. Ihnen allen sei
an dieser Stelle herzlich gedankt.
Ute Schneider, meine Frau, hat in vielerlei Weise entscheidend dazu beigetragen, dass
ich dieses Buch schreiben und überarbeiten konnte. Ihr ist es daher gewidmet.
Einleitung
„[...] in fast allen Teilen der Weltgesellschaft, ob in den Nachfolgestaaten des kommunistischen Imperiums, ob in den von multiethnischen KonÁikten bestimmten westlichen Gesellschaften, ob in den sozialen Kämpfen, die sich an der Geschlechterdifferenz entzünden, ob
in den WertkonÁikten, die in entwickelten Gesellschaften über Fragen der Abtreibung, der
Curriculumsplanung etc. entstehen, hat sich am Ende des 20. Jahrhunderts ein Typus von
KonÁikten zurückgemeldet, für den noch keine Muster der ‚Hegung‘ erfunden sind, eben der
Typus der unteilbaren KonÁikte“ (Dubiel 1997: 429).
„If anything, newer forms of cultural diversity have now produced conÁicts and disagreements so deep and troubling that even our standard liberal solution, modeled on religious
liberty and tolerance, no longer seem adequate or stable“ (Bohman 1995: 253).
Die vorliegende Arbeit verfolgt zwei Ziele. Sie will zum einen zu einer Bestimmung der
Charakteristika, der strukturellen Bedingungen, der KonÁiktdynamiken sowie der Möglichkeiten einer Zivilisierung oder gar Lösung von WertkonÁikten beitragen. Sie will zum
anderen einen Beitrag zur Beantwortung der Frage leisten, in welcher Weise die Verfahren und Institutionen der (demokratischen) Selbstregierung moderner ‚politischer Gesellschaften‘ (Greven 1999) durch WertkonÁikte herausgefordert werden und wie dieser
Herausforderung begegnet werden kann.
WertkonÁikte zeichnen sich dadurch aus, dass die KonÁiktparteien ihre politischen
Forderungen mit moralischen Prinzipien oder Überzeugungen begründen, die für die Akteure einen hohen VerpÁichtungsgrad haben, sich durch einen Anspruch auf allgemeine
und unbedingte soziale und politische Geltung auszeichnen und Güter von zentraler Bedeutung schützen. Vielfach sind diese moralischen Prinzipien und Überzeugungen eng
mit dem Selbstverständnis und der Identität der Akteure1 verwoben. Aufgrund ihres ver1
In diesem Buch werden von dieser Stelle an in der Regel generisches Maskulinum, Femininum
und Neutrum verwendet. Das ist Ergebnis einer unumgänglichen Wahl zwischen mehreren
unbefriedigenden Alternativen. Eine Reihe von Indizien und empirische Studien deuten darauf hin, dass die Verwendung des (im Deutschen dominierenden) generischen Maskulinums
problematische kommunikative, soziale und politische Folgen zeitigt oder doch zumindest zu
zeitigen vermag, auch wenn über das Ausmaß dieser Folgen nach wie vor erheblicher Dissens
U. Willems, Wertkonflikte als Herausforderung der Demokratie,
DOI 10.1007/978-3-658-10301-9_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
2
Einleitung
pÁichtenden und allgemeine und unbedingte Anerkennung fordernden Charakters sowie
ihrer identitätskonstitutiven Rolle stehen sie für ihre Verfechter nicht zur Disposition.
Daher sind bei WertkonÁikten die Chancen eher gering, dass es einer der KonÁiktparteien gelingt, eine gegnerische KonÁiktpartei durch Argumente von der Richtigkeit oder
Vorzugswürdigkeit der eigenen Positionen zu überzeugen und so den KonÁikt in einen
Konsens der Beteiligten zu überführen. Aber auch ein weiterer zentraler Mechanismus
der Politik, nämlich in Verhandlungen eine Kompromisslösung zu suchen, ist bei WertkonÁikten in seiner Funktionsfähigkeit eingeschränkt. Denn Kompromisse zeichnen sich
dadurch aus, dass die KonÁiktparteien wechselseitig Konzessionen machen, also auf einen
Teil ihrer zu Beginn des KonÁikts geltend gemachten Ansprüche verzichten. Das aber widerspricht dem verpÁichtenden und allgemeine und unbedingte Anerkennung fordernden
Charakter der normativen Prinzipien und Überzeugungen, mit denen die KonÁiktparteien ihre politischen Forderungen begründen. Schließlich verliert auch ein dritter zentraler
Mechanismus demokratischer Politik für den Umgang mit KonÁikten, nämlich die vorübergehende KonÁiktbeendigung durch (Mehrheits-)Entscheidung, bei WertkonÁikten
seine zivilisierende Kraft. Denn für die unterliegende(n) Partei(en) ist die Legitimität von
Mehrheitsentscheidungen aufgrund der Nichtberücksichtigung, Ablehnung oder Missachtung der von ihnen verfochtenen normativen Prinzipien und Überzeugungen mit hohem
VerpÁichtungsgrad und Anspruch auf allgemeine Anerkennung fraglich.
Weil der WertkonÁikten zu Grunde liegende moralische Dissens sich mit den Mitteln
‚normaler‘ Politik, also durch Konsens, Kompromiss oder zeitlich befristete Dezision nicht
lösen oder zivilisieren lässt, die Anliegen für die KonÁiktparteien aber von so überragender Bedeutsamkeit sind, dass sie auf ihre politische Durchsetzung auch nicht verzichten
wollen, werden sie ihre politischen Forderungen schließlich mit anderen und letztlich mit
allen Mitteln durchzusetzen trachten. WertkonÁikte zeichnen sich daher durch eine KonÁiktlogik aus, die sich durch eine hohe KonÁiktintensität und ein erhebliches Eskalationspotential auszeichnet und letztlich in einen (Bürger-)Krieg münden kann. Dieses KonÁiktszenario wird in der Regel durch den Verweis auf zwei Traumata der europäischen
und US-amerikanischen Geschichte, nämlich die europäischen Religionskriege und den
Bürgerkrieg in den Vereinigten Staaten um die Abschaffung der Sklaverei plausibilisiert.
Als paradigmatisches Beispiel für die problematische KonÁiktlogik von gegenwärtigen
WertkonÁikten dient vielfach die Eskalation des Streits über die Regelung des Schwangerschaftsabbruches in den USA, in der es schließlich auch zu Anschlägen auf Kliniken und
Ärzte kam, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. Diese Einschätzung Àndet ihren
Ausdruck schließlich auch in den Titeln sozialwissenschaftlicher Publikationen über die
besteht. Eine Doppelnennung führte angesichts der Ausdifferenzierung von sexuellen und Geschlechtsidentitäten jedoch nur zu neuen Exklusionen. Geschlechtsneutrale Formulierungen
stehen nicht in allen Fällen zur Verfügung. Die ursprünglich gewählte Alternative eines uneinheitlichen Vorgehens kann im Einzelfall, vor allem bei der Verwendung von Doppelnennungen, zu Zweifeln führen, ob die jeweilige Wahl politisch-moralisch oder sachlich geboten
ist. ï Überall dort, wo sachlich eine Differenzierung zwischen biologischen und/oder kulturell
konstituierten Geschlechtern erforderlich ist, wird vom generischen Maskulinum abgewichen.
Einleitung
3
WertkonÁikte in den USA. So hat etwa Hunter nicht nur seine Monographie über die
WertkonÁikte in den USA mit dem Titel ‚Culture wars‘ versehen, sondern auch seine
nachfolgende Studie über die Bedingungen und Möglichkeiten einer Zivilisierung von
WertkonÁikten unter das Motto gestellt ‚Before the shooting begins‘ (Hunter 1991, 1994).
Der problematische Charakter von WertkonÁikten wird in der Regel durch den Kontrast mit den eher unproblematischen KonÁikten über Interessen deutlich gemacht. Akteure, die Interessen verfolgen, versuchen auf rationale Art und Weise, ihre Situation zu
verbessern bzw. Verschlechterungen abzuwehren, also Vorteile zu erlangen oder Nachteile zu verhindern. Dieses abstrakte Ziel lässt sich in konkreten sozialen Kontexten auf
höchst unterschiedliche Art und Weise realisieren. Die jeweiligen situationsbezogenen
Handlungsziele zeichnen sich anders als Wertorientierungen daher weder durch einen besonderen VerpÁichtungsgrad noch durch eine enge Verwobenheit mit der Identität der
Akteure aus, sie sind den Akteuren letztlich gleichgültig. Das hat aber nun Konsequenzen für den Austrag von InteressenkonÁikten. In InteressenkonÁikten konkurrieren die
Parteien um knappe Güter oder Objekte. Weil diese Güter oder Objekte über den Zweck
der relativen Beförderung der eigenen Lage hinaus keinen besonderen intrinsischen Wert
für die Akteure haben, lassen sich die KonÁikte durch eine Vielzahl von Techniken wie
Kompromisse, Koppelgeschäfte, Nebenzahlungen usw. einer Lösung zuführen. Vor diesem Hintergrund lassen sich WertkonÁikte allenfalls dann lösen – so die gelegentlich
formulierte Hoffnung –, wenn es auf irgendeine Art und Weise gelingt, ihnen eine Interessendimension abzugewinnen.
Auf diese Weise ist die Unterscheidung von Interessen- und WertkonÁikten samt den
damit verbundenen Thesen zum Verlauf und der Dynamik dieser beiden KonÁikttypen in
den Fundus des sicheren und damit nicht länger hinterfragten Wissens der Sozialwissenschaften eingewandert. Als unverdächtiger Zeuge mag Niklas Luhmann dienen:
„Aber InteressenkonÁikte sind letztlich triviale KonÁikte. Sie können vermittelt werden – sei
es durch Kompromisse, sei es durch Ausgleichszahlungen, sei es schließlich durch Drohungen und Gewalteinsatz, die zu einer Änderung der Interessenlage führen, oder auch durch
Recodierung der Interessen im Schema rechtmäßig/rechtswidrig. Es könnte aber sein, daß
uns in absehbarer Zukunft KonÁikte ganz anderer Art ins Haus stehen: ethnische KonÁikte,
religiöse KonÁikte, IdentitätskonÁikte, KonÁikte über nicht verhandlungsfähige Werte, Normen, Überzeugungen. Zahlreiche fundamentalistische Bewegungen, wie sie in den letzten
Jahrzehnten unerwarteterweise wieder aufgelebt sind, belegen, daß es diese ernsten, nichttrivialen KonÁikte nach wie vor gibt und daß es eine Illusion war, alle KonÁikte politisch
auf InteressenkonÁikte reduzieren zu können. Das müsste, wenn es zutrifft, zu ganz andersartigen politischen Strategien führen, zum Beispiel zu klaren Optionen und Sanktionen auf
Seiten des Staates oder der ihn stützenden internationalen Organisationen. Vermehrt werden
KonÁikte dann nur noch in der Form von bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen lösbar sein – und dies in Formen, die auf wirtschaftliche Konsequenzen und auf Leiden der
Bevölkerung keine Rücksicht nehmen“ (Luhmann 1998: 372).
Doch gegenüber diesem sozialwissenschaftlichen Hintergrundkonsens ist Misstrauen angebracht. Denn zunächst einmal zeichnet sich die gegenwärtige Erforschung von Wert-
4
Einleitung
konÁikten durch eine erhebliche SchieÁage aus. Die Annahmen über die ‚Natur‘ dieser
Politikmaterien und die sich daraus ergebenden Dynamiken des politischen Prozesses sind
scheinbar so tief im Fundus der sicheren Hintergrundüberzeugungen verankert, dass sie
in der Regel eher expliziert als kritisch reÁektiert werden.2 Versuche einer systematischen
Rekonstruktion, Rejustierung oder Differenzierung des begrifÁichen und theoretischen
Instrumentariums zur Analyse von WertkonÁikten sind nach wie vor eher rar. Die vielfältige und uneinheitliche KlassiÀzierung der umstrittenen Materien als kulturelle, Identitäts-, Wert- und ‚LebensstilkonÁikte‘ oder gar ‚Kulturkämpfe‘ nährt zudem den Verdacht,
dass es sich eher um eine sehr heterogene Sammlung politischer Entscheidungsmaterien
und der mit ihnen verbundenen KonÁikte handelt, bei denen fraglich ist, ob sie tatsächlich
einer gemeinsamen Logik folgen.
„Aber diese Vorstellungen sind nur als erste Annäherung [...] gemeint und sollten nicht als
einziger Schlüssel der KonÁikttheorie, als Paradigma gar, mißverstanden werden. Ich hege
zum Beispiel den Verdacht, daß die Kategorie des Entweder-Oder, des unteilbaren KonÁikts,
im Grunde genommen ein vorläuÀges Etikett für eine Vielzahl von unbekannten Problemen
ist, die unterschiedliche Grade der Regelbarkeit haben. Diese KonÁikte können nur allmählich verstanden werden, indem wir sie durchleben. [...] Was wirklich erforderlich ist, um
bei neuen Problemen Fortschritte zu machen, ist politischer Unternehmergeist, Imagination,
Geduld hier, Ungeduld dort und viele andere Varianten von virtù und fortuna“ (Hirschman
1994: 304).
Eine zusätzliche Schwierigkeit besteht darin, dass KonÁikte in der Regel mehrere KonÁiktdimensionen aufweisen, also neben moralischen Prinzipien und Überzeugungen auch
materielle Interessen, Professions- und Statusinteressen und Annahmen über die Beschaffenheit und Funktionsweise der natürlichen und sozialen Umwelt berühren. Damit stellt
sich die Frage, wie sich unter diesen Bedingungen KonÁikte klassiÀzieren bzw. die Dominanz einzelner KonÁiktdimensionen feststellen lässt. Beides – die Vielfalt der Materien,
die die für den demokratischen Prozess problematische KonÁiktlogik und -dynamik auf2
Das zeigt sich etwa in der Literatur zu Mediationsverfahren (vgl. unten Kap. 1 und 6). Eine
Ausnahme von dieser Regel bilden Versuche, die Unterscheidung zwischen Interessen- und
Wertkonflikten als eine bloß scheinbare zu entlarven und Wert- oder Kulturkonflikte als eine
Erscheinungsform von tiefer liegenden Kämpfen um die politische Zuteilung von materiellen und Positionsvorteilen zu interpretieren (vgl. Senghaas 1997: 51-53, sowie unten Kap. 2).
Verantwortlich für diese reduktionistische Herangehensweise sind zwei in den Sozialwissenschaften weitverbreitete Tendenzen: Einmal das auf der Unmöglichkeit eines unmittelbaren
Rückschlusses von beobachtbarem Handeln auf Handlungsmotive beruhende Misstrauen
gegenüber dem Anschein sozialen Handelns und den geäußerten Erklärungen der Akteure für
ihr Handeln, das zur Suche nach tieferliegenden strukturellen Ursachen und Handlungsdynamiken führt und dann etwa in der an Marx anschließenden Tradition der Sozialwissenschaft in
die Zuschreibung „objektiver Interessen“ mündet (vgl. zu Rekonstruktion und Kritik Willems
1998, Kap. 1); zum anderen die grundsätzliche oder gesellschaftsformationsbedingte Skepsis gegenüber Moral und Werten als individuellen Handlungsmotiven wie als gesellschaftlich
wirksamen Kräften (vgl. zu Rekonstruktion und Kritik Willems 2003b).
Einleitung
5
weisen und die Vielfalt der KonÁiktdimensionen bei einzelnen dieser Materien – hat dazu
geführt, dass die Versuche, das Phänomen des WertkonÁikts begrifÁich und theoretisch
zu fassen, dem sprichwörtlich gewordenen „Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln“ (Kaase 1983: 144) gleichen.
Wohl nicht zuletzt aus diesem Grund hat sich die empirische Erforschung von WertkonÁikten vornehmlich auf die Untersuchung von Fällen konzentriert, in denen sich die
Parteien in der prognostizierten Art und Weise unversöhnlich gegenüberstehen. Sie ist
also weniger auf die Überprüfung der Annahmen als vielmehr auf die (Re-)Konstruktion
vermeintlich ‚idealtypischer‘ Fälle von WertkonÁikten orientiert. Dabei besteht jedoch
die Gefahr, dass über den vermeintlichen Idealtypen die reale Vielfalt und Divergenz des
Austrages von WertkonÁikten ausgeblendet wird und damit die Chancen für eine Überprüfung der begrifÁichen Entscheidungen und theoretischen Annahmen ungenutzt bleiben. Die Vielfalt und Divergenz des Austrags von WertkonÁikten ist aber auch deshalb
nur ungenügend in den Blick geraten, weil erst in den letzten Jahren die Thematisierung
von Materien als WertkonÁikten wie der Verlauf solcher KonÁikte verstärkt vergleichend
untersucht worden ist. Daher sind bisher auch nur unzureichend die kulturellen und institutionellen Bedingungen untersucht worden, die für die Unterschiede bei Thematisierung
und Verlauf verantwortlich sind. Vorliegende empirische Befunde deuten jedenfalls auf
eine hohe Varianz hin. So werden KonÁikte über einzelne Gegenstände keineswegs in allen Gesellschaften auf die gleiche konÁiktive Art und Weise ausgetragen. Darüber hinaus
zeichnen sich manche Länder wie etwa die USA durch ein ungewöhnlich hohes KonÁiktniveau bei einer Vielzahl von Wertfragen aus, während in anderen Ländern wie etwa den
Niederlanden solche KonÁikte eher moderat ausgetragen werden. Insgesamt erweist sich
das gesellschaftliche KonÁiktniveau als deutlich niedriger als es die These von der unvermeidlichen Eskalation von WertkonÁikten erwarten ließe (Peters 1998: 12-13).
Diese SchieÁagen konstituieren jedoch nicht allein ein wissenschaftliches Problem.
Denn eine solchermaßen sozialwissenschaftlich beglaubigte und öffentlich kommunizierte Annahme über die vermeintliche Natur von KonÁikten kann selbst in dem Fall, in dem
sie unzutreffend ist oder allenfalls bedingte oder begrenzte Geltung hat, höchst reale gesellschaftliche Folgen zeitigen: Sie kann nämlich im Rahmen einer self-fulÀlling prophecy durch die Generierung handlungsstrukturierender Erwartungen der gesellschaftlichen
Akteure über das KonÁiktverhalten der jeweiligen gegnerischen KonÁiktpartei(en) genau
diejenigen Effekte erzielen, die sie selbst – gegebenenfalls unzutreffender Weise – unterstellte und vermag sich auf diese Weise gleichsam wahr zu machen. Weil aber viel dafür
spricht, dass die in den Eingangszitaten aufgestellte Behauptung einer Proliferation von
politisch zu entscheidenden moralisch strittigen Materien zutreffend ist, die Politik daher
künftig vermehrt mit solchen KonÁikten konfrontiert sein wird, ist es nicht zuletzt angesichts möglicher wahrnehmungsprägender Effekte sozialwissenschaftlicher Theoreme
über die Natur und die Dynamik von WertkonÁikten von erheblichem Interesse, die eben
skizzierten, tief im Fundus der sicheren Hintergrundüberzeugungen des Faches verankerten Überzeugungen auf den Prüfstand zu stellen.
6
Einleitung
Die Untersuchung der Familie von Ansätzen und Theorien zu den Charakteristika, den
strukturellen Bedingungen, den KonÁiktdynamiken sowie den Möglichkeiten der Zivilisierung oder gar Lösung solcher KonÁikte ist aber auch deshalb sinnvoll, weil immer wieder der Verdacht geäußert wird, die Institutionen und Verfahren moderner Demokratien,
die sich im Wesentlichen im 18. und 19. Jahrhundert angesichts der Herausforderungen
durch InteressenkonÁikte herausgebildet haben, könnten durch WertkonÁikte nicht nur
heraus-, sondern auch überfordert werden. Oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass
die üblichen Mechanismen der Demokratie als einer Methode eines friedlichen Umgangs
mit Dissens und KonÁikt (Przeworski 2011) – nämlich Konsens, Kompromiss und Mehrheitsentscheidung – bei WertkonÁikten ihre Funktionsfähigkeit ganz oder teilweise einbüßen. Daher bedarf es auch einer Prüfung der Leistungsfähigkeit hergebrachter wie neuer
alternativer Verfahren der KonÁiktregelung, die in den letzten Jahren gerade mit Blick auf
WertkonÁikte praktisch erprobt worden sind. Das zentrale Kriterium für die Beurteilung
der Leistungsfähigkeit lässt sich in Form der Frage formulieren,
„[…] wie […] die relative Verbindlichkeit von Normen im politischen Prozeß gerade angesichts des unaufhebbaren Pluralismus und der Unabgeschlossenheit und Unabschließbarkeit
von Wertbildungsprozessen jedenfalls in dem funktional ausreichenden Maße erreicht werden kann, das für die Reproduktion der Gesellschaft insgesamt notwendig ist […]“ (Greven
1991: 227).
WertkonÁikte konstituieren aber noch eine weitere Herausforderung für die Demokratie.
Denn in der Regel erstreckt sich der Streit über Materien, über die ein moralischer Dissens
besteht, auch auf Fragen politischer Ordnung. In diesem Streit geht es vor allem darum, ob
über strittige moralische Fragen legitimerweise (mit Mehrheit) entschieden werden darf
oder nicht bzw. welche Verfahren und Institutionen gegebenenfalls geeignet sind, legitime
Entscheidungen zu produzieren. Aktuell zeigt sich diese Herausforderung darin, dass die
lange Zeit dominierende liberale Lösung für den Umgang mit WertkonÁikten, nämlich
ihre an der Religionsfrage orientierte Verweisung in die Privatsphäre, d. h. in den Bereich
der individuellen Entscheidungsbefugnis jedes einzelnen, gekoppelt mit der Forderung
nach Toleranz gegenüber den abgelehnten sozialen Praktiken, zunehmend in Frage gestellt wird. Dass sich der Streit auch auf diese Ebene erstreckt, ist nicht verwunderlich.
Denn wenn die moralischen Prinzipien und Überzeugungen, mit denen die Parteien ihre
konträren Positionierungen in WertkonÁikten begründen, Bestandteil umfassender Vorstellungen von Gerechtigkeit und gutem Leben sind, dann ist eben auch zu erwarten bzw.
zumindest nicht ausgeschlossen, dass diese umfassenden Vorstellungen zu unterschiedlichen Prinzipien für die Organisation des politischen Gemeinwesens und zu unterschiedlichen Vorschlägen für den Umgang mit WertkonÁikten führen.
Die folgende Studie unternimmt, zumindest was den deutschsprachigen und angloamerikanischen Sprachraum anbelangt, erstmals den Versuch, die existierenden Ansätze und
Theorien zur Analyse von WertkonÁikten in umfassender Weise kritisch zu rekonstruieren und zu diskutieren. In einem ersten Teil werden die vorliegenden Ansätze zur Logik
Einleitung
7
und Dynamik von WertkonÁikten untersucht. Dieser erste Teil mündet in einen Vorschlag
für die DeÀnition von WertkonÁikten sowie die Bestimmung zentraler Determinanten
für die Thematisierung von Materien als WertkonÁikten sowie die Intensität und Dynamik dieser KonÁikte. In einem zweiten Teil werden mögliche Strategien der Zivilisierung
von WertkonÁikten diskutiert. Hier werden insbesondere die empirischen Befunde zur
Leistungsfähigkeit konventioneller und alternativer Verfahren demokratischer KonÁiktregelung analysiert. Dieser Teil mündet in die These, dass entgegen der bisherigen Einschätzung in der Literatur speziÀsche Arten von Kompromissen durchaus geeignet sind,
WertkonÁikte zu zivilisierten. Der dritte Teil schließlich widmet sich der Frage nach der
politischen Ordnung einer moralisch pluralen Gesellschaft. In diesem Teil wird das liberale politiktheoretische Modell für den Umgang mit WertkonÁikten, das die Forderung nach
einer Privatisierung solcher Materien mit derjenigen nach Toleranz verbindet, auf den
Prüfstand gestellt. Die zahlreichen Probleme dieses Modells führen schließlich zu dem
Vorschlag, die politische Ordnung moralisch pluraler Gesellschaften an der Idee eines
modus vivendi zu orientieren. Die Konturen eines auf dieser Idee basierenden ‚politischen
Pluralismus‘ können im Rahmen dieser Studie allerdings nur angedeutet werden.
Die Logik und Dynamik von Wertkonflikten
Die Unterscheidung von Interessenund Wertkonflikten
1
Den breit rezipierten Ausgangspunkt der Diskussion über die Charakteristika und die Dynamik von WertkonÁikten im politischen Prozess bildet die KonÁikttypologie von Vilhelm Aubert (1963, 1973). Aubert identiÀziert mit Interessen- und WertkonÁikten zwei
Sorten von KonÁikten, die auf unterschiedlichen KonÁiktquellen beruhen.3 Erstere beruhen auf der Knappheit von Gütern oder Positionen, die von den Parteien gleichermaßen
geschätzt werden (1973: 180, 182).4 Ein Wert- oder ÜberzeugungskonÁikt beruht demgegenüber „auf einem Dissens in Bezug auf den normativen Status eines sozialen Objekts“
(1973: 183), auf Meinungsverschiedenheiten über Werte oder Tatsachen sowie über die
Hierarchisierung oder die richtige Anwendung von Werten (1973: 184). Diese unterschiedlichen Ursachen führen zu einer speziÀschen Intensität und Dynamik der resultierenden
KonÁikte und zu je eigenen Strategien der Lösung oder Zivilisierung dieser KonÁikte. Sofern die Ziele der Parteien nicht völlig entgegengesetzt sind, münden Interessengegensätze
in der Regel gerade nicht in einen offenen KonÁiktaustrag, sondern werden in Prozessen
des Aushandelns (bargaining) bearbeitet. Der zentrale Mechanismus der Zivilisierung
oder Lösung von InteressenkonÁikten ist ein Kompromiss in Form eines beiderseitigen
Verzichts auf Teile der anfangs geltend gemachten Ansprüche (Aubert 1973: 181). Die
3
4
Im Titel seines Aufsatzes bezeichnet er die beiden Konfliktquellen als ‚competition‘ und ‚dissensus‘ (Aubert 1963: 26), im Text spricht er dann auch von ‚conflict of interests‘ und ‚conflict
of values or belief‘ (Aubert 1963: 27). Die deutsche Übersetzung gebraucht an beiden Stellen
die Begriffe Interessen- und Wertkonflikt, und übersetzt ‚conflict of belief‘ mit ‚Glaubenskonflikt‘ (Aubert 1973: 178, 180).
Kriesberg, der in seinen konflikttheoretischen Überlegungen an die Aubertsche Unterscheidung von konsensualen oder Interessenkonflikten und dissensualen oder Wertkonflikten anschließt (vgl. 1982: 30), hat die Bedingungen für das Auftreten von Interessenkonflikten weiter
präzisiert: Zumindest eine der Parteien müsse die Verteilung der gleichermaßen geschätzten
Güter oder Positionen als unbefriedigend empfinden, die unbefriedigende Verteilung müsse
sich zudem auf Handlungen einer anderen Partei zurückführen lassen oder sich zumindest
nicht ohne Nachteile für andere Parteien ändern lassen (Kriesberg 1982: 36).
U. Willems, Wertkonflikte als Herausforderung der Demokratie,
DOI 10.1007/978-3-658-10301-9_2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
12
1 Die Unterscheidung von Interessen- und Wertkonflikten
Neigung, solche Kompromisslösungen anzustreben, wird zumindest bei risikoaversen Beteiligten durch den Umstand befördert, dass andere KonÁiktlösungen wie z. B. Gerichtsentscheidungen oder KonÁiktbeendigungen etwa durch „Zufall, Missgeschick oder bösen
Willen“ das Risiko bergen, alles zu verlieren (Aubert 1973: 182). Die KonÁiktträchtigkeit wird bei Interessengegensätzen zudem dadurch minimiert, dass vielfach nicht nur
Konsens mit Blick auf die Wertschätzung der knappen Güter, sondern auch weitgehende
Übereinstimmung hinsichtlich der Bedingungen und Kriterien eines fairen Interessenausgleichs – wie etwa durch die Orientierung am Marktpreis – besteht (Aubert 1973: 185186). Zudem lässt die direkte Konkurrenz Interessengegensätze bedrohlicher erscheinen
und verstärkt das Bedürfnis nach Instrumenten und Verfahren der KonÁiktschlichtung
(Aubert 1973: 187). Allerdings können auch InteressenkonÁikte eskalieren, etwa wenn die
strategischen Positionen der Parteien sehr asymmetrisch sind oder die Parteien schlichtweg auf ihren Positionen beharren und weder zu Kompromissen noch zu einer normativen
Rechtfertigung ihrer Positionen bereit sind (Aubert 1973: 185).
WertkonÁikte münden dagegen deutlich häuÀger als Interessengegensätze in KonÁikte,
die aggressiv ausgetragen werden und nicht selten eskalieren. Das hat seinen Grund vor
allem darin, dass der Rückgriff auf einen zentralen Mechanismus der Zivilisierung oder
Lösung von InteressenkonÁikten, der Kompromiss, bei Wertdissensen weniger erfolgversprechend, wenn auch nicht völlig aussichtslos ist. Denn eine Suche nach Kompromissen
wird in solchen KonÁikten nicht selten als illegitimer ‚(Kuh-)Handel‘ um moralische Prinzipien betrachtet. Darüber hinaus ist es in der Regel bei konÁigierenden Werten erheblich schwieriger, die Fairness eines möglichen kompromisshaften Ausgleichs zwischen
den Parteien festzustellen, weil die Vor- und Nachteile unterschiedlicher Lösungen sich
anders als bei Gütern und Positionen nicht ohne weiteres bestimmen und messen lassen.
Zudem können die streitenden Parteien in Verhandlungen über Kompromisslösungen anders als bei InteressenkonÁikten weit weniger autonom über die Austauschbedingungen
verfügen, weil Werte und Wahrheit einen öffentlichen Charakter haben (Aubert 1973: 183184). Allerdings müssen Dissense über die Richtigkeit von Werten und die Wahrheit von
Tatsachen sowie die Hierarchisierung und richtige Anwendung von Werten und Normen
nach Aubert nicht notwendig zum offenen Streit führen. Dies gilt vor allem dann, wenn
die Träger dieser gegensätzlichen Überzeugungen in getrennten sozialen Welten leben
(Aubert 1973: 183).5
Interessengegensätze und Dissense unterscheiden sich auch hinsichtlich der Bedeutung
der konkreten Streitquellen für die Akteure, also von Präferenzen für Güter und Positionen einerseits sowie von Werten und Überzeugungen andererseits. Denn anders als in
5
Die Existenz verschiedener Werte ist nach Kriesberg zudem nur eine notwendige, nicht jedoch eine hinreichende Bedingung für das Auftreten dissensualer Konflikte. Vielmehr müssen diese Werte auch inkompatibel sein. Diese Inkompatibilität stellt sich entweder her, wenn
Personen mit unterschiedlichen Auffassungen in einer sozialen Beziehung stehen, die diese
Sichtweisen in Opposition treten lässt, oder aber dann, wenn Personen mit einer bestimmten
Sichtweise gegenüber anderen Personen bezweifelbare Ansprüche erheben (Kriesberg 1982:
33).
1 Die Unterscheidung von Interessen- und Wertkonflikten
13
InteressenkonÁikten sind die streitenden Parteien in Dissensen in der Regel daran interessiert, die wesentlichen Elemente ihres Wertesystems oder ihrer Überzeugungen zu bewahren.6 Dies muss nicht notwendig in den KonÁikt münden, solange es den Parteien im
Dissens gelingt, sich darüber einvernehmlich zu verständigen, dass sie mit guten Gründen
unterschiedlicher Meinung sind, also den Dissens in einen „rationalen Dissens“ (Miller
1992) transformieren. Nach Aubert stellt dies jedoch einen möglichen, letztlich aber marginalen Fall dar. Vielmehr geht die Erhaltung oder Verteidigung zentraler eigener Werte
oder Überzeugungen in der Regel mit Zweifeln an oder Angriffen auf abweichende und
inkompatible Werte oder Überzeugungen bzw. – so wird man ergänzen müssen – mit
Zweifeln an oder Angriffen auf diejenigen einher, die diese abweichenden oder inkompatiblen Werte vertreten. Werte und Überzeugungen sind zudem häuÀg mit dem Anspruch
auf Universalisierung verknüpft, also dem Wunsch, Träger abweichender Auffassungen
von der ‚Wahrheit‘ der eigenen Auffassungen und der ‚Richtigkeit‘ der eigenen Werte zu
überzeugen oder die eigenen Werte und Überzeugungen politisch zu verbreiten oder gar
verbindlich zu machen (Aubert 1973: 187-188).
Aubert versieht seine binäre Typologie von KonÁiktursachen, -verläufen und -lösungsmöglichkeiten explizit mit dem Hinweis, dass die KlassiÀzierung konkreter KonÁiktfälle
nicht nur unterschiedlich ausfallen, sondern auch unmöglich sein kann (Aubert 1973: 180)
und dass in realen KonÁikten häuÀg eine Mischung von Interessen- und Wertdimension
vorliegt (Aubert 1973: 185).7 InteressenkonÁikte etwa enthalten eine Wertdimension, die
in der Regel latent bleibt, jedoch auch explizit werden kann – wie z. B. diejenige der
Vorstellungen über die Fairness von Austauschprozessen (Aubert 1973: 185).8 Dissense
können dagegen etwa durch den Kampf um knappe Ressourcen wie Anhänger oder um
6
7
8
Der Unterschied lässt sich auch folgendermaßen verdeutlichen: Während die Ziele wertorientierten Handelns typischerweise intrinsischen Charakter haben, nicht austauschbar sind und
einen Teil der Identität der Akteure bilden, zeichnet sich interessenorientiertes Handeln durch
einen „strukturelle[n] Opportunismus auf der Ebene von Mitteln und Zwecken aus“ (Brose
1990: 16). Hinter den konkreten Präferenzen für einzelne Güter und Positionen steht eine generelle Orientierung, nämlich das ‚Interesse‘ daran, die eigene Position in einer gesellschaftlichen Struktur zu verbessern oder Verschlechterungen abzuwehren; aus der Perspektive dieser generellen Orientierung sind konkrete Präferenzen für Güter oder Positionen Mittel zum
Zweck (Willems 1998: 72-75, vgl. auch Balog 1989: 65, Brose 1990). Es ist dieser strukturelle
Opportunismus, der jene Flexibilität und „situative[r] Anpassungsfähigkeit“ (Brose 1990: 16)
ermöglicht, die die Lösung von Interessenkonflikten durch Kompromisse und Koppelgeschäfte ermöglicht oder zumindest erleichtert.
Kriesberg hat daher explizit betont, dass es sich bei der Unterscheidung der beiden Konflikttypen um eine analytische Unterscheidung handele (1989: 213). Er weist zudem darauf hin, dass
die Klassifizierung von realen Konflikten als konsensual oder dissensual insbesondere dann
problematisch wird, wenn die Parteien in der Konfliktdefinition nicht übereinstimmen und die
eine Seite einen Konflikt als Interessen-, die andere ihn als Wertkonflikt betrachtet (Kriesberg
1989: 213).
Lösungs- oder Kompromissvorschläge werden daher in Interessenkonflikten häufig deshalb
zurückgewiesen, weil sie mit den Gleichheits- oder Gerechtigkeitsvorstellungen der Konfliktparteien konfligieren (Meyer 1997: 37).
14
1 Die Unterscheidung von Interessen- und Wertkonflikten
für die politische Durchsetzung erforderliche Macht- und Autoritätspositionen eine Interessendimension annehmen (Aubert 1973: 188).
Diese Vermischungen eröffnen nach Aubert jedoch auch die Möglichkeit zu einer
grundsätzlichen Transformation von KonÁikten. Die Aussichten auf eine Lösung der KonÁikte verändern sich durch solche Transformationen entsprechend den bei der Analyse der
KonÁikttypen formulierten Erwartungen. So wirkt die Transformation eines InteressenkonÁikts in einen offenen Dissens über Werte oder Tatsachen oder beides in der Regel
tendenziell konÁiktverschärfend. Aubert weist allerdings darauf hin, dass unter bestimmten institutionellen Bedingungen eine solche Transformation eines InteressenkonÁikts in
einen Dissens über Tatsachen oder Normen auch Bestandteil einer konÁiktlösenden Strategie werden könne, nämlich dann, wenn der KonÁikt auf diese Weise durch eine gerichtliche Streitentscheidung beendet werden kann (Aubert 1973: 186). Andererseits kann die
Anreicherung eines WertkonÁiktes um eine Interessendimension KonÁiktlösungen tendenziell erleichtern. Während die Lösung reiner WertkonÁikte durch den Mechanismus
des Kompromisses oft an normativen oder psychologischen Bedenken scheitert – ‚kein
Kuhhandel um Prinzipien oder die Wahrheit‘ –, macht die Mischung mit Elementen etwa
eines MachtkonÁiktes den Streit einer Kompromisslösung zugänglich, etwa durch Rekurs
auf das Prinzip der gleichwertigen politischen Repräsentation (Aubert 1973: 189).9
9
Die Aubertsche Unterscheidung von Interessen- und Wertkonflikten ist breit rezipiert worden.
In der deutschen Rezeption finden sich neben dem Begriffspaar ‚Interessen- und Wertkonflikt‘
(Röhl 1987: 460-461, nach Meyer 1997: 32, Anm. 36) auch das Begriffspaar ‚Verteilungs- und
Meinungskonflikt‘ (Raiser 1987: 294, nach Meyer 1997: 32, Anm. 37). Der Begriff des Identitätskonfliktes wird teilweise als Ersatz für den Begriff des Wertkonfliktes gebraucht (vgl.
Senghaas 1992: 72, nach Meyer 1997: 32, Anm. 38, vgl. auch Rothman 1997), teilweise aber
auch als Bezeichnung für einen dritten Konflikttypus, der durch die problematische Vermengung von Interessen- und Wertkonflikten gekennzeichnet sei, verwendet (Greiffenhagen 1999:
194). In strukturell ähnlicher Weise wie zwischen Wert- und Interessenkonflikten wird auch
zwischen Verteilungs- und Anerkennungskonflikten unterschieden, wobei die Dimension der
Anerkennungskonflikte mit Blick auf den prognostizierten Konfliktverlauf sowie Chancen
einer Konfliktlösung den Wertkonflikten entspricht (Offe 1994: 144). Honneth hat demgegenüber vorgeschlagen, zwischen Umverteilungs- und Identitätskonflikten, die eine Anerkennungsdimension enthalten, und Interessenkonflikten, die keinen Beitrag zur Fortentwicklung
des sozialen Anerkennungsgefüges zu leisten vermögen, zu unterscheiden (Honneth in Fraser/
Honneth 2003, nach Köhler 2002: 330). In der Tradition einer ökonomischen Theorie der Politik findet sich die analoge Unterscheidung von Interessen- und Meinungskonflikten (vgl. Zintl
1992: 106-107 sowie dort Anm. 8, mit Verweis auf Hayek 1969a, Hayek 1969b, vgl. aber auch
Arrow 1967, Arrow 1973, Sen 1977, Sen 1986, die zwischen ‚values‘ und ‚tastes‘ bzw. ‚judgments‘ und ‚interests‘ unterscheiden).
Auberts Konflikttypologie ist in der Rezeption aber auch ergänzt und ausdifferenziert worden.
So unterscheidet etwa Bühl zwischen Macht-, Interessen- und Wertkonflikten (1984, nach Anhut/Heitmeyer 2000: 65, Anm. 112), Mitchell zwischen Interessenkonflikten, Wertkonflikten,
Wissenskonflikten und Konflikten über Mittel (1989: 35-41). Rittberger et al. unterscheiden
zwischen dissensualen Konflikten über Werte oder Mittel und konsensualen Interessenkonflikten über absolut bewertete Güter oder relativ bewertete Güter bzw. Positionsgüter (vgl.
Efinger et al. 1988, Efinger/Zürn 1990, Rittberger/Zürn 1990, Zürn et al. 1990; vgl. auch Zürn
1 Die Unterscheidung von Interessen- und Wertkonflikten
15
Zu dieser Tradition einer dichotomischen Unterscheidung zweier Typen von KonÁikten,
die unterschiedliche KonÁiktdynamiken und Zivilisierungschancen aufweisen, zählt auch
Albert Hirschmans Differenzierung zwischen „teilbare[n] KonÁikte[n] des Mehr-oderWeniger“ und „kategorischen KonÁikten des Entweder-Oder beziehungsweise des Unteilbaren“ (Hirschman 1994).10 Anders als Aubert führt Hirschman die verschiedenen KonÁiktlogiken jedoch zunächst nicht auf die unterschiedliche materiale Beschaffenheit der
KonÁiktgegenstände (Interessen und Positionen vs. Werte und Überzeugungen), sondern
auf die unterschiedlichen formalen Qualitäten der KonÁiktgegenstände zurück, nämlich
ihre Teilbarkeit bzw-. Unteilbarkeit.11 Allerdings besteht eine hohe Kongruenz zwischen
materialer Beschaffenheit und formaler Qualität der KonÁiktgegenstände. In teilbaren
KonÁikten geht es in der Regel um die Verteilung materieller Güter – als paradigmatischen Fall führt Hirschman den TarifkonÁikt an. Gegenstände unteilbarer KonÁikte sind
dagegen Fragen der Religion, die Stellung und der Status von Ethnien und Sprachen oder
1992). Unterschiedliche Formen solcher differenzierterer Konflikttypologien finden sich auch
in der Forschung zu alternativen Konfliktregelungsverfahren. Vgl. dazu den Überblick bei
Feindt (2001: 618-624). Feindt selbst unterscheidet zwischen kognitiven, normativen, Interessen-respektiven und Beziehungskonflikten (2001: 619). Vgl. auch den skizzenhaften Überblick
über die begrifflichen Differenzierungen des Konfliktbegriffs bei Bonacker (1999: 75-79).
10 Bereits Kriesberg hatte darauf hingewiesen, dass sich die Konfliktgegenstände bei Wertkonflikten in höherem Maße durch Unteilbarkeit auszeichnen (1982: 199).
11 Hirschman entwickelte diese Unterscheidung in seiner kritischen Auseinandersetzung mit der
von Helmut Dubiel (und Marcel Gauchet) vertretenen These, moderne Gesellschaften ließen
sich unter bestimmten Bedingungen, nämlich einem Reservoir an gemeinsamen Regeln des
Konfliktaustrags, der „Schonung des Gegners“ und einer „Bereitschaft zur Selbstzurücknahme und Zivilisierung“ (Dubiel 1995: 1095), auch durch eine Kette von Konflikten integrieren.
Hirschman vertritt demgegenüber die These, dass diese integrierende Wirkung nur bei den
teilbaren Konflikten des Mehr-oder-Weniger zu erwarten sei. Bereits Lewis A. Coser hatte
Simmels These von den integrierenden Effekten des Streits mit dem Argument kritisiert, dass
sie nicht hinreichend zwischen verschiedenen Sorten von Konflikten unterscheide. Integrierende Wirkung – so Coser ï entfalteten Konflikte nur solange, wie sie nicht die grundlegenden
Gemeinsamkeiten oder Übereinstimmungen der Konfliktparteien beträfen (1965: 87-90, 96,
180). Coser differenziert daher nicht zwischen Wert- und Interessenkonflikten oder teilbaren
und unteilbaren Konflikten, sondern zwischen konstitutionellen und nicht-konstitutionellen
Konflikten. In konstitutionellen Konflikten bilden die grundlegenden Gemeinsamkeiten der
Konfliktparteien selbst den Gegenstand des Streits. Für Coser lautet daher die entscheidende
Frage, welche Faktoren es zu verhindern vermögen, dass Konflikte einen konstitutionellen
Charakter annehmen. Zu diesen Faktoren zählt er u. a. wechselseitige Abhängigkeiten zwischen den Konfliktparteien, Vielfalt und fehlende Kumulation von Konflikten, institutionalisierte Kanäle der Konfliktaustragung sowie ein hohes Maß der Tolerierung von Konflikten
(1965: 91-96, 181, 186). Anhut und Heitmeyer haben aus der bloßen Erwähnung Cosers bei
Hirschman geschlossen, dieser habe letztlich darauf aufmerksam machen wollen, dass die
entscheidende Determinante für die integrierenden Effekte ‚teilbarer‘ Konflikte das von den
Akteuren geteilte Hintergrundverständnis sei (2000: 66) – eine Position, die sie selbst vertreten
(2000: 68). Vgl. zu einer ähnlichen Kritik an frühen Formulierungen von Dubiels These einer
Integration durch Konflikt (Dubiel 1992) auch Göhler (1992).
16
1 Die Unterscheidung von Interessen- und Wertkonflikten
die Regelung der Geschlechterbeziehungen. Aber auch die Auseinandersetzungen über
den Schwangerschaftsabbruch und den Multikulturalismus sowie den Fundamentalismus
zählt Hirschman zu den unteilbaren KonÁiktmaterien (1994: 301).12 Teilbare und unteilbare KonÁikte zeichnen sich durch unterschiedliche KonÁiktdynamiken und Aussichten
hinsichtlich ihrer Lösung oder Zivilisierung aus. Charakteristisch für unteilbare KonÁikte
ist die Heftigkeit und Unversöhnlichkeit, mit der die Parteien streiten (Hirschman 1994:
303). Lassen sich teilbare KonÁikte dadurch lösen, dass sich die Parteien ‚in der Mitte
treffen‘ oder ‚den Unterschied aufteilen‘, sind solche Kompromisslösungen bei unteilbaren
KonÁikten eher unwahrscheinlich. Solche KonÁikte werden vielmehr „entweder durch
die unumwundene Eliminierung einer der streitenden Parteien oder durch ‚Toleranzabkommen‘, die gebieten ‚leben und leben lassen‘“, beendet (Hirschman 1994: 302).13
Auch Hirschman betont, dass es sich um eine idealtypische Unterscheidung handele. Dementsprechend lasse sich bei realen KonÁikten zwischen beiden Kategorien nicht
immer eindeutig unterscheiden, weil teilbare KonÁikte häuÀg Elemente unteilbarer KonÁikte enthielten und unteilbare solche teilbarer (Hirschman 1994: 301). Darüber hinaus
identiÀziert auch er einen Mechanismus der Verwandlung teilbarer in unteilbare KonÁikte und umgekehrt; dieser Mechanismus beruht jedoch eher auf der Überlagerung unterschiedlicher KonÁiktmaterien sowie auf Perzeptionsfehlern der KonÁiktparteien als auf
einer den Materien selbst anhaftenden Transformationslogik.14 Dies gilt zunächst für den
Klassenkampf als einem grundsätzlich ‚teilbaren‘ KonÁikt:
„Der ‚Klassenkampf‘ oder die ‚soziale Frage‘ mögen (zum Teil) wegen der oben erwähnten
Überreste ethnischer Spaltungen im Bewußtsein des neunzehnten Jahrhunderts besonders
akut gewesen sein, und ebenso, weil diese KonÁikte als den Religionskriegen analog empfunden wurden, die noch vor kurzem gewütet hatten. Diese historisch konditionierte Fehldiagnose trug vermutlich zu der Überzeugung bei, daß der KonÁikt zwischen Kapital und
Arbeit radikale Lösungen brauche: Entweder Sozialismus-Kommunismus, was eine der beiden Seiten des KonÁikts beseitigt, oder Korporatismus-Faschismus, der sicherstellen würde,
daß beide Seiten dauerhaft zusammengeschlossen sind. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg
wurde allgemein akzeptiert, daß die sozialen KonÁikte der industrialisierten Länder immerfort wechselnden Kompromissen zugänglich sind“ (Hirschman 1994: 303).
12 Hirschman hat, worauf Dubiel (1999: 139) zu Recht hinweist, diesen zweiten Konflikttypus
nicht eigenständig bestimmt, sondern allein als Negation des teilbaren Konflikts entwickelt.
13 Simmel hat auf eine weitere Möglichkeit für den Umgang mit unteilbaren Konflikten verwiesen, nämlich den Konfliktgegenstand zu repräsentieren, um einer der Konfliktparteien ein
Substitut von ausreichendem Wert anbieten zu können und diese so zu einem Kompromiss zu
bewegen (Benditt 1979: 30, mit Verweis auf Simmel 1955: 116).
14 Die Stichworte Überlagerung und Fehlperzeption sind ein deutliches Indiz dafür, dass Hirschman in ähnlicher Weise wie Aubert die Unterscheidung der Konflikttypen an den vermeintlich
‚objektiven‘ Charakteristika der jeweiligen Streitgegenstände festmacht. Dagegen haben Anhut und Heitmeyer eingewandt, dass es plausibler sei, ‚Unteilbarkeit‘ als Folge einer (politisch
erfolgreichen) Rahmung des Konfliktes zu begreifen (2000: 66).
1 Die Unterscheidung von Interessen- und Wertkonflikten
17
Umgekehrt führt der routinierte Umgang mit teilbaren KonÁikten dazu, auch die vermehrt auftretenden unteilbaren KonÁikte als teilbare wahrzunehmen. Eine solche Fehlperzeption kann jedoch durchaus produktive Folgen haben:
„Wie überwältigend unversöhnlich sie auf den ersten Blick auch aussehen mögen, sie könnten vielleicht doch einige verhandlungsfähige Aspekte haben? Diese werden leichter entdeckt und hervorgelockt, wenn man in der Kunst des Verhandelns und des Experimentierens
schon geübt ist“ (Hirschman 1994: 303).
Hirschman versieht seine idealtypische Unterscheidung und vor allem seine Überlegungen
zur Kategorie des unteilbaren KonÁikts allerdings mit einer deutlichen Einschränkung:
„Aber diese Vorstellungen sind nur als erste Annäherung [...] gemeint und sollten nicht als
einziger Schlüssel der KonÁikttheorie, als Paradigma gar, mißverstanden werden. Ich hege
zum Beispiel den Verdacht, daß die Kategorie des Entweder-Oder, des unteilbaren KonÁikts,
im Grunde genommen ein vorläuÀges Etikett für eine Vielzahl von unbekannten Problemen
ist, die unterschiedliche Grade der Regelbarkeit haben. Diese KonÁikte können nur allmählich verstanden werden, indem wir sie durchleben. [...] Was wirklich erforderlich ist, um
bei neuen Problemen Fortschritte zu machen, ist politischer Unternehmergeist, Imagination,
Geduld hier, Ungeduld dort und viele andere Varianten von virtù und fortuna“ (Hirschman
1994: 304).
Helmut Dubiel hat gegen die KonÁikttypologie Hirschmans eingewandt, die Unterscheidung zwischen teilbaren und unteilbaren KonÁikten reiße auseinander, was „im historischen Prozess untrennbar verschränkt ist“. Denn so wie sich „militante Kämpfe um ‚materielle Interessen‘ [...] immer aus moralisch tiefer liegenden GerechtigkeitsempÀndungen
speisen als aus dem bloßen Verlangen nach einer fairen Güterverteilung“, so kann man
auch scheinbar reine IdentitätskonÁikte niemals ohne den materiellen Interessenhorizont
der Streitakteure verstehen“ (Dubiel 1999: 140-141).15 So ginge es auf der einen Seite
sowohl in Arbeitskämpfen als auch in den neueren KonÁikten zwischen den Geschlechtern nicht allein um Anteile an Lohn oder gesellschaftlichen Positionen; vielmehr ließen
sich beide KonÁikttypen ohne den „Rückgriff auf eine letztlich identitäre Kategorien wie
‚Würde‘ oder ‚Mißachtung‘“ nicht verstehen. Auf der anderen Seite seien auch Entstehung
und Entwicklung von IdentitätskonÁikten und identitären Bewegungen – Dubiel nennt den
zeitgenössischen religiösen Fundamentalismus arabischer Jugendlicher, den nordamerikanischen Populismus Ende des 19. Jahrhunderts und die Frauenbewegung – nicht ohne
15 Dubiels Überlegungen zielen „zunächst und vor allem“ auf die multiethnischen Konflikte in
westlichen Gesellschaften und die mit ihnen verbundene Politik der Anerkennung (1997: 430),
aber auch auf die sozialen Kämpfe entlang der Geschlechter- oder Generationendifferenz und
die „Wertkonflikte“ um Abtreibung und Schulcurricula (1995: 1095, 1997: 429, 1999).
18
1 Die Unterscheidung von Interessen- und Wertkonflikten
den jeweiligen materiellen Entstehungshintergrund sowie die sich daraus ergebenden Interessen und interessenbezogenen Strategien der Akteure erklärbar (Dubiel 1995: 1101).16
„Nicht nur für den Entstehungshintergrund, sondern auch für die Dynamik und politische
Karriere einer sozialen Bewegung gilt der Satz, daß Ideen ohne Interessen sich historisch
blamieren. Kurzum: Mit der bloßen öffentlichen Dramatisierung ihrer von der Suche nach
kollektiver Identität motivierten unteilbaren Forderungen wird eine soziale Bewegung nicht
den Status eines öffentlich respektierten kollektiven Akteurs erlangen“ (Dubiel 1995: 10011102).
Dubiels Annahme von der Verschränkung der KonÁiktdimensionen mündet in die These,
dass es sich bei reinen Ausprägungen teilbarer und unteilbarer KonÁikte letztlich gar nicht
um soziale KonÁikte handele, sondern um „strategische Interessenkonkurrenz“ einerseits
und die „Logik des Vernichtungskrieges“ andererseits (Dubiel 1999: 141). Im Anschluss
an eine Überlegung Hirschmans, dass unteilbare KonÁikte nur deshalb so unversöhnlich erschienen, weil noch keine Verfahren ihrer Zivilisierung erfunden seien, plädiert
Dubiel dafür, „ein theoretisches Modell zu konstruieren, das als realistische Grundlage
taugt für den Entwurf von Prinzipien, Regeln und Verfahren, die es vielleicht erlauben,
unversöhnliche Feindschaft in zivile Gegnerschaft zu transformieren“ (Dubiel 1999: 141).
Ausgangspunkt ist eine Konzeption von KonÁikt, die „zum einen militanter ist als das
Phänomen der Interessenkonkurrenz“ – und zwar, weil anders als in der strategischen Interessenkonkurrenz „die Geltung der Schlichtungsregeln eben nicht von den Streitakteuren als eine außermoralische Tatsache vorausgesetzt werden kann“ – und die zum anderen
„zivilisierter als die Logik des Vernichtungskrieges ist“ – und zwar deshalb, weil die
KonÁiktparteien einen „Minimalkonsens“ teilen, der in der „Anerkennung der legitimen
physischen Existenz des/der ‚Anderen‘ im politischen Raum“ besteht“ (Dubiel 1999: 142).
Diese andere Konzeption hat Folgen auch für die unterstellte Transformationslogik von
KonÁikten und die Aussichten für ihre Zivilisierung:
„Nach Hirschman käme es darauf an, Strategien und Verfahren zu entwickeln, die es erlauben, den Streit um ‚unteilbare Güter‘ in einen Streit um ‚teilbare‘ Güter zu transformieren. [...] Nach meiner Vorstellung des sozialen KonÁikts hingegen, in dem die ‚strategische‘
Dimension der Teilbarkeit mit der ‚identitären‘ Dimension der Unteilbarkeit unauÁöslich
16 Dubiel betont den explizit ‚analytischen Charakter‘ solcher dichotomischer Unterscheidungen: „Es kann nur darum gehen, die empirische Häufung von Merkmalen des einen Typus in
konkreten Konflikten festzustellen. Die Tauglichkeit solcher Unterscheidungen ist dann daran
zu messen, ob sie letztlich mehr Klarheit angesichts der zu erklärenden Phänomene schaffen“
(1995: 1100). Er blendet aus, dass in der Tradition einer dichotomischen Unterscheidung von
Interessen- und Wertkonflikten bzw. teilbaren und unteilbaren Konflikten selbst immer wieder betont worden ist, dass es sich dabei um eine typologische Unterscheidung handele und
dementsprechend realen Konflikten häufig eine Mischung dieser beiden Konfliktquellen zu
Grunde läge (vgl. Aubert 1973: 185, Kriesberg 1989: 213). Auch Hirschman hat dies ja ausdrücklich konzediert (1994: 301).
1 Die Unterscheidung von Interessen- und Wertkonflikten
19
verschränkt ist, käme es darauf an, scheinbar unversöhnliche gesellschaftliche Auseinandersetzungen durch Formen der demokratischen KonÁiktaustragung zu zivilisieren. Das
orientierende Paradigma eines erfolgreich gehegten KonÁikts ist nicht der Kompromiss konkurrierender strategischer Gruppen, sondern der unblutige Dauerstreit der demokratischen
Öffentlichkeit“ (Dubiel 1999: 142).
Dubiel hat seine Überlegungen an einem Stufenmodell der Transformation eines Bürgerkriegs in einen zivilen Streit illustriert, dessen Stadien der Waffenstillstand, die Unterwerfung unter eine gemeinsame Rechtsordnung und schließlich die Konstituierung einer
demokratischen Öffentlichkeit bilden (Dubiel 1995: 1104-1105, ausführlicher: Dubiel
1997: 440-443).17 Diese letzte, die „höchste Stufe der Zivilität“, ist gekennzeichnet durch
die Orientierung der Parteien an „Prinzipien und Normen [...], deren legitime Geltung sie
[...] anerkennen“ sowie an „Imperativen einer allgemeingültigen Moral, die sich in der
demokratischen Öffentlichkeit bildet“.18 Diese Zivilitätsstufe zeichnet sich zudem dadurch
aus, dass „Einstellungen, Meinungen und Interessen, die in die wechselseitige Beratung
eingebracht werden, an deren Ende verändert werden“. Die strategische Konkurrenz von
Gruppen mit vordeÀnierten Meinungen und Interessen wird transformiert in ein komplexes Netzwerk beratschlagender Gruppen und Akteure (Dubiel 1997: 442).
Fragt man jedoch nach den Bedingungen, Faktoren oder Mechanismen, welche die
Transformation des Modus der KonÁiktaustragung von unversöhnlichen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen hin zum unblutigen Dauerstreit der demokratischen Öffentlichkeit ermöglichen oder doch zumindest wahrscheinlicher machen, so verweist Dubiel
darauf, dass es (kontingente) politische und kulturelle Rahmenbedingungen und/oder
historische Erfahrungen seien, die die zentralen Determinanten von KonÁiktverläufen
bildeten. Darüber hinaus betont Dubiel, dass sich die Bedingungen einer solchen Transformation nicht einfach herstellen ließen: „Es ist einzig die von den Streitparteien selbst
erfahrene und kollektiv gedeutete Realität, die diese Bereitschaft erzeugen kann“ (Dubiel
1995: 1103). Allerdings lassen sich bei Dubiel einige wenige, allerdings nicht systematisch
ausgeführte Hinweise auf solche ermöglichenden oder förderlichen Bedingungen, Faktoren und Mechanismen Ànden.
(1) Eine erste Möglichkeit besteht in der UmdeÀnition der strittigen Fragen in einer
Weise, die ihnen den Charakter der Unverhandelbarkeit und Unteilbarkeit nimmt:
„[…] Unteilbarkeit oder Unverhandelbarkeit eignet diesen KonÁiktmaterien nicht von sich
aus. Sie erscheinen vielmehr so in der subjektiven Perspektive der sich unversöhnlich gegen17 Für die Hegung von Konflikten zwischen Gruppen mit askriptiven Merkmalen oder tief einsozialisierten Werthaltungen bedarf es dagegen nach Dubiel der Erfindung eigener Verfahren
(1995: 1106).
18 Es bleibt unklar, ob für das solchermaßen konstituierte „schwache[s] normative Band der Gesellschaft“ weiterhin gilt, dass es sich in gehegten Konflikten gleichsam ‚hinter dem Rücken‘
der Akteure einstellt, so dass diese in der Regel um seine Existenz gar nicht wissen (Dubiel
1994: 115-116).
20
1 Die Unterscheidung von Interessen- und Wertkonflikten
überstehenden Streitpartner. Andere Sprachen kann man lernen, Wertorientierungen lassen
sich durch andere ersetzen und man kann eine andere Religion annehmen“ (Dubiel 1995:
1099, Hervorh. i. O.).
Dubiel geht zunächst davon aus, dass Unversöhnlichkeit und Unteilbarkeit keine ‚objektive‘ Qualität der KonÁiktquellen sind, sondern Rahmungen dieser Gegenstände, die von
den Akteuren vorgenommen werden.19 Von den Akteuren produzierte Rahmungen sind
jedoch prinzipiell veränderbar. Und die Diskussionen einer demokratischen Öffentlichkeit
stellen Raum und Gelegenheit für solche Veränderungsprozesse bereit. Möglich werden
solche Veränderungsprozesse aber letztlich erst dadurch, dass Dubiel auch davon ausgeht,
dass die Überzeugungen, Werte und Identitäten der Akteure, die für die Rahmung von
KonÁiktgegenständen als ‚unteilbar‘ oder ‚unverhandelbar‘ verantwortlich sind, als Ergebnis von Wahlentscheidungen und dementsprechend als revidierbar vorgestellt werden.
Auch wenn die Verweise auf den konstruktiven Charakter von KonÁiktgegenständen
und die Veränderbarkeit grundlegender Überzeugungen ohne Zweifel grundsätzlich zutreffend sind und die strategische Zurichtung von KonÁiktgegenständen durch die KonÁiktparteien in mobilisierender Absicht etwa bei den von Dubiel betrachteten ethnonationalistischen KonÁikten in hohem Maße plausibel sind, bestehen doch erhebliche Zweifel,
ob dieses Muster der KonÁiktbearbeitung bei anderen Sorten von KonÁikten wie etwa
dem KonÁikt um den Schwangerschaftsabbruch aussichtsreich ist. Denn der VerpÁichtungsgrad bzw. die Unverhandelbarkeit der die unterschiedlichen Regulierungsziele in diesem KonÁikt begründenden moralischen Argumente von einem Lebensrecht des Embryos
oder Fötus oder eines Vorranges der Autonomie von Frauen ist Folge ihrer Verankerung in
den jeweils im Hintergrund stehenden umfassenden religiösen oder säkularen Vorstellungen von Gerechtigkeit oder gutem Leben. VerpÁichtungsgrad und ‚Unverhandelbarkeit‘
in diesem KonÁikt als bloße strategische Zurichtung des KonÁiktgegenstandes durch die
KonÁiktparteien in mobilisierender Absicht anzusehen, stellte daher eine Fehlinterpretation dar. Auch der Verweis darauf, dass religiöse und Wertbindungen sich wechseln
lassen, dürfte angesichts der in diesem KonÁikt im Hintergrund stehenden grundlegenden
Überzeugungen – des Glaubens an eine göttliche oder natürliche Lebensordnung auf der
einen und des liberalen Ideals der Autonomie der Person auf der anderen – wenig hilfreich
sein. Dieser Verweis scheint selbst auf dem klassisch liberalen Bild autonomer, souverän
agierender Konsumenten zu beruhen, die auf einem speziellen Markt mit Angeboten für
19 Auf den Umstand, dass es nicht allein vom Konfliktgegenstand, sondern auch von den Perzeptionen der Akteure und der Situierung in Konfliktkonstellationen abhängt, welche Charakteristika und welche Dynamik Konflikte annehmen, haben bereits Zürn et al. hingewiesen
(Zürn et al. 1990: 158-159). Allerdings wirken sich diese Faktoren nach Efinger und Zürn vor
allem auf die Unterscheidung zwischen Interessenkonflikten um absolut und solche um relativ bewertete Güter aus. Bei den beiden von ihnen unterschiedenen dissensualen Konflikttypen erwarten sie dagegen keine derartige Perzeptions- und Situationsabhängigkeit (1990: 79).
Den konstruktiven Charakter von Konfliktgegenständen betonen auch Anhut und Heitmeyer
(2000: 66).
1 Die Unterscheidung von Interessen- und Wertkonflikten
21
individuelle und kollektive Selbstverständnisse und Wertüberzeugungen ihre Wahlentscheidungen treffen und ggf. revidieren (vgl. etwa Dubiel 1994). Eine solche Vorstellung
verkennt jedoch sowohl die Natur von Wertbildungsprozessen, für die das Moment des
‚Ergriffenseins‘ charakteristisch ist, als auch den daraus resultierenden VerpÁichtungsgrad von religiösen und säkularen Wertüberzeugungen (vgl. Joas 1997).20
(2) Dubiel scheint zum Zweiten trotz seiner deutlichen Absetzung von Hirschmans
Überlegungen zur Transformation von KonÁikten wie dieser auf die mäßigenden Effekte
der in den KonÁikten immer präsenten Interessen zu setzen. Nicht nur stilisiert Dubiel
den reinen InteressenkonÁikt zur bloßen Interessenkonkurrenz – und blendet dabei die
Dimension existentieller Interessen (Anhut/Heitmeyer 2000: 66) oder auch die problematischen Reaktionen auf erhebliche reale Verluste von Positionen und Gütern oder auch
nur aus Angst vor solchen Verlusten (Hirschman 1984b: 129, 131) aus –, Interessen bzw.
teilbare Forderungen werden geradezu zu Garanten von Anerkennung und EinÁuss gerade
bei identitätskonstituierten politischen Akteuren (Dubiel 1995: 1001-1102). Aber selbst
wenn man mit Dubiel und der Tradition der Unterscheidung von Interessen- und WertkonÁikten davon ausgeht, dass mit Blick auf KonÁiktlogik und -lösung Interessen vergleichsweise unproblematische oder vorteilhafte Materien darstellen, können sie positive Effekte
nur dann zeitigen, wenn sie bei den Akteuren in konkreten KonÁikten im Vergleich zu
Wertorientierungen auch über ein ausreichendes Gewicht verfügen. In vielen WertkonÁikten, denen sich Gesellschaften heute gegenüber sehen – wie etwa in den KonÁikten über
die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs oder die Sterbehilfe –, spielen Interessen nun
aber gerade keine oder zumindest keine gewichtige Rolle.
(3) Dubiel scheint schließlich vor allem auf die zivilisierende Rolle des demokratischen
Prozesses selbst zu setzen, genauer: auf die Genese von Prinzipien, die von allen Beteiligten als legitim anerkannt werden und daher den Bezugspunkt wechselseitiger Kritik zu
bilden vermögen, sowie auf die Herausbildung einer universellen Moral. Ersteres führt zu
einer „indirekte[n] Bekräftigung und zugleich auch Erweiterung des Fonds an normativen
20 Dass Dubiel solche Fälle eines unbedingten Charakters von Wertorientierungen oder Identitäten ausblendet, ist wohl auch seiner Rekonstruktion der Hirschmanschen Unterscheidung
von teilbaren und unteilbaren Konflikten mit Hilfe der aus der Bewegungsforschung stammenden Dichotomie von „strategy or identity“ (Cohen 1985) geschuldet. Dubiel rekurriert auf
diese Tradition der Unterscheidung von strategischen und Identitätskonflikten, weil er davon
ausgeht, dass die Annahmen über die Konfliktverläufe sowie die Möglichkeiten der Lösung
von Konflikten strukturell denjenigen über Interessen- und Wertkonflikte bzw. teilbare und
unteilbare Konflikte entsprechen (vgl. die schematische Gegenüberstellung bei Dubiel 1997:
434). Der Anschluss an diese Tradition der Bewegungsforschung hat jedoch die Folge, dass
Dubiel in seiner Rekonstruktion von Identitätskonflikten davon ausgeht, dass es den Akteuren
in diesen Konflikten vornehmlich um interne und externe Bestätigung, um die Konstituierung,
Anerkennung und Wertschätzung ihrer spezifischen Identität bzw. ihres Status als sozialer
Gruppe sowie um die Produktion von Ressourcen wie Legitimität und Solidarität, also letztlich um relative, teilbare, selbstbezügliche Handlungsziele geht. Strukturell ähnlich angelegt
ist ein großer Teil der Tradition einer Rekonstruktion von Wertkonflikten als Statuspolitik
oder Politik der Lebensführung (vgl. dazu Kap. 2).
22
1 Die Unterscheidung von Interessen- und Wertkonflikten
Gemeinsamkeiten“, letzteres zur tendenziellen Relativierung der „partikulare[n] Interessenorientierung des ‚bourgeois‘“ (Dubiel 1997: 442). Diese ‚Lösung‘ muss zunächst vor
dem Hintergrund der von Dubiel selbst in Rechnung gestellten Verfassung pluralistischer
demokratischer Gesellschaften verwundern, in der „auf einen unabschließbaren Kreis von
Fragen immer gegensätzlichere Antworten“ gegeben werden (Dubiel 1997: 427). Dubiel
hatte aus diesem Grund jede Strategie des KonÁiktmanagements, die auf einen Konsens
der konÁigierenden Parteien zielt, für aussichtslos erklärt (Dubiel 1997: 427-428). Vor
dem Hintergrund dieser Diagnose ist es nun aber völlig überraschend und bleibt bei Dubiel letztlich ungeklärt, dass und wie sich in pluralistischen Gesellschaften solche Prinzipien und Normen als allgemein anerkannte Grundlage des Gemeinwesens herausbilden
und zudem integrierend wirken können. Selbst wenn ein solcher Bestand geteilter Normen
existierte oder sich in KonÁikten herausbildete, müsste man davon ausgehen, dass die
Mitglieder religiös und kulturell pluraler Gesellschaften den Umfang solcher Normen und
Prinzipien auf der Basis ihrer divergenten ethischen Hintergrundtheorien höchst unterschiedlich bestimmen, und zudem deren Elemente sowie ihre relative Gewichtung sehr
verschieden interpretieren würden (vgl. Taylor 1996, 1998). In pluralistischen demokratischen Gesellschaften erstreckt sich der endemische Dissens auch auf die Ebene grundlegender Prinzipien und Normen. Ähnliche Bedenken wird man hinsichtlich der Existenz
und Wirkung einer sich in der demokratischen Öffentlichkeit herausbildenden allgemeinen Moral anmelden müssen. Zudem berücksichtigt die Betonung des demokratischen
Dauerstreites nur unzureichend, dass bei vielen der strittigen Materien die Notwendigkeit
besteht, über sie auch zu entscheiden. Das stellt aber dann ein Problem dar, wenn die
streitenden Parteien etwa aufgrund der gegebenen Mehrheitsverhältnisse über sehr ungleiche Chancen verfügen, ihren Positionen Geltung zu verschaffen. Ob ein unblutiger
demokratischer Dauerstreit über Materien mit hoher Wert- oder Identitätskomponente bei
strukturellen Minderheiten integrierende Effekte zeitigen wird, ist daher höchst fraglich.
Auch Bernhard Peters hat wie Helmut Dubiel die dichotomische Unterscheidung von
KonÁikttypen auf der Basis der zu Grunde liegenden KonÁiktmaterien kritisiert. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist der Umstand, dass Fragen der Verteilung knapper
Güter sehr schnell zu Wertfragen mutieren, wenn sie zumindest eine der Parteien unter
dem Gesichtspunkt der Verteilungsgerechtigkeit betrachte (Peters 1993: 4):
„Diese schlichte Beobachtung macht auf den Sachverhalt aufmerksam, dass in den empirischen Sozialwissenschaften eine ReiÀzierung oder Naturalisierung von Interessen und KonÁikten weit verbreitet ist. Bestimmte Präferenzen werden als mehr oder weniger ‚natürlich‘
betrachtet oder als objektiv determiniert durch sozialstrukturelle Positionen. Es wird übersehen, wie stark Ansprüche und KonÁikte mit kulturellen Deutungen und Rechtfertigungen
verknüpft sind, wie ‚kulturalisiert‘ KonÁikte heute (aber wahrscheinlich auch schon lange,
historisch betrachtet) sind, wie eng ‚Interessen‘ und ‚Werte‘ legiert sind. Wegen dieser kulturellen Einbettung von Interessen oder Ansprüchen gibt es auch keinen sozusagen natürlichen
Unterschied zwischen KonÁikten um die Verteilung von Ressourcen und KonÁikten über
Werte“ (Peters 1993: 4).
1 Die Unterscheidung von Interessen- und Wertkonflikten
23
Vor dem Hintergrund dieser Warnung entwickelt Peters eine Differenzierung zwischen
KonÁikttypen, die den zentralen Faktor für die Intensität und Dynamik von KonÁikten sowie die Chancen ihrer Zivilisierung nicht in den Materien oder Gegenständen von
KonÁikten, sondern in den DeÀnitionen der Beziehungen zwischen den KonÁiktparteien
identiÀziert.21 Zunächst unterscheidet auch Peters zwischen zwei Sorten von KonÁiktgegenständen: Die Parteien eines KonÁikts können ihre eigenen Ansprüche und Ziele
entweder als normativ auszeichnen, d. h. aus der Perspektive überindividueller Maßstäbe
als gerechtfertigt empÀnden, oder aber als moralisch neutral und dementsprechend als
bloße Interessen oder Wünsche betrachten (Peters 1998: 4-5). Die zweite Unterscheidung
betrifft den moralischen Status der jeweils anderen KonÁiktparteien sowie die moralische
Wertung ihrer Ansprüche und Ziele. KonÁiktparteien können sich entweder wechselseitig
als Personen mit möglicherweise kontroversen, aber ernsthaften und fundierten moralischen Überzeugungen respektieren oder aber sich wechselseitig moralisch verdammen
bzw. sich als moralisch unzurechnungsfähig betrachten (Peters 1998: 5). Auf der Basis
dieser Unterscheidungen von Interessen und moralischen oder WertkonÁikten einerseits
und moralisch inklusiven und exklusiven Beziehungsmustern andererseits entwickelt Peters nun eine Typologie von vier KonÁiktkonstellationen (Peters 1998: 5-6): (1) den rohen
KonÁikt, in dem die Akteure ihre bloßen Wünsche und Interessen ohne moralisch gebotene Rücksichten auf die Interessen anderer durchzusetzen suchen, (2) die ‚Feindschaft‘,
in der die Akteure normativ ausgezeichnete Ziele durchzusetzen suchen, aber die gegnerische KonÁiktseite moralisch nicht respektiert wird, (3) den ‚InteressenkonÁikt‘, in dem
die Parteien im Rahmen gemeinsam akzeptierter normativer Spielregeln ihre Interessen
zu realisieren suchen und schließlich (4) den ‚moralischen oder WertkonÁikt‘, in dem die
Parteien normativ ausgezeichnete Ansprüche zu realisieren suchen, aber die gegnerischen
KonÁiktparteien als moralische Akteure respektieren, weshalb die Parteien zu Formen
der einvernehmlichen KonÁiktlösung bereit sein können; dabei meint letzteres „nicht unbedingt Ausrichtung auf ‚Konsens‘ im Sinne eines gemeinsam akzeptierten Wahrheitsanspruches – möglicherweise geht es auch um tragbare moralische Kompromisse“ (Peters
1998: 6). Peters gelangt auf diese Weise zu zwei „Grundformen der Zähmung und Zivilisierung von KonÁikten“ (Peters 1998: 6), nämlich der legitimen Interessenkonkurrenz
einerseits und der moralischen Verständigung andererseits.22
Trotz solcher Differenzierungen zwischen KonÁiktgegenstand und KonÁiktmodus
prägt der Ansatz einer Bestimmung unterschiedlicher Logiken von Interessen- und WertkonÁikten durch Aubert und Autoren in seiner Tradition nach wie vor die Wahrnehmung
von KonÁikten, die sich durch tiefgreifenden moralischen Dissens auszeichnen. Der Ideal-
21 Schon Kriesberg hatte darauf hingewiesen, dass die Beziehung der Konfliktparteien bei Wertkonflikten häufiger durch die einseitige oder wechselseitige Ausgrenzung oder Nichtanerkennung gekennzeichnet seien (1982: 199). Vgl. zur Beziehungsdimension der Konfliktparteien
als eigenständige Determinante von Konfliktdynamiken auch Greiffenhagen (1999: 195).
22 Peters räumt jedoch ein, dass es sich um eine eher grobe Typologie handele und daher mit vielfältigen Misch- und Übergangsformen zu rechnen sei (1998: 6, sowie dort Anm. 5).
24
1 Die Unterscheidung von Interessen- und Wertkonflikten
typus des WertkonÁiktes und die ihm zugeschriebenen Merkmale sind – trotz der erheblichen Unklarheiten, die dem Konzept eignen – in den Bestand der sicheren Wahrheiten
des Fachs eingewandert. Am deutlichsten zeigt dies die Forschung zu neuen Verfahren der
KonÁiktvermittlung, besteht hier doch weitgehend Konsens, dass sich mit diesen neuen
Verfahren nur InteressenkonÁikte, nicht jedoch fundamentale WertkonÁikte produktiv
bearbeiten lassen (vgl. u. a. Zilleßen/Barbian 1992: 17, Weidner 1996: 141, Feindt 2001:
684, vgl. auch Geis 2005: 85, mit weiteren Nachweisen. Zweifel an dieser These äußert
etwa Ueberhorst 1997: 58-63, vgl. auch Saretzki 1996c: 37).23
23 Allerdings wird dort zumeist auch darauf hingewiesen, dass die Grenze nicht immer eindeutig
zu ziehen sei und Wertkonflikte sich gelegentlich als verhandelbare Interessenkonflikte erweisen oder zu solchen wandeln können (Weidner 1996, mit Verweis auf Susskind/Cruikshank
1987).
Wertkonflikte als Statuspolitik oder als
‚Politik der Lebensführung‘
2
Eine zweite, vor allem in den USA verbreitete Tradition der Forschung zu WertkonÁikten
begreift diese in Anlehnung an Begriff und Konzept der Stände bei Max Weber (1964:
223-227, 678-689) als Statuspolitik bzw. als Politik der Lebensführung.24 Den Ausgangspunkt bilden die Analysen, mit denen Lipset und Hofstadter das Phänomen der sich Anfang der 50er Jahre in den USA formierenden neuen Rechten zu erklären suchen. Beide
unterscheiden Statuspolitik typologisch von Interessenpolitik (Hofstadter 1964b: 84)25
24 Unter Rückgriff auf dieses theoretische Konzept sind in den USA eine Reihe von politischen
Bewegungen sowie von lokalen und nationalen Wertkonflikten analysiert worden, darunter der
ländliche Populismus bzw. Progressivismus (Hofstadter 1955), der Prohibitionismus (Gusfield
1972), der Rechtsextremismus (Hofstadter 1964a, Lipset 1964, Lipset/Raab 1970, McEvoy
1971), Anti-Pornographie-Kampagnen (Zurcher et al. 1971, Zurcher/Kirkpatrick 1976), Studentenpolitik (Westby/Braungart 1970, Braungart 1971) und die christliche Rechte (Wald et al.
1989) sowie die Konflikte um die Wiedereinführung des Schulgebetes (Moen 1984), um die
Verankerung der Gleichberechtigung der Geschlechter in der Verfassung (Scott 1985) und um
die Rassenfrage (Smith/O’Connell 1997). Vgl. auch den Überblick samt Nachweisen bei Page
und Clelland (1978: 267).
25 In einem Postskript aus dem Jahre 1962 (‚Pseudo-conservatism revisited‘) hat Hofstadter allerdings das Konzept der Statuspolitik selbst als zu eng zurückgewiesen und für den umfassenderen Begriff „cultural politics“ plädiert, weil es in den damit bezeichneten politischen Bewegungen und Prozessen nicht allein um Statusfragen, sondern auch um religiöse und moralische
Fragen sowie um Fragen von Freiheit und Zwang ginge (1964a: 99-100). Dies ist in der statuspolitischen Forschungstradition jedoch lange nicht zureichend rezipiert worden. In seinem
Postscript erweitert er zudem die Dichotomie von Interessen- und kultureller Politik um das
Konzept einer ‚projektiven Politik‘. Dabei handelt es sich um die „projection of interests and
concerns, not only largely private but essentially pathologically, in the public scene“ (1964a:
100). Gusfield schlägt demgegenüber für ein solchermaßen geartetes politisches Handeln „for
the sake of expression rather than for the sake of influencing or controlling the distribution of
valued objects“ den Begriff der „expressive politics“ (1972: 19) vor: „Expressive movements
are marked by the goalless behaviour or by pursuit of goals which are unrelated to the discontents from which the movement had its source“ (Gusfield 1972: 23).
U. Willems, Wertkonflikte als Herausforderung der Demokratie,
DOI 10.1007/978-3-658-10301-9_3, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
Herunterladen