8. Sinfonie konzert - Staatstheater Darmstadt

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8.
Sinfonie
kon z e r t
Kurtág – Strauss – Strawinsky
8. Sinfoniekonzert
Sonntag, 25. Juni 2017, 11.00 Uhr
Montag, 26. Juni 2017, 20.00 Uhr
Staatstheater Darmstadt, Großes Haus
György Kurtág (*1926)
Stele (ΣΤHΛH) op. 33 (1994)
1. Larghissimo. Adagio – 2. Lamentoso. Disperato, con moto.
Nicht zu schnell aber wild, gehetzt, ungeduldig – 3. Molto sostenuto
„Kinder und Tiere
verstehen meine Musik
am besten.“
Igor Strawinsky
Richard Strauss (1864–1949)
Also sprach Zarathustra. Frei nach Friedrich Nietzsche op. 30 (1896)
Der Sonnenaufgang – Von den Hinterweltlern – Von der großen
Sehnsucht – Von den Freuden und Leidenschaften – Das Grablied –
Von der Wissenschaft – Der Genesende – Das Tanzlied –
Nachtwandlerlied
Pause
Igor Strawinsky (1882–1971)
Le Sacre du Printemps (1913)
Bilder aus dem heidnischen Russland,
Nach einem Libretto von Igor Strawinsky und Nikolaus Roerich
Premier tableau: Adoration de la terre (Anbetung der Erde)
Introduction – Les Augures printaniers (Die Vorboten des Frühlings) –
Danses des adolescentes (Tanz der Jünglinge) – Jeu du rapt (Das Spiel
der Entführung) – Rondes printanières (Frühlingsreigen) – Jeux des cités
rivales (Kampfspiele der feindlichen Stämme) – Cortège du Sage
(Zug des Weisen) – Adoration de la Terre (Anbetung der Erde) – Danse
de la terre (Tanz der Erde)
Second tableau: Le sacrifice (Das Opfer)
Introduction – Cercles mystérieux des adolescentes (Mystischer Reigen
der jungen Mädchen) – Glorification de l’élue (Verherrlichung der
Auserwählten) – Évocation des ancêtres (Beschwörung der Ahnen) –
Action rituelle des ancêtres (Ritualtanz der Ahnen) – Danse sacrale
(Opfertanz) – Élue (Die Auserwählte)
Das Staatsorchester Darmstadt
Dirigent Will Humburg
Dauer des Konzerts: ca. 2 Stunden
Ton- und Bildaufnahmen sind aus rechtlichen Gründen nicht gestaltet.
Gönnen Sie sich den Luxus der Unerreichbarkeit und schalten Ihre Mobiltelefone aus.
György Kurtág wurde 1926 in Lugos geboren und wuchs in einer multi­eth­
nischen Umgebung auf. In der Budapester Musikakademie traf er György
Ligeti, mit dem ihm eine lebenslange Freundschaft verband. Seine Lehrer
waren Ferenc Farkas, Pál Kadosa und Leó Weiner. Anders als sein Freund
Ligeti, der nach dem Aufstand 1957 im Westen geblieben war, ging Kurtág
zurück nach Budapest. In Paris besuchte er 1957/58 Kurse bei Messiaen
und Milhaud, traf Stockhausen in Köln, verbrachte aber auch in Paris
etliche Stunden mit der Psychologin Marianne Stein, die, wie er sagte, sein
Leben in zwei Hälften geteilt habe. György Kurtág begann danach mit
dem Komponieren von neuem und beschäftigte sich insbesondere mit dem
Werk Anton Weberns. Seinem 1959 entstandenen Streichquartett gab
er programmatisch die Opuszahl 1, obwohl sein noch tonales Früh­werk in
der Tradition der Spätromantik, Bartóks und der ungarischen Folklore
vorangegangen war.
In der Mitte der 1990er Jahre war er Fellow des Wissenschaftskollegs
in Berlin und „Composer in Residence“ der Berliner Philharmoniker.
Inzwischen ist Kurtág mit vielen internationalen Ehrungen bedacht worden,
auch mit dem Siemens-Musikpreis, dem höchst-dotierten Musikpreis
in Deutschland. Sein Oeuvre ist eher schmal, er bevorzugt kammermusikalische Besetzungen in seinen hochverdichteten und doch fragil klingenden
Werken, wie in seinem Streichquartett „officium breve“ op. 28, das aus vielen
Miniaturen besteht.
Neben Vokalzyklen schrieb Kurtág in den siebziger Jahren überwiegend
Kammermusik, wobei eine Tendenz zu höherer Dichte, noch lapidarerer
Kürze, noch größerer Einfachheit festzustellen ist. Ein zweites Streichquartett
mit dem Titel „Hom­mage à Mihály András – 12 Mikroludien“, und sein
drittes Quartett, das „Officium breve in memoriam Andreae Szervánszky“,
versammelt zauberhafte Miniaturen, verwenden diverseste Techniken
vom verbissen festgehaltenen Einzelton bis zum komplexen Kanon, konsonante Terzen und Quinten ebenso wie Dissonanzen und Geräusche. (Bitterli)
Ein Werk, das bezeichnend ist für Kurtágs kreativen und spielerischen
Umgang mit der abendländischen Musiktradition, ist „Hommage à R. Sch.“
G y ö r g y Ku r t á g
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von 1990. Die sechs kurzen Stücke haben die Besetzung Klarinette, Bratsche
und Klavier, wie sie Robert Schumann, dem die „Hommage“ gilt, in seinen
„Märchen­erzählungen“ verwendet hat. Auf Schumann verweisen auch
vier der Stück­titel: „Merkwürdige Pirouetten des Kapellmeisters Johannes
Kreisler“. Er spielt auf die Figur von E.T.A. Hoffmann an, die auch durch
Schumanns „Kreisleriana“ geistert.
Nach einigen Werken für größere kammermusikalische Ensembles schrieb
er mit „Stele“ 1994 als Auftragswerk der Berliner Philharmoniker eines
seiner ersten groß besetzten Orchesterwerke. Der Titel, der Partitur in grie­chischer Sprache vorangestellt, verweist auf eine Säule, einen Grabstein.
„Stele“ hat drei ineinander übergehende Sätze. Es ist eine Elegie für den
Freund András Mihály (1917–1993), der auch Widmungsträger wurde.
Kurtág hatte schon vorher mit seiner Klavier-Miniatur „Mihály András
in memoriam“ aus dem Zyklus „Játékok“ einem Nekrolog auf den Freund
geschrieben, und am Ende von „Stele“ nutzt er Musik aus dem Klavierstück. Kurtág hat sich selbst verschiedentlich und widersprüchlich über
sein Werk geäußert. Es ist schwer, die emotionale Komplexität des Werks
in Worte zu fassen, aber Kurtág nennt es Musik über „jemanden, der
ver­wundet auf einem Schlachtfeld liegt. Um ihn herum Kampf, aber er sieht
auch den sehr klaren und blauen Himmel.“ In seinem lesenswerten
Buch über die Musik des 20. Jahrhunderts „The Rest is Noise“, schrieb Alex
Ross, Musikkritiker des The New Yorker, zu „Stele“: „Ein Stück, in dem
wiederum Beethovens Geist umgeht. Zu Beginn spielen Gs in ver­schie­denen
Oktavlagen unmissverständlich auf Beethovens „Leonoren-Ouvertüre“
Nr. 3 an – eine Darstellung der obersten Treppenstufen, die zu Florestans
Kerker hinabführen. Auch Kurtág führt uns in einen unter­irdischen
Raum, den wir jedoch nicht wieder verlassen.“ Er schafft eine düstere
Atmosphäre, und am Ende diese Adagios hört man eine Tubenquartett
„feierlich“. Es ist nicht nur eine „Hommage à Bruckner“, wie der Kom­
ponist über die Noten schreibt, sondern auch eine Reminiszenz wagnersche
Klänge (z. B. Todesverkündigung der „Walküre“). Nach diesem fahlen
Beginn folgt der 2. Satz ohne Pause, gekennzeichnet zunächst durch ein
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gehetztes Tempo, als würde da jemand verfolgt. Der transzendente Moment
nach dem Höhepunkt ist ein in kurzes Schweigen, und dann, als ob er
von weit draußen käme, der sanfte Klang von sechs Flöten, bevor das volle
Orchester seine Fahrt wieder aufnimmt. Im Finale wird ein glocken­
ähnlicher Ton rituell wiederholt. Gedämpft und äußerst unheimlich, in
einem weit gespreizten Akkord verankert, ist es eine schwer fassliche
Mischung aus Verzweiflung und Trost. Kurtág hat gemeint: „Meine Muttersprache ist Bartók, und Bartóks Muttersprache war Beethoven.“ Die
Worte klangen allgemein, bevor er „Stele“ geschrieben hat, aber im Kontext
dieser Werks mit seinen Anspielungen auf „Fidelio“ und – subtiler –
im 3. Satz auf den „See der Tränen“ in der Oper „Herzog Blaubarts Burg“
haben sie eine besondere Bedeutung.
Peter Bitterli resümierte: „György Kurtág schafft sein Werk vor dem
Hinter­grund der Vergänglichkeit, der Beschränktheit, vielleicht der
Sinn­losigkeit des menschlichen Lebens. Er prägt Zeichen, Münzen als
Fährgeld für Charon. Er fixiert die Spuren der eigenen Existenz und
derjenigen anderer, Lebender und Toter. ‚Zeichen, Spiele und Botschaften‘
heißen seine Werke, ‚Omaggio a Luigi Nono‘, ‚Drei alte Inschriften‘,
‚Grabstein für Stephan‘ oder ‚Stele‘. (…). Die Stücke und Splitter aber bergen
eine ungeheure Kraft und gleichzeitig eine ungeschützte Sensibilität.
Sie stellen sich nackt zur Schau, sie geben auf kleinstem Raum alles, sie
sind die Existenz selbst, sie verweisen auf die fundamentale Tragik
der condition humaine.“ In der ZEIT porträtierte Christine Lemke-Matwey
György Kurtág zu seinem 90. Geburtstag: „Man sagt, dass es bei ihm
nur wenige Noten gebe, die sich nicht auf die musikalische Tradition
bezögen. Auf Bach natürlich, aber auch auf Boulez, auf Stockhausen und
Luigi Nono genauso wie auf Strawinsky, Debussy, Mozart, Schütz und
Monteverdi. Man darf sich das nicht allzu wörtlich vorstellen, es geht nicht
um ein neo­romantisches ‚Erkennen Sie die Melodie?‘, sondern um ein
Konzentrat, mannigfach ein­geköchelt und reduziert. Das erklärt auch die
sagenhafte Kürze seiner meisten Werke. Wie schwarze Löcher, voll­
gepfropft mit Wissen, mit Rezeption.“
R i c h a r d S t r a uss
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Kann man Philosophie vertonen? Aber zuerst: Ist „Also sprach Zarathustra“,
Untertitel: „Ein Buch für alle und Keinen“, überhaupt Philosophie im
eigentlichen Sinne? Die Lexika verneinen das. Da ist von „metaphysischer
Geschmacklosigkeit“ die Rede. „Zarathustra“ sei im Wesentlichen eine
Folge von Ansprachen des Protagonisten. Im „Zarathustra“ zeigt sich
Friedrich Nietzsche als Aphoristiker. Es ist keine logische oder konstruktive
Komplexität, sondern „Zarathustra“ ist Dichtung, hat ästhetische Qua­
litäten. Das Buch wird bis heute kritisiert: „Als Botschaft von fruchtbaren
Lei­t­ideen muss man das Werk missglückt nennen. Wie in den unerschöpflich reichen aphoristischen Büchern, so ist auch hier das Große im
Einzelnen zu finden – nicht in der Gesamtkonzeption: in Hunderten von
genialen Einsichten, neuartigen Wertungen heiter-vernichtenden Polemiken,“ urteilt das Kindler-Lexikon. Man las das Buch zu seiner Zeit gern
als Text gegen das Philistertum, denn Nietzsches Polemik sprach den
kultur­kritischen Individualisten im wilhelminischen Kaiserreich aus der
Seele. Und auch im politisch rechten Spektrum fand es Leser, die in den
Pas­sagen der Erzählung, in denen vom „Übermenschen“ die Rede ist, will­kommene Bestätigung fanden. Und was interessierte Strauss an diesem
Text?
Die ersten Gedanken zu einer Tondichtung „Zarathustra“ notierte Strauss
noch vor Beginn der Arbeit an „Till Eulenspiegels lustige Streiche“ (1894/95)
und begann unmittelbar nach deren Uraufführung mit ausführlichen
Entwürfen. Schon während der Komposition instrumentierte er die fertigen
Teile. Ursprünglich sollte das Werk den Untertitel tragen „symphonischer
Optimismus in Fin de siècle-Form, dem 20. Jahrhundert gewidmet“;
stattdessen beginnt die Partitur mit „Zarathustras Vorrede“ aus Nietzsches
phi­lo­sophischem Gedicht, allerdings lediglich als eine Art Einstimmung
für den Hörer. Eigentliche Bedeutung als „Programm“ besitzt die Vor­rede
nicht. Strauss hält sich bei den Überschriften der einzelnen Abschnitte
zwar an den Wortlaut der Kapitelüberschriften, nicht aber an deren Reihenfolge. In dem Werk musikalisierte Philosophie sehen zu wollen, wäre
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also verfehlt, zumal der Komponist zu Nietzsche wegen dessen Ausfällen
gegen Wagner ein eher gespaltenes Verhältnis hatte. Vermutlich war allein
schon der vage Bezug zu Nietzsche ein Statement, denn „Zarathustra“
ist – nicht nur für Strauss – eher eine Symbolfigur für die eine Freiheit des
Individuums (daher heißt es im Titel „frei nach Nietzsche“), das geistig
seiner Zeit voraus ist. Dass der Zusammenhang zwischen Buch und Kom­position eher an der Oberfläche zu finden ist, hatte schon der damalige
Kritikerpapst Eduard Hanslick in seinem Verriss der Wiener der Erstaufführung benannt: „Wer die Strauss’sche Symphonie unbefangen anhört,
ohne sich um das detaillierte Programm zu kümmern, der wird gewiß keinen
Zusammenhang mit Nietzsches ‚Zarathustra‘ darin entdecken“, schrieb er.
Die „Rahmenhandlung“ ist die: Zarathustra geht ins Gebirge, denkt,
10 lange Jahre, steigt hinab, belehrt die Menschen und kehrt in die Berge
zurück. Nietzsches Buch ist vierteilig, wie eine Sinfonie, und besitzt
eine sehr musikalische, schwärmerische Sprache. Als sinfonische Dichtung
ist „Zarathustra“ ein großartiger Wurf, nicht nur wegen seines oft zitierten
Beginns. Strauss ist ein genialer Instrumentator. Das Orchester ist mit
Orgel, 6 Hörnern und einer zweiten Tuba größer als je zuvor bei ihm, aber
der Komponist nutzt das nicht nur zur Klangballung und zu Effekten,
sondern zu ausdifferenzierten und geteilten Streicherstimmen und zu einer
delikaten, teils impressionistischen Behandlung der Holzbläser. Auch
ohne Programm kann man der Musik folgen. Schon bei den sinfonischen
Dichtungen von Liszt schimmern formal immer die Elemente der
klassischen Sinfonik durch. So ist es auch bei Strauss’ „Zarathustra“: Er
übernimmt die Gegensätzlichkeit von Themen in den Ecksätzen, lyrische
und tänzerische Elemente in den Binnensätzen. Musikalisch beruht das
Werk auch auf der Konfrontation der Tonarten, C-Dur und H-Dur.
Ihre tonalen Komplexe beherrschen nicht nur für sich einzelne Teile des
Verlaufs, sondern werden in vielfältiger Art verknüpft. Die Einleitung
(C-Dur) schildert die Natur und den Sonnenaufgang. Man orientiert sich
auch an dem immer wieder zierten Beginn. Die Ausdrucks­gegensätze
folgen einer inneren musikalischen Logik. Strauss spannt lange Melodie-
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Ig o r S t r a w i n s k y
bögen, die die lyrischen Stellen und die Walzer­seligkeit aus dem „Rosenkavalier“ vorwegnehmen. Man hört Durchführungs-Passagen, eine brütende
und düstere Fuge in dem Teil, der mit „Wissenschaft“ überschrieben ist.
Ein langes „Tanzlied“ steht an Stelle des Tanzsatzes aus der alten sinfonischen
Form. Nach Schlägen einer Mitternachtsglocke inmitten eines tumult­
artigen Abschnitts findet das Stück ein idyllisches und ver­klärtes Ende. Wie
auch immer man zu der dichterischen „Vorlage“ stehen mag, Nietzsche
gab den Hinweis selbst: „Unter welche Rubrik gehört ei­gent­lich dieser
‚Zara­thustra‘? Ich glaube beinahe, unter die ‚Symphonien‘. „Also sprach
Zarathustra“ wurde am 27. November 1896 durch das Frankfurter Städtische
Orchester unter Leitung von Richard Strauss uraufgeführt.
1900 waren die Beziehungen zwischen Russland und Frankreich vielfältig.
Die beiden Länder waren Bündnispartner, und sie pflegten regen kul­
turellen Austausch, der einen Höhepunkt fand, als Sergej Diaghilev auf
den Plan trat. Nachdem er schon in Russland als Organisator von Kunst­
ausstellungen aufgefallen war, widmete er sich dem Export von rus­sischer
Kunst, ab 1906 speziell nach Paris. 1907 organisierte er die Konzerte
russischer Musik mit der Beteiligung von Rimsky-Korsakow, Glasunow,
Skrjabin, Rachmaninoff und Schaljapin. Obwohl Musiker wie Dukas
und Debussy die Bedeutung der russischen Musik kannten, war doch die
Erstaufführung von Mussorgskys „Boris Godunow“ 1908 für die meisten
Franzosen eine Offenbarung: sie glaubten in diesem Werk, das von
Rimsky stark bearbeitet, ja verfälscht worden war, den Inbegriff dessen
zu entdecken, was Debussy „die russische Seele“ nannte.
Unter Diaghilev formierte sich das „Russische Ballett“, das nicht nur
die denkbar besten Tänzer wie u. a. Nijinsky, die Pawlowa, die Karsawina
und Ida Rubinstein präsentierte, sondern auch den Rahmen für viele
denkwürdige Uraufführungen von Werken gab, die eigens von Diaghilev
mit konzipiert worden waren. Die weitaus stärkste Persönlichkeit
des Balletts war für alle Igor Strawinsky, der 1910 mit dem „Feuervogel“
Triumphe feierte, die sich ein Jahr darauf mit „Petruschka“ wiederholten.
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Die Übereinstimmung zwischen Strawinskys Schaffen und dem Geschmack
des Pariser Publikums, schien vollkommen zu sein, bis 1913 das dritte
Ballett, „Le Sacre du printemps“, den bis dahin heftigsten Skandal der
Musikgeschichte auslöste.
An diesen Tumult im brandneuen Théatre des Champs-Elysees, erinnerte
sich Jean Cocteau: „Ich sah Maurice Delage (den Komponisten), der
vor Entrüstung puterrot angelaufen war, den kleinen Maurice Ravel, der
sich aufplusterte wie ein Kampfhahn, Leon-Paul Fargue, den Dichter.
Sie mussten dem Rhythmus folgen, weil stampfende und zischen­den Logen­insassen sie mit vernichtenden Bemerkungen überschütteten. Ich weiß
nicht, wie es möglich war, dass dieses Ballett in einem solchen Aufruhr zu
Ende getanzt wurde? Ich stand zwischen den beiden mittleren Logen,
fühlte mich im Auge des Hurrikans ganz wohl und klatschte mit meinen
Freunden. (…) So hörten wir dieses Geschichte machende Werk in­mitten eines solchen Tumults, dass die Tänzer das Orchester nicht mehr
hörten, den ihnen der stampfende und schreiende Nijinsky in den Kulissen
schlug. (…) Man müsste tausend Nuancen von Snobismus, Übersnobis­­mus, Gegensnobismus aufzählen, die für sich allein ein ganzes Kapitel
benötigen würden. Das Publikum spielte die ihm zugedachte Rolle, es
empörte sich sofort. Man lachte, spuckte, pfiff, ahmte Tierlaute nach, und
vielleicht hätte man es schon nach einiger Zeit aufgegeben, wenn nicht
die Menge der Ästheten und einige Musiker in ihrem Über­eifer das Publikum
in den Logen beschimpft und sogar geschubst hätte. Der Lärm degenerierte
zum Handgemenge. Stehend in ihrer Loge, mit verrutschtem Diadem,
schwang die alte Gräfin de Pourtales ihren Fächer und schrie, ganz rot im
Gesicht: ‚Das ist das erste Mal seit sechzig Jahren, dass man wagt, sich
über mich lustig zu machen‘. Die brave Dame war ehrlich, sie glaubte an
ein abgekartetes Spiel. (…) ‚Le Sacre du printemps‘ wurde im Mai 1913
in einem neuen Saal ohne Patina gespielt, der zudem noch zu bequem und
kalt war für ein Publikum, das an Gefühlsaufwallungen in engen Sitz­reihen,
in einer Hitze aus rotem Samt und Gold gewohnt war. Ich glaube nicht,
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dass das ‚Sacre‘ in einem weniger bombastischen Theater adäquater auf­genommen worden wäre, aber dieser luxuriöse Saal symbolisierte im
ersten Augenblick den Irrtum, der darin bestand, dass man ein kräftiges
und jugendliches Werk mit einem dekadenten Publikum konfrontierte,
mit einem verweichlichten Publikum, das in den Girlanden-Stil Ludwig
XVI., den weichen Diwans und den Kissen von einem Orientalismus
ruhte, für den man (sonst) das Russische Ballett tadeln muss. Unter diesen
Umständen macht man einen Ver­dauungsschlaf in einer Hängematte,
man verjagt das wahre Neue (…). Eine Provinz schlimmer als die Provinz,
im Herzen von Paris …“
Die Presse äußerte sich nach der Uraufführung meist negativ: Wenn nicht
gerade die Musik voll Abscheu verurteilt wurde, die man ja wegen
des Tumultes nicht richtig hatte hören können, so herrschte doch in den
Berichten eine Mischung aus Bewunderung und Hass vor, die gerade
jene Faszination ausmachte, der das Publikum gegen seinen Willen aus­gesetzt
war. Der Kritiker Leon Vallas prägte zwar das Bonmont vom „Massacre
du printemps“, jedoch wusste er sich sehr klug über die Musik auszudrücken, die nicht nur von Cocteau, sondern auch von einigen anderen
als „urgeschichtlich“ eingestuft wurde. Es war wohl mehr ein Wunschbild,
eine Sehnsucht nach ursprünglicheren Formen menschlichen Lebens –
nach all den Verfeinerungen des Impressionismus und dem Pessimismus
der wagnerschen Musikdramen –, was die Leute auf „Sacre“ projizierten,
der im Grunde genommen ein höchst artifizielles Werk ist. Die Reduktion
der Melodien auf einige tatsächlich sehr primitiv wirkende Formeln
wird längst wettgemacht durch die äußerst kunstvolle rhythmische Struktur
und das Raffinement der Orchestration, die weit über das bei Rimsky
und Debussy Gewohnte hinausgeht.
Als 1914 „Sacre“ im Konzert dann ohne skandalöse Begleitumstände
gehört werden konnte, entdeckte Pierre Lalo, dass die Musik weder hässlich
noch barbarisch sei. Strawinsky feierte nun als Meister des Klangs und
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des Rhythmus’ Triumphe. Der Skandal des vorausgegangenen Jahres wurde
noch erwähnt, doch er war schon ein Stück Musikgeschichte. 1920
brachte Diaghilev den „Sacre“ in einer neuen choreographischen Version
heraus, die nun sehr frei war und keine durchlaufende Handlung mehr
aufwies. Ohne den ganzen ethnologischen Ballast von altrussischen
Kostümen, der noch in der Uraufführung zu sehen war, traf „Sacre“
nun auf ein Publikum, das sich überhaupt nicht mehr feindselig verhielt
und den „tollen Orkan dieser Musik“ genoss.
Das Jahrhundertereignis „Le Sacre du printemps“ wurde vom Komponisten
zunächst als Vision einer rituellen Frühlingshandlung gesehen, als er
an den letzten Seiten seines „Feuervogel“-Balletts arbeitete: Weise Männer
sitzen im Kreis und schauen auf den Todestanz eines jungen Mädchens,
das geopfert werden soll, um den Gott des Frühlings günstig zu stimmen.
Es sind „Bilder aus dem heidnischen Russland“, zusammengehalten von
einer Hauptidee: dem Geheimnis des großen Impulses der schöpferischen
Kräfte des Frühlings. Es gibt keine Handlung, aber eine choreographische
Sukzession. Eine heidnische Komponente soll und kann man dem „Sacre“
nicht austreiben, die animalische Freude an kraftvollen Bewegungen und
der Fanatismus der jäh wiederholten Gebärden machen aus diesem
Werk ein berauschendes Fest der Vitalität und Lebenswut, das gerade in der
Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als so viele Ideale des alten Europa
zerbrochen waren, voll verstanden und bejaht wurde. Es handelt sich
dabei, außer bei den unüberhörbaren rhythmischen Impulsen, und einige
Intervallkonstellationen im Bau der Melodien, die auf eine nicht zu
definierende Urzeit der Menschheit zurückgehen und nicht einem bestimm­
ten musikalischen Nationalstil zurückzuführen sind. So klingt Strawinskys
„Sacre“ irgendwie russisch und ist doch universal, er mag die Pariser
zum Heimweh nach ursprünglicher Lebensfreude inspiriert haben und er
ist doch unverwechselbar modern, ein authentischer Ausdruck des
heutigen Menschen, der in einer brutalen und technisierten Welt überlebt,
ohne zu resignieren. (Theo Hirsbrunner)
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Sacre ist: Abschaffung des Prinzips der Entwicklung, die Eliminierung der
Wertigkeit von Akkordfunktionen, die Gestaltung von Sätzen auf der
Basis reihender Motiv-Variation und die Ablösung der homophonen oder
polyphonen Anlage von Satzstrukturen durch das Prinzip der Schichtung
mehrerer Material- und Gestaltungsebenen. Dass „Le Sacre du printemps“
bis heute eine große Karriere als Orchester-Partitur machte, hat mit
seiner immensen Energie zu tun. Pierre Boulez schrieb: „Die über­ragende
Bedeutung des Rhythmus’ schlägt sich nieder in der Reduktion von
Polyphonie und Harmonik auf untergeordnete Funktionen. Strawinsky
hat die Richtung des rhythmischen Impulses geändert. Im „Sacre“, existiert
zunächst nur ein fast körperlich wahrnehmbarer Grundpuls. Dieser
Grundpuls wird nun verviel­fältigt, teils regelmäßig, teils unregelmäßig.
Dabei entstehen natürlich die erregendsten Wirkungen durch die un­regel­
mäßige Folge, das Phänomen des Unvorhersehbaren innerhalb eines
vorhersehbaren Zusammenhangs“. „Le Sacre du printemps“ ist bis heute
ein Epoche machendes Werk, das nichts von seiner Urkraft eingebüßt hat.
Gernot Wojnarowicz
Open Air-Konzert zum Heinerfest
Sonntag, 01. Juli 2017, 19.00 Uhr, Georg-Büchner-Platz
Werke u.a. von Mozart, Strauß, Rossini, Schostakowitsch und Mancini
Das Staatsorchester Darmstadt
Mitglieder des Staatstheaterensembles
Moderation Gernot Wojnarowicz
Dirigent Felix Bender
10. Kammerkonzert
Donnerstag, 06. Juli 2017, 20.00 Uhr, Kleines Haus
Franz Schubert Trio für Violine, Viola und Violoncello B-Dur D 581
Ludwig van Beethoven
Trio für Violine, Viola und Violoncello D-Dur op. 9 Nr. 2
Bernd Alois Zimmermann Trio für Violine, Viola und Violoncello
Ernst von Dohnányi
Serenade C-Dur op. 10 für Violine, Viola und Violoncello
Violine Mark Buschkow
Viola Adrien Boisseau
Violoncello Aleksey Shadrin
Kehrauskonzert
Freitag, 07. Juli 2017, 20.00 Uhr, Großes Haus
Werke u.a. von Wagner, Tschaikowsky und Smetana
Das Staatsorchester Darmstadt
Der Opernchor des Staatstheaters Darmstadt
Choreinstudierung Thomas Eitler-de Lint
Mitglieder des Staatstheaterensembles
Moderation Gernot Wojnarowicz
Dirigent Christoph Gedschold
konzerthinweise
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1. Sinfoniekonzert
Jörg Peter Brell, Johannes Knirsch, Andrey Kalashnikow, Georgi
Montag, 11. September 2017, 20.00 Uhr, Großes Haus
Hagel-Höfele, Danielle Schwarz, Yvonne Anselment*, Lily Nagaosa-
Sonntag, 10. September 2017, 11.00 Uhr, Großes Haus
Wolfgang Amadeus Mozart
Konzert A-Dur für Klarinette und Orchester KV 622
Anton Bruckner Sinfonie Nr. 9 d-Moll
Klarinette Sharon Kam
Dirigent Will Humburg
1. Kammerkonzert
Donnerstag, 14. September 2017, 20.00 Uhr, Kleines Haus
Werke von Bach, Mozart und Liszt
Klavier Kit Armstrong
Besetzung
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8. Sinfoniekonzert
Das Staatsorchester Darmstadt
Erste Violinen Wilken Rank, Guillaume-Thomas Faraut, Makiko Sano,
Horst Willand, Jane Sage, Theodor Breidenbach, Gyula Vadasz,
Susanne Apfel, Antje Reichert, Annette Weidner, Miho Hasegawa,
Damaris Heide-Jensen, Alexander Sachs*, Carolin Korn* Zweite
Violinen Megan Chapelas, Sorin-Dan Capatina, Sylvia Schade,
Christiane Dierk, Martin Lehmann, Kenneth Neumann, Nikolaus
Norz, Almut Luick, Anne-Christiane Wetzel, Elisabeth Überacker,
Min Ha Park, Stephanie Weimer-Meeßen* Violen Klaus Opitz,
Tomoko Yamasaki, Uta König, Zeynep Tamay, Guilleme Selfa-Oliver,
Barbara Walz, Almuth Kirch, Vladimir Babeshko*, Ari Kanemaki*,
Christoff Schlesinger* Violoncelli Michael Veit, Kanghao Feng,
Albrecht Fiedler, Friederike Eisenberg, Sabine Schlesier, Bianca
Breitfeld*, Sebastián Escobar Avaria*, Zherar Yuzengidzhyan*
Kontrabässe Stefan Kammer, Balasz Orban, Friedhelm Daweke,
Berov*, Christoph Prüfer* Flöten Iris Rath, Eumin Seong, Kornelia
Bleek* Oboen Michael Schubert, Sebastian Röthig, Heidrun Finke,
Anna-Maria Hampel, Christian Petrenz* Klarinetten Claudia Dresel*,
Philipp Bruns, David Wolf, Felix Welz, Detlef Mitscher*, Roland
Dreher* Fagotte Hans Höfele, Tabea Brehm, Jan Schmitz, Rosalie
Suys*, Reinhard Philipp* Hörner Filipe Abreu, Juliane Baucke,
Martin Walz, Christane Bigalke, Yvonne Haas, Carla Gedicke*,
Ulrich Grau,* Marlene Pschorr*, Grigory Yabubovich* Trompeten
Manfred Bockschweiger, Tobias Winbek, Marina Fixle, Michael
Schmeißer, Jens Böcherer* Basstrompete Ulrich Conzen Posaunen
Tabea Hesselschwerdt, Ulrich Conzen, Bernhard Schlesier, Markus
Wagemann Tuba Eberhard Stockinger, Matthias Fitting* Pauken
Frank Assmann, Matthäus Pircher Schlagzeug Matthäus Pircher,
Jürgen Jäger, Gabriel Lopez-Garcia, Geza Huba*, Steffen Welsch*,
Marius Fink*, Raphael Löffler*, Klaus Wissler* Tasten Joachim
Enders, Bartholomew Berzonsky, Jason Tran Harfe Marianne
Bouillot, Constanze Stieber Cymbalon Bruno de Souza Barbosa
Stand der Besetzung: 20. Juni 2017 / * = Gäste
GMD Will Humburg Orchesterdirektion und Konzertdramaturgie
Gernot Wojnarowicz Orchesterbüro Magnus Bastian Referentin GMD
& Orchesterdirektion Franziska Domes Notenbibliothek Hie-Jeong
Byun Orchesterwarte Matthias Häußler, Nico Petry, Willi Rau
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Freundeskreis Sinfoniekonzerte Darmstadt e.V.
Liebe Musikfreunde,
der Freundeskreis leistet einen wesentlichen Beitrag dazu, den Sinfoniekonzerten
am Staatstheater Darmstadt eine besondere Attraktivität zu verleihen.
Er verdankt seine Gründung im Jahre 1989 einer Anregung von Herrn Drewanz,
dem damaligen GMD, und er hat sich seitdem unentbehrlich gemacht.
Höhepunkt der Spielzeit 2014/2015 war aus unserer Sicht das von uns geförderte
Jubiläumskonzert am 16.11.2014. Außerdem ermöglichten wir 2014/2015 Konzerte
mit Sabine Meyer und Frank Peter Zimmermann. Im Juni 2016 unterstützten
wir das Konzert mit Lise de la Salle, und im Oktober 2016 förderten wir das Konzert
mit Antoine Tamestit. Zeigen auch Sie Kunstverstand und Initiative! Werden Sie
Mitglied im Freundeskreis Sinfoniekonzerte Darmstadt e.V. Wir freuen uns auf Sie!
Anfragen und Informationen: Geschäftsführerin Karin Exner, Marienhöhe 5,
64297 Darmstadt | Tel. 06151.537165 [email protected] Vorsitzender Dr. Karl H.
Hamsch stellvertretende Vorsitzende Jutta Rechel Schatzmeister Helmut Buck
„Ich betrachte den Rhythmus
als den ersten und wichtigsten Teil
der Musik. Ich denke, dass er
wahrscheinlich vor der Melodie
und Harmonie existiert hat.“
Oliver Messiaen
Wir danken dem Blumenstudio
Petra Kalbfuss für die Blumenspende.
Bessunger Str. 54, 64285 Darmstadt
Telefon 06151 . 63984
Impressum
Spielzeit 2016 | 17, Programmheft Nr. 41 | Herausgeber: Staatstheater Darmstadt
Georg-Büchner-Platz 1, 64283 Darmstadt, Telefon 06151.2811-1
Intendant: Karsten Wiegand | Geschäftsführender Direktor: Jürgen Pelz
Redaktion und Texte: Gernot Wojnarowicz | Mitarbeit: Daria Semenova
Sollte es uns nicht gelungen sein, die Inhaber aller Urheberrechte ausfindig zu machen,
bitten wir die Urheber, sich bei uns zu melden.
Gestalterisches Konzept: sweetwater | holst, Darmstadt
Ausführung: Hélène Beck | Herstellung: Dinges & Frick GmbH, Wiesbaden
„Die Spannung besteht
darin, immer das
Unbequemste zu finden.“
György Kurtág
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